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Rassistische Straftaten erkennen und verhandeln :
ein Reader für die Strafjustiz
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Sammelwerk / collection
Zur Verfügung gestellt in Kooperation mit / provided in cooperation with:
Deutsches Institut für Menschenrechte
Empfohlene Zitierung / Suggested Citation:
Deutsches Institut für Menschenrechte. (2018). Rassistische Straftaten erkennen und verhandeln : ein Reader für
die Strafjustiz (Praxis / Deutsches Institut für Menschenrechte). Berlin. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168ssoar-61081-4
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Praxis
Rassistische Straftaten
erkennen und verhandeln
Ein Reader für die Strafjustiz
Das Institut
Redaktion
Das Deutsche Institut für Menschenrechte ist
die unabhängige Nationale Menschenrechtsinstitution Deutschlands. Es ist gemäß den Pariser
Prinzipien der Vereinten Nationen akkreditiert
(A-Status). Zu den Aufgaben des Instituts gehören
Politikberatung, Menschenrechtsbildung, Information und Dokumentation, anwendungsorientierte
Forschung zu menschenrechtlichen Themen sowie
die Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen. Es wird vom Deutschen Bundestag finanziert. Das Institut ist zudem mit dem Monitoring
der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und der UN-Kinderrechtskonvention betraut
worden und hat hierfür entsprechende MonitoringStellen eingerichtet.
Beatrice Cobbinah und Chandra-Milena
Danielzik sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen des Deutschen Instituts für Menschenrechte
und arbeiten beide an dem Projekt „Rassismus
und Menschenrechte – Stärkung der Strafjustiz“.
Dr. Petra Follmar-Otto ist Leiterin der Abteilung Inland/Europa des Deutschen Instituts für
Menschenrechte.
Praxis
Rassistische Straftaten
erkennen und verhandeln
Ein Reader für die Strafjustiz
Grußwort
Im Jahr 1966 wurde im Rahmen der Vereinten
Nationen das Internationale Übereinkommen zur
Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung angenommen. Wir teilen die Überzeugung,
dass Rassismus mit den Grundlagen jeder zivilisierten Gesellschaft unvereinbar ist. Wie es in der
Präambel heißt, ächtet das Übereinkommen, das
Deutschland im Jahr 1969 ratifiziert hat, rassistische Diskriminierung in jeder Form.
Trotz großer Fortschritte erleben wir auch heute,
mehr als 50 Jahre später, die zerstörerische Kraft
rassistischen Denkens und Handelns. Es ist und
bleibt eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, Rassismus die Stirn zu bieten. Gefragt sind wir hier
alle – jede einzelne Bürgerin und jeder einzelne
Bürger wie auch die staatlichen Institutionen.
Ein wichtiges Element im Kampf gegen Rassismus
ist die konsequente Ahndung von rassistisch motivierten Straftaten. Sie setzt voraus, dass die für
die Strafverfolgung zuständigen staatlichen Institutionen – Staatsanwältinnen und Staatsanwälte,
Richterinnen und Richter – Rassismus erkennen
und benennen.
Hier setzt das vom Bundesministerium der Justiz
und für Verbraucherschutz geförderte Projekt
des Deutschen Instituts für Menschenrechte
„Rassismus und Menschenrechte: Stärkung der
Strafjustiz“ an. Mit gezielten Fortbildungen sollen
Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und
Staatsanwälte dadurch unterstützt werden, dass
ihnen Kenntnisse und Strategien zum Umgang
mit rassistisch motivierten Straftaten vermittelt
werden. Von erheblicher Bedeutung ist dabei der
interdisziplinäre Ansatz. Er fordert dazu auf, die
eigene Wahrnehmung kritisch zu hinterfragen
und legt auf diese Weise den Grundstein für einen
reflektierten Umgang mit Rassismus in seinen
verschiedensten Erscheinungsformen. Oberste
Leitlinie der Fortbildungen ist ihre Praxisrelevanz.
Richterinnen und Richter sowie Staatsanwältinnen
und Staatsanwälte sollen unter anderem bei der
Frage unterstützt werden, wie sie rassistisch motivierte Straftaten erkennen, die rassistische Gesinnung einer Täterin oder eines Täters im Rahmen
der Strafzumessung berücksichtigen und wie sie
mit Rassismus im Gerichtssaal umgehen können.
Dem Team des Deutschen Instituts für Menschenrechte, das dieses Projekt mit großem Engagement betrieben hat, danke ich herzlich. Es ist
gut, wenn die Elemente des Projekts als selbstverständlicher Teil der richterlichen und staatsanwaltschaftlichen Aus- und Fortbildung an- und
wahrgenommen werden!
Dr. Katarina Barley
Bundesministerin der Justiz
und für Verbraucherschutz
Vorwort
Rassistische Taten sind Hassverbrechen. Sie richten sich gegen Menschen, nur weil diese sind, was
sie sind – oder wegen dem, was die Täter in ihnen
sehen. Sie erschüttern damit zutiefst die Lebensqualität und das Sicherheitsgefühl der Opfer.
Zugleich sind sie auch ein Angriff auf das soziale
Gefüge unserer Gesellschaft als Ganzes und auf
die Menschenwürde als Grundlage unseres demokratischen Rechtsstaats. Die Menschenrechte fordern daher, rassistisch motivierte Taten als solche
zu benennen und effektiv zu verfolgen, sowie den
Opfern diskriminierungsfreien Zugang zum Recht
zu gewährleisten. Das Gerichtsverfahren hat aus
der Sicht der Betroffenen eine wichtige Rolle bei
der Herstellung von Gerechtigkeit und der Anerkennung der rassistischen Motivation der Taten.
Die effektive Verfolgung der Taten und die angemessene Behandlung der Opfer ist auch eine
zentrale Voraussetzung für die Stärkung des
Vertrauens dieser Opfergruppen in die Strafverfolgungsbehörden, das nicht zuletzt durch die
systemischen Mängel in der Aufklärung der terroristischen Mordserie des NSU schwer erschüttert
wurde. Mangelndes Vertrauen der Opfer in die
Behörden kann dazu führen, dass Taten nicht
angezeigt werden und damit unsichtbar und
straflos bleiben – und ein gesellschaftliches Klima
der Angst und des Wegsehens entsteht und verstärkt wird.
In den letzten Jahren mussten wir in Deutschland eine erschreckende Zunahme von Straftaten gegen Geflüchtete, von antisemitischen
und anti-muslimischen Übergriffen beobachten.
Rassistische Hetze verbreitet sich immer mehr in
den sozialen Medien, auf der Straße bis in die Politik. Mit ihr geht auch ein Verächtlichmachen des
Rechtsstaats und seiner Institutionen einher.
Die Bekämpfung von Rassismus und die Auseinandersetzung mit diskriminierenden Strukturen und
Einstellungen ist eine staatliche und gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Das bedeutet aber beileibe
nicht, dass sie einfach ist. Sie kann für Menschen,
die keine eigenen Erfahrungen mit rassistischen
Diskriminierungen haben, schmerzhaft an vermeintlichen Selbstverständlichkeiten rühren und
Widerstand und Abwehr auslösen.
Wir danken dem BMJV für die Bereitschaft, das
Projekt „Rassismus und Menschenrechte: Stärkung der Strafjustiz“ mit dem Institut gemeinsam
anzugehen, und für die Förderung und Unterstützung des Projekts. Die Partnerländer Bayern,
Berlin und Brandenburg sowie Niedersachsen
haben das Projekt durch das Angebot unterstützt,
die entwickelten Fortbildungskonzepte in verschiedenen Formaten im Rahmen ihrer Fortbildungsprogramme für die Strafjustiz zu erproben. Unser
besonderer Dank gilt den Expert_innen innerhalb
und außerhalb der Strafjustiz, die im Rahmen der
Bedarfsanalyse ihre Perspektive auf das Thema
Rassismus und Strafjustiz mit uns geteilt haben,
die als Referent_innen in den Fortbildungen
mitgewirkt haben oder als Teilnehmende der
Probefortbildungen hilfreiche Hinweise für die
Weiterentwicklung gegeben haben. Nicht zuletzt
gilt unser Dank den Autor_innen der Beiträge
dieses Bandes sowie den Neuen Deutschen Medienmachern für die freundliche Erlaubnis, Auszüge
aus dem von ihnen entwickelten Glossar für den
Materialanhang nutzen zu können.
Prof. Dr. Beate Rudolf, Direktorin des Deutschen
Instituts für Menschenrechte
Dr. Petra Follmar-Otto, Leiterin der Abteilung
Inland und Europa des Deutschen Instituts für
Menschenrechte
Inhalt
Einleitung
8
STATEMENTS
11
Andrea Titz: Richterliche Unabhängigkeit und Vorverständnis
12
Biplab Basu: Rassismus und das Strafjustizsystem
13
Björn Jesse: Selbstverortung als Herausforderung für Justizangehörige
15
BEITRÄGE
17
Doris Liebscher: Rassismus und Strafrecht. Begriffe, Definitionen,
menschenrechtliche Verpflichtungen und Anwendung im
deutschen Strafrecht
18
Chandra-Milena Danielzik: Was ist Rassismus? Eine Begriffsklärung
33
Kathleen Jäger: Unbewusste Vorurteile im Gerichtssaal
48
Marjam Samadzade: Interkulturelle Kompetenz. Voraussetzung für ein
faires Verfahren und Zukunftsaufgabe der Justiz
55
Eben Louw: Erfahrungen von Opfern rassistischer Taten mit der Justiz
64
Über die Autor_innen
71
ANHANG
73
Leitfragen zum Erkennen rassistisch motivierter Delikte
74
Glossar: Diskriminierungssensible Sprache im Strafverfahren
77
Allgemeine Empfehlung XXXI über die Verhütung von rassistischer
Diskriminierung in der Strafrechtspflege
84
8
Einleitung
Der vorliegende Reader ist im Rahmen des Projektes „Rassismus und Menschenrechte – Stärkung
der Strafjustiz“ (2017–2018) entstanden. Das
Projekt entwickelte und erprobte verschiedene
Fortbildungsangebote für die Strafjustiz, um das
Erkennen und die effektive Verfolgung rassistischer Straftaten zu unterstützen und einen angemessenen Umgang mit den Opfern solcher Taten
zu fördern.
Dieser Reader richtet sich an die Teilnehmenden
der Fortbildungsveranstaltungen und alle weiteren
Interessierten in der Justiz. Er stellt Hintergrundbeiträge zu einzelnen Aspekten der Fortbildungsinhalte sowie konkrete Handlungsanregungen für
den Berufsalltag zur Verfügung.
Für die Auswahl der Themen wurde auf die
Erkenntnisse der im Rahmen des Projektes
durchgeführten Bedarfsanalyse zurückgegriffen.
Durch angeleitete Fokusgruppengespräche1 und
Einzelinterviews mit Justizpraktiker_innen und
Akteur_innen aus den Bereichen der Nebenklagevertretung, der Wissenschaft und der Opfer- und
Antidiskriminierungsberatung konnten einerseits
bestehende Barrieren beim Zugang zum Recht für
Personen mit Rassismuserfahrung und anderseits
Herausforderungen in der Ahndung rassistisch
motivierter Straftaten herausgearbeitet werden.
In den Diskussionsgruppen wurde hervorgehoben,
dass die Konkretisierung des neuen gesetzlichen
Begriffs der rassistischen Tatmotivation für die
Justizpraxis schwierig sei; es fehlten Kriterien
und Maßstäbe in der Rechtsprechung und rechtswissenschaftlichen Literatur. Dies erschwere die
Anwendung der Strafzumessungsregeln und könne
dazu führen, dass eine explizite Benennung der
1
rassistischen Motive in den Akten und im Urteil
vermieden werde. Als weitere Herausforderung
im Strafverfahren nannten die Teilnehmenden den
„eigenen“ Rassismus der Justiz, etwa bestimmte
Erwartungen und bewusste und unbewusste Vorurteile gegenüber Verfahrensbeteiligten mit Migrationsgeschichte. Diese wirkten sich insbesondere
auf die Beweiswürdigung und die Entscheidungen
des Gerichts aus. Mangels eigener Rassismuserfahrungen gäbe es in Staatsanwaltschaften und
Gerichten wenig Wissen über die Lebensrealität
von Rassismusbetroffenen. Welche Auswirkungen es auf diese haben kann, wenn Rassismus in
Gerichtsverfahren „verschwiegen“, also nicht explizit thematisiert wird, sei in der Strafjustiz ebenfalls
weitgehend unbekannt. Thematisiert wurden auch
Unsicherheiten in Bezug auf diskriminierungssensiblen Sprachgebrauch und angemessene Begrifflichkeiten. Viele dieser offenen Fragen versucht
der vorliegende Band aufzugreifen.
Zum Aufbau des Readers
Die einführenden Statements werfen aus der
Sicht von zwei Justizpraktiker_innen und einer
Beratungsstelle für Opfer rassistischer Gewalt
ein Schlaglicht darauf, warum die Auseinandersetzung der Strafjustiz mit Rassismus, mit der
Situation der Opfer vor Gericht und mit eigenen
Vorverständnissen für eine effektive und angemessene Verfolgung und Verhandlung rassistischer
Straftaten bedeutsam ist. Die drei Autor_innen
haben das Projekt in unterschiedlicher Form unterstützt: Andrea Titz, Direktorin des Amtsgerichts
Wolfratshausen und Vorsitzende des Bayerischen
Richtervereins als Referentin bei einer Diskussionsveranstaltung im Rahmen des Projekts in
Fokusgruppeninterviews sind eine Methode der qualitativen Sozialforschung. Die leitfadengestützte moderierte Gruppendiskussion dient
dazu, die Sichtweisen und Relevanzsysteme der Teilnehmenden zu ermitteln und setzt dabei auf vertiefte Einsichten durch die Gruppeninteraktion. Sie eignen sich insbesondere für die frühe Phase von Projekten und Studien, in der Ideen entwickelt, Konzepte erstellt und
Anforderungen erfragt werden sollen.
9
München; die Berliner Beratungsstelle Reach Out
als Mitglied des projektbegleitenden Beirats; und
Dr. Björn Jesse, Richter am Landgericht Berlin, als
Referent einer eintägigen Fortbildungsveranstaltung des Projekts in Berlin.
Einen einführenden Überblick gibt der Beitrag
„Rassismus und Strafrecht. Begriffe, Definitionen, menschenrechtliche Verpflichtungen
und Anwendung im deutschen Strafrecht“ von
Doris Liebscher. Er stellt zum einen grund- und
menschenrechtliche Definitionen von Rassismus
vor, die für die konkrete Rechtsanwendung im
Strafrecht nutzbar gemacht werden können. Zum
anderen fasst der Beitrag zusammen, an welchen
Stellen des Strafverfahrens die Erfassung von Rassismus relevant ist und welche menschenrechtlichen Verpflichtungen bei der Strafverfolgung
beachtet werden müssen. Der Beitrag „Was ist
Rassismus. Eine Begriffsklärung“ von Chandra-Milena Danielzik ergänzt die rechtliche Perspektive auf Diskriminierung und Rassismus durch eine
sozialwissenschaftliche Betrachtung. Die Autorin
stellt verschiedene Formen von Rassismus vor und
skizziert Mechanismen und Wirkungsweisen von
Rassismus.
Inwiefern sich unbewusste Vorurteile auf unsere
Entscheidungen, Handlungen, Wahrnehmungen
und Beurteilungen auswirken können und wie
diese zu Diskriminierung bestimmter sozialer
Gruppen im Gerichtssaal betragen, führt Kathleen
Jäger in ihrem Beitrag „Unbewusste Vorurteile
im Gerichtssaal“ aus. Sie stellt Maßnahmen vor,
welche sowohl die Justiz als Institution als auch
einzelne Richter_innen ergreifen können, um den
Einfluss unbewusster Vorurteile im Gerichtssaal zu
verringern.
Als weitere Voraussetzung für ein faires und effizientes Strafverfahren benennt Richterin Marjam
Samadzade in ihrem Beitrag „Interkulturelle
Kompetenz – Voraussetzung für ein faires
Verfahren und Zukunftsaufgabe der Justiz“
den Erwerb von interkultureller Kompetenz. Dabei
werden verschiedene Barrieren und Herausforderungen der Justiz und der Ermittlungsbehörden in
der interkulturellen Kommunikation analysiert.
Schließlich beschäftigt sich der Beitrag „Erfahrungen von Opfern rassistischer Taten mit der Justiz – aus der Perspektive der psychologischen
Opferbetreuung“ von Eben Louw mit den psychischen Folgen von Rassismus-Erfahrungen für die
Betroffenen und stellt Bausteine einer rassismussensiblen Justiz aus Perspektive der Opferberatung vor. Zudem werden Denkanstöße geliefert,
was einzelne Justizpraktiker_innen dazu beitragen
können, um deutsche Gerichte zu sicheren Orten
für Betroffene von Rassismus zu machen und
wie diese vor weiterer Diskriminierung geschützt
werden können.
Im Materialanhang des Readers finden Sie eine
Leitfragenliste mit subjektiven sowie objektiven
Indikatoren zur Feststellung von möglichen rassistischen Beweggründen. Sie soll Justizpraktiker_
innen, die sich in ihrem Arbeitsalltag hauptsächlich
mit Fällen der allgemeinen Kriminalität beschäftigen, als Reflexionsgrundlage zum Erkennen von
rassistisch motivierten Taten dienen.
Das Glossar erläutert einzelne Begriffe und
Zusammenhänge im Kontext von Diskriminierung,
Rassismus und Rechtsextremismus. Die Erläuterungen sind nicht abschließend und als Hilfestellung für alle interessierten Justizpraktiker_innen
in ihrer täglichen Arbeit und als Anregung für
einen diskriminierungssensiblen Sprachgebrauch
gedacht.
Zudem finden Sie eine deutsche Übersetzung der
Allgemeinen Empfehlung Nr. 31 des UN-Fachausschusses zur Anti-Rassismus-Konvention
(CERD) zur Prävention gegen rassistische Diskriminierung in der Verwaltung und im Strafjustizsystem. In seinen Allgemeinen Empfehlungen aus
dem Jahr 2005 stellt CERD konkrete Maßnahmen
und Strategien vor, um rassistische Diskriminierung in der Verwaltung und der Justiz abzubauen,
die Betroffenen zu schützen und ihnen diskriminierungsfreien Zugang zum Recht zu verschaffen.
STATEMENTS
12
STAT E M E NTS
Richterliche Unabhängigkeit und
Vorverständnis
Ein Appell für mehr Selbstreflexion
Andrea Titz, Direktorin des Amtsgerichts
Wolfratshausen und Vorsitzende des Bayerischen Richtervereins
Grundgesetz, Deutsches Richtergesetz und Richtereid verpflichten uns zu Unabhängigkeit und
Neutralität. Dennoch geht kein_e Richter_in und
kein_e Staatsanwält_in an die von ihr oder ihm
bearbeiteten Verfahren völlig wertneutral und im
eigentlichen Sinn unvoreingenommen heran. Und
das ist unvermeidlich. Denn wir sind keine „Gesetzesanwendungs-Automaten“, sondern Menschen
aus Fleisch und Blut. Unser Verhalten wird unweigerlich von unseren Wertvorstellungen, unserem
Vorverständnis, von eigenen Erfahrungen und
letztlich auch von Sympathien und Antipathien
beeinflusst.
Wenn wir die genannten Einflussfaktoren aber
nicht ausschließen können, müssen wir lernen,
verantwortungsbewusst mit ihnen umzugehen.
Das setzt zunächst voraus, sie uns immer wieder
bewusst zu machen – und das geht nicht ohne ein
gewisses Maß an Selbstreflexion. Denn wichtig
für eine unvoreingenommene und unparteiliche
Entscheidung ist auch das Wissen über uns selbst:
Was verärgert uns? Was macht uns Angst? Was
löst bei uns Zuneigung oder Mitgefühl aus? Welche Wertvorstellungen haben wir? Wo fühlen wir
uns möglicherweise durch eine Situation selbst
bedroht?
Kein Mensch ist eine Insel, wie ein Sprichwort
sagt. Wenn wir es für richtig halten, dass Richter_innen gerade deshalb über Sachverhalte in
unserer Gesellschaft urteilen können, weil sie Teil
dieser Gesellschaft sind, müssen wir in Kauf nehmen, dass sie aus ihrer jeweiligen Lebenssituation
heraus Erfahrungen machen, Einstellungen entwickeln und Positionen beziehen. Um die Objektivität trotz zahlreicher Einflussfaktoren zu bewahren,
ist es aber unabdingbar, diese Umstände kennenzulernen und dafür zu sorgen, dass ihr Einfluss
nicht unbewusst den unvoreingenommenen Blick
auf den Fall verstellt.
Mein Appell, auch und gerade aus berufsethischer Perspektive, lautet daher: Machen wir uns
bewusst, dass wir nicht immer unvoreingenommen sind, wenn wir einen Fall bearbeiten, und
dass wir es auch gar nicht sein können. Versuchen
wir herauszufinden, wo unser „wunder Punkt“ ist
und wieso er das ist. Und dann können wir seinen
Einfluss auf unsere Entscheidungen bewerten. Bei
dieser Selbstreflexion können Fortbildungsangebote und der Austausch mit Kollegen unterstützen.
