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13 Die Natur unter uns Was befindet sich im Untergrund? Der Keller mit der Waschmaschine, ein Parkhaus, Wasserleitungen, vielleicht irgendwo eine Erdwärmesonde. Und was kommt danach, in fünfhundert Metern Tiefe? Welche Gesteine bilden den geologischen Untergrund an der Stelle, wo wir gerade stehen? Das überlegen wir uns selten, es ist ja nicht sichtbar. Auch die Raumplanung befasst sich in erster Linie mit dem, was von der Oberfläche aus nach oben geht, nicht nach unten. Immer mehr Projekte wollen aber den Untergrund nutzen: die erwähnten Erdwärmesonden, Wohnungen oder andere Bauten, Cargo sous terrain (ein unterirdisches Logistiksystem, das Schweizer Zentren verbinden soll), CO2-Speicher, Endlager für radioaktive Abfälle. Doch selbst für Wissenschaftler*innen ist der Untergrund noch immer zum grossen Teil terra incognita. Wir haben mit dem Geologen Martin Mazurek über Bohrungen gesprochen und mit der Historikerin Silvia Berger, wie die Menschen den Untergrund wahrnehmen und was bei Projekten reflektiert werden sollte. Martin Mazurek: Wo befinden Sie sich, und wie ist die Beschaffenheit des geologischen Untergrundes an diesem Ort? Gerade sitze ich in meinem Büro an der Uni Bern. Der Untergrund hier in Bern besteht aus Molasse. Während der Eiszeiten haben Gletscher tiefe Täler in die Molasse gegraben, so auch hier in Bern. Mittlerweile sind die Täler wieder mit Sedimenten gefüllt. Sie heissen in der Fachsprache «glazial übertiefte Täler» und es gibt sie überall in der Schweiz, nur sind sie an der Oberfläche häufig nicht sichtbar. Zusammenhang mit der Lagerung von radioaktiven Abfällen. Es ist wichtig zu verstehen, ob über die Jahrtausende radioaktives Material durch die Gesteinsschichten entweichen kann. Unsere Gruppe in Bern ist nicht nur bei den Nagra-Bohrungen [siehe Infobox] beteiligt, sondern auch bei Projekten im Ausland. Dadurch haben wir einmaligen Zugang zu Gesteinsproben von verschiedenen Orten weltweit, die wir hier in Bern untersuchen können. Was sind die Voraussetzungen dafür, dass eine Region für ein Atomendlager Könnten Sie kurz erläutern, womit Sie in Frage kommt? und Ihre Forschungsgruppe sich im Die Region muss gewisse geologische Kriterien erMoment beschäftigen? füllen. Dabei steht die Frage der künftigen LangzeitIm weitesten Sinn habe ich mich während meiner entwicklung im Mittelpunkt. Das ist etwas, was für uns ganzen Karriere mit der Frage beschäftigt, wie sich Geologinnen und Geologen sehr ungewohnt ist: Wir Schadstoffe im Untergrund verhalten, meistens im studieren normalerweise die Vergangenheit und sind 14 D I E N AT U R U N T E R U N S jetzt zum ersten Mal in der Situation, wo wir relativ lange Zeit in die Zukunft schauen müssen. Dabei gibt es verschiedene Herausforderungen: Erstens wird das Endlager aus Materialien bestehen, die dort nicht natürlich hingehören und die miteinander reagieren können. Wir müssen untersuchen, ob diese Reaktionen die Materialeigenschaften des Endlagers und des umliegenden Gesteins beeinflussen. Zweitens sagen Expertinnen und Experten, dass es trotz Klimawandel auch in Zukunft wieder Vergletscherungen geben wird. Kann die Erosion durch die Gletscher so tief vordringen, dass das ein Problem für das Endlager werden könnte? Drittens befinden sich die Standortgebiete absichtlich in Gebieten mit geringem Erdbebenrisiko, zum Beispiel in der Nordostschweiz. Alles in allem sind Prognosen anspruchsvoll, aber möglich. Sie sprechen bestimmt häufig mit Menschen, die nicht vom Fach sind. Was sind die Ängste in der Bevölkerung, denen Sie am häufigsten begegnen? Dass sie selbst oder ihre Kinder von der Radioaktivität