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Die Natur unter uns
Was befindet sich im Untergrund? Der Keller mit der
Waschmaschine, ein Parkhaus, Wasserleitungen, vielleicht irgendwo eine Erdwärmesonde. Und was kommt
danach, in fünfhundert Metern Tiefe? Welche Gesteine
bilden den geologischen Untergrund an der Stelle, wo
wir gerade stehen? Das überlegen wir uns selten, es ist ja
nicht sichtbar. Auch die Raumplanung befasst sich in erster Linie mit dem, was von der Oberfläche aus nach oben
geht, nicht nach unten. Immer mehr Projekte wollen aber
den Untergrund nutzen: die erwähnten Erdwärmesonden, Wohnungen oder andere Bauten, Cargo sous terrain
(ein unterirdisches Logistiksystem, das Schweizer Zentren verbinden soll), CO2-Speicher, Endlager für radioaktive Abfälle. Doch selbst für Wissenschaftler*innen ist der
Untergrund noch immer zum grossen Teil terra incognita.
Wir haben mit dem Geologen Martin Mazurek über Bohrungen gesprochen und mit der Historikerin Silvia Berger,
wie die Menschen den Untergrund wahrnehmen und was
bei Projekten reflektiert werden sollte.
Martin Mazurek: Wo befinden Sie sich,
und wie ist die Beschaffenheit des geologischen Untergrundes an diesem Ort?
Gerade sitze ich in meinem Büro an der Uni Bern. Der
Untergrund hier in Bern besteht aus Molasse. Während
der Eiszeiten haben Gletscher tiefe Täler in die Molasse gegraben, so auch hier in Bern. Mittlerweile sind
die Täler wieder mit Sedimenten gefüllt. Sie heissen
in der Fachsprache «glazial übertiefte Täler» und es
gibt sie überall in der Schweiz, nur sind sie an der
Oberfläche häufig nicht sichtbar.
Zusammenhang mit der Lagerung von radioaktiven
Abfällen. Es ist wichtig zu verstehen, ob über die Jahrtausende radioaktives Material durch die Gesteinsschichten entweichen kann. Unsere Gruppe in Bern
ist nicht nur bei den Nagra-Bohrungen [siehe Infobox]
beteiligt, sondern auch bei Projekten im Ausland.
Dadurch haben wir einmaligen Zugang zu Gesteinsproben von verschiedenen Orten weltweit, die wir hier
in Bern untersuchen können.
Was sind die Voraussetzungen dafür,
dass eine Region für ein Atomendlager
Könnten Sie kurz erläutern, womit Sie
in Frage kommt?
und Ihre Forschungsgruppe sich im
Die Region muss gewisse geologische Kriterien erMoment beschäftigen?
füllen. Dabei steht die Frage der künftigen LangzeitIm weitesten Sinn habe ich mich während meiner entwicklung im Mittelpunkt. Das ist etwas, was für uns
ganzen Karriere mit der Frage beschäftigt, wie sich Geologinnen und Geologen sehr ungewohnt ist: Wir
Schadstoffe im Untergrund verhalten, meistens im studieren normalerweise die Vergangenheit und sind
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D I E N AT U R U N T E R U N S
jetzt zum ersten Mal in der Situation, wo wir relativ
lange Zeit in die Zukunft schauen müssen. Dabei gibt
es verschiedene Herausforderungen: Erstens wird das
Endlager aus Materialien bestehen, die dort nicht natürlich hingehören und die miteinander reagieren können. Wir müssen untersuchen, ob diese Reaktionen
die Materialeigenschaften des Endlagers und des umliegenden Gesteins beeinflussen. Zweitens sagen Expertinnen und Experten, dass es trotz Klimawandel
auch in Zukunft wieder Vergletscherungen geben wird.
Kann die Erosion durch die Gletscher so tief vordringen, dass das ein Problem für das Endlager werden
könnte? Drittens befinden sich die Standortgebiete
absichtlich in Gebieten mit geringem Erdbebenrisiko,
zum Beispiel in der Nordostschweiz. Alles in allem
sind Prognosen anspruchsvoll, aber möglich.
Sie sprechen bestimmt häufig mit
Menschen, die nicht vom Fach sind.
Was sind die Ängste in der Bevölkerung,
denen Sie am häufigsten begegnen?