Erst wenn wir unsere inneren Vorbehalte kennen,
können wir beginnen, an uns zu arbeiten – um im
nächsten Fall nicht wieder in die „Vorurteilsfalle“
zu tappen.
STATEMENTS
13
Rassismus und das Strafjustizsystem
Biplab Basu, Berater bei der Beratungsstelle
ReachOut e. V. in Berlin
ReachOut ist eine Berliner Beratungsstelle für
Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer
Gewalt und Bedrohungen. Auch Angehörige und
Freund_innen der Opfer und Zeug_innen eines
Angriffs finden dort Unterstützung. In der Beratung orientiert sich ReachOut an den Bedürfnissen
der Betroffenen. Jede Handlungsmöglichkeit wird
gemeinsam besprochen. Nichts geschieht ohne
das Einverständnis der Ratsuchenden. Die Beratungen sind für die Betroffenen kostenlos und folgen dem Prinzip der Parteilichkeit. Vertraulichkeit
und auf Wunsch Anonymität sind dabei selbstverständlich. Die Mitarbeiter_innen von ReachOut
recherchieren, dokumentieren und veröffentlichen
Angriffe mit rechtem, rassistischem oder antisemitischem Hintergrund. Das Projekt bietet außerdem
Workshops, Veranstaltungen und Fortbildungen
an. Dabei stehen immer die Situation und die Perspektive der Betroffenen im Zentrum der Arbeit.
In unserer Arbeit beobachten wir häufig, welche
Schwierigkeiten Opfer von rassistischer Gewalt
haben, die Prozesse – von der polizeilichen Ermittlung bis hin zur Anklage und dem Gerichtsurteil –
zu begreifen. Oftmals ist es nicht nachvollziehbar,
wie die Ermittlungen gegen die Täter_innen laufen,
wie und warum die Staatsanwaltschaften zu den
jeweiligen Entscheidungen kommen und was letztendlich der Urteilsspruch der Richter_innen genau
bedeutet.
Eine fruchtbare Auseinandersetzung über Rassismus im Justizsystem wird zusätzlich dadurch
erschwert, dass ein vermeintlich „Colour blindes“ Gericht von der überwiegenden Mehrheit
der Law Community und auch der allgemeinen
1
Öffentlichkeit angenommen wird. Der herrschende
Mythos, dass Gerichte und Ermittlungsbehörden
neutral seien, muss dekonstruiert werden. Polizei,
Ermittlungsbehörden, Staatsanwaltschaft und
Gerichtsbarkeit sind keine neutralen Institutionen;
auch sie sind in der rassistischen Gesellschaft
verankert und müssen bewusst institutionellen und strukturellen Rassismus in der eigenen
Behörde bekämpfen. Heute wird sich kein_e
Polizeibeamt_in, Staatsanwält_in oder Richter_in
eine offene rassistische Bemerkung erlauben.
Was allerdings geschieht, ist die ständige Verleugnung von Rassismus in den Institutionen und in
der Struktur. Dimitrina Petrova schreibt hierzu:
„The denial of racism is fast becoming the most
typical and widespread modern manifestation of
racist attidues, openions, statements, actions and
policies.“1 Indem Rassismus allein individuellen
Rassist_innen, Neonazis und Rechtspopulist_innen
angelastet wird, können Institutionen als frei von
Rassismus erklärt werden.
Ein weiteres Problem ist, dass die überwiegende
Mehrheit der im juristischen Komplex beteiligten
Personen nicht von rassistischer Diskriminierung betroffen ist und deswegen das Problem
auch selten bemerkt. Sie mögen das Phänomen
vielleicht diskutieren oder sich theoretisch und
wissenschaftlich für das Thema interessieren, aber
sie erleben keine rassistische Diskriminierung. Aus
diesem Grund investieren sie nicht viel in diesen
Bereich. Das geschieht nicht aus bösem Willen,
sondern weil Diskriminierung für sie kein Thema
darstellt. Das mag auch erklären, weshalb Diskriminierung im gesamten Justizbereich nicht als ein
zu bekämpfendes Phänomen verstanden wird.
So formulierte der US-amerikanische Jurist, Justin
Murray: „Prosecutors, like most Americans, view
Petrova, Dimitrina (2001): Racial Discrimination and the Rights of Minority Cultures. In: Fredman, Sandra (Hg.) (2001): Discrimination and
Human Rights. The case of Racism, Oxford: Oxford University Press, S. 45.
14
STAT E M E NTS
the criminal justice system as fundamentaly race
neutral. They are aware that blacks are stopped,
searched, arrested, and locked up in numbers that
are vastly out of proportion to their fraction of the
overall population. Yet, they generally assume that
this outcome is justified because it reflects the
sad reality that blacks commit a disproportionate
2
share of crime in America. They are unable to
detect the ways in which their own discertionary
choices – and those of other actors in the criminal-justice system, such as legislators, police
officers, and jurors – contribute to the staggering
and unequal incarceration of black Americans.“2
Murray, Justin (2012): Re-imagining criminal prosecution: Toward a color-conscious professional ethic for prosecutors. In: American criminal law review 49 (3), S. 1.
STATEMENTS
15
Selbstverortung als Herausforderung für
Justizangehörige
Dr. Björn Jesse, Richter am Landgericht Berlin
und Referent im Rahmen des Projektes
vielschichtig, als dass ihm mit solchen Schemata
beizukommen wäre.
Wenn es um die Stärkung der Strafjustiz im
Zusammenhang mit dem Erkennen und Bekämpfen von Rassismus geht, ist eine Selbstverortung
der Handelnden wichtig: Staatsanwält_innen und
Richter_innen bewerten ständig die Konflikte Dritter. Die Bewertungsmaßstäbe ergeben sich aus
den Gesetzen.
Die Diskussionen im Auftaktseminar in Berlin
haben gezeigt, dass die Auseinandersetzung mit
den eigenen Erfahrungen und der eigenen Haltung
in Bezug auf Rassismus bei den Teilnehmenden
einen besonderen Nachhall bewirkt und vielfach
als besonders konstruktiv und für die eigene Praxis als gewinnbringend wahrgenommen wurde.
Dennoch sind Staatsanwält_innen sowie Richter_innen keine Subsumtionsautomaten: Die
Auslegung von Gesetzen macht den Kern der
juristischen Tätigkeit aus; Beweiswürdigung und
die sich daraus ergebende Tatsachenfeststellung
stehen im Zentrum der Praxis.
Die Auseinandersetzung mit den Erfahrungen
anderer und vor allem mit denen, die von Rassismus Betroffene selber gemacht haben, ermöglicht – ohne dabei als Staatsanwält_in oder
Richter_in selbst einen „Fall“ ermitteln oder überhaupt bewerten zu müssen – die Auseinandersetzung mit eigenen Vorverständnissen: Welches Bild
habe ich von mir selbst? Welches Bild habe ich
von den anderen?
So wie es unterschiedliche Rechtsansichten gibt,
so gibt es selbstverständlich auch unterschiedliche Bewertungen desselben Sachverhaltes – und
hier kommt dem menschlichen Faktor eine besondere Bedeutung zu.
Zugleich ist Rassismus ein Tabu und wird oft als
ein Problem am Rande der Gesellschaft gesehen.
In der Auseinandersetzung mit Rassismus gibt
es oftmals eine Externalisierung (die Rassisten,
das sind die anderen) oder eine Historisierung
(Nazis sind Rassisten), aber Rassismus ist zu
Durch die damit einhergehende Selbstverortung
öffnet sich ein weiterer Zugang zu dem Themenbereich Rassismus, der nicht zuletzt für eine qualifizierte Strafzumessung nach § 46 Abs. 2 Satz 2
StGB und für den angemessenen Umgang mit
Beschuldigten, Geschädigten, Zeug_innen, aber
auch Verteidiger_innen, Justizmitarbeitenden und
staatsanwaltlichen oder richterlichen Kolleg_innen
von Bedeutung ist.
BEITRÄGE
18
R AS S IS MU S U N D ST R AFRE CHT
Rassismus und Strafrecht
Begriffe, Definitionen, menschenrechtliche Verpflichtungen und Anwendung im
deutschen Strafrecht
Doris Liebscher
1
2
3
3.1
3.2
3.3
4
4.1
4.2
4.2.1
4.2.2
4.2.3
4.2.4
4.3
5
Einleitung
Welche Rolle spielen Rassismusdefinitionen im deutschen
Strafverfahren?
Menschenrechtliche Pflichten bei der Strafverfolgung
Pflicht zur effektiven Strafverfolgung rassistischer Taten
Rechte der Opfer rassistischer Taten im Strafverfahren
Pflicht zur diskriminierungsfreien Strafverfolgung
Das grund- und menschenrechtliche Verständnis von Rassismus
in der strafrechtlichen Anwendung
Rassismus als Diskriminierungsverhältnis
Wer ist geschützt? Anknüpfungsmerkmale für rassistische
Benachteiligung
Rasse, Ethnie, Religion: Biologistischer Rassismus und
kulturalistischer Rassismus
Das weite Rassismusverständnis des Bundesverfassungsgerichtes
Rassistische Diskriminierung wegen vermuteter Zugehörigkeit und
assoziierter Diskriminierung
Der Begriff „Rasse“ in Diskriminierungsverboten
Tatbezogene rassistische Beweggründe und Tatbestandsmerkmale
Fazit
1 Einleitung
Die effektive Bekämpfung und Ahndung rassistischer Straftaten setzt eine besondere
Aufmerksamkeit von Ermittlungsbehörden und
Gerichten für rassistische Kontexte und Verhaltensweisen voraus.1 Was genau unter Rassismus
und damit unter rassistischen Tathandlungen
und rassistischen Beweggründen zu verstehen
ist, ist weder juristisch definiert, noch herrscht
in der Rechtsprechung und im Schrifttum Einigkeit darüber. Die Rechtsanwendung wird zudem
dadurch erschwert, dass schon hinsichtlich der
1
18
19
21
21
23
24
25
26
26
26
28
29
29
30
32
verwendeten Begriffe keine einheitliche Linie
besteht. Während in Deutschland lange die
Begriffe Rassenhass und Ausländer- oder Fremdenfeindlichkeit die strafrechtliche Auseinandersetzung mit rassistischer Gewalt und Hetze
dominierten, setzt sich im internationalen und englischsprachigen Kontext zunehmend der etablierte
Begriff Rassismus durch.
Dieser Beitrag stellt deshalb Rassismusdefinitionen vor, die für die konkrete Rechtsanwendung
nutzbar gemacht werden können. Berücksichtigt
Näher dazu: Payandeh, Mehrdad (2017): Die Sensibilität der Strafjustiz für Rassismus und Diskriminierung. In: Deutsche Richterzeitung
2017 (10), S. 322–325.
R ASSISMUS UND STR A F R E CHT
wird einerseits das Verständnis von Rassismus im
internationalen und europäischen Recht sowie im
deutschen Verfassungsrecht.2 Weil Rassismus kein
Begriff des Rechts ist, ist für seine Anwendung
auch der Rückbezug auf sozialwissenschaftliche
Erkenntnisse bedeutsam.
Zunächst folgt ein Überblick, wo Rassismusdefinitionen im Strafverfahren relevant sind. Danach
werden die für die Strafverfolgung rassistischer
Taten geltenden menschenrechtlichen Pflichten
beschrieben und das grund- und menschenrechtliche Verständnis von Rassismus und seine Anwendung im deutschen Strafrecht vorgestellt. Für die
Darstellung wird sowohl die Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
und die Spruchpraxis weiterer internationaler
Menschenrechtsgremien als auch die deutsche
Rechtsprechung ausgewertet.
2 Welche Rolle spielen
Rassismusdefinitionen im
deutschen Strafverfahren?
Die Frage, wie Rassismus definiert wird und welche Tathandlungen und Motivlagen als rassistisch
bewertet werden, ist im deutschen Strafrecht in
mehrerlei Hinsicht relevant.
Materiell-rechtlich kann Rassismus bei den Straftatbeständen der Beleidigungsdelikte (§§ 185
StGB), der Volksverhetzung (§ 130 StGB) oder des
Mordes aus niedrigen Beweggründen (§ 211 StGB)
in Betracht kommen.
§ 130 StGB Volksverhetzung
(1) Wer in einer Weise, die geeignet ist, den
öffentlichen Frieden zu stören,
1. gegen eine nationale, rassische, religiöse
oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte
Gruppe, gegen Teile der Bevölkerung oder gegen
einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu
2
19
einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem
Teil der Bevölkerung zum Hass aufstachelt, zu
Gewalt- oder Willkürmaßnahmen auffordert
oder
2. die Menschenwürde anderer dadurch
angreift, dass er eine vorbezeichnete Gruppe,
Teile der Bevölkerung oder einen Einzelnen
wegen seiner Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich macht
oder verleumdet,
wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu
fünf Jahren bestraft.
Im Rahmen der Strafzumessung sind zudem bei
Verbrechen und auch bei Vergehen besonders
auch rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige
menschenverachtende Beweggründe und die Ziele
des Täters zu berücksichtigen (§ 46 II StGB).
§ 46 StGB Grundsätze der Strafzumessung
[…] (2) Bei der Zumessung wägt das Gericht
die Umstände, die für und gegen den Täter
sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen
namentlich in Betracht: die Beweggründe und
die Ziele des Täters, besonders auch rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende […].
Prozessual beeinflusst die Einschätzung, ob
Anhaltspunkte für rassistische, fremdenfeindliche
oder sonstige menschenverachtende Beweggründe bestehen, einerseits die Ermittlungsausrichtung (15.5 RiStBV), andererseits die Frage, ob
ein (besonderes) öffentliches Interesse an der Verfolgung von Amts wegen besteht (86, 234 RiStBV).
Gibt es Anhaltspunkte für ein rassistisches Motiv,
müssen sich von nun an die Ermittlungen auf diese
Umstände erstrecken (15.5 RiStBV). In einigen
Fällen müssen die Strafverfolgungsbehörden,
wenn ein solches Motiv vorliegt, ein öffentliches
Interesse an der Strafverfolgung feststellen (86.2
Nicht erläutert werden die EU-Anti-Rassismus-Richtlinie RL 43/2000/EG sowie das zu deren Umsetzung verabschiedete Allgemeine
Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Von Bedeutung für das Strafrecht sind diese Regelungen nur mittelbar, weil sie im Einklang mit der
UN-Antirassismus-Konvention erläutern, wie die Bundesrepublik Deutschland den auch im Strafrecht verwendeten Begriff „Rasse“
versteht.
20
R AS S IS MU S U N D ST R AFRE CHT
und 234). Bei Körperverletzungen, die mit einer
rassistischen Tatmotivation einhergehen, besteht
nach Nr. 234 RiStBV also ein besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung. Das gleiche
gilt nach Nr. 86 RiStBV unter anderem für Beleidigungen, Bedrohungen und Sachbeschädigungen.
15
Aufklärung der für die Bestimmung
der Rechtsfolgen der Tat bedeutsamen
Umstände
[…] (5) Soweit Anhaltspunkte für rassistische,
fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende Beweggründe bestehen, sind die
Ermittlungen auch auf solche Tatumstände zu
erstrecken.
86
Allgemeines
(1) Sobald der Staatsanwalt von einer Straftat
erfährt, die mit der Privatklage verfolgt werden
kann, prüft er, ob ein öffentliches Interesse an
der Verfolgung von Amts wegen besteht.
(2) Ein öffentliches Interesse wird in der Regel
vorliegen, wenn der Rechtsfrieden über den
Lebenskreis des Verletzten hinaus gestört und
die Strafverfolgung ein gegenwärtiges Anliegen der Allgemeinheit ist, zum Beispiel wegen
des Ausmaßes der Rechtsverletzung, wegen
der Rohheit oder Gefährlichkeit der Tat, der
rassistischen, fremdenfeindlichen oder sonstigen menschenverachtenden Beweggründe
des Täters oder der Stellung des Verletzten im
öffentlichen Leben. Ist der Rechtsfrieden über
den Lebenskreis des Verletzten hinaus nicht
gestört worden, so kann ein öffentliches Interesse auch dann vorliegen, wenn dem Verletzten
wegen seiner persönlichen Beziehung zum Täter
nicht zugemutet werden kann, die Privatklage zu
erheben, und die Strafverfolgung ein gegenwärtiges Anliegen der Allgemeinheit ist.
(3) Der Staatsanwalt kann Ermittlungen darüber
anstellen, ob ein öffentliches Interesse besteht.
3
234 Besonderes öffentliches Interesse an
der Strafverfolgung (§ 230 Abs. 1 StGB)
(1) Ein besonderes öffentliches Interesse an
der Verfolgung von Körperverletzungen (§ 230
Abs. 1 Satz 1 StGB) wird namentlich dann
anzunehmen sein, wenn der Täter einschlägig
vorbestraft ist, roh oder besonders leichtfertig
oder aus rassistischen, fremdenfeindlichen oder
sonstigen menschenverachtenden Beweggründen gehandelt hat, durch die Tat eine erhebliche
Verletzung verursacht wurde oder dem Opfer
wegen seiner persönlichen Beziehung zum Täter
nicht zugemutet werden kann, Strafantrag zu
stellen, und die Strafverfolgung ein gegenwärtiges Anliegen der Allgemeinheit ist. […]
Für die Bestimmung der sachlichen Zuständigkeit
des Gerichtes ist die Frage, ob eine rassistisch
motivierte Tat vermutet wird, für die Einordnung
als Fall besonderer Bedeutung i. S.v. § 120 Abs. 2
Nr. 3 GVG relevant. Denn damit würde die Zuständigkeit des Bundes für die Verfolgung von Staatsschutzstrafsachen ausgelöst.3
Wenn nach Verfahrensabschluss Anhaltspunkte
dafür vorliegen, dass das Opfer nach rassistischen
Kriterien ausgewählt wurde, müssen die Akten
nach Auswertung und Dokumentation an das Bundeskriminalamt übersendet werden (207 RiStBV).
Benachrichtigung des Bundeskriminalamtes
(2) Die Akten über Ermittlungs- und Strafverfahren wegen […]
5. Straftaten gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit in den Fällen der §§ 211,
212 und 227 StGB, wenn die Tat politisch
motiviert ist,
6. gemeingefährliche Straftaten in den Fällen
der §§ 306 bis 306c, 308, 310 Abs. 1 Nr. 2
StGB, wenn die Tat politisch motiviert ist, […]
werden von der Staatsanwaltschaft alsbald
nach Abschluss des Verfahrens dem Bundeskriminalamt, Thaerstraße 11, 65193 Wiesbaden,
zur Auswertung übersandt. […]
Vgl. Bundesgerichtshof (2000): Beschluss vom 12.01.2000, StB 15/99, juris; Bundesgerichtshof (2000), Urteil vom 22.12.2000, 3 StR
378/00, Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen BGHSt 46, 238–256; Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof, Anklageschrift vom 05.11.2012, 2 BJs 162/11-2, 2 StE 8/12-2 (NSU-Prozess).
R ASSISMUS UND STR A F R E CHT
(3) Straftaten im Sinne des Absatzes 2 Nr. 5 und
6 sind politisch motiviert, wenn bei Würdigung
der Umstände der Tat und/oder der Einstellung
des Täters Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass
sie […]
gegen eine Person wegen ihrer politischen
Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit,
Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung,
Herkunft oder aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes, ihrer Behinderung, ihrer sexuellen
Orientierung oder ihres gesellschaftlichen Status gerichtet sind und die Tathandlung damit im
Kausalzusammenhang steht beziehungsweise
sich in diesem Zusammenhang gegen eine Institution, Sache oder ein Objekt richtet.
3 Menschenrechtliche
Pflichten bei der
Strafverfolgung
Nach dem Gebot der Auslegung innerstaatlichen
Rechts im Einklang mit den völkerrechtlichen
Verpflichtungen Deutschlands ist nationales Recht
grundsätzlich so auszulegen, dass ein völkerrechtskonformes Ergebnis daraus folgt. Dies gilt
für Menschenrechtsverträge der Vereinten Nationen – zum Beispiel für den Internationalen Pakt
über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR)
oder für das Internationale Übereinkommen
zur Beseitigung jeder Form von rassistischer
Diskriminierung (UN-Antirassismus-Konvention, ICERD) – ebenso wie für die Europäische
Menschenrechtskonvention (EMRK).4 Nach der
ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind bei der Anwendung der EMRK
die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ebenfalls
heranzuziehen, weil sich in ihnen der aktuelle
Entwicklungsstand der Konvention widerspiegelt.5
Die UN-Menschenrechtsverträge haben unabhängige Fachausschüsse (Treaty Bodies) etabliert, um
zu überwachen, dass die Vertragsparteien ihre
4
5
6
21
Verpflichtungen erfüllen. Deren Überprüfungsverfahren bleiben zwar in ihrer Reichweite hinter
der Rechtsverbindlichkeit der Entscheidungen des
EGMR zurück. Sie können jedoch, ebenso wie die
Allgemeinen Bemerkungen der Fachausschüsse
zur Auslegung der jeweiligen Konvention (General
Comments beziehungsweise General Recommendations) und die Abschließenden Bemerkungen
der Fachausschüsse zu den Staatenberichten
von deutschen Gerichten wegen ihrer Leit- und
Orientierungsfunktion herangezogen werden, um
als Auslegungshilfe Inhalt und Reichweite grundgesetzlicher Menschenrechtsgarantien näher zu
bestimmen.6
In Bezug auf das Strafverfahren sind dabei die
menschenrechtliche Verpflichtung zur effektiven
Strafverfolgung rassistischer Taten, die Rechte
der Opfer rassistischer Taten und die Pflicht zur
diskriminierungsfreien Strafverfolgung besonders
relevant.