betroffen sind. Radioaktive Strahlung ist etwas, das man weder sieht, riecht noch spürt, das macht Angst. Man muss sehen: Das Endlager entstünde in einer Tiefe von einigen hundert Metern. Die absolute Distanz ist also relativ gering, wobei dazwischen mehrere hundert Meter undurchlässiges Gestein liegen. Das wissen wir als Fachleute, aber für die Leute ist das gefühlsmässig trotzdem sehr nah. Deshalb ist es wichtig, während des ganzen Prozesses die Menschen möglichst offen zu informieren. Das versucht man in der Schweiz im Moment. Wie ist Ihrer Meinung nach das Verhältnis der Schweizer*innen zum Untergrund? Mir fällt auf, dass die Bevölkerung in der Schweiz nicht sehr gut über Geologie informiert ist. Geologie ist kein Schulfach, und die meisten hatten höchstens einmal eine Doppelstunde im Geografieunterricht. Ich bin vor Jahren einmal durch den Grand Canyon gewandert, ein grandioses Profil über viele hundert Höhenmeter! Alle Gesteinsschichten dort sind beschriftet, und die Leute haben auch tatsächlich ein gewisses Verständnis dafür, was die einzelnen Schichten bedeuten. Dieses Verständnis ist bei uns weniger entwickelt. Ich habe ausserdem den Eindruck, dass in der Schweiz der Untergrund nach wie vor sehr wenig zur Kenntnis genommen wird. Die Schweiz ist klein und kann nicht beliebig in die Fläche wachsen. Wenn sie sich irgendwohin entwickeln möchte, dann entweder hinauf oder hinunter. Das «Hinauf» wird durchaus wahrgenommen: Überall entstehen in den Städten neue Hochhäuser. Dass aber auch der Untergrund je länger je mehr genutzt wird, ist weniger gut sichtbar. Wie wird denn der Untergrund genutzt? Alle wissen zum Beispiel, dass wir Tunnels haben und dass es gerade in der Vergangenheit viele militärische Einrichtungen gab. Aber heutzutage gibt es noch viele weitere Nutzungen, fast jedes neugebaute Haus bekommt beispielweise eine oder mehrere Erdwärmesonden. Das ist auf der Seite der Energienutzung natürlich gut, auf der anderen Seite wird mir manchmal ein wenig mulmig, wenn ich sehe, wie der Untergrund mit diesen Bohrungen perforiert wird. Ich weiss nicht, ob sich alle bewusst sind, dass wir uns damit auch gewisse Dinge verbauen. Lagerung von anderen Abfällen, Tiefenspeicherung von CO2, Geothermie, aber auch Projekte wie das Cargo sous terrain: für mein Verständnis gibt es sehr wenig Koordination für so viele verschiedene Nutzungsansprüche. Der Untergrund würde es aber verdienen, dass wir jetzt nachhaltig planen, wie wir ihn in Zukunft nutzen möchten. Martin Mazurek ist assoziierter Professor für Geochemie und angewandte Geologie an der Universität Bern. Seine Forschungsgruppe arbeitet eng mit der «Nationalen Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle» (Nagra) zusammen. Die Nagra führt in der Nordschweiz Bohrungen durch, um mögliche Standorte für ein geologisches Tiefenlager für radioaktive Abfälle in der Schweiz zu untersuchen. 15 Vierteljahrsschrift — 4 | 2021 — Jahrgang 166 — NGZH Silvia Berger Ziauddin ist ordentliche Professorin für Schweizer und Neueste Allgemeine Geschichte an der Universität Bern. Nach einer Dissertation zur Bakteriologie in Deutschland zwischen 1890 und 1933 widmete sie sich in ihrer Habilitation den Schweizer Bunkern im Kalten Krieg. Sie hat 2020 an der Universität Bern mit zwei anderen Professoren eine Ringvorlesung zum Thema «Vertikal. Interdisziplinäre Perspektiven auf die Tiefen und Höhen der Schweiz» organisiert. Silvia Berger Ziauddin, weshalb haben Sie den Untergrund als Thema für Ihre Forschung entdeckt? Ich interessiere mich schon länger für Raumtheorien und für den Kalten Krieg. In meiner Habilitation habe ich diese beiden Interessen zusammengebracht und den Schweizer Bunker in den Blick genommen. Kann man über diesen Raum im Untergrund eine Geschichte der Schweiz im Kalten Krieg schreiben? Der Untergrund hat für mich auch einen persönlichen Bezug. Als Kind musste ich manchmal im Schutzraum Konfitüre holen und überlegte mir dabei: Könnte ich diese schwere Tür überhaupt schliessen? Wer würde sich sonst noch in dieser kleinen Betonzelle befinden? Würde ich sterben? Das Hinabsteigen in den Keller, das physische Erleben und die Aneignung dieses Schutzraums führten bei mir als Kind zu Assoziationen und Ängsten. Ausserdem beschäftige ich mich seit einiger Zeit mit der Geschichte des Lifts, einem beweglichen Objekt und einer vertikalen Infrastruktur, die auch in den Untergrund führt. Dabei wurde mir bewusst, wie stark Oben und Unten verbunden sind. Das hat vielleicht auch wieder mit meiner Kindheit zu tun, ich bin im Kanton Uri aufgewachsen, wo Höhen und Tiefen überall präsent sind. Verschiedene wissenschaftliche Disziplinen befassen sich mit dem Untergrund. Wovon sind Sie inspiriert und was trägt die Geschichtswissenschaft zum Thema bei? Da ich interdisziplinär interessiert bin, haben mich Arbeiten der politischen Geografie, der Urban Studies und Architektur geprägt. Dort gibt es seit einiger Zeit eine verstärkte Aufmerksamkeit für die Vertikale, die ich nutzen möchte, um über historische Themen nachzudenken. Ich sehe die Geschichtswissenschaft als Disziplin, die viele Aspekte vereinigen kann. Sie kann Entwicklungen in der Gesellschaft beobachten und kritisch reflektieren, indem sie aktuelle Themen und Diskussionen in die Vergangenheit verfolgt und schaut, wann und wo sie sich unter welchen Bedingungen erstmals akzentuiert haben. Die heutige Obsession mit dem Untergrund etwa ist nicht neu, sie hat bereits im 19. Jahrhundert angefangen. Damals haben nicht nur die Minen der Montanindustrie die Menschen fasziniert, sondern auch das grosse Buddeln im Untergrund der Städte. Die Urbanisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führte zu einem massiven Ausbau der unterirdischen Infrastrukturen. In den 1970er-Jahren wiederum kamen die Ressourcenfrage und die Umweltthematik dazu. Die Geschichtswissenschaft kann Fragen aufwerfen: Wer profitiert von Projekten im Untergrund? Was sind die Rechtskonstellationen, wem gehört der Untergrund? Was ist nachhaltig? Wie nimmt die Gesellschaft den Untergrund wahr? Die Wahrnehmung des Untergrunds unterscheidet sich je nach Kultur, Epoche und individueller Erfahrung. In der Schweiz hat eine Umdeutung stattgefunden: Der Untergrund kann ja gesellschaftlich mit Gefahr konnotiert werden, als Ort etwa, wo Strömungen entstehen, die die soziale Ordnung bedrohen, als Ort des Unheimlichen, Düsteren und Geheimnisvollen. In der Schweiz wurde der Untergrund bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert und dann vor allem im Zweiten Weltkrieg mit den Réduitfestungen zur Schutzzone umkodiert. In den 1950er-Jahren gab es in der Schweiz kaum Widerstand gegen den Einbau von Schutzräumen im Untergrund. Diese wurden als 16 D I E N AT U R U N T E R U N S «kleine Réduits des Bürgers» verkauft, mit welchen die Bevölkerung gleichsam «verwachsen» zu sein schien. Ganz im Gegensatz zu den USA, wo es kein nationales Schutzraumprogramm gab und es als unamerikanisch galt, sich im Boden zu vergraben. Die Frontier-Bewegung, die Ausdehnung nach Westen, war ein horizontaler Prozess. Das Symboltier, das in den USA das Schutzverhalten erklärt, war eine Schildkröte: duck and cover. In der Schweiz hingegen war es ein Murmeltier, das sich bei Gefahr in die Höhle unter der Erdoberfläche zurückzieht. Der Schutzraum wurde so zur natürlichen Rückzugssphäre des Schweizers und der Schweizerin. Das sind kulturelle Wahrnehmungsmuster, die sich komplett unterscheiden. Die Schweiz hat auch keine grosse Ausdehnung, das hilft der Vertikalen. In Deutschland war die Wahrnehmung im Hinblick auf Zivilschutz wiederum anders: Im Zweiten Weltkrieg starben Menschen in den Luftschutzkellern, es war schwieriger, in den 1950er-Jahren aufgrund der Erfahrungen mit dem Luftkrieg Schutzräume zu propagieren. Wie ist es denn im 21. Jahrhundert mit einer Generation, die den Kalten Krieg nicht mehr erlebt hat? Wie wird der Untergrund heute wahrgenommen? Heute wird die atomare Bedrohung nicht mehr als grosse Gefahr wahrgenommen — abgesehen vom Atommüll. Die Schutzräume sind nicht mehr so bekannt. Allerdings gilt der Untergrund immer noch als sicher: Infrastrukturen des Militärs und des Zivilschutzes werden als Datenzentren genutzt oder als Lager für Wertgegenstände. Heute gilt der Untergrund weltweit als ultimative Ressource, als Eldorado für zukünftige «nachhaltige» Projekte. Interessant ist, dass er als Ganzes die Ressource darstellt, und nicht mehr lediglich als Ort gilt, wo spezifische Ressourcen wie Kohle, Erdwärme oder Wasser lokalisiert sind. Die problematischen Aspekte werden aber oft nicht gesehen. Man sagt immer: Wenn wir im Untergrund expandieren und die Verkehrs- und Wirtschaftsströme über Grund entlasten, ist das nachhaltig. Aber stimmt das? Heisst das, die kapitalistische Expansion läuft dank subterraner frontier ungebremst weiter? Ich bin mittlerweile immer kritischer im Hinblick auf die massive Ausnutzung des Untergrunds. An den Diskussionen um das Potenzial des Untergrunds finde ich schwierig, dass es nicht darum geht, etwas zu reduzieren. Hier sollte eine Reflexion einsetzen. Die Nachhaltigkeitsfrage ist für mich nicht zu Ende gedacht. Kommentar Wir finden es wichtig, den Untergrund und vor allem seine nachhaltige Nutzung zu diskutieren. Silvia Berger Ziauddin und Martin Mazurek beschäftigen sich beide mit dem Untergrund, aber aus einer anderen Perspektive und in einer anderen Fachdisziplin. Trotzdem sagen beide unabhängig voneinander dasselbe: Der Untergrund braucht nachhaltige Planung, die Nutzung muss reflektiert werden. Momentan wird viel zum Untergrund geforscht. Interdisziplinarität und der Austausch verschiedener Perspektiven ist dabei aus unserer Sicht zentral, um Rücksicht auf verschiedene Forschungs- und Nutzungsprojekte und auf die Ressource des Untergrunds zu nehmen. Beide interviewten Personen setzen sich ausserdem für Aufklärung ein: Mazurek findet es wichtig, dass mehr informiert wird über Geologie, über die Nutzung des Untergrunds, über Projekte wie die Atomendlager. Berger Ziauddin weist darauf hin, dass die Begeisterung für den Untergrund nicht ein Phänomen der letzten zehn Jahre ist, sondern schon über hundert Jahre besteht. Aus vergangenen Untergrundprojekten können also Schlüsse gezogen werden für unsere Gegenwart und Zukunft. Wir finden wichtig, was Berger Ziauddin sagt: Es darf nicht passieren, dass der Untergrund als attraktive, neue Ressource nun möglichst schnell ausgebeutet wird, ohne Überlegungen für die Konsequenzen und die Zukunft. Das ist in der Vergangenheit oft genug geschehen: Weltraumschrott, bleiverseuchte Spielplätze auf ehemaligen Schiessanlagen, Plastik im Meer oder CO2 in der Atmosphäre. Meistens merkt man erst zu spät, dass man eine Ressource übernutzt oder mögliche negative Auswirkungen nicht berücksichtigt hat. Warum diese Fehler wiederholen? Jetzt können wir uns überlegen, wie wir mit dem Untergrund umgehen wollen: Nachhaltige Nutzung des Untergrunds für mehr Nachhaltigkeit insgesamt. Sofie Aeschlimann, Nicolas Krattiger, Evamaria Fuchs