Dass sie selbst oder ihre Kinder von der Radioaktivität betroffen sind. Radioaktive Strahlung ist etwas,
das man weder sieht, riecht noch spürt, das macht
Angst. Man muss sehen: Das Endlager entstünde in
einer Tiefe von einigen hundert Metern. Die absolute
Distanz ist also relativ gering, wobei dazwischen mehrere hundert Meter undurchlässiges Gestein liegen.
Das wissen wir als Fachleute, aber für die Leute ist das
gefühlsmässig trotzdem sehr nah. Deshalb ist es wichtig, während des ganzen Prozesses die Menschen
möglichst offen zu informieren. Das versucht man in
der Schweiz im Moment.
Wie ist Ihrer Meinung nach das Verhältnis der Schweizer*innen zum
Untergrund?
Mir fällt auf, dass die Bevölkerung in der Schweiz nicht
sehr gut über Geologie informiert ist. Geologie ist kein
Schulfach, und die meisten hatten höchstens einmal
eine Doppelstunde im Geografieunterricht. Ich bin vor
Jahren einmal durch den Grand Canyon gewandert,
ein grandioses Profil über viele hundert Höhenmeter!
Alle Gesteinsschichten dort sind beschriftet, und die
Leute haben auch tatsächlich ein gewisses Verständnis
dafür, was die einzelnen Schichten bedeuten. Dieses
Verständnis ist bei uns weniger entwickelt.
Ich habe ausserdem den Eindruck, dass in
der Schweiz der Untergrund nach wie vor sehr wenig
zur Kenntnis genommen wird. Die Schweiz ist klein
und kann nicht beliebig in die Fläche wachsen. Wenn
sie sich irgendwohin entwickeln möchte, dann entweder hinauf oder hinunter. Das «Hinauf» wird
durchaus wahrgenommen: Überall entstehen in den
Städten neue Hochhäuser. Dass aber auch der Untergrund je länger je mehr genutzt wird, ist weniger
gut sichtbar.
Wie wird denn der Untergrund genutzt?
Alle wissen zum Beispiel, dass wir Tunnels haben und
dass es gerade in der Vergangenheit viele militärische
Einrichtungen gab. Aber heutzutage gibt es noch
viele weitere Nutzungen, fast jedes neugebaute Haus
bekommt beispielweise eine oder mehrere Erdwärmesonden. Das ist auf der Seite der Energienutzung
natürlich gut, auf der anderen Seite wird mir manchmal ein wenig mulmig, wenn ich sehe, wie der Untergrund mit diesen Bohrungen perforiert wird. Ich
weiss nicht, ob sich alle bewusst sind, dass wir uns
damit auch gewisse Dinge verbauen. Lagerung von
anderen Abfällen, Tiefenspeicherung von CO2, Geothermie, aber auch Projekte wie das Cargo sous terrain:
für mein Verständnis gibt es sehr wenig Koordination
für so viele verschiedene Nutzungsansprüche. Der
Untergrund würde es aber verdienen, dass wir jetzt
nachhaltig planen, wie wir ihn in Zukunft nutzen
möchten.
Martin Mazurek ist assoziierter Professor für Geochemie und angewandte Geologie
an der Universität Bern. Seine
Forschungsgruppe arbeitet
eng mit der «Nationalen Genossenschaft für die Lagerung
radioaktiver Abfälle» (Nagra)
zusammen. Die Nagra führt in
der Nordschweiz Bohrungen
durch, um mögliche Standorte
für ein geologisches Tiefenlager für radioaktive Abfälle in
der Schweiz zu untersuchen.
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Vierteljahrsschrift — 4 | 2021 — Jahrgang 166 — NGZH
Silvia Berger Ziauddin ist
ordentliche Professorin für
Schweizer und Neueste Allgemeine Geschichte an der Universität Bern. Nach einer Dissertation zur Bakteriologie in
Deutschland zwischen 1890
und 1933 widmete sie sich in
ihrer Habilitation den Schweizer Bunkern im Kalten Krieg.
Sie hat 2020 an der Universität
Bern mit zwei anderen Professoren eine Ringvorlesung
zum Thema «Vertikal. Interdisziplinäre Perspektiven auf
die Tiefen und Höhen der
Schweiz» organisiert.
Silvia Berger Ziauddin, weshalb haben
Sie den Untergrund als Thema für Ihre
Forschung entdeckt?
Ich interessiere mich schon länger für Raumtheorien
und für den Kalten Krieg. In meiner Habilitation habe
ich diese beiden Interessen zusammengebracht und
den Schweizer Bunker in den Blick genommen. Kann
man über diesen Raum im Untergrund eine Geschichte der Schweiz im Kalten Krieg schreiben?
Der Untergrund hat für mich auch einen persönlichen Bezug. Als Kind musste ich manchmal im
Schutzraum Konfitüre holen und überlegte mir dabei:
Könnte ich diese schwere Tür überhaupt schliessen?
Wer würde sich sonst noch in dieser kleinen Betonzelle befinden? Würde ich sterben? Das Hinabsteigen
in den Keller, das physische Erleben und die Aneignung
dieses Schutzraums führten bei mir als Kind zu Assoziationen und Ängsten.
Ausserdem beschäftige ich mich seit einiger
Zeit mit der Geschichte des Lifts, einem beweglichen
Objekt und einer vertikalen Infrastruktur, die auch
in den Untergrund führt. Dabei wurde mir bewusst,
wie stark Oben und Unten verbunden sind. Das hat
vielleicht auch wieder mit meiner Kindheit zu tun, ich
bin im Kanton Uri aufgewachsen, wo Höhen und Tiefen überall präsent sind.
Verschiedene wissenschaftliche
Disziplinen befassen sich mit dem
Untergrund. Wovon sind Sie inspiriert
und was trägt die Geschichtswissenschaft zum Thema bei?
Da ich interdisziplinär interessiert bin, haben mich
Arbeiten der politischen Geografie, der Urban Studies
und Architektur geprägt. Dort gibt es seit einiger Zeit
eine verstärkte Aufmerksamkeit für die Vertikale, die
ich nutzen möchte, um über historische Themen nachzudenken. Ich sehe die Geschichtswissenschaft als
Disziplin, die viele Aspekte vereinigen kann. Sie kann
Entwicklungen in der Gesellschaft beobachten und
kritisch reflektieren, indem sie aktuelle Themen und
Diskussionen in die Vergangenheit verfolgt und schaut,
wann und wo sie sich unter welchen Bedingungen
erstmals akzentuiert haben. Die heutige Obsession
mit dem Untergrund etwa ist nicht neu, sie hat bereits
im 19. Jahrhundert angefangen. Damals haben nicht
nur die Minen der Montanindustrie die Menschen
fasziniert, sondern auch das grosse Buddeln im Untergrund der Städte. Die Urbanisierung in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts führte zu einem massiven
Ausbau der unterirdischen Infrastrukturen. In den
1970er-Jahren wiederum kamen die Ressourcenfrage
und die Umweltthematik dazu.
Die Geschichtswissenschaft kann Fragen aufwerfen: Wer profitiert von Projekten im Untergrund?
Was sind die Rechtskonstellationen, wem gehört der
Untergrund? Was ist nachhaltig?
Wie nimmt die Gesellschaft den
Untergrund wahr?
Die Wahrnehmung des Untergrunds unterscheidet
sich je nach Kultur, Epoche und individueller Erfahrung. In der Schweiz hat eine Umdeutung stattgefunden: Der Untergrund kann ja gesellschaftlich mit
Gefahr konnotiert werden, als Ort etwa, wo Strömungen entstehen, die die soziale Ordnung bedrohen,
als Ort des Unheimlichen, Düsteren und Geheimnisvollen. In der Schweiz wurde der Untergrund bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert und dann vor
allem im Zweiten Weltkrieg mit den Réduitfestungen
zur Schutzzone umkodiert. In den 1950er-Jahren gab
es in der Schweiz kaum Widerstand gegen den Einbau
von Schutzräumen im Untergrund. Diese wurden als
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«kleine Réduits des Bürgers» verkauft, mit welchen
die Bevölkerung gleichsam «verwachsen» zu sein
schien. Ganz im Gegensatz zu den USA, wo es kein
nationales Schutzraumprogramm gab und es als unamerikanisch galt, sich im Boden zu vergraben. Die
Frontier-Bewegung, die Ausdehnung nach Westen,
war ein horizontaler Prozess. Das Symboltier, das in
den USA das Schutzverhalten erklärt, war eine Schildkröte: duck and cover. In der Schweiz hingegen war es
ein Murmeltier, das sich bei Gefahr in die Höhle unter
der Erdoberfläche zurückzieht. Der Schutzraum wurde so zur natürlichen Rückzugssphäre des Schweizers
und der Schweizerin.
Das sind kulturelle Wahrnehmungsmuster, die
sich komplett unterscheiden. Die Schweiz hat auch
keine grosse Ausdehnung, das hilft der Vertikalen. In
Deutschland war die Wahrnehmung im Hinblick auf
Zivilschutz wiederum anders: Im Zweiten Weltkrieg
starben Menschen in den Luftschutzkellern, es war
schwieriger, in den 1950er-Jahren aufgrund der Erfahrungen mit dem Luftkrieg Schutzräume zu propagieren.
Wie ist es denn im 21. Jahrhundert mit
einer Generation, die den Kalten Krieg
nicht mehr erlebt hat? Wie wird der
Untergrund heute wahrgenommen?
Heute wird die atomare Bedrohung nicht mehr als
grosse Gefahr wahrgenommen — abgesehen vom
Atommüll. Die Schutzräume sind nicht mehr so bekannt. Allerdings gilt der Untergrund immer noch als
sicher: Infrastrukturen des Militärs und des Zivilschutzes werden als Datenzentren genutzt oder als Lager
für Wertgegenstände. Heute gilt der Untergrund weltweit als ultimative Ressource, als Eldorado für zukünftige «nachhaltige» Projekte. Interessant ist, dass er als
Ganzes die Ressource darstellt, und nicht mehr lediglich als Ort gilt, wo spezifische Ressourcen wie Kohle,
Erdwärme oder Wasser lokalisiert sind.
Die problematischen Aspekte werden aber oft
nicht gesehen. Man sagt immer: Wenn wir im Untergrund expandieren und die Verkehrs- und Wirtschaftsströme über Grund entlasten, ist das nachhaltig. Aber
stimmt das? Heisst das, die kapitalistische Expansion
läuft dank subterraner frontier ungebremst weiter? Ich
bin mittlerweile immer kritischer im Hinblick auf die
massive Ausnutzung des Untergrunds. An den Diskussionen um das Potenzial des Untergrunds finde ich
schwierig, dass es nicht darum geht, etwas zu reduzieren. Hier sollte eine Reflexion einsetzen. Die Nachhaltigkeitsfrage ist für mich nicht zu Ende gedacht.
Kommentar
Wir finden es wichtig, den Untergrund und
vor allem seine nachhaltige Nutzung zu diskutieren. Silvia Berger Ziauddin und Martin
Mazurek beschäftigen sich beide mit dem
Untergrund, aber aus einer anderen Perspektive und in einer anderen Fachdisziplin.
Trotzdem sagen beide unabhängig voneinander dasselbe: Der Untergrund braucht
nachhaltige Planung, die Nutzung muss
reflektiert werden.
Momentan wird viel zum Untergrund
geforscht. Interdisziplinarität und der Austausch verschiedener Perspektiven ist dabei
aus unserer Sicht zentral, um Rücksicht auf
verschiedene Forschungs- und Nutzungsprojekte und auf die Ressource des Untergrunds zu nehmen.
Beide interviewten Personen setzen
sich ausserdem für Aufklärung ein: Mazurek
findet es wichtig, dass mehr informiert wird
über Geologie, über die Nutzung des Untergrunds, über Projekte wie die Atomendlager.
Berger Ziauddin weist darauf hin, dass die
Begeisterung für den Untergrund nicht ein
Phänomen der letzten zehn Jahre ist, sondern schon über hundert Jahre besteht. Aus
vergangenen Untergrundprojekten können
also Schlüsse gezogen werden für unsere
Gegenwart und Zukunft.
Wir finden wichtig, was Berger Ziauddin sagt: Es darf nicht passieren, dass der
Untergrund als attraktive, neue Ressource
nun möglichst schnell ausgebeutet wird,
ohne Überlegungen für die Konsequenzen
und die Zukunft. Das ist in der Vergangenheit oft genug geschehen: Weltraumschrott,
bleiverseuchte Spielplätze auf ehemaligen
Schiessanlagen, Plastik im Meer oder CO2
in der Atmosphäre. Meistens merkt man erst
zu spät, dass man eine Ressource übernutzt
oder mögliche negative Auswirkungen nicht
berücksichtigt hat. Warum diese Fehler wiederholen? Jetzt können wir uns überlegen,
wie wir mit dem Untergrund umgehen wollen: Nachhaltige Nutzung des Untergrunds
für mehr Nachhaltigkeit insgesamt.
Sofie Aeschlimann, Nicolas Krattiger, Evamaria Fuchs