3.1 Pflicht zur effektiven
Strafverfolgung rassistischer Taten
Die UN-Anti-Rassismus-Konvention ist speziell auf
die Verhinderung und Bekämpfung rassistischer
Diskriminierung zugeschnitten; sie soll sicherstellen, dass Menschen in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vor rassistischer Diskriminierung
geschützt werden. Artikel 2 und Artikel 6 ICERD
begründen das Recht jeder Person auf wirksamen
Rechtsschutz gegen alle rassistisch diskriminierenden Handlungen, die im Widerspruch zu ICERD
stehen. Daraus folgt ein subjektives Recht der
Betroffenen darauf, dass Gerichte und alle sonstigen Organe der Rechtspflege, wie die Strafverfolgungsbehörden, nationales Recht zum Schutz vor
rassistisch diskriminierenden Handlungen beachten und anwenden.
Der Fachausschuss CERD überwacht die Einhaltung der UN-Anti-Rassismus-Konvention. Er hat
in seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 31 über die
Vgl. Bundesverfassungsgericht (2011): Beschluss vom 23.03.2011, 2 BvR 882/09, Rn. 52.
Bundesverfassungsgericht (2011): Urteil vom 04.05.2011, 2 BvR 2365/09, Leitsatz 1; Bundesverfassungsgericht (2018): Urteil vom
24.07.2018, 2 BvR 309/15, Rn 86.
Vgl. nur Bundesverfassungsgericht (2018): Urteil vom 24.07.2018, 2 BvR 309/15, Rn 91. Die wichtigsten Entscheidungen des EGMR
sowie der Treaty Bodies der UN sind in deutschsprachiger Zusammenfassung in der Rechtsprechungsdatenbank des Deutschen Instituts
für Menschenrechte einsehbar.
22
R AS S IS MU S U N D ST R AFRE CHT
Verhütung von rassistischer Diskriminierung in der
Strafrechtspflege aus dem Jahr 2004 ausgeführt,
welche Verpflichtungen sich aus der Konvention
für die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte
ergeben.7 Grundsätzlich müssen diese effektive
Maßnahmen gegen die Täter_innen rassistisch
diskriminierender Handlungen ergreifen – und
zwar ganz unabhängig davon, ob die Taten von
Privatpersonen oder Amtsträgern begangen
werden (Nr. 6). Ergänzt wird dieser Grundsatz
durch konkrete Empfehlungen. So sollen Anzeigen
unverzüglich aufgenommen und die Ermittlungen
ohne Verzögerung, unabhängig und unparteiisch
durchgeführt werden. Akten, die rassistische
Vorfälle enthalten, sollen aufbewahrt und die
Fälle dokumentiert werden (Nr. 11). Weil jede
rassistisch motivierte Tat das soziale Gefüge einer
Gesellschaft als Ganzes bedroht, sollen die Staatsanwaltschaften die generelle, über den Einzelfall
hinausgehende Bedeutung rassistischer Taten
beachten, weshalb auch Vergehen aus rassistischen Motiven effektiv ermittelt werden sollen
(Nr. 15).
Auch die EMRK enthält entsprechende Rechtsgarantien. Nach ständiger Rechtsprechung des
EGMR ist das Ziel der Konvention, nicht theoretische und illusorische Rechte zu gewähren,
sondern praktische und effektive.8 Das bedeutet,
dass der EGMR die Konvention so auslegt, dass
die Rechte auch wirksam sind. Insbesondere in
der Rechtsprechung zu Artikel 2 (Recht auf Leben)
und zu Artikel 3 (Verbot der Folter und Misshandlung) hat der Gerichtshof neben der materiellen
Dimension der Rechte (Schutz vor Verletzung
der Rechte) auch einen verfahrensrechtlichen
Aspekt dieser Rechte (unabhängige und effektive
staatliche Ermittlung und Ahndung von Rechtsverletzungen) entwickelt. Aus dieser Verpflichtung
ergibt sich nach ständiger Rechtsprechung aus der
Verletzung von Artikel 2 oder Artikel 3 alleine oder
7
8
9
10
11
12
in Verbindung mit dem Diskriminierungsverbot
aus Artikel 14 EMRK das Gebot prompter, umfassender, unvoreingenommener und gründlicher
Aufklärung besonders in Fällen des Verdachts
rassistischer Gewalt.
In solchen Fällen ist sogar besonders gründlich
zu ermitteln, denn „Fälle von rassistisch motivierter Gewalt und Brutalität gleich zu behandeln
wie jene, bei denen ein rassistischer Hintergrund
fehlt, würde bedeuten, die spezifische Natur von
Handlungen, welche sich in besonders destruktiver Weise gegen die Grundrechte wenden, zu
ignorieren“.9
Diesen Grundsatz hat der EGMR in mehreren
Entscheidungen präzisiert: Im Fall Natchova und
andere vs. Bulgarien10 hatten Zeug_innen ausgesagt, dass die Verdächtigen sich gegenüber den
Opfern, zwei Roma, vor der Tat rassistisch geäußert hatten. Die zuständige Staatsanwaltschaft
stellte alle Ermittlungen ein. Der EGMR entschied:
Die Ermittlungen müssen besonders nachdrücklich und unvoreingenommen mit erhöhter und
äußerster Sorgfältigkeit geführt werden, wenn
der Verdacht einer rassistischen Tatmotivation
bei einer Gewalttat im Raum steht. Rassistische
Gewalt stellt „einen besonderen Affront gegen die
Menschenwürde“11 dar und verlangt angesichts
ihrer gefährlichen Auswirkungen von den Behörden besondere Aufmerksamkeit und energische
Reaktion.
Im Fall Angelova und Iliev vs. Bulgarien12 präzisierte der Gerichtshof: Behörden sind verpflichtet,
Todesfälle zügig und beharrlich zu untersuchen.
Dies gilt insbesondere bei offensichtlich rassistischen Motiven angesichts der Notwendigkeit, das
Vertrauen von Minderheiten in die Fähigkeit der
Behörden, sie vor rassistischer Gewalt zu schützen, aufrechtzuerhalten.
UN, Committee on the Elimination of Racial Discrimination (2004): General Recommendation No. 31 on the prevention of racial discrimination in the administration and functioning of the criminal justice system, CERD/C/GC/31/Rev.4 (2005); eine nichtamtliche Übersetzung des Dokuments finden Sie im Anhang dieser Publikation.
EGMR (1980): Artico gegen Italien. 13.05.1980. Beschwerde Nr. 6694/74 Serie A Bd. 37, § 33.
EGMR (2017): Škorjanec gegen Kroatien. 28.03.2017, Beschwerde-Nr. 25536/14.
EGMR (2004/2017): Natchova und andere gegen Bulgarien. 26.02.2004/05.04.2017. Beschwerde Nr. 43577/98, 43579/98.
Ebd., Nr. 145.
EGMR (2007): Angelova und Iliev gegen Bulgarien. 26.7.2007. Beschwerde Nr. 55523/00.
R ASSISMUS UND STR A F R E CHT
In weiteren Fällen entschied der Gerichtshof: Bei
der Untersuchung von Gewalttaten haben staatliche Behörden die Pflicht, alle angemessenen
Schritte zu unternehmen, um etwaige rassistische
Motive zu enthüllen und festzustellen, ob Hass
oder Vorurteile gegenüber ethnischen Gruppen
eine Rolle gespielt haben. Das ist der Fall, wenn
der Angreifer vermutlich Mitglied einer polizeibekannten Skinheadgruppe ist, die aller Wahrscheinlichkeit nach eine rechtsradikale und rassistische
Ideologie vertritt.13 Wenn aus den Umständen
des Falles eine starke Vermutung dafür vorliegt,
dass rassistische Beweggründe eine Rolle gespielt
haben können, müssen die Ermittlungsbehörden diesen Vermutungen mit allen Mitteln sorgfältig, angemessen und objektiv nachgehen.14
Die Gleichbehandlung von Taten mit rassistisch
motivierter Gewalt und Brutalität und Fällen ohne
rassistischen Hintergrund käme einer wissentlichen Ignorierung der spezifischen Art dieser Taten
gleich, die sich immer besonders verheerend auf
grundlegende Menschenrechte auswirken. Das
Versäumnis einer Unterscheidung dieser grundsätzlich verschiedenen Situationen kann eine
ungerechtfertigte, mit Artikel 14 der Konvention
unvereinbare Behandlung darstellen.15
Die nunmehr ausdrücklich in § 46 Abs. 2 StGB und
in der RiStBV enthaltenen Regeln setzen somit die
menschenrechtliche Verpflichtung zur effektiven
Strafverfolgung rassistischer Gewalt im nationalen
Recht um. Werden sie nicht berücksichtigt, kann
eine Konventionsverletzung vorliegen. Wie die
oben dargestellten Fälle deutlich machen, stellt
der EGMR einen Konventionsverstoß bereits dann
fest, wenn im Ermittlungsverfahren Anhaltspunkte
für eine rassistische Motivation gegeben waren,
aus den Akten aber nicht ersichtlich ist, ob Strafverfolgungsbehörden und Gerichte diese Anhaltspunkte verfolgt und sich in der Beweiswürdigung
damit auseinandergesetzt haben. Damit können
sowohl eine Praxis des „unbenannten Aufschlags“
(rassistische Beweggründe werden nicht explizit
13
14
15
16
17
23
im Urteil benannt, vom Gericht aber implizit bei
der Strafzumessung berücksichtigt) als auch eine
fehlende ausdrückliche Auseinandersetzung mit
der Frage, warum nach Überzeugung des Gerichts
trotz Anhaltspunkten im Ergebnis keine rassistische Motivation vorlag, einen Konventionsverstoß
begründen.
3.2 Rechte der Opfer rassistischer
Taten im Strafverfahren
Im Umgang mit Opferzeug_innen rassistischer
Taten ergeben sich besondere grund- und menschenrechtliche Verpflichtungen für die Strafjustiz.
Betroffene rassistischer Straftaten sollen zunächst
über ihre Rechte im Verfahren informiert werden (§§ 406i ff. StPO). Dazu zählt der Hinweis
auf spezialisierte Opferberatungsstellen, die im
Bundesverband unabhängiger Beratungsstellen
für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) organisiert sind.16 Opfer
rassistischer Straftaten sollen respektvoll, einfühlsam, unvoreingenommenen und professionell
behandelt werden, ohne dass es im Verfahren
zu Diskriminierungen aus rassistischen Gründen
mit Blick auf Hautfarbe, Migrationshintergrund,
Sprache, Religion oder Aufenthaltsstatus kommt
(Erwägungsgrund 9, Art. 25 RL 2012/29/29). Insbesondere ist sicherzustellen, dass Anhörungen,
Befragungen und Gegenüberstellungen mit der
nötigen Sensibilität für die Würde der Betroffenen
durchgeführt werden (CERD GR Nr. 31, Nr. 19b).
Richter_innen sollen eingreifen, wenn rassistische
Vorurteile von weisungsabhängigem Justizpersonal oder von Rechtsanwält_innen oder anderen
Verfahrensbeteiligten geäußert werden.17 Diese
Pflicht zur diskriminierungsfreien Strafverfolgung
ergibt sich auch aus Artikel 14 ICCPR (Gleiches
und Faires Verfahren) und Artikel 2 Abs. 1 und 26
ICCPR (Diskriminierungsverbot).
Opfer rassistischer Taten sind Opfer von Hasstaten.
Sie sind daher – ebenso wie Opfer sexualisierter
EGMR (2007): Šečić gegen Kroatien. 31.07.2007. Beschwerde Nr. 40116/02.
EGMR (2012): Yotova gegen Bulgarien. 23.10.2012. Beschwerde Nr. 43606/04.
EGMR (2014): Abdu gegen Bulgarien. 11.03.2014. Beschwerde Nr. 6827/08.
Für einen Überblick der Beratungsstelle siehe https://www.verband-brg.de.
CERD/C/GC/31/Rev.4 (2005) Nr. 33 unter Verweis auf die Bangalore Principles of Judicial Conduct, 2002, E/CN.4/2003/65.
24
R AS S IS MU S U N D ST R AFRE CHT
Gewalt oder Kinder – als besonders schutzbedürftige Opfer anzusehen.18 Diese Einstufung
berücksichtigt die besonders schwerwiegenden
psychischen Folgen, die rassistisch motivierte Straftaten für die Betroffenen haben, sowie die erhöhte
Gefahr sekundärer Viktimisierung durch das Strafverfahren.19 Als besonders schutzbedürftige Opfer
sollten Opfer rassistischer Taten die Möglichkeit
haben, vor, während und nach der Hauptverhandlung von einem psychosozialen Prozessbegleiter
unterstützt zu werden (§ 406g StPO). Zudem soll
individuell festgestellt werden, ob den Opfern während des Strafverfahrens in besonderem Maße die
Gefahr sekundärer und wiederholter Viktimisierung,
Einschüchterung oder Vergeltung durch Täter_innen
droht; dabei sollen persönliche Merkmale des
Opfers, unter anderem Herkunft, Rassismuserfahrungen und Aufenthaltsstatus berücksichtigt
werden (Erwägungsgrund 55 f. RL 2012/29/29).
Ist dies der Fall, sollten die Opferzeug_innen besonderen Schutz nach § 48 Abs. 3 StPO erhalten.
3.3 Pflicht zur diskriminierungsfreien
Strafverfolgung
Die Pflicht zur diskriminierungsfreien Strafverfolgung ergibt sich nicht nur mit Blick auf die Opfer
von rassistischen Straftaten. Beschuldigte und
Angeklagte in Strafverfahren dürfen ebenso nicht
aus rassistischen Gründen diskriminiert werden.
Deshalb sollen Verdächtigungen, Befragungen,
Festnahmen und Durchsuchungen vermieden
werden, die nur an der physischen Erscheinung
einer Person, an deren Hautfarbe oder an der
Zuordnung zu einer rassialisierten oder einer
ethnischen Gruppe anknüpfen.20 Auch hier sollen Richter_innen eingreifen, wenn rassistische
Vorurteile von weisungsabhängigem Justizpersonal oder von Rechtsanwält_innen oder anderen
Verfahrensbeteiligten geäußert werden.21 CERD
18
19
20
21
22
23
24
hat in einem Individualbeschwerdeverfahren gegen
Norwegen entschieden, dass eine gerichtliche
Anhörung beziehungsweise Befragung nicht fair
ist, wenn sich Verfahrensbeteiligte feindselig und
rassistisch gegenüber dem Angeklagten äußern.
Im konkreten Fall ging es um rassistische Äußerungen einer Jury, die vom Gericht toleriert wurden.22
Gerichte dürfen keine härteren Strafen verordnen,
nur weil die angeklagte Person einer bestimmten
rassialisierten oder ethnischen Gruppe zugehört
oder zugeordnet wird.23 So wurde auch höchstrichterlich bestätigt, dass die sogenannte Ausländereigenschaft von Täter_innen als solche nicht
strafschärfend berücksichtigt werden darf, da die
Staatsangehörigkeit keine Grundlage zur Bemessung der Schuld darstellt.24
4 Das grund- und
menschenrechtliche
Verständnis von Rassismus
in der strafrechtlichen
Anwendung
Staatsanwaltschaft und Gerichte müssen den
Begriff Rassismus anwenden, um diese menschenrechtlichen Verpflichtungen im Strafverfahren
einlösen zu können. Sie müssen wissen, was
Rassismus bedeutet und entscheiden, wann eine
Tat rassistisch motiviert ist. Für die Umsetzung der
menschenrechtlichen Verpflichtung zur Strafverfolgung rassistischer Taten ist das zugrunde
gelegte Verständnis von Rassismus ein Dreh- und
Angelpunkt. Auch hierfür sind bei der Auslegung
des nationalen Rechts die grund- und menschenrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands
heranzuziehen.
Erwägungsgrund 57 und Art. 22 Abs. 3 EU-Richtlinie 2012/29/29 über die Mindeststandards für Rechte, die Unterstützung und den
Schutz von Opfern von Straftaten (Opferschutzrichtlinie), die durch das Gesetz zur Stärkung der Opferrechte im Strafverfahren (3. Opferrechtsreformgesetz) umgesetzt wurde.
Zum Begriff der sekundären Viktimisierung siehe den Beitrag von Eben Louw in dieser Publikation.
CERD/C/GC/31/Rev.4 (2005), Nr. 19b; das ergibt sich auch aus Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz (2017/: Urteil vom
21.04.2016, 7 A 11108/14, NJW 2016, 2779–2830.
CERD/C/GC/31/Rev.4 (2005), Nr. 33 unter Verweis auf die UN Bangalore Principles of Judicial Conduct (2002) E/CN.4/2003/65.
UN, Committee on the Elimination of Racial Discrimination (1994): Narrainen gegen Norwegen. 15.03.1994. Communication Nr. 3/1991,
9.3.
CERD/C/GC/31/Rev.4 (2005) Nr. 34.
Bundesgerichtshof (1993): Beschluss vom 16.03.1993 – 4 StR 602/92.
R ASSISMUS UND STR A F R E CHT
Im Rahmen der inhaltlichen Begründung von
strafprozessualen und strafrechtlichen Entscheidungen können die Abkommen im Wege der
menschenrechtskonformen Auslegung einer Norm
herangezogen werden. Die Grenze der menschenrechtskonformen Auslegung bildet der Wortlaut
des auszulegenden Gesetzes. Völkerrechtlich
maßgebend sind die Amtssprachen der jeweiligen
internationalen Organisationen.25 Das gilt insbesondere für die Frage, ob eine rechtlich relevante
rassistische Diskriminierung vorliegt. Für Behörden und Gerichte ist eine solche Rechtspraxis
geboten, wenn es ohne diese menschenrechtskonforme Auslegung zu einer konventionswidrigen
Entscheidung käme.
Menschenrechtliche Definitionen rassistischer Diskriminierung
Art. 1 Abs. 1 der UN-Anti-Rassismus-Konvention (ICERD)
Jede auf der Rasse, der Hautfarbe, der Abstammung, dem nationalen Ursprung oder der ethnischen Herkunft beruhende Unterscheidung,
Ausschließung, Beschränkung oder Bevorzugung, die zum Ziel oder zur Folge hat, dass
dadurch ein gleichberechtigtes Anerkennen,
Genießen oder Ausüben von Menschenrechten
und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen oder jedem sonstigen
Bereich des öffentlichen Lebens vereitelt oder
beeinträchtigt wird.
Die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI), ein Menschenrechtsgremium des Europarats, definiert
rassistische Diskriminierung in ihrer Aufgabenbeschreibung ähnlich:
„ECRI […] beobachtet Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Intoleranz und Diskriminierung aufgrund von Gründen wie „Rasse“,
25
26
27
28
25
nationale/ethnische Herkunft, Hautfarbe,
Staatsangehörigkeit, Religion und Sprache (rassische Diskriminierung) […].“26
Auch wenn die Menschenrechte nicht für jede
rassistische Diskriminierung eine strafrechtliche
Ahndung fordern, ergeben sich aus diesen Definitionen Konsequenzen für eine strafrechtliche
Rassismusdefinition bei der Anwendung des § 46
Abs. 2 StGB sowie weiterer Strafrechtsnormen.
Das gilt sowohl in Bezug auf Formen von Rassismus, als auch hinsichtlich der Auslegung der
Diskriminierungskategorie „Rasse“ und der Tatumstände und Motivlagen.
4.1 Rassismus als
Diskriminierungsverhältnis
Ausgangspunkt einer grund- und menschenrechtlichen Definition von Rassismus ist die Betrachtung
von Rassismus als soziales Diskriminierungsverhältnis. Kennzeichnend sind dafür die Elemente
der Klassifizierung (auch Kategorisierung) als
Gruppe (Menschen werden einer Gruppe zugeordnet) und der Subordination. Entscheidend für
Rassismus als Diskriminierungsverhältnis ist die
Zuordnung von Menschen zu homogenen und
statisch konstruierten Gruppen.27 Diese Zuordnung
geht oft auf historische Rassentheorien zurück und
wird in der sozialwissenschaftlichen Forschung als
Rassialisierung bezeichnet.28 Auch wenn es keine
Menschenrassen gibt, werden Menschen rassialisiert und ethnisiert, also durch soziale Zuschreibungsprozesse zu Rassen und Ethnien gemacht.
Mit dieser Kategorisierung geht eine Zuweisung
einer marginalisierten Position einher, die nicht
nur situativ, sondern auch strukturell ist.
Als Diskriminierungsverhältnis ist Rassismus
daher asymmetrisch; er betrifft nicht alle Menschen gleichermaßen, sondern Angehörige
marginalisierter Gruppen, die ein besonderes
EMRK: Englisch, Französisch; ICERD: Chinesisch, Englisch, Französisch, Russisch und Spanisch; ICCPR: Englisch, Französisch, Spanisch,
Chinesisch. Die deutschen Fassungen der Übereinkommen dienen der besseren Verständlichkeit, bei Auslegungszweifeln entscheidet die
amtssprachliche Fassung.
ECRI (2018): European Commisson against Racism and Intolerance, Brüssel, S. 2, https://: https://rm.coe.int/ecri-european-commission-against-racism-and-intolerance-brochure/16808c6e42 (abgerufen am 01.11.2018).
Siehe dazu den Beitrag von Chandra-Milena Danielzik in dieser Publikation.
Die Sozialwissenschaften sprechen hier vom Begriff der „Rassialisierung“, vgl. Banton, Michael (1977): The Idea of Race, Boulder: Westview Press, S. 18.
26
R AS S IS MU S U N D ST R AFRE CHT
Diskriminierungsrisiko trifft. Deutlich wird ein
solches Verständnis von Diskriminierung in der
Entscheidung „Dritte Option“ des Bundesverfassungsgerichtes, dort heißt es: „Zweck des Art. 3
Abs. 3 Satz 1 GG ist es, Angehörige strukturell
diskriminierungsgefährdeter Gruppen vor Benachteiligung zu schützen.“29
4.2 Wer ist geschützt?
Anknüpfungsmerkmale für rassistische
Benachteiligung
Internationale Menschenrechtsabkommen und
nationale Regelungen verwenden traditionell eine
Aufzählung verschiedener Diskriminierungskategorien beziehungsweise verbotener Anknüpfungsmerkmale für rassistische Ungleichbehandlungen,
wie „Rasse, Hautfarbe, Abstammung, nationaler
Ursprung oder ethnische Herkunft“ in Artikel 1
Abs. 1 ICERD. Eine möglichst ausführliche Auflistung soll umfassenden Schutz bieten – das kommt
schon in den Debatten zur Formulierung eines
Diskriminierungsverbotes gegen Rassismus in der
Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zum
Ausdruck.30 Dies schließt auch an Erkenntnisse der
sozialwissenschaftlichen Forschung an, wonach
Rassismus kein uniformes, statisches Phänomen
ist, sondern verschiedene Ausformungen hat und
wandelbar ist. Merkmale wie Hautfarbe, Religion
oder Sprache, an die eine rassistische Zuschreibung anknüpfen kann, sind daher sich überschneidende Begriffe zur Beschreibung rassistischer
Diskriminierung. Rassistische Zuschreibungen verletzen die bezeichneten Menschen ganz unabhängig von fremdimaginierten Rassezugehörigkeiten,
von selbstgewählten ethnischen Identifikationen
oder von der Staatsangehörigkeit.
29
30
31
32
33
34
4.2.1 Rasse, Ethnie, Religion: Biologistischer
Rassismus und kulturalistischer Rassismus
Für die Einordnung einer Tat als rassistisch ist
nicht entscheidend, welche Anknüpfungsmerkmale (Hautfarbe, Religion, Sprache) genutzt wurde.
Erfasst werden auch Gewalt, Hassrede und Diskriminierungen, die nicht von der Annahme biologischer Rasseunterschiede getragen sind, sondern
die zum Beispiel von unveränderlichen kulturellen
oder religiösen Unterschieden ausgehen. Diese
Variante des Rassismus wird auch als Neo-Rassismus oder kulturalistischer Rassismus bezeichnet. Rasse wird darin als Kultur kodiert. Egal, ob
Menschen als einer „Rasse“ oder einer „Kultur“
zugehörig eingeordnet und diskriminiert werden, in
beiden Fällen werden Eigenschaften von sozialen
Gruppen homogenisiert, fixiert und naturalisiert.31
Auch der EGMR stellt in ständiger Rechtsprechung
klar: „Ethnische Herkunft und Rasse sind miteinander verbundene und überlappende Konzepte.
Rassevorstellungen gehen auf die Idee von biologischen Klassifikationen von Menschen in Anknüpfung an morphologische Merkmale wie Hautfarbe
oder Gesichtszüge zurück. Ethnische Herkunft hat
ihren Ursprung in der Idee von sozialen Gruppen,
die z. B. durch gemeinsame Nationalität, […] religiöser Glaube, gemeinsame Sprache oder kultureller
und traditioneller Ursprünge und Hintergründe
verbunden sind.“32
In der Praxis kann und muss eine genaue Abgrenzung oftmals nicht vorgenommen werden. So wird
die Diskriminierung von Jüd_innen (Antisemitismus) und von Sint_ezze und Rom_nja (Antiromaismus oder Antiziganismus) in der Rechtsprechung
zum Teil als solche aufgrund der Rasse33 und zum
Teil aufgrund der ethnischen Herkunft34 angenommen. Vom Verbot rassistischer Gewalt und
Diskriminierung ist sie in jedem Fall erfasst. Das
Bundesverfassungsgericht (2018), Beschluss vom 10.102017, 1 BvR 2019/16, juris Rn. 59. In dem Fall ging es um Diskriminierung
wegen der Geschlechtsidentität.
Morsink, Johannes (2000): The Universal Declaration of Human Rights. Origins, Drafting, and Intent. University of Pennsylvania Press.
Vgl. George M. Fredrickson (2004): Rassismus. Ein historischer Abriss. Hamburg: Hamburger Edition, Einleitung.
EGMR (2005): Timishev gegen Russland. 13.12.2005 – Rs. 55762/00, 55974/00, ebenso EGMR (2009): Sejdić und Finci gegen Bosnia
und Herzegovina. 22.12.2009, Rs.: 27996/06, 34836/06.
So das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung in Entschädigungssachen, Bundesverfassungsgesicht (1996): Beschluss
vom 13.05.1996. 2 BvL 33/93; BVerfGE 94, 315-334.
Für Roma in ständiger Rechtsprechung der EGMR, zum Beispiel Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (2012): Aksu gegen Türkei
15.03.2012. Beschwerde Nr. 4149/04, 41029/04; Bundesverfassungsgesicht (1991): Beschluss vom 08.11.1991. BvR 1351/91, juris.
R ASSISMUS UND STR A F R E CHT
stellt der EGMR ausdrücklich fest: „Als Folge ihrer
wechselvollen Geschichte und dauerhaften Entwurzelung sind die Roma eine benachteiligte und
verletzbare Minderheit, die besonderen Schutzes
bedarf.“35
Rassistische Diskriminierung kann auch an die
Religion anknüpfen. Das ist dann der Fall, wenn
rassialisierende oder ethnisierende Zuschreibungen mit der tatsächlichen oder vermeintlichen Religionszugehörigkeit verbunden werden und diese
stigmatisieren. Zumeist ist das der Fall, wenn
Angehörige dieser Religionen (zum Beispiel Islam
oder Judentum) in der betreffenden Gesellschaft
Minderheiten darstellen, die antimuslimischem
Rassismus oder Antisemitismus ausgesetzt sein
können.36
CERD hat ebenfalls auf die „Anschlussstellen zwischen Rasse und Religion“37 und die Überschneidung von „Rasse, Hautfarbe, Abstammung und
nationaler oder ethnischer Herkunft mit Religion
und Geschlecht“ hingewiesen.38 Handlungen, die
sich alleine auf eine Kritik der Religion stützen –
ohne dass damit generalisierende, stigmatisierende Bezüge auf „die Kultur der diese Religion
ausübenden Gruppe“ einhergehen – sind dagegen
keine rassistischen Diskriminierungen.39 In der
Praxis wird diese Unterscheidung oft schwierig
sein, wenn unter dem Vorwand der „Religionskritik“ rassistische Hetze betrieben wird.
35
36
37
38
39
40
41
42
27
Der EU-Rahmenbeschluss 2008/913/JI zur
strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen
und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit stellt ebenfalls klar, dass religiöse
Gruppen, wie Jüd_innen oder Muslim_innen, von
rassistischen Strafhandlungen betroffen sein können, auch wenn der Täter oder die Täterin die religiöse Zugehörigkeit des Opfers in den Vordergrund
stellt: „Der Verweis auf Religion soll mindestens
Handlungsweisen erfassen, die als Vorwand für die
Begehung von Handlungen gegen eine nach Rasse,
Hautfarbe, Abstammung oder nationale oder ethnische Herkunft definierte Gruppe oder ein Mitglied
einer solchen Gruppe dienen.“
Das internationale Recht schützt auch eingewanderte Menschen und ihre Nachkommen vor
rassistischer Diskriminierung.40 Denn es bestehen
zahlreiche Anschlussstellen zwischen rassistischer
Diskriminierung, Staatsangehörigkeit, Nationalität
und Aufenthaltsdauer.
So urteilte der EGMR, dass Propaganda, die
fordert, dass eingewanderte Menschen und ihre
Nachkommen41, völlig unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit, Nationalität, Aufenthaltsdauer und
familiären Bezügen, das Land verlassen sollen,
eine rassistische Diskriminierung darstellt, die von
der Konvention verboten ist.42
CERD hat entschieden, dass Hassrede gegen
„Juden und Immigranten“, die einem homogenen
Volksbegriff („unserem Volk“) gegenübergestellt
EGMR (2007): D. H. u. a. gegen Tschechien.13.11.2007 Beschwerde Nr. 57325/00.
CERD/C/GC/35 vom 26.09.2013, Combating racist hate speech, Nr. 6.
UN, Committee on the Elimination of Racial Discrimination (2007): P. S. N. gegen Dänemark. 08.08.2007. Communication Nr. 36/2006,
Rn. 6.3.
CERD/C/GC/32 vom 24.09.2009, The meaning and scope of special measures in the International Convention on the Elimination of All
Forms Racial Discrimination, Nr. 7.
UN, Committee on the Elimination of Racial Discrimination (2007): P. S. N. gegen Dänemark. 08.08.2007. „Communication Nr. 36/2006,
Rn. 6.3.
Zum Begriff Einwanderer siehe http://glossar.neuemedienmacher.de/glossar/filter:e/ Zum Begriff Menschen mit Migrationshintergrund
siehe das Glossar im Anhang.
Das in Rede stehende Flugblatt postulierte: „The major part of our population since a long time has had enough of the presence in our
country of hundreds of thousand Surinamers, Turks and other so-called guest workers s, who moreover are not at all needed here, […]”.
EGMR (1979): Glimmerveen and Hagenbeek/Niederlande. 11.10.1979. Beschwerde Nr. 8348/78, 8406/78. Im Original: Thus, the policy
advocated by the applicants is inspired by the overall aim to remove all non-white people from the Netherlands’ territory, in complete disregard of their nationality, time of residence, family ties, as well as social, economic, humanitarian or other considerations. The Commission considers that this policy is clearly containing elements of racial discrimination which is prohibited under the Convention and other
international agreements.
28
R AS S IS MU S U N D ST R AFRE CHT
wird, eine rassistische Diskriminierung i. S.d. Konvention darstellt.43 Auch die herabwürdigende und
verdinglichende Darstellung von Menschen aus
türkischen und arabischen Einwanderungsfamilien
als eine für die Entwicklung einer Gesellschaft
schädliche Personengruppen hat CERD nach der
UN-Anti-Rassismus-Konvention als verbotene rassistische Diskriminierung eingeordnet.44
4.2.2 Das weite Rassismusverständnis des
Bundesverfassungsgerichtes
Dieses weite Verständnis von Rassismus ist
auch bei der Anwendung von Artikel 3 Abs. 3 GG
sowie den strafrechtlichen Vorschriften wie § 46
Abs. 2 oder § 130 StGB zugrunde zu legen. Zwar
liegt wenig deutsche Rechtsprechung zur Auslegung des Verbots rassistischer Diskriminierung
in Artikel 3 Abs. 3 GG vor. Allerdings enthält die
Entscheidung des BVerfG im NPD-Verbotsverfahren zahlreiche Bezugspunkte, die sich mit der
dargestellten internationalen Spruchpraxis decken.
Im Grundsatz befand das Gericht, ein „Konzept
einer ethnisch definierten Volksgemeinschaft“,
das einhergeht mit einem „Konzept weitgehender
Rechtlosstellung und entwürdigender Ungleichbehandlung […] aller, die dieser Gemeinschaft
abstammungsmäßig nicht angehören“ beziehungsweise nicht zugerechnet werden, sei rassistisch.45
Vom BVerfG im NPD-Verbotsverfahren46 als
rassistisch bewertete Einlassungen:
– die pauschale Unterstellung, Schwarze Menschen hätten eine niedrigere Intelligenz
– die Darstellung von Muslimen, Schwarzen
Menschen, Migrant_innen und Asylsuchenden
als dreckig, kriminell, islamistische Extremist_
innen, Vergewaltiger und Asyl-Betrüger
– die Darstellung von Menschen (zum Beispiel
Jüd_innen und Sinti_zze und Rom_nja) als
raffgierig und sich ohne eigene Leistung
bereichernd
– die Behauptung, eine jüdische und islamische
Lobby wollten das deutsche Gemeinwesen
zersetzen
– die Behauptung, Israel sei ein Schurken- und
Zionistenstaat, von dem historisch konstante
Gewalt ausgehe und das die eigene Rolle als
Tätervolk verschweige
– Anspielungen auf Juden als „raffgierige Religionskörperschaften“ oder „Wucherkapitalisten“,
die die Welt in den Untergang stürzen würden
– die pauschale Unterstellung, Sinti_zze und
Rom_nja besäßen einen Hang zur Kriminalität,
Verwahrlosung und Prostitution
– die herabsetzende Bezeichnung Zigeuner sowie
das Reden von einem „Überschwemmen durch
eine Zigeunerflut“
– die Instrumentalisierung der Muslime als
Projektionsfläche für die gegen alle Ausländer
gerichteten Rückführungsvorstellungen oder
deren Verächtlichmachung als „Bombenleger“
oder „Samenkanonen“.47
43
44
45
46
47
UN, Committee on the Elimination of Racial Discrimination (2005): Jüdische Gemeinde von Oslo unter anderem gegen Norwegen.
22.05.2005, Communication Nr. 30/2003.
UN, Committee on the Elimination of Racial Discrimination, TBB/Deutschland. 04.04.2013 Communication Nr. 48/2010.
Bundesverfassungsgericht (2017): Urteil vom 17.01.2017. 2 BvB 1/13 – juris, Rn 688 f.
Ebd., Rn 699.
Ebd. Rn 701, 717, 721, 736, 742, 743, 744, 745, 748, 757.
R ASSISMUS UND STR A F R E CHT
4.2.3 Rassistische Diskriminierung wegen
vermuteter Zugehörigkeit und assoziierter
Diskriminierung
Von strafrechtlich relevanter rassistischer Gewalt
und rassistischer Hassrede können auch Menschen betroffen sein, die selbst Angehörige der
Mehrheitsgesellschaft sind, aber von Täter_innen
rassistisch diskriminiert werden, weil sie „falsch“
zugeordnet werden. So erfolgte der Angriff auf
einen Mann, der eine Kippa trug und antisemitisch
beschimpft wurde, aus antisemitischen Beweggründen – ganz unabhängig davon, ob der KippaTräger tatsächlich Jude war oder die Kippa aus
Solidarität oder schlicht als Souvenir trug.48
Manche Opfer von Hassverbrechen werden nicht
ausgewählt, weil sie spezielle Eigenschaften
aufweisen, sondern weil sie mit einer anderen
Person in Verbindung gebracht werden, die die
entsprechenden Eigenschaften tatsächlich oder
mutmaßlich aufweist. Auch sie sind umfassend zu
schützen.
Im Fall Škorjanec gegen Kroatien entschied der
EGMR angesichts einer rassistischen Gewalttat
unter antiziganistischen Beschimpfungen gegen
einen Rom und seine Partnerin, die keine Romnja
war, dass sich die Pflicht zu effektiven Ermittlungen in Fällen rassistischer Gewalt auch dann
ergibt, wenn sich die nachteilige Behandlung
einer Person auf den Status oder die geschützten
Eigenschaften einer anderen Person bezieht. Der
Gerichtshof urteilte:
„Daraus folgt, dass die Verpflichtung der Behörden, eine mögliche Verbindung zwischen einer
rassistischen Haltung und einem begangenen
Gewaltakt herzustellen, […] nicht nur Gewaltakte
basierend auf einem tatsächlichen oder empfundenen persönlichen Status oder entsprechenden
Eigenschaften des Opfers betrifft, sondern auch
Gewaltakte basierend auf der tatsächlichen oder
vermuteten Verbindung des Opfers oder seiner Zugehörigkeit zu einer anderen Person, die
48
49
50
29
tatsächlich oder mutmaßlich einen besonderen
Status oder eine geschützte Eigenschaft besitzt.
Diese Verbindung kann einerseits aufgrund der
Mitgliedschaft des Opfers in oder seiner Verbindung zu einer bestimmten Gruppe bestehen
oder andererseits durch die tatsächliche oder
mutmaßliche Zugehörigkeit des Opfers zu einem
Mitglied dieser bestimmten Gruppe, z. B. durch
eine persönliche Beziehung, einer Freundschaft
oder Ehe.“49
4.2.4 Der Begriff „Rasse“ in
Diskriminierungsverboten
Rassismus ist, wie beschrieben, im grund-,
menschen- und strafrechtlichen Sinne nicht auf
biologistischen Rassismus beschränkt. Sofern
in Diskriminierungsverboten im Recht – wie in
Artikel 3 Grundgesetz – das Diskriminierungsmerkmal „Rasse“ verwendet wird, ist der Begriff so
zu verstehen, dass er sich auf die soziale Konstruktion von Menschengruppen bezieht, die Menschen anhand physischer Merkmale in Kategorien
einteilt. „Rasse“ entstand als soziale Konstruktion
historisch mit der Herausbildung des Rassismus.50
Das Recht verwendet diese Kategorie mit dem
Ziel, eben diesen Rassismus „zu verhindern oder
zu beseitigen“ (§ 1 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz). Im Unterschied zu tatsächlichen
Eigenschaften (wie Hautfarbe, Haarfarbe oder
Sprache), an die rassistische Vorurteile anknüpfen,
ist „Rasse“ keine Eigenschaft der von Rassismus
betroffenen Menschen, sondern eine sozial- und
rechtswissenschaftliche Kategorie, um die rassistische Zuschreibung und Kategorisierung von
Menschen zu beschreiben.
Die Präambel von ICERD stellt klar, „dass jede
Lehre von einer auf Rassenunterschiede gegründeten Überlegenheit wissenschaftlich falsch,
moralisch verwerflich sowie sozial ungerecht
und gefährlich ist und dass eine Rassendiskriminierung, gleichviel ob in Theorie oder in Praxis,
nirgends gerechtfertigt ist.“ Die Verwendung
des Begriffs „Rasse“ oder „rassische Gruppe“ in
Amtsgericht Berlin (2018): Urteil vom 19.06.2018–422 Ls 32/18.
EGMR (2017): Škorjanec gegen Kroatien. 28.03.2017, Beschwerde-Nr. 25536/14.
Vgl. die Darstellung der Verbindung von Rassenkonstruktionen und Rassismus bei: Hund (2011): Rassismus. In: Sandkühler, Hans Jörg/
Borchers, Dagmar (Hg.): Enzyklopädie Philosophie. Bd. 3, Hamburg, S. 2191–2200.
30
R AS S IS MU S U N D ST R AFRE CHT
Rechtsvorschriften gegen rassistische Diskriminierung und Gewalt impliziert deswegen weder,
dass es biologische Rassegruppen und natürliche Rassenunterschiede gibt, noch dass ein aus
rassistischen Motiven handelnder Täter solchen
biologistischen Rassetheorien anhängen muss.51
So stellt etwa die Hetze gegen die türkeistämmige
Bevölkerung Deutschland eine rassistische Diskriminierung dar52 und der Mord an türkeistämmigen
Menschen einen rassistischen Mord53, auch wenn
es eine türkische Rasse im biologistischen Rassenverständnis nicht gibt.54
Die Völkerrechtlerin Stefanie Schmahl fasst
zusammen: „Die Beibehaltung des Begriffs der
‚Rasse‘ im internationalen Menschenrechtsschutz
gründet allein auf der Absicht, alle Formen von
Rassismus zu erfassen und zu bekämpfen. Gruppenzugehörigkeit im rechtlichen Sinne orientiert
sich nicht an genetisch-morphologischen Merkmalen, sondern vornehmlich an der Selbstidentifizierung der Betroffenen und an den [Zuschreibungen]
der Mehrheitsgesellschaft.“55
Das Bundesverfassungsgericht distanziert sich von
einem naturalisierend-biologistischen Rassebegriff
durch die Verwendung von Anführungszeichen.56 In
seiner Grundsatzentscheidung zur rückwirkenden
Unwirksamkeit der Ausbürgerung jüdischer deutscher Staatsbürger definiert das Gericht „Rasse“
als soziale Konstruktion, zusammengesetzt aus
rassischer Fremdeinteilung (Rassialisierung) und
daran anknüpfender Diskriminierungsgefährdung:
„Diese Norm […] knüpfte allein an ein ‚rassisches‘
Merkmal an und traf zunächst vornehmlich diejenigen, denen es gelungen war, unter Gefahr für Leib
51
52
53
54
55
56
57
58
59
und Leben der nationalsozialistischen Tyrannis zu
entrinnen. [Sie kann] nur richtig beurteilt werden,
wenn sie im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Rassengesetzgebung und dem politischen Ziel des Nationalsozialismus, das deutsche
und europäische Judentum auszurotten, gesehen
wird. […]“57
Im Strafrecht kommt die Überzeugung, dass
es dem Recht nicht um die Bestimmungen von
„Rassen“, sondern um den Schutz vor Rassismus
geht, bereits in der Formulierung „rassistische
[Beweggründe und Ziele]“ in § 46 Abs. 2 StGB zum
Ausdruck.58
Auch im Kontext der Volksverhetzung ist das Verbot der Aufstachelung zum Hass gegen eine „rassische Gruppe“ (§ 130 Abs. 1 Nr. 1 StGB) daher als
Verbot zu verstehen, „in rassistischer Weise“ zum
Hass aufzustacheln. Ob das Opfer einer Straftat
„in rassistischer Weise“ beleidigt, verletzt oder
getötet wurde, hängt also nicht von einer tatsächlichen als vielmehr von einer zugeschriebenen oder
vermuteten Gruppenzugehörigkeit ab. Dafür kann
die Selbstidentifikation der betroffenen Person
als Indiz herangezogen werden,59 ebenso wie die
Haut- und Haarfarbe, die Sprache, die Religion
oder nationale Herkunft.
4.3 Tatbezogene rassistische
Beweggründe und
Tatbestandsmerkmale
Nach dem dargestellten Verständnis von Rassismus kommt es für den Nachweis einer rassistischen Tat nicht darauf an, ob die für die Tat
verantwortliche Person Anhäng_erin einer gefestigten Rassenideologie ist. Rassistisch sein im
So auch die Gesetzesbegründung zu § 1 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, der ebenfalls den Begriff „Rasse“ enthält, BT-Drs.
16/1780, S. 31.
Vgl. UN, Committee on the Elimination of Racial Discrimination, TBB/Deutschland. 04.04.2013 Communication Nr. 48/2010.
BAW, 08.11.2012–32/2012 (NSU), https://www.generalbundesanwalt.de/de/showpress.php?newsid=460 (abgerufen am 01.11.2018).
Anders Tomuschat, Christian (2013): EuGRZ 2013, S. 262–265.
Schmahl, Stefanie (2015): Rechtsgutachten über den Umgang mit rassistischen Wahlkampfplakaten der NPD, im Auftrag des BMJV, S. 85
(auch 12, 14). www.bmjv.de/DE/Themen/Menschenrechte/GutachtenWahlwerbung/GutachtenWahlwerbung_node.html
Bundesverfassungsgericht (1968): Beschluss vom 14.02.1968. 2 BvR 557/62, BVerfGE 23, 98-113; Bundesverfassungsgericht (1995):
Kammerbeschluss vom 13.01.1995 – 1 BvR 205/88 – juris.
Bundesverfassungsgericht (1968): Beschluss vom 14.02.1968. 2 BvR 557/62, Rn 26.
Vgl. auch die durchgängige Formulierung „rassistische Straftat“ im EU-Rahmenbeschluss 2008/913/JI zur strafrechtlichen Bekämpfung
bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.
CERD 22/08/90, General Recommendation VIII, Identification with a particular racial or ethnic group (Art.1 Abs. 1, 4 ICERD).
R ASSISMUS UND STR A F R E CHT
Sinne des Rechts bedeutet nicht, dass die verantwortliche Person nachweislich ein_e Rassist_in
ist oder sein will. Es reicht, dass die beweisbaren
Tatumstände ergeben, dass ein objektiver Dritter
die Tat als rassistisch i. S.d. grund- und menschenrechtlichen Definition von Rassismus einschätzt.
Das gilt sowohl für die Frage einer rassistischen
Motivation etwa von Gewalttaten als auch für die
Erfüllung des Tatbestands bei Äußerungsdelikten.
Die ehemalige oder aktuelle Zugehörigkeit von
Beschuldigten/Angeklagten zu einer neonazistischen oder rechtsterroristischen Organisation
oder Gruppe ist ein ernstzunehmendes Indiz.60
Weitere Anhaltspunkte, die Ausschlag für die
Ermittlungsrichtung geben und in der Beweiswürdigung berücksichtigt werden müssen, sind das
Äußern, Zeigen oder Besitzen von Anschauungen,
Symbolen oder Materialien nationalsozialistischer
Rassenideologie oder anderweitiger rassistischer
Überlegenheitsideen. Mögliche Indizien sind szenetypische Kleidung, Tätowierungen, Literatur, Sammelobjekte aus dem Nationalsozialismus, Musik
oder rassistischer Bands oder auch der Besuch
einschlägig bekannter, von Rechten frequentierter
Gaststätten.61 Als Unterstützung zur Einordnung
von regionalen und lokalen Gruppierungen und
Szenetreffpunkten sollten nicht nur die Verfassungsschutzberichte des Bundes und der Länder,
sondern auch Erkenntnisse von Forschungs- sowie
Beratungsstellen herangezogen werden.
Auch wenn solche Indizien nicht vorliegen, kann
es sich um eine strafrechtlich relevante rassistische Gewalthandlung handeln. Für eine rassistische Motivation können auch weitere Umständen
60
61
62
63
64
65
31
sprechen, wie die Opferauswahl (wenn zum Beispiel der überwiegende Teil der im Rahmen eines
Tatkomplexes angegriffenen Personen aus Einwanderungsfamilien stammt und damit aus Täterperspektive spezifische hassenswerte Merkmale62
besitzt oder wenn ein aufgrund seiner akzentfreien
deutschen Sprache als weiß/deutsch verkanntes
Mitglied einer angegriffenen Gruppe von Migranten als Einziger verschont wird63) oder Tatort und
Tatzeitpunkt (zum Beispiel Anknüpfen an symbolische historische Tage).64 Auch Täter_innen, die
aus bürgerlichen Verhältnissen stammen und sich
selbst nicht als rechtsradikal einordnen, können
rassistisch motivierte Straftaten begehen. Wenn
Beschuldigte als Tatmotiv für einen Brandanschlag
auf ein Flüchtlingsheim Ärger, Frust oder subjektive Sicherheitsbedenken angesichts des Zuzugs
von Flüchtlingen angeben, schließt das eine rassistische Motivation nicht aus.65
Auch rassistische Hassrede ist nach dem menschenrechtlichen Rassismusverständnis nicht
auf Äußerungen oder Darstellungen, die sich an
nationalsozialistisches Gedankengut anlehnen,
beschränkt. Strafrechtlich relevant ist nach Art. 4
lit. a, lit. b ICERD die Verbreitung aller Ideen, die
sich auf die Überlegenheit einer Rasse oder rassistischen Hass gründen oder die zu rassistischer
Diskriminierung aufreizen. Nach Auslegung des
CERD sind unter strafrechtlich zu verfolgender
rassistischer Hassrede zu verstehen: Drohungen
oder Anspornen zur Gewalt gegen Personen oder
Gruppen, anknüpfend an rassistische Zuschreibungen, nationale oder ethnische Herkunft, Hautfarbe oder Abstammung, sowie Beleidigungen,
Bundesgerichtshof (2012): Beschluss vom 10.01.2012–5 StR 490/11, BeckRS 2012, 02552, vorausg. Landgericht Leipzig (2011): Urteil
vom 08.07.2011 – 1 Ks 306 Js 51333/10.
Ebd.
Vgl. Quendt (Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft) (2017): Ist die Mehrfachtötung am OEZ München ein Hassverbrechen? Gutachten über die Mehrfachtötung am 22. Juli 2016 im Auftrag der Landeshauptstadt München. https://: www.idz-jena.de/fileadmin/
user_upload/Gutachten_OEZ_M%C3%BCnchen_MQuent.pdf (abgerufen am 01.11.2018).
Siehe Bundesgerichtshof (2012): Beschluss vom 10.01. 2012 – 5 StR 490/11, BeckRS 2012, 02552, Landgericht G Leipzig (2011): Urteil
vom 08.07.2011 – 1 Ks 306 Js 51333/10.
Vgl. Quendt, Fn 61.
Vgl. Müller, Henning (2015): Brandanschlag auf Flüchtlingsfamilie in Altena – ganz ohne politische Motive? https://community.beck.
de/2015/10/09/brandanschlag-auf-fl-chtlingsfamilie-in-altena-ganz-ohne-politische-motive; Landgericht Hagen (2016): Urteil vom
12.09.2016 – 31 Ks 1/16.
32
R AS S IS MU S U N D ST R AFRE CHT
Verächtlich- und Lächerlichmachen oder Verleumdung von solchen Personen oder Gruppen.66
Der Straftatbestand der Volksverhetzung laut § 130
StGB kann im Lichte menschenrechtlicher Vorgaben also auch durch Tathandlungen erfüllt werden,
die über „scharfe“, unmittelbar in Gewaltakte
mündende Formen der Aufstachelung zu rassistischem Hass hinausgehen.67 Sowohl nach Artikel 4
lit. a und lit. b ICERD als auch nach Artikel 20 Abs.
2 ICCPR genügt es, dass eine Meinungsäußerung
geeignet ist, rassistische Diskriminierung und
rassistischen Hass zu verfechten, zu fördern oder
dazu aufzureizen („to incite“)68, wobei eine Abwägung mit der Meinungsfreiheit zu erfolgen hat.69
Diese Auslegung ergibt sich auch erstens aus dem
EU-Rahmenbeschluss 2008/913/JI zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und
Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, zweitens aus dem Übereinkommen
des Europarats vom 23. November 2001 über
Computerkriminalität (betreffend die Kriminalisierung digitaler Handlungen rassistischer und
fremdenfeindlicher Art, Drucksache17/3123)
und drittens aus der Rechtsprechung des EGMR,
der die Notwendigkeit betont, in demokratischen
Gesellschaften alle Meinungsäußerungen zu verfolgen, die rassistischen Hass „verbreiten, bewerben,
dazu aufreizen und solchen rechtfertigen.“70
5 Fazit
Rassistische Gewalt stellt mit den Worten des
EGMR „einen besonderen Affront gegen die
Menschenwürde“71 dar. Sie verlangt angesichts
ihrer gefährlichen Auswirkungen auf die Betroffenen und auf den sozialen Zusammenhalt unserer
Gesellschaft besondere Aufmerksamkeit und
energische Reaktion. Die Änderungen des § 46
Abs. 2 StGB sowie der RiStBV sind vor diesem
Hintergrund nicht nur eine Reaktion auf die
66
67
68
69
70
71
Versäumnisse im Umgang mit den Taten des NSU,
sie sind auch eine Umsetzung menschenrechtlicher Verpflichtungen. Ihre Botschaft ist eindeutig:
Rassistische Straftaten werden von der Justiz
effektiv ermittelt und konsequent verfolgt. Von
rassistischer Gewalt Betroffene können sich an die
Justiz wenden in dem Wissen, dass ihr Interesse
an Aufklärung, an Wiederherstellung des Rechtsfriedens durch Strafverfolgung und an diskriminierungssensibler Behandlung gewahrt wird.
Diese Postulate in der Praxis umzusetzen, ist eine
Herausforderung für Jurist_innen. Es erfordert
neben dogmatischer Konsequenz auch Wissen
über Erscheinungsweisen des Rassismus und über
deren Folgen für die davon betroffenen Menschen.
Welche Taten „rassistisch“ sind und welche nicht,
dazu gibt es bislang wenig Rechtsprechung. Die
grund- und menschenrechtliche Spruchpraxis stellt
dazu jedoch, ebenso wie das Strafrecht selbst,
Instrumente und Maßstäbe zur Begriffsbestimmung zur Verfügung. Daraus ergibt sich, dass auch
Tatkomplexe, in denen keine offene Rassenideologie zutage tritt und keine Indizien für eine rechtsextreme Organisierung der Täter_innen vorliegen,
strafrechtlich relevante rassistische Handlungen
darstellen können.
Wie in anderen Fällen von sogenannter Hassgewalt und Diskriminierung verlangt der Umgang mit
rassistischen Taten deshalb besondere Aufmerksamkeit: Indizien müssen gefunden und bewertet
und besonders schützenswerte Opfer durch das
Verfahren begleitet werden. In Ermittlungsverfahren und auch vor Gericht werden deren spezifische
Erfahrungen mit Rassismus oft wenig beachtet,
mitunter herrscht keine oder wenig Aufmerksamkeit für Essenzialisierungen und für rassistische
Sprache. Für von Rassismus betroffene Menschen
ist das deutsche Rechtssystem ein risikoreicher
Raum. Eine diskriminierungssensible Rechtsprechung kann das ändern.
UN, Committee on the Elimination of Racial Discrimination (2013): General Recommendation No. 35 Combating racist hate speech,
CERD/C/GC/35.
Vgl. Schmahl (2015), a. a. O.,S. 85 (auch 12, 14).
Schmahl (2015), Fn. 54, S. 14 m. w. N.
Ausführlich zum Verhältnis von Meinungsfreiheit und Schutz vor rassistischer Diskriminierung vgl. Schmahl, Fn. 54, S. 18 ff.
EGMR (1994): Jersild gegen Dänemark. 23.09.1994. Beschwerde Nr. 15890/89 und EGMR (2006): Erbakan gegen Türkei. 06.07.2006.
Beschwerde Nr.,59405/00, so auch EGMR (2013): Vona gegen Ungarn. 09.07.2013. Beschwerde Nr. 35943/10.
EGMR (2004/2017): Natchova und andere gegen Bulgarien. 26.02.2004/05.04.2017. Beschwerde Nr. 43577/98, 43579/98.
WAS IST RASSISMU S?
33
Was ist Rassismus?
Eine Begriffsklärung
Chandra-Milena Danielzik
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
Es gibt Rassismus, aber keine menschlichen Rassen …
Grundstrukturen von rassistischem Denken
Wie werden die Anderen zu Anderen gemacht?
Rassismus und die Mitte der Gesellschaft
Struktureller und institutioneller Rassismus
Situative Benachteiligung und strukturelle Diskriminierung
Die Modernisierung des Rassismus
Rassismus und Gewalt
Sprache und Rassismus
„Ich bin doch kein Rassist!“
Nichts ist weniger unschuldig, als den Dingen ihren Lauf zu lassen.
Was die Sozialwelt hervorgebracht hat,
kann die Sozialwelt mit Wissen gerüstet
auch wieder abschaffen.
Eines jedenfalls ist sicher:
Nichts ist weniger unschuldig, als den
Dingen einfach ihren Lauf zu lassen.
(Pierre Bourdieu, 1997)1
Rassismus ist ein gesellschaftliches Verhältnis und
gestaltet all unsere sozialen Beziehungen sowie
das Verhältnis zwischen Subjekten und gesellschaftlichen Institutionen, indem es sie strukturiert. Grund- und menschenrechtliche Verbote
rassistischer Diskriminierung sind eine Reaktion
auf historisch entstandene und gesellschaftlich
verwurzelte Ungleichheit und das Resultat sozialer
Kämpfe gegen Diskriminierung. Das Strafrecht ist
also kein ahistorischer Raum, sondern steht immer
im dynamischen Zusammenhang mit gesellschaftlichen Veränderungsprozessen, Diskursen und
Ideologien. Nicht zuletzt sind es Justizpraktiker_
innen selbst, welche die Justiz und das Strafrecht
1
33
35
37
38
39
40
41
43
45
45
46
als gesellschaftlichen Raum von Aushandlungen
maßgeblich mitgestalten.
Das Strafrecht vermag nicht zu erklären, was Rassismus ist und wie dieser funktioniert. Gleichwohl
muss es – etwa im Kontext der Anwendung des
§ 46 Absatz 2 StGB – Rassismus erkennen und
bewerten. Dieser Beitrag erläutert und exemplifiziert die Elemente des sozialwissenschaftlichen
Verständnisses und bietet somit Hilfestellung, die
Konsequenzen für die Rechtsanwendung und die
Verfahrungsgestaltung zu reflektieren.
1 Es gibt Rassismus,
aber keine menschlichen
Rassen …
… denn die menschliche genetische Vielfalt tritt
nicht entlang jener Kriterien in Erscheinung, über
die Menschen in der Regel in unterschiedliche
Gruppen eingeteilt werden. Hautfarbe, Augenform
Pierre Bourdieu u. a. (Hg) (1997): Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz: UVK,
S. 826.
34
WAS IST R AS S I S M US ?
und Haarstruktur bilden genetisch gesehen keine
Demarkationslinien. Auch wenn diese äußeren
Kriterien alltäglich benutzt und bereits über
Jahrhunderte hinweg als evidente Markierungen
herangezogen werden, stellen die vermeintlichen genetischen Demarkationslinien lediglich
ideologische Fiktionen dar. Die Kategorie Rasse
ist also eine reine Erfindung des Rassismus, hält
sich jedoch hartnäckig als omnipräsenter Orientierungspunkt, um Menschen in Kategorien
einzuordnen.2
Selbst die nationale Zugehörigkeit und die vermeintliche kulturelle Prägung einer Person meinen
viele Menschen an der wahrgenommenen Hautfarbe oder anderen physischen oder kulturellen
Markern ablesen zu können. So wird die beiläufige
Frage „Wo kommen Sie her?“ oder sogar „Wo kommen Sie eigentlich her?“ oft unbedarft gestellt.
Sie birgt in sich jedoch die Grundannahme, dass
es einem Menschen äußerlich anzusehen ist, aus
welcher (nationalen) Kultur er kommt, welche
soziale Prägung er erfahren hat und welche Werte
er vertritt. Menschen werden mit der Frage nach
ihrer vermeintlich tatsächlichen Herkunft auf
ihren „eigentlichen“ Platz verwiesen, unabhängig
davon, wo sich die gefragte Person selbst verortet.
Migration und Menschen mit Migrationsgeschichte
werden in dieser Denkweise nicht als inhärenter
Bestandteil von „Deutschsein“ und der deutschen
Geschichte gedacht. People of Color/Schwarzen
Menschen in Deutschland wird Zeit ihres Lebens
zu verstehen gegeben, dass sie anhand ihrer
2
3
4
5
Körper als nicht zugehörig und als „Nicht-Weiß“
identifiziert werden.3 Während Weiße4 Menschen
mit dem Bewusstsein aufwachsen, normal und
am richtigen Platz zu sein, wird People of Color/
Schwarzen Menschen bereits in der Kindheit
von der Gesellschaft verdeutlicht, dass sie nicht
normal, sondern „anders“ seien und offensichtlich
nicht dazugehörten. Von klein auf müssen People of Color, die in Deutschland aufwachsen, mit
Ausgrenzung und Fremdzuschreibungen umgehen.
Rassialisierende Fremdzuschreibungen werden
oftmals internalisiert und Teil eines somit deformierten Selbstbildes und Selbstwert; oftmals wird
beispielsweise die eigene Hautfarbe als zu dunkel
und somit hässlich empfunden, es wird das eigene
Können unterbewertet und fehlende Repräsentation und Teilhabe an gesellschaftlichen Sphäre,
wie gehobene Berufsfelder, als „normal“ akzeptiert. Dies hat schwerwiegende psychische Folgen
für die Betroffenen.5 Sie werden mit der Frage
nach ihrer eigentlichen Herkunft ferner immer wieder auf ein Land oder einen Ort verwiesen, den sie
vielleicht nicht mal kennen oder mit dem sie etwas
gänzlich anderes verbinden als die Fragenden.
„Ich war mir immer bewusst, dass ich Schwarz
war. Die Leute fragten mich immer, wo ich herkomme […] sie fragen mich wieder und wieder und
wieder […] seitdem ich ein Kind bin: ‚Wo kommst
du her?‘, Einfach so! […] Sie schauen dich an, und
das Erste, was ihnen einfällt, ist zu überprüfen:
‚Wo kommt sie her?‘ Egal, wo du bist: im Bus, auf
einer Party, auf der Straße, beim Abendessen oder
Bei der rechtlichen Anwendung des Verbots rassistischer Diskriminierung wird immer wieder die Frage gestellt, ob eine bestimmte (zugeschriebene) Gruppenzugehörigkeit als „Rasse“ einzuordnen ist. Damit wird also auf ein naturalistisches Konstrukt menschlicher Rassen
zurückgegriffen, um zu entscheiden, ob Rassismus vorliegt. So schreibt etwa Tomuschat, Christian 2013: Der „Fall Sarrazin“ vor dem
UN-Rassendiskriminierungsausschuss. In: EuGRZ, S. 262–265: In kritischer Auseinandersetzung mit der Entscheidung des UN-Anti-Rassismus-Ausschusses lehnt Tomuschat die Einordnung des Ausschusses, die Äußerungen Sarrazins seien rassistisch gewesen, unter anderem
mit der Begründung ab, dass Türken und Araber nicht „als eine ‚Rasse‘ betrachtet werden“ könnten. „Gehören alle Personen, die nach
Deutschland einwandern möchten, einer Rasse an?“ (ebd., 265) fragt Tomuschat weiter.
Vgl. Kilmoba, Grada (2006): „Wo kommst du her?“ https://heimatkunde.boell.de/2006/05/01/wo-kommst-du-her (abgerufen am
16.10.18).
Es wird die Großschreibweise verwendet, um hervorzuheben, dass der Begriff Weiß nicht eine Farbe beziehungsweise eine objektiv
wahrnehmbare Kategorie oder eine Eigenschaft beschreibt. Mit Weiß wird eine dominante gesellschaftliche Position innerhalb eines
gesellschaftlichen Verhältnisses benannt. Ähnlich verhält es sich mit Schwarz, nur dass der Begriff Schwarze Menschen eine emanzipatorische Selbstbezeichnung ist. „Nicht-Weiß“ wird in Anführungszeichen gesetzt, da bei dieser Benennung herausgestellt werden muss, dass
„Nicht-Weiß“ keine einfache negative Abweichung der Weißen Norm darstellt.
Ausführliche Auseinandersetzung mit psychischen und gesundheitlichen Auswirkungen, die Rassismus auf die Betroffenen hat, sowie
Zusammenfassungen von Forschungsergebnissen hierzu können der Dokumentation der Fachtagung „Alltagsrassismus und rassistische
Diskriminierung Auswirkungen auf die psychische und körperliche Gesundheit“ von 2010 entnommen werden: https://www.elina-marmer.com/wp-content/uploads/2014/02/fachtagung_alltagsrassismus.pdf (abgerufen am 26.11.2018).
WAS IST RASSISMU S?
35
im Supermarkt. […] Irgendwie finde ich diese Frage
sehr rassistisch und sehr offensiv … weil sie wissen, dass es Schwarze gibt, die Deutsche sind.“6
eine bloße, wertneutrale Kategoriebildung handelt,
sondern um ein Diskriminierungs- und Gewaltverhältnis, wird im Folgenden erläutert.
Die gestellte Frage umschließt das unhinterfragte
Bedürfnis, Schlüsse aus der vermeintlich anderen Herkunft einer Person zu ziehen, auch wenn
eine territoriale Verortung faktisch nichts über
das Wesen oder die Eigenschaften eines Individuums aussagt.7 Die bekundete Neugier soll ein
ganz bestimmtes Verlangen stillen, ein Bedürfnis
befriedigen, das es zu hinterfragen gilt.8 Nicht
zuletzt deswegen, weil die Biographie und Familiengeschichte einer Person etwas zutiefst Persönliches ist. Eine flüchtige Bekannte danach zu fragen,
ob ihre Eltern heterosexuell und verheiratet sind
oder getrennt leben, würden beispielsweise viele
als unangemessen beschreiben – ebenso wie die
aus einer Antwort ad hoc gezogenen Schlüsse und
Assoziationen.
Um die Funktion und Wirkungsweise von Rassismus verstehen und kritisch reflektieren zu können,
ist es wichtig, sich mit seinen grundlegenden
Mechanismen vertraut zu machen: Charakteristisch für Rassismus ist, dass auf Grundlage
physischer und/oder vermeintlicher kultureller
oder religiöser Merkmale (zum Beispiel ein Kopftuch, eine Kippa) beziehungsweise auf Grundlage von Herkunft oder Nationalität Menschen
kategorisiert und zu Gruppen zusammengefasst
werden – mit der Konsequenz, dass sie nicht
mehr als Individuen wahrgenommen und nicht als
Individuen behandelt werden. Personen werden
zu Repräsentant_innen der ihnen zugeschriebenen Gruppe gemacht, wie etwa „die Flüchtlinge“
oder „die Moslems“. Das bedeutet, dass von der
Einzelperson auf die gesamte konstruierte Gruppe
geschlossen wird. Ein Beispiel: Wird in den Medien
berichtet, „ein Ausländer“, „ein Flüchtling“ oder
„ein Moslem“ habe eine Gewalttat begangen,
verlangt die Weiß-deutsche Öffentlichkeit von
anderen „Ausländern“, anderen „Flüchtlingen“
oder anderen „Moslems“, sich verantwortlich zu
zeigen, sich zu distanzieren und sich gegebenenfalls auch zu entschuldigen. Damit wird es zum
strukturellen Privileg, als Individuum und Subjekt
wahrgenommen zu werden. So wird weder von
Weißen Deutschen generell, noch von einzelnen
Christen in Deutschland erwartet, sich etwa im
Sinne einer verbindlichen christlichen Leitkultur
vom deutschen christlichen Fundamentalismus9
und vom sexuellen Missbrauch durch christliche
2 Grundstrukturen von
rassistischem Denken
„Alle Menschen haben Vorurteile“ heißt es oft –
und dies wird als relativierendes Argument ins
Feld geführt, wenn auf Rassismus oder andere Diskriminierungsverhältnisse aufmerksam gemacht
wird. Vorurteile, so wird gesagt, dienten dazu, die
Komplexität des gesellschaftlichen Umfelds zu verarbeiten. Kategorisierungen und Stereotype hätten
die Aufgabe, Orientierung zu schaffen, damit eine
Person sich selbst in einer Gruppe verorten und
somit die eigene Identität bestimmen könne.
Inwiefern es sich bei Rassismus aber nicht um
6
7
8
9
Ebd.
Es ist deswegen nicht das gleiche, wenn eine Weiße Deutsche im Ausland gefragt wird, wo sie herkommt. Deutschland und Deutschsein
ist eine global privilegierte Position. Ebenso hat die Frage „Wo kommen Sie her?“ nicht die gleiche Kontextbedeutung, wenn eine Weiße
deutsche Person eine andere Weiße europäische Person fragt.
Rassismus vermittelt sich nicht schlicht über Hass und Gewalt, auch vermeintlich „positive“ Attribuierungen oder das als „Interesse“
verpackte kann – insbesondere durch die Exotisierung des Gegenübers – rassistisch sein. Siehe hierzu: Danielzik, Chandra-Milena/Bendix,
Daniel (2010): Exotismus. “Get into the mystery …” In: ROSA – Die Zeitschrift für Geschlechterforschung, Nr. 40, 2010, S. 4-7: https://
www.mangoes-and-bullets.org/wp-content/uploads/2015/06/C.-M.-Danielzik-und-D.-Bendix-2010_Exotimus.-Get-into-the-Mystery…Die-Verflechtung-von-Rassismus-und-Sexismus.pdf (abgerufen am 28.10.2018).
Der Wissenschaftsjournalist Martin Urban konstatiert einen zunehmenden Fundamentalismus innerhalb der evangelischen Kirche in
Deutschland. Vgl. https://www.sueddeutsche.de/panorama/religion-fundamentalisten-gewinnen-in-der-evangelischen-kirche-immer-mehr-einfluss-1.2939174 (abgerufen am 16.10.2018). Die Theologin und Herausgeberin des Sammelbands „Rechtsextremismus als
Herausforderung für die Theologie“, Sonja Strube, bezieht sich auf verschiedene Studien, wenn sie feststellt, dass eine gruppenbezogene
Menschenfeindlichkeit und rechtsextreme Einstellungen unter Christen überdurchschnittlich vertreten seien (vgl. https://www.katholisch.
de/aktuelles/aktuelle-artikel/schockierende-beobachtungen (abgerufen am 16.10.2018). Auch der Konfliktforscher und Soziologe
36
WAS IST R AS S I S M US ?
Priester abzugrenzen oder sich von einzelnen –
zum Beispiel antisemitischen – Passagen und
Auslegungen der Bibel oder von anderen Christen zu distanzieren. Genauso wenig müssen sich
Weiße Menschen für schwere Straftaten oder für
rassistische beziehungsweise rechtsmotivierte
Taten anderer Weißer Menschen öffentlich entschuldigen. Es wird (unausgesprochen) vorausgesetzt, dass sich rassialisierte Menschen mit
der von außen an sie herangetragenen Projektion
des „anders Aussehens“ identifizieren und damit
Aussehen sowie kulturelle Symbole eine objektive
und faktische Differenzlinie zu Weißen (Deutschen)
bilden würden.
Ein zweiter grundlegender Mechanismus von
Rassismus ist das sogenannte Othering. Dieser
Begriff beschreibt den Prozess, in dem Menschen
durch die Konstruktion eines normbildenden Wir
zu normabweichenden Anderen gemacht werden.
Das „Wir“ und „die Anderen“ wird in das Verhältnis
einer binären10, hierarchisierten Gegenüberstellung gesetzt. Das dominante westliche Geschlechtermodell ist beispielsweise binär aufgebaut und
kennt lediglich Mann und Frau. Dabei beschreibt
die Kategorie Mann alles das, was Frau angeblich
nicht ist und vice versa. Ebenso verhält es sich im
(alltäglichen) Rassismus, in welchem Weiß oder
europäisch all das verkörpert, was die „Nicht-Weißen“ Anderen nicht sind.
Geläufige und alltagsgebräuchliche Beispiele
einer solchen wertenden Gegenüberstellung
zweier Begriffe, die sich jedoch gegenseitig
voraussetzen, sind zum Beispiel: entwickelt –
unterentwickelt, modern – traditionell, Hochkultur – naturverbunden, normal – behindert,
heterosexuell – homosexuell, rational – emotional,
zivilisiert – primitiv/wild, Westen – islamische
10
11
Welt, Mittelschicht – Unterschicht, und eben
Weiß – Schwarz sowie Mann – Frau.
Diese Gegenüberstellungen sind nicht neutral,
sondern hierarchisch miteinander verbunden:
Während der eine Begriff (zum Beispiel entwickelt,
modern, Hochkultur, …) Träger positiver Bedeutung
und Bewertung ist, sind die jeweiligen Gegenbegriffe (unterentwickelt, traditionell, naturverbunden, …) unterlegene Attribute, negativ konnotiert
und beschreiben diskriminierte Positionen in
der Gesellschaft. So ist der Westen, dem sich
das Weiß-deutsche „Wir“ zurechnet, entwickelt,
modern, zivilisiert, rational, hochkulturell geprägt,
etc. Diese positiven Begrifflichkeiten bilden die
(erstrebenswerte) Norm, von der das binäre
Gegenüber abweicht. Die Anderen werden somit
immer als Differenz definiert. Das bedeutet, dass
mit der Beschreibung der Anderen immer auch
eine implizite oder explizite Selbstkonstruktion und
Selbstbeschreibung verbunden ist:
„Die ausgeschlossene Gruppe verkörpert das
Gegenteil der Tugenden, die die Identitätsgemeinschaft verkörpert. Das heißt also, weil wir rational
sind, müssen sie irrational sein, weil wir kultiviert
sind, müssen sie primitiv sein, wir haben gelernt,
Triebverzicht zu leisten, sie sind Opfer unendlicher Lust und Begierde, wir sind durch den Geist
beherrscht, sie können ihren Körper bewegen, wir
denken, sie tanzen usw. Jede Eigenschaft ist das
umgekehrte Spiegelbild der anderen. Dieses System der Spaltung der Welt in ihre binären Gegensätze ist das fundamentale Charakteristikum des
Rassismus, wo immer man ihn findet. […] Rassismus mit seinem System binärer Gegensätze ist ein
Versuch, das Andere zu fixieren, an seinem Platz
festzuhalten […]. Er ist Teil unserer Selbstdefinition, unserer Definition, zu welcher Gemeinschaft
wir gehören…“11
Andreas Zick beschreibt, dass in einer Studie festgestellt werden konnte, „[…] dass tatsächlich christlich gebundene Menschen, die der
Meinung sind, dass die christliche Religion die einzig wahre ist und die dominante Religion sein muss, in allen Facetten der Menschenfeindlichkeit höhere Zustimmungen haben im Vergleich zu denen, die sich keiner Konfession zugehörig fühlen“ https://www.katholisch.
de/aktuelles/aktuelle-artikel/schockierende-beobachtungen (abgerufen am 16.10.2018). Vgl. auch https://www.br.de/nachricht/
rechtsaussen/christen-rechtsaussen-fundamentalismus-100.html (abgerufen am 16.10.2018) und https://www.nw.de/lokal/bielefeld/
mitte/22136530_Bielefelder-Konfliktforscher-warnt-auch-vor-christlichem-Terror.html (abgerufen am 16.10.2018).
Binär bedeutet in der Linguistik, dass ein Ganzes in zwei, einander wechselseitig ausschließende Oppositionen unterteilt ist.
Hall, Stuart (2000): Rassismus als ideologischer Diskurs. In: Räthzel, Nora (Hg.): Theorien über Rassismus, Hamburg: Argument Verlag,
S. 14. Hervorhebung durch die Autorin.
WAS IST RASSISMU S?
Was wäre die europäische Moderne ohne die vermeintliche Rückständigkeit anderer Gesellschaften? Was würde Männlichkeit ausmachen, wenn
sie nicht alles das wäre, was Frauen und Weiblichkeit nicht ist? Was wären Weiße Menschen, gäbe
es keine „Nicht-Weißen“/Schwarzen Menschen
und wie würden sich „Nicht-Weiße“/Schwarze
Menschen selbst wahrnehmen, gäbe es keine
Weißen, wären sie dann trotzdem „Nicht-Weiße“/
Schwarze Menschen?
3 Wie werden die Anderen
zu Anderen gemacht?
Die Wirkungsweise von Rassismus ist sehr komplex. Um Rassismus erkennen zu können, muss
betrachtet werden, auf welche Weise Menschen
zu Gruppen zusammengefasst und abgewertet
werden. Denn es existiert keine Rassismusschablone, die anzulegen wäre, um zu überprüfen, ob
Rassismus vorliegt oder nicht – und all jenes, was
nicht abgedeckt wird, wäre schlicht kein Rassismus. Menschen werden auf unterschiedliche
Weise rassialisiert. Rassialisierung12 bedeutet,
dass Menschen zu Zugehörigen einer Rasse erst
gemacht werden. So legt der Begriff den Konstruktionscharakter offen, der sich aus vermeintlich
objektiven Merkmalen wie Hautfarbe, Kopftuch
oder Augenform ergibt.13 Rassismus tritt quasi als
Plural in Erscheinung; man kann von verschiedenen Rassismen sprechen. Beispielsweise werden
muslimische Frauen nicht primär über phänotypische Körperlichkeit, sondern über das Tragen
eines Kopftuchs oder bestimmter Kleidung zu
12
13
14
37
Anderen gemacht. Anhand solcher Merkmale identifiziert, gehören sie dann nicht zum westlichen
Abendland und sind den vermeintlich deutschen
Werten fremd (anti-muslimischer Rassismus). Sinti
und Roma werden unter anderem als kriminell
und ungebildet stigmatisiert und bis zur Verarmung ausgegrenzt und verfolgt (Anti-Romaismus/
Antiziganismus); zudem wird die Verfolgung und
Vernichtung von Sinti und Roma im Nationalsozialismus in Deutschland nach wie vor vielfach
ignoriert. Afrikanische und arabische Männer
werden als sexuell besonders aktiv und aggressiv,
die sexuelle Selbstbestimmtheit der Weißen Frau
gefährdend und übergriffig konstruiert, während
asiatische Männlichkeit eher als verweiblicht und
devot wahrgenommen wird. Weiße (deutsche)
Frauen hingegen gelten in diesem Kontext als rein,
unschuldig und von den sexuellen Übergriffen
„Nicht-Weißer“ Männer bedroht, sie gilt es vor
der Verunreinigung zu schützen.14 Diese Zuschreibungen und Bilder über rassialisierte Menschen
gehören zum gesellschaftlich gängigen Repertoire.
Sie sind unterschwellig Teil der Sozialisation und
müssen nicht erst durch vorsätzlichen, bewussten
Rassismus erzeugt werden. Rassismus ist also
mehr als das, was offensichtlich gegen das Diskriminierungsverbot verstößt.
Rassialisierende Kategorien und Zuschreibungen
sind verinnerlicht und führen zur „Andersbehandlung“ und Benachteiligung. Sie sind von Kindheit
an in das Denken und in die Identitäten aller
Gesellschaftsmitglieder eingesickert und wirken so
bis tief in die Kapillarsysteme der Gesellschaft –
auf struktureller Ebene ebenso wie in sozialen
Zum Teil werden auch die bedeutungsgleichen Begriffe Rassifizierung oder Rassisierung verwendet.
Es wird auch von rassialisierten Menschen gesprochen, wenn „Nicht-Weiße“ Menschen gemeint sind, also Menschen, die rassistisch
diskriminiert werden. Ein Phänomen von Weißsein ist, dass Weiße Menschen eben nicht wirkmächtig zu den Anderen gemacht werden.
Vielmehr bilden sie die Norm, welcher die Anderen als Abweichungen untergeordnet werden; dabei wird Weißsein ent-nannt.
In der Silvesternacht 2015/2016 ereigneten sich am Kölner Hauptbahnhof in großer Anzahl sexuelle Übergriffe und Gewalttaten
seitens Gruppen von Männern gegen Frauen. Rassismusanalytische Beiträge, welche auf die mediale politische Debatte eingehen, die
im Anschluss entfacht wurde, sind unter anderem hier zu finden: Vgl. Dietze, Gabriela (2016): Ethnosexismus. Sex-Mob-Narrative um
die Kölner Silvesternacht. In: Journal for Critical Migration and Border Regime Studies 2 (1). http://movements-journal.org/issues/03.
rassismus/10.dietze--ethnosexismus.html (abgerufen am 28.10.2018). Vgl. MiGazin (2016): Ausländer in Köln angegriffen. Vergeltung.
http://www.migazin.de/2016/01/12/vergeltung-auslaender-in-koeln-angegriffen/ (aufgerufen 28.10.2018). Vgl. Bundeszentrale
für politische Bildung (2017): „Nach“ Köln ist wie „vor“ Köln. Die Silvesternacht und ihre Folgen: http://www.bpb.de/apuz/239696/
die-silvesternacht-und-ihre-folgen?p=all (aufgerufen am 28.10.2018). Vgl. amnesty international (2017): Massives Racial Profiling durch
die Kölner Polizei in der Silvesternacht. Maßnahme muss kritisch aufgearbeitet werde: http://amnesty-polizei.de/massives-racial-profiling-durch-die-koelner-polizei-in-der-silvesternacht-massnahme-muss-kritisch-aufgearbeitet-werden/ (aufgerufen am 28.10.2018). Vgl.
Deutschlandfunk (2017): Herrschaft durch Vorurteile. Vergifteter Feminismus: https://www.deutschlandfunk.de/herrschaft-durch-vorurteile-vergifteter-feminismus.1310.de.html?dram:article_id=400904 (aufgerufen am 28.10.2018).
38
WAS IST R AS S I S M US ?
Beziehungen und Begegnungen des täglichen
Zusammenlebens. Nicht einmal diejenigen, die
wissen, dass es keine menschlichen Rassen gibt
und die keinesfalls rassistisch denken wollen, sind
immun dagegen, Menschen mittels der beschriebenen Mechanismen zu rassialisieren. Es bedarf
eines aktiven und selbst-reflexiven Prozesses
des Ver-lernens solcher Wahrnehmungsmuster.
Ein erster Schritt dazu ist es, sich der eigenen,
untergründig rassialisierenden Ressentiments,
Denkstrukturen und Affekte bewusst zu werden –
nicht zuletzt sind diese die Legitimationsgrundlage
diskriminierenden Handelns und ökonomischer
Ausbeutung.
4 Rassismus und die Mitte
der Gesellschaft
Rassismus ist also keine Ausnahmeerscheinung,
kein Phänomen, das sich auf vereinzelte neo-nazistische Organisationen oder Individuen beschränkt.
In Deutschland und Europa begannen Rassismus
und der Antisemitismus und die ideologische Herstellung menschlicher Rassen nicht erst im Januar
1933; sie fanden auch kein Ende mit dem Jahr
1945. Der deutsche Faschismus stützte sich auf
bestehende rassistische, koloniale, antisemitische
Bilder und rassistische, koloniale, antisemitische
Praktiken von Ausbeutung und Vernichtung, die
auch nach dem Untergang des Nationalsozialismus weiterbestanden. Diese Traditionslinien und
ziehen sich von der Jahrhunderte andauernden
antisemitischen Verfolgung über den europäischen
Imperialismus und Kolonialismus bis in die Gegenwart. Dennoch wird Rassismus im dominanten
Diskurs in Deutschland auf Rechtsextremismus
15
16
17
verengt und historisch auf den Nationalsozialismus
reduziert.
Ein zu verengtes Verständnis von Rassismus in
Deutschland – auch in der deutschen Justiz –,
demzufolge das Problem allein mit dem organisierten Rechtsextremismus gleichgesetzt wird, wurde
in den vergangenen Jahren von mehreren internationalen Fachgremien kritisiert. Eine davon war die
Europäische Kommission gegen Rassismus und
Intoleranz (ECRI), ein Menschenrechtsgremium
des Europarats. Laut ECRI führt dieses verengte
Verständnis von Rassismus bei Strafverfahren
dazu, dass rassistische Tatmotive wenig Berücksichtigung finden und Taten von Personen außerhalb des organisierten rechtsextremen Spektrums
nicht adäquat erfasst werden.15
Menschenfeindliche beziehungsweise rassistische
Einstellungen sind faktisch nicht nur am sogenannten rechten Rand der deutschen Gesellschaft
verortet. Vielmehr können rechtspopulistische
Artikulationen als Zuspitzungen dessen verstanden werden, was in einer Gesellschaft denk- und
sagbar ist. Dass Ausgrenzung und Hass auf
Menschen mit Migrationshintergrund/„NichtWeiße“ nicht bloß bei einer kleinen Minderheit
der Deutschen zu finden sind, zeigt eine Langzeitstudie der Universität Leipzig über rechtsextreme
und antidemokratische Einstellungen:16 Mehr als
jede_r zweite Deutsche (57,8 Prozent)17 hätte
Probleme damit, wenn sich Sinti und Roma in ihrer
Gegend aufhalten würden. Dass muslimischen
Menschen die Zuwanderung nach Deutschland
untersagt werden sollte, findet fast jede_r zweite
Deutsche (41,4 Prozent), während sich mehr als
die Hälfte aller Deutschen „überfremdet“ fühlt.
Siehe ECRI (2017): Conclusions on the Implementation of the Recommendations in respect of Germany, subject to interim follow-up
28.2.2017 https://rm.coe.int/interim-follow-up-conclusions-on-germany-5th-monitoring-cycle/16808b568a (abgerufen am 9.10.2018).
Die Universität Leipzig führt seit 2002 alle zwei Jahre bevölkerungsrepräsentative Befragungen zu politischen Einstellungen in Deutschland
durch. Die sogenannte Mitte-Studie geht auch darauf ein, dass Befürworter_innen von Pegida (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) meist rechtsextreme und islamfeindliche Einstellungen haben und diese unabhängig von Bildungsabschluss oder
Haushaltseinkommen sind. Dies widerlegt die Behauptung, Rassismus/Rechtsextremismus wäre ein sogenanntes Unterschichtenphänomen und stünde in zwingendem kausalen Zusammenhang mit finanzieller Not. Vgl. Universität Leipzig (2016): https://www.uni-leipzig.de/
service/kommunikation/medienredaktion/nachrichten.html?ifab_modus=detail&ifab_uid=2d5c4ea4c420170721112446&ifab_id=6655
(abgerufen am 28.10.2018).
Die folgenden drei statistischen Angaben sind der Studie „Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland – Die Leipziger ‚Mitte‘-Studien 2016” der Universität Leipzig entnommen. Die angegebenen Werte sind das Ergebnis jener zusammengefassten Antworten, die den genannten Aussagen „eher“ oder „voll und ganz“ zugestimmt haben, vgl. https://www.uni-leipzig.de/
pressedaten/dokumente/dok_20160615154026_34260c0426.pdf (abgerufen am 28.10.2018).
WAS IST RASSISMU S?
Sinti und Roma neigen zur Kriminalität, sagen
58,5 Prozent der Befragten; bei der Prüfung von
Asylanträgen sollte der Staat nicht großzügig sein,
sagen 80,9 Prozent. Rassismus überlappt sich und
korrespondiert dabei mit anderen Diskriminierungen, aber auch mit Ideologien und (internalisierten) Werten und Haltungen gegenüber dem Staat,
der Auslegung von Demokratie18 und in Bezug auf
de-privilegierte Menschengruppen. Fast die Hälfte
aller befragten Deutschen (49 Prozent) wertet
auch Langzeitarbeitslose als Gruppe ab,19 was
unter anderem damit im Zusammenhang steht,
dass der Wunsch nach und die Vorstellung von
individueller Überlegenheit sowie Weiß-deutscher
Vorherrschaft – ein Triebmittel des Kolonialismus
und Faschismus – in Deutschland auch aus einer
vermeintlichen wirtschaftlichen Überlegenheit
abgeleitet wird.
In diesem Kontext von Begründungsstrategien
zur Abwertung von Menschen sowie im Kontext
Deutschlands als Gesellschaft mit einer kolonialen und nationalsozialistischen Geschichte,
verschwinden Vorstellungen, Ideologien und Werte
nicht einfach, sondern suchen sich neue Wege,
um sagbar zu bleiben und damit ausgrenzende
und ausbeutende Strukturen aufrechtzuerhalten.
Je mehr die Grenzen des Sagbaren in der Gesellschaft sich nach rechts verschieben, desto höhere
Aufmerksamkeit und Sensibilität ist vonnöten, um
rassistische Straftaten zu erkennen – und um zu
verstehen, wodurch sie gesellschaftlich ermöglicht
werden und welche Verantwortung die Justiz hierbei übernehmen muss.
18
19
20
21
39
5 Struktureller und
institutioneller Rassismus
Rassismus ist eine Form der Diskriminierung: Menschen, die aufgrund tatsächlicher oder zugeschriebener Merkmale zu Anderen gemacht werden,
erfahren Ausschlüsse und Ungleichbehandlung.
Sie haben unzureichende soziale, kulturelle und
politische Teilhabe- und Gestaltungsmöglichkeiten,
welche jedoch das Fundament einer demokratischen und offenen Gesellschaft bilden. Die durch
Diskriminierung hergestellte Differenz zwischen
Menschen wird interpersonell vermittelt, durch
Institutionen praktiziert und strukturell getragen: „Von strukturellem Rassismus spricht man,
wenn das gesellschaftliche System mit seinen
Rechtsvorstellungen und seinen politischen und
ökonomischen Strukturen Ausgrenzungen bewirkt,
während der institutionelle Rassismus sich auf
Strukturen von Organisationen, eingeschliffene
Gewohnheiten, etablierte Wertvorstellungen und
bewährte Handlungsmaximen bezieht. Der strukturelle schließt also den institutionellen Rassismus
ein.“20
Ein gutes Beispiel für die Analyse von strukturellem und institutionellem Rassismus stellt die
Arbeit der britischen Macpherson-Untersuchungskommission zum rassistisch motivierten Mord
am Schwarzen Jugendlichen Stephen Lawrence
dar. Stephen Lawrence war 1993 von fünf Weißen
Jugendlichen an einer Bushaltestelle in London
getötet worden. Die Täter wurden jedoch aufgrund
eklatanter Versäumnisse der Ermittlungsbehörden,
die auf direkte und indirekte rassistische Diskriminierung21 zurückzuführen waren, nicht verurteilt.
Mehr als jede_r achte Deutsche stimmte der Aussage zu, dass die Deutschen von Natur aus allen anderen Völkern überlegen sind, und
mehr als jede_r neunte Deutsche war der Meinung, Deutschland solle einen Führer haben, der das Land mit starker Hand regiert vgl.
https://www.uni-leipzig.de/pressedaten/dokumente/dok_20160615154026_34260c0426.pdf (abgerufen am 28.10.2018).
Langzeitstudie der Friedrich-Ebert-Stiftung: „Gespaltene Mitte — feindselige Zustände Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland
2016“, Erhebungen zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit Vgl. https://www.fes.de/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=11006&token=26af2f2c69f53b6d669a19e9f7e05da7237c0d87 (abgerufen am 28.10.2018).
Rommelspacher, Birgit (2011): Was ist eigentlich Rassismus? In: Melter, Claus/Mecheril, Paul (Hg.): Rassismuskritik. Band 1: Rassismustheorie und -forschung. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag, S. 30 (Hervorhebung durch die Autorin).
Direkte Diskriminierung meint eine explizite Ungleichbehandlung durch Regelungen und Gesetze. Beispielswiese dann, wenn People of
Color nicht in eine Diskothek gelassen werden oder People of Color oder (Weiße) Frauen weniger Gehalt erhalten als männliche Kollegen
für die gleiche Arbeit. Indirekte Diskriminierung ist insbesondere Teil von struktureller und institutioneller Diskriminierung. Insbesondere
für die Nicht-Betroffenen ist diese selten offensichtlich und dadurch auch schwer nachweisbar, siehe unter anderem Deutsches Institut für
Menschenrechte 2012: https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/uploads/tx_commerce/stellungnahme_des_dimr_fuer_die_17_
oeffentliche_anhoerung_der_enquetekommission_migration_u_integration_in_hessen_am_8_juni_2012.pdf (abgerufen am 28.10.2018).
40
WAS IST R AS S I S M US ?
Aufgrund zivilgesellschaftlicher Initiativen und
Protesten hat die Regierung im Jahr 1997 eine
unabhängige Untersuchungskommission eingerichtet. Sie wurde von Sir William Macpherson, einem
Richter am Obersten Gerichtshof Großbritanniens,
geleitet und legte 1999 ihren Abschlussbericht
vor.22
Der Kommission ging es bei ihrer Arbeit nicht um
die Identifizierung einzelner Personen in Polizei
und Justiz als Rassist_innen, sondern um institutionellen Rassismus der Ermittlungsbehörden
und der Strafjustiz, also um die strukturellen
Gegebenheiten, die unhinterfragte rassistische
Zuschreibungen und Abneigungen ermöglichten
und festigten.23 In diesem Sinne beschreibt die
Untersuchungskommission institutionellen Rassismus als das „kollektive Versagen einer Organisation, Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, Kultur
oder ethnischen Herkunft eine angemessene und
professionelle Dienstleistung zu bieten. Er kann
in Prozessen, Einstellungen und Verhaltensweisen gesehen und aufgedeckt werden, die durch
unwissentliche Vorurteile, Ignoranz und Gedankenlosigkeit zu Diskriminierung führen und durch
rassistische Stereotypisierungen […] benachteiligen. Er überdauert aufgrund des Versagens der
Organisation, seine Existenz und seine Ursachen
offen und in angemessener Weise zur Kenntnis
zu nehmen und durch Programme, vorbildliches
Handeln und Führungsverhalten anzugehen. Ohne
Anerkennung und ein Handeln, um solchen Rassismus zu beseitigen, kann er als Teil des Ethos oder
der Kultur der Organisation weit verbreitet sein.“24
22
23
24
6 Situative Benachteiligung
und strukturelle
Diskriminierung
Von Bedeutung ist im Kontext rassistischer Diskriminierung die Unterscheidung zwischen situativer
Benachteiligung und struktureller Diskriminierung.
Von einer Weißen Person kann beispielsweise in
ihrem Kenia-Urlaub bei der Nutzung des Taxis ein
höheres Entgelt verlangt werden. Diese Situation
kann durchaus als unangenehm erlebt werden,
es kann das Gefühl entstehen, für „doof verkauft“
und betrogen worden zu sein – dennoch wäre es
nicht zutreffend, sie als rassistische Diskriminierung gegen Weiße Europäer_innen zu beschreiben.
Es handelt sich um eine situative, temporäre und
individuelle Benachteiligung, die noch dazu unter
wirtschaftlichen Gesichtspunkten insgesamt für
die betroffene Person wenig ins Gewicht fallen
dürfte. Damit ein gesellschaftliches Diskriminierungsverhältnis gegeben ist, müssten (globale)
gesellschaftliche Strukturen in einer Art und Weise
gestaltet sein, dass Weiße Menschen als Gruppe
immanent benachteiligt wären, was weder global
noch innergesellschaftlich der Fall ist.
Durch die Ungleichbehandlung erleiden die Betroffenen immaterielle und auch materielle Schäden.
Diese Nachteile können ebenso direkt wahrnehmbar sein wie offen rassistische Beschimpfungen.
Sie können aber auch subtil sein – was sie nicht
weniger wirkmächtig macht, da sie auf die Lebensgestaltung, die zur Verfügung stehenden Entfaltungsressourcen, die Selbstwahrnehmung und die
Identität der diskriminierten und diskriminierenden Personen grundlegenden Einfluss nehmen. Für
erstere bedeuten sie soziale und gesellschaftliche
Exklusion.
Vollständiger Bericht in englischer Sprache einzusehen unter Gouvernment UK/Home Office 1999: https://www.gov.uk/government/
publications/the-stephen-lawrence-inquiry, (abgerufen am 24.10.2018). Vgl. auch Büro zur Umsetzung von Gleichbehandlung e. V.:
Dossier zum Thema Polizeiliche Untersuchungen bei rassistisch motivierten Straftaten https://bug-ev.org/fileadmin/user_upload/Dossier_zum_Thema_Polizeiliche_Untersuchungen_bei_rassistisch_motivierten_Straftaten.pdf (abgerufen am 24.10.2018).
Vgl. Lewicki, Aleksandra (2014): 15 Jahre Macpherson-Bericht: Institutioneller Rassismus in Großbritannien und Deutschland. https://
www.nsu-watch.info/2014/02/15-jahre-macpherson-bericht-institutioneller-rassismus-in-grossbritannien-und-deutschland/ (abgerufen
am 24.10.2018).
Macpherson_Bericht, zitiert nach Gomolla, Mechthild (2005): Schulentwicklung in der Einwanderungsgesellschaft. Strategien gegen institutionelle Diskriminierung in England, Deutschland und in der Schweiz, Münster: Waxmann Verlag, S. 58.
WAS IST RASSISMU S?
7 Die Modernisierung des
Rassismus
Die Art und Weise, wie sich Rassismus artikuliert,
ist von starken Wandlungsprozessen geprägt.
Unterschiedliche Ausformungen, die in bestimmen zeitlichen Phasen Konjunktur haben, stehen
im Zusammenhang gesellschaftlicher und historische Veränderungen. Rassismus zeigt sich so
immer wieder im neuen Gewand, ohne dabei seine
grundlegenden Funktionsweisen abzulegen.25 Im
Nationalsozialismus dominierte in Deutschland
beispielsweise ein vordergründig genetisch-biologistischer Rassismus, gepaart mit einer agrarisch-völkischen Blut-und-Boden-Ideologie, die im
Menschheitsverbrechen der Vernichtung der europäischen Juden und der Sinti und Roma mündete.
Nach dem zweiten Weltkrieg kam es in Deutschland zu einer Verlagerung hin zu einem Rassismus,
der ohne ein explizites Rassekonzept auskam und
stattdessen gegensätzliche, national oder „völkisch“ unvereinbare Kulturen postulierte. Dass
es zur Rassialisierung von Menschen nicht immer
primär äußerer Unterscheidungsmerkmale bedarf,
um Unterdrückung, Ausbeutung und Vernichtung
zu legitimieren, zeigt auch der Antisemitismus und
der deutsche Faschismus.
Dadurch, dass Rassismus immer wieder neue
Formen annimmt und auf unterschiedliche Arten
rationalisiert und plausibel gemacht wird, konnte
er über die Jahrhunderte hinweg Bestand haben.
Eine Form des Rassismus löst eine andere jedoch
nicht einfach ab. Kultur, evolutionistisches Fortschritts- und Entwicklungsdenken, Religion, Biologie und phänotypische Differenzlinien wirkten im
europäischen Rassismus, welcher durch Kolonialismus und Imperialismus globalisiert wurde, immer
schon zusammen.26 Durch den Nationalsozialismus
25
26
27
41
ist der Begriff „Rasse“ in Deutschland weitestgehend diskreditiert worden. Dies hat den Effekt,
dass Rassismus externalisiert wird; sei es als
abwälzende Projektion auf andere Gesellschaften27 oder sogar auf abtrünnige Einzelne in der
eigenen Gesellschaft (wie organisierte Neo-Nazis).
Eine weitere Externalisierungsstrategie besteht
darin, Rassismus auf den Nationalsozialismus zu
reduzieren, der als abgeschlossene Vergangenheit
sozusagen im Museum entsorgt wird.
Weder die Tatsache, dass der Begriff „Rasse“ in
Deutschland nach dem Nationalsozialismus mit
einem Tabu belegt war, noch die naturwissenschaftliche Widerlegung der Rassentheorien hat
dazu geführt, dass es keinen Rassismus mehr gibt.
Im Gegenteil: Modifizierte Formen des Rassismus
werden gerade dadurch wirksam, dass Rassismus
nicht thematisiert und schlicht geleugnet wird.
Es gibt manchmal mehr Empörung gegen jene
Menschen, die Rassismus anprangern und benennen, als gegen Rassismus selbst. Dies ist Teil von
strukturellem Rassismus. Ein verantwortungsvoller Umgang damit kann sich also nicht auf das
Erinnern an den Nationalsozialismus beschränken,
sondern muss die (ideologischen) Kontinuitäten
von Nationalsozialismus und Kolonialismus in der
Gegenwart in den Blick nehmen.
Es hat sich, wie oben beschrieben, also nur die
Ausdrucksform des Rassismus geändert, sozusagen die Bildoberfläche. Heute ist oftmals statt von
unterschiedlichen biologisch-genetischen Rassen
von unterschiedlichen Kulturen die Rede. Wir
sprechen darum vom sogenannten Neo-Rassismus
oder auch Kulturalismus. Letzteres soll die Platzhalterfunktion des Begriffs Kultur für den Begriff
Rasse herausstellen. In ihrer Verwendung weisen
beide Konzepte, Rasse und Kultur, weitestgehend
„[Im Kolonialismus wurde] die Schwarze Bevölkerung als „primitiv“ und „unzivilisiert“ deklariert, um ihre Ausbeutung und Versklavung zu
rechtfertigen. Eine solche Legitimation war vor allem deshalb geboten, weil die Zeit der kolonialen Eroberungen auch die Zeit der bürgerlichen Revolutionen und der Deklaration der Menschenrechte war. Das heißt die Europäer mussten eine Erklärung dafür finden, warum
sie einem großen Teil der Erdbevölkerung den Status des Menschseins absprachen, obwohl sie doch gerade alle Menschen zu freien und
gleichen erklärt hatten. Insofern kann Rassismus als eine Legitimationslegende verstanden werden, die die Tatsache der Ungleichbehandlung von Menschen „rational“ zu erklären versucht, obgleich die Gesellschaft von der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen ausgeht. Vgl.
Rommelspacher, Birgit (2011): Was ist eigentlich Rassismus? In: Melter, Claus/Mecheril, Paul (Hg.): Rassismuskritik. Band 1: Rassismustheorie und -forschung. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag, S. 25–38.
Vgl. Hund, Wulf D. (2007): Rassismus, Bielefeld: transcript Verlag, S. 6–8.
Etwa das frühere Apartheidregime in Südafrika oder die USA in den Zeiten der „racial segregation“ oder sogar „der Osten“ Deutschlands:
das seien Beispiele für „wahren“ Rassismus, alles andere sei nicht wirklich rassistisch.
42
WAS IST R AS S I S M US ?
den gleichen Bedeutungsradius auf: Menschen
werden zu einer Gruppe zusammengefasst, in
welche sie vermeintlich hineingeboren werden.28
Diese Gruppe ist als Entität von anderen abgegrenzt und in sich homogen; die Zugehörigkeit zu
ihr hängt nicht von der Entscheidung einer Person
ab, sondern wird gegebenenfalls phänotypisch
und anhand von vermeintlich kulturellen Markern
bestimmt. Kulturelle Eigenschaften werden also
naturalisiert.29
Ebenso verhält es sich mit dem Begriff Ethnie. Die
Bedeutungsüberschneidung mit dem Konzept der
Menschenrasse wird an der Definition von Ethnie
im deutschen Duden deutlich. Hier wird eine Ethnie als „Menschengruppe (insbesondere Stamm
oder Volk) mit einheitlicher Kultur“30 definiert,
wobei die Einheitlichkeit der Kultur vorausgesetzt
ist und schließlich wieder zum Platzhalter von
Rasse wird. Menschen innerhalb eines Strafverfahrens als „einer ethnischen Gruppe zugehörig“ oder
„mit anderer ethnischer Herkunft“ zu beschreiben,
reproduziert rassistisches Denken und ist auch
deshalb bedenklich, da keine Kultur einheitlich
ist. Insbesondere wenn Opfer oder Täter_innen
bereits länger in Deutschland leben oder sozialisiert worden sind, kann schwerlich eine „andere
einheitliche Kultur“ unterstellt werden, die sich in
Abgrenzung zur vermeintlich „reinen deutschen“
Kultur definiert, welche nur von Weißen Deutschen
verkörpert wird.
Auch die Verwendung des Begriffes Volk ist häufig
Ausdruck autoritären und rassistischen Denkens.
Im Gegensatz zur eher neutralen Definition von
Staatsvolk, das als „die Gesamtheit der durch
die Herrschaftsordnung vereinigten Menschen“31
verstanden wird, wird der Begriff Volk ideologisch
benutzt. Er bezieht sich nicht auf eine empirische
28
29
30
31
32
Größe wie der Begriff Bevölkerung und benötigt
immer ein „Wir“ und „die Anderen“. Die heutige
Rede vom „Volk“ ist im historischen Kontext zu
betrachten: „[Sie] legt eine spezifisch deutsche
Färbung frei. Dieser Volksbegriff hat viel mehr mit
den rassistischen Wurzeln des völkischen Denkens
gemein, als das neue Staatsbürgerrecht erkennen
lässt. Wenn ein Autor wie Thilo Sarrazin ‚Deutschland schafft sich ab‘ titelt, ist diese Behauptung
rassisch-eugenisch grundiert. Wenn sich eine
Bewegung ‚Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes‘ nennt, ruft sie einen
völkisch-rassischen Hintergrund auf […]“32
Sogenannte Neue Rechte nutzen nicht nur die
rassische Konnotation von „Volk“, sie bedienen
sich auch der inhaltlichen Überschneidung von
Rasse und Ethnie. In öffentlichen Darstellungen
der eigenen Ideologien und Politiken wird Rasse
als Begrifflichkeit aktiv vermieden und stattdessen Ethnie verwendet. Die Funktion des Konzepts
Rasse muss somit nicht aufgegeben werden –
außer mit Ethnie kann Rasse auch mit Nation und
Volk ersetzt werden.
Die Neuen Rechten sehen mit ihrem sogenannten
Ethnopluralismus nicht die Herkunft von Menschen als zentral an und differenzieren diese auch
nicht primär nach genetisch-biologischen Merkmalen, sondern über unterschiedliche Kulturen. Die
Grundannahme ist die Unvereinbarkeit verschiedener Kulturen, die gegeneinander abgegrenzt,
voreinander geschützt und reingehalten werden
sollen: „Unter Ethnopluralismus verstehen wir
die Vielfalt der Völker, wie sie sich über Jahrtausende entwickelt hat. […] Es gibt ein Recht auf
Verschiedenheit. Jede Ethnie hat das Recht, ihre
Kultur, ihre Bräuche und Traditionen, also ihre
ethnokulturelle Identität, zu erhalten. Wir treten
So erscheint es vielen als auffällig, wenn eine Weiße Deutsche muslimischen Glaubens ein Kopftuch trägt – quasi unnatürlich.
Soziale Verhältnisse und rassistisch bedingte Ungleichheiten zu naturalisieren ist ein Mechanismus, der Rassismus Wirkungsmacht verleiht. Naturalisierung bedeutet, dass etwas als „natürlich“, als „Naturgesetz“ und somit als biologisch oder genetisch determiniert betrachtet wird, obwohl es jedoch tatsächlich sozial herbeigeführt wurde. Gesellschaftliche Ordnung und soziale Ungleichheit werden oftmals als
aus der „Natur“ entlehnt beschrieben und müssen somit weder erläutert noch infrage gestellt werden.
Duden Online (2018): Ethnie https://www.duden.de/rechtschreibung/Ethnie (abgerufen am 10.10.2018).
Lemma „Staat“ in: Duden Recht A-Z (2015). Fachlexikon für Studium, Ausbildung und Beruf. 3. Aufl. Berlin: Bibliographisches Institut
2015. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. Zitiert nach: Bundeszentrale für politische Bildung. http://www.bpb.
de/nachschlagen/lexika/recht-a-z/22908/staat (abgerufen am 10.10.2018).
Decker, Oliver/Kiess, Johannes/Brähler, Elmar (2016): Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland,
Gießen: Psychosozial-Verlag, S. 17.
WAS IST RASSISMU S?
43
für diesen Erhalt ein, hierzulande und in der Welt.
Immer wieder wird der Begriff Ethnopluralismus
fälschlicherweise als weltweite Apartheit ausgelegt. Das ist ungefähr so richtig, als wenn man den
amerikanischen Ureinwohnern Rassismus vorwerfen wollte, weil sie sich gegen die Landnahme
der Europäer wehrten. Ethnopluralismus bedeutet
lediglich: bewahren, nicht zerstören; Unterschiede
wertschätzen, nicht nivellieren.“33 So liest sich das
Verständnis von Kultur und Ethnopluralismus auf
der Website der sogenannten Identitäten Bewegung Deutschland, einem seit 2014 bestehendem
Ableger der in Frankreich gegründeten rechtsextremen Gruppierung, die sich tendenziell aus
jungen, hippen Mitgliedern jenseits des brachialen
Erscheinungsbildes von klassischen Neo-Nazis
zusammensetzt.
ist und sich auf einen (indirekten) mehrheitsgesellschaftlichen Konsens stützt. Konsens in diesem
Kontext bedeutet, dass die Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft eine übereinstimmende Meinung
zu etwas haben und diese Meinung nicht immer
wieder erfragt werden muss, sondern als normal
vorausgesetzt werden kann. Und Konsens meint
hier auch all das, dem eine Gesellschaft indirekt
zustimmt und das sie zulässt (indem sie es nicht
verhindert). Das bedeutet, dass Diskriminierung
erst dann Wirkungsmacht entfaltet, wenn sie von
der Mehrheitsgesellschaft als ausgesprochener
und unausgesprochener Konsens getragen wird
und strukturell eingebettet ist. Es bedarf einer
gesellschaftlichen Machtposition, um Diskriminierung und Rassismus auszuüben und (strukturell)
wirksam zu machen.
Durch alltagsgebräuchliche Argumentationmuster
wird versucht, rassistische und rechte Positionen
mehrheitsfähig und unangreifbar zu machen.
Hier wird deutlich, dass Wissen und Sensibilität
erforderlich sind, um rassistische Grundmuster zu erkennen: Sogar rassismuskritische und
antikoloniale Argumentationsfiguren können auf
diese Art umfunktioniert werden, um rassistisch
zu argumentieren und rassisch-völkische Ideologien anschlussfähig zu machen. Es zeigt sich: Um
rechtsextrem oder rassistisch zu wirken, bedarf es
keines expliziten Rassebegriffs, keiner offensichtlichen rassistischen Beschimpfung, keiner „Ausländer raus!“-Parolen, keiner Mitgliedschaft in einer
rechten Partei oder Organisation, keiner rechten
Tatoos, keiner Springerstiefel oder Glatze. Umso
dringender ist es, sich aus dem verengten Rassismusverständnis zu lösen, um Rechtsextremismus
und auch Alltagsrassismus begegnen zu können.
Sowohl Macht als auch Gewalt sind komplexe und
abstrakte Begrifflichkeiten, die im Alltagsverständnis oftmals im verengten Sinn gebraucht werden.
Gewalt wird dabei als körperlich, unter Umständen
auch psychisch, vermittelter Zwang verstanden,
der auf Personen oder Personengruppen ausgeübt
wird. Eine solche Auffassung von Gewalt berücksichtigt vor allem direkte, sichtbare (und körperlich
artikulierte) Gewaltakte, wie sie das Strafrecht
etwa als Körperverletzungs- und Tötungsdelikte
verfolgt. Um gesellschaftliche Realität und Diskriminierungsverhältnisse beschreiben zu können,
muss jedoch der Blick auf weitere Formen von
Gewalt gelenkt werden, die nicht zwangsläufig
strafrechtlich erfasst werden, die jedoch für Rassismus als Diskriminierungsverhältnis grundlegend
sind: Hierbei handelt es sich um strukturelle/institutionelle und sozio-kulturelle/symbolische Macht
beziehungsweise Gewalt.34
8 Rassismus und Gewalt
Strukturelle Gewalt tritt nicht unmittelbar und
situativ vermittelt in Erscheinung, sondern ist
eingewoben in das soziale und institutionelle
Ordnungssystem einer Gesellschaft und zeigt sich
beispielsweise am Zugang zu Ressourcen wie
unter anderem zu Bildung, zum Wohnungs- und
Der beschriebene Unterschied zwischen situativer
Benachteiligung und struktureller Diskriminierung
liegt darin begründet, dass Diskriminierung immer
ein Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse
33
34
Siehe https://www.identitaere-bewegung.de/faq/was-ist-unter-dem-begriff-ethnopluralismus-zu-verstehen/, (abgerufen am 10.10.2018).
Der norwegische Soziologe und Mathematiker Johan Galtung erweiterte den vereinfachten Gewaltbegriff und entwarf ein sogenanntes
modellhaftes Gewaltdreieck aus personaler/direkter Gewalt, struktureller Gewalt/indirekter Gewalt und kultureller Gewalt, wobei alle
Gewaltformen in Wechselwirkung zueinander stehen.
44
WAS IST R AS S I S M US ?
Arbeitsmarkt, zur Gesundheitsversorgung und
zur Verwirklichung von Rechten und gesellschaftlicher Teilhabe. Die Beschränkung materieller
Ressourcen wird zumeist naturalisiert und nicht
als strukturelle Gewalt anerkannt. So mag es
quasi natürlich erscheinen, dass abgewertete
und schlecht bezahlte Hausarbeit von Frauen, vor
allem von migrantischen Frauen, geleistet wird.
Es mag auch natürlich erscheinen, dass Kinder
von Arbeiter_innen und/oder Migrant_innen
wesentlich seltener Universitätsabschlüsse
machen und beispielsweise im Jurastudium unterrepräsentiert sind. Die Ursachen dafür nicht zu
benennen, trägt bei zur Verstetigung struktureller
und institutioneller Macht und gesellschaftlicher
Gewaltverhältnisse.
Um Rassismus auszuüben, bedarf es Durchsetzungs- und Handlungsmacht. Nur so können
rassistische Handlungen, wie zum Beispiel (indirekte) Ausschlüsse aus Institutionen oder von
Teilhabe, wirksam werden. Dabei kann Macht als
der Radius an Möglichkeiten einer Person oder
einer Gruppe verstanden werden, eigene Interessen und Normen durchzusetzen. Diese Durchsetzung kann über physische Gewalt, aber auch über
die Ausgestaltung von Gesetzen oder staatlichen
Einrichtungen (zum Beispiel ein segregierendes
Schulsystem) erfolgen. Auch die Beeinflussung
der öffentlichen Meinung und des mehrheitsgesellschaftlichen Konsens gehört zu den Formen,
in denen strukturelle Gewalt sich ausdrücken und
durchsetzen lässt. Das Verfügen über Kapital oder
soziale Netzwerke bestimmt ebenfalls das Ausmaß
an gesellschaftlicher Dominanz und Durchsetzungsfähigkeit. Je freier eine bestimmte Person
in der Entscheidung und den Möglichkeiten ist,
einen angestrebten Zustand herbeizuführen – sei
es durch Geld, politischen oder sozio-kulturellen
Einfluss oder aus einer gesellschaftlichen Position
heraus –, desto mehr Handlungsmacht hat sie.
Das Konzept der symbolischen Gewalt35 soll erklären, wie Ideologien, Werte, Normen, die alltäglich
wirksam sind, als normal, selbstverständlich und
35
36
plausibel erscheinen und deshalb nicht als Gewalt
erlebt und anerkannt werden. Die symbolische
Gewalt bleibt daher quasi „unter dem Radar“,
formt jedoch das Leben jedes einzelnen Menschen
in einer von Ungleichheit geprägten Gesellschaft.
Somit ist unter anderem die Glaubwürdigkeit einer
Person, die bei Zeug_innenaussagen vor Gericht
von besonderer Relevanz ist, eine soziale und
symbolische Ressource. So spielen die Kleidung,
der Habitus, die Ausdrucksweise, der Beruf, die
körperliche Erscheinung, Gender,36 Klasse, und
ob eine Person Weiß oder of Color ist, immer
eine Rolle. Es handelt sich um sozio-politische
Codes, die klare Ab- und Aufwertung vermitteln
und automatisch vom Gegenüber registriert und
eingeordnet werden. Nicht erst körperliche oder
verbale Gewalt gegenüber rassistisch Diskriminierten ist Rassismus. Auch Gefühle, Wahrnehmungen
und Haltungen – die einer Person selbst manchmal
nicht bewusst sind – bringen die Manifestation
von Rassismus in der Gesellschaft bis hin zum
Individuum zum Ausdruck. Der Begriff des rassistischen Ressentiments ist hier insofern brauchbar,
da dieser die Aufmerksamkeit auf die psychische
Dimension und auf latente, unbewusste Aggressionen lenkt.
Macht drückt sich auch in der Selbstrepräsentation in der Öffentlichkeit aus. Es handelt sich
um die sogenannte Repräsentationsmacht: Wer
schafft welches Wissen über wen? Welches Wissen
wird als Wahrheit anerkannt, von allen geteilt und
somit durchgesetzt? Die Frage danach, wie Menschen in der Gesellschaft repräsentiert werden,
das heißt welches Bild von ihnen dominant ist und
mit welchen Zuschreibungen sie belegt sind, ist
eine Frage nach der Durchsetzung symbolischer
Macht. Rassialisierte Menschen schlagen zum
Beispiel die Zeitung auf und werden dort vor allem
negativ repräsentiert. Sogenannte Jugendliche
mit Migrationshintergrund, Menschen afrikanischer Herkunft, muslimische Frauen mit Kopftuch
werden als Problem und Gegenstand von Politik
dargestellt. Weiße Männer und Frauen hingegen
werden als politische Akteur_innen dargestellt, die
Dieses Konzept geht auf den französischen Soziologen Pierre Bourdieu zurück.
Deutschlandfunk (2017): Witnessing Gender. Von der Grammatik der Zeugenschaft vgl. https://www.deutschlandfunk.de/witnessing-gender-von-der-grammatik-der-zeugenschaft.1184.de.html?dram:article_id=393717 (abgerufen am 10.10.2018).
WAS IST RASSISMU S?
45
handeln, das Weltgeschehen lenken und Veränderung herbeiführen. Sie schaffen Arbeitsplätze, sie
äußern sich als Expert_innen und können dabei
über andere sprechen etc.
zu „Ausländern“ gemacht, es wird gleichzeitig
auch impliziert, dass sie keine „richtigen Deutschen“ wären – unabhängig von der tatsächlichen
Staatsangehörigkeit.
9 Sprache und Rassismus
An dem Begriffspaar „arabische Großfamilie“ kann
ebenfalls verdeutlicht werden, wie neutrale Worte
und Bezeichnungen über ihre Kontextualisierung
zu rassistischen Markierungen werden, somit eine
gesellschaftliche Funktion einnehmen und nicht
länger neutral sind. „Arabische Großfamilie“ als
Begriffspaar wird in der Regel nur im Kontext von
Drogen-, Banden und Gewaltkriminalität benutzt.
Kriminalität wird somit externalisiert: Die Großfamilie wird als arabisch, als anders und eben nicht
als deutsch bezeichnet. Sie bildet eine vermeintliche kulturelle Enklave innerhalb der rechtschaffenen Weißen Gesellschaft. Großfamilie deutet
dabei auf vermeintlich archaische Familien- und
Gesellschaftsstrukturen hin, die dem scheinbar
modernen Familienmodell der Kleinfamilie binär
gegenüberstehen.
Sprache ist Macht. Sie ist nicht nur ein Abbild von
Wirklichkeit – ihre Sprache und Begriffe bringen
die Wirklichkeit auch hervor und gestalten diese.
Wie eine Person benannt wird, nimmt Einfluss auf
ihre Identität und Selbstwahrnehmung und setzt
sie zu anderen Menschen in ein (hierarchisiertes) Verhältnis. Die Worte Mama oder Papa zum
Beispiel tragen einen ganzen gesellschaftlichen
Komplex in sich. Ein einziges Wort drückt aus, wie
Familie, soziale Beziehungen und Gefühle in der
Gesellschaft strukturiert, gelebt und an Normen
und Werte gebunden werden. So spiegelt sich
auch rassistisches beziehungsweise rassialisierendes Denken als vermeintliche Normalität in
unserer Alltagssprache wider. Es setzt Menschen
zueinander in Beziehung und weist ihnen so einen
Platz in der Gesellschaft zu. Begriffe sind dabei
nicht statisch, sondern werden von gesellschaftsdynamischen Veränderungsprozessen immer
wieder neu bestimmt. So hat beispielsweise der
Begriff „Asylant“ im Kontext von rassistischen
Debatten in der deutschen Gesellschaft, insbesondere seit den 1990er Jahren, eine Bedeutungsverschiebung erfahren: Von einer Bezeichnung für
eine Person, die das Grundrecht des politischen
Asyls in Anspruch nimmt hin zu einem pejorativen
Begriff. Schließlich haben auch die Medien von der
Verwendung dieser Bezeichnung abgesehen. Ein
Begriff ist gewissermaßen die Hülle einer Sache
und keinesfalls mit dieser identisch.
So können gesellschaftliche Diskriminierungsverhältnisse mit Sprache reproduziert und symbolische und faktische Ausschlüsse vollzogen/
manifestiert werden. Ein anderes Beispiel ist
der Begriff „Ausländerhass“, der oftmals synonym mit dem Rassismusbegriff verwendet wird.
Er soll Gewalt gegen Menschen verdeutlichen,
die aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes
abgewertet oder angegriffen werden. In der Strafjustiz wird der Begriff häufig in Zusammenhang
mit rassistisch motivierten Straftaten verwendet,
wenn das Opfer der Tat nicht als Weiß gesehen
wird. Die Betroffenen werden dadurch nicht nur
Auch für das Strafverfahren sind diskriminierungssensible Sprache und eine Auseinandersetzung
mit dem Bedeutungsraum von Begriffen wichtig.
Praktische Hinweise dafür gibt das Glossar im
Materialanhang dieses Bandes.
10 „Ich bin doch kein
Rassist!“
Gesellschaftliche Sphären und Institutionen, wie
Schule, Familie, Justiz, Ehe, Polizei, Kindergärten
und Gerichtsverfahren, sind nicht per se diskriminierungsfrei. Vielmehr müssen Institutionen
und soziale Räume aktiv diskriminierungssensibel
gestaltet werden. Erst die Anerkennung dieser Tatsache ermöglicht Transformation und den Abbau
von Rassismus. Hierfür müssen sich Akteur_innen
in einem ersten Schritt der omnipräsenten und alltäglichen Möglichkeit rassistischer Diskriminierung
bewusst werden und diese für sich und andere
sichtbar machen. „Ich bin doch kein Rassist!“, „Ich
bin doch kein Nazi!“, sind Abwehrstrategien, um
sich gegen Kritik und gegen Bestrebungen zum
Abbau rassistischer Diskriminierung zur Wehr
zu setzen. Durch solche Beteuerungen wird der
Weg geebnet, die strukturelle, institutionelle und
alltägliche Gegenwart von Rassismus zu negieren
46
WAS IST R AS S I S M US ?
und gleichzeitig zu verstetigen. Um Rassismus zu
überwinden, muss dieser zuerst erkannt werden:
Wo kein Problem gesehen wird, kann auch keine
Lösung gefunden werden.
Der Wunsch, nicht rassistisch zu sein, ist nicht
deckungsgleich mit der Tatsache, tatsächlich
nicht rassistisch zu sein. Rassistische Strukturen können auch unbewusst übernommen und
reproduziert werden. Wenn ich mit meinem Ball
eine Fensterscheibe meiner Nachbarin zerschlagen würde, ginge es im nächsten Schritt darum,
Verantwortung dafür zu übernehmen und den
entstandenen Schaden auszugleichen. Denn die
Scheibe ist kaputt – unabhängig davon, ob ich
sie absichtlich oder versehentlich zerstört habe.
Es würde nicht von Verantwortungsbewusstsein
zeugen, wenn ich leugne, die Scheibe zerbrochen
zu haben, und die Nachbarin voller Empörung
als Lügnerin und überempfindlich darstelle, oder
mich sogar durch die Unterstellung verletzt zeige
und am Ende noch eine Entschuldigung von der
Nachbarin einfordere. In Bezug auf Rassismus
bedeutet dies, das strukturelle Moment und das
darin eingebettete individuelle Handeln anzuerkennen und selbstreflexiv die Möglichkeit, dass etwas
gegebenenfalls rassistisch ist beziehungsweise
rassistische Strukturen unterstützt, zu beleuchten.
11 Nichts ist weniger
unschuldig, als den Dingen
ihren Lauf zu lassen.
Das eingangs angeführte Zitat des französischen
Soziologen Pierre Bordieu impliziert unter anderem, dass es auch eine Handlung ist, wenn wir im
Angesicht von Diskriminierung nicht handeln. Es
37
38
zählt zu den strukturellen Privilegien in unserer
Gesellschaft, sich nicht mit Rassismus auseinandersetzen zu müssen. Menschen, die rassistisch diskriminiert werden, müssen sich ständig
und in zahlreichen alltäglichen Situationen mit
dem Rassismus auseinandersetzen, mit dem sie
konfrontiert werden. All jene dagegen, die zu
den strukturell Bevorteilten zählen, können die
Diskriminierung anderer Menschen verleugnen
oder schlicht ignorieren. Wenn es in einer Gesellschaft diskriminierte Menschen gibt, gibt es auf
der anderen Seite auch immer diejenigen, die
davon profitieren.37 Wer sich nicht mit Rassismus
auseinandersetzt, wer nicht versucht, sich mit der
eigenen Verstricktheit darin zu konfrontieren, wer
nicht die eigenen Vorteile, die aus der Diskriminierung anderer entstehen, reflektiert, wer Strukturen
und materielle Vorteile38 nicht aktiv umgestaltet,
diskriminierte Menschen nicht unterstützt oder zu
ihrem Recht verhilft – der unterstützt Diskriminierung und hilft ihr, sich zu verstetigen.
Deutschland ist ein demokratischer Rechtsstaat.
Das heißt jedoch nicht, dass institutionelle und
strukturelle Diskriminierung hier ausgeschlossen
ist. Vielmehr bedeutet es, dass das Recht (anders
als in autoritären und faschistischen Regimen)
gewisse Sicherheiten und Instrumente bereitstellt,
um Diskriminierung zu benennen und abzubauen.
Dabei betrifft die Aufgabe der aktiven Gestaltung
diskriminierungssensibler Institutionen auch die
Justiz. Dazu gehört es, die für das Berufsbild von
Richter_innen und Staatsanwält_innen so zentrale Neutralität und Unabhängigkeit nicht als
gegeben zu betrachten, sondern als etwas, das
fortwährend aktiv hergestellt werden muss – auch
in der Auseinandersetzung mit dem Rassismus
als gesellschaftlichem Verhältnis und mit seinen
So schreibt Susan Arndt: „Bei Rassismus handelt es sich […] um eine europäische Denktradition und Ideologie, die ‚Rassen‘ erfand, um die
Weiße ‚Rasse‘ mitsamt des Christentums als vermeintlich naturgegebene Norm zu positionieren, eigene Ansprüche auf Herrschaft, Macht
und Privilegien zu legitimieren und sie zu sichern. […] [Das] Nicht-Wahrnehmen von Rassismus [ist] ein aktiver Prozess des Verleugnens,
der durch das weiße Privileg, sich nicht mit (dem eigenen und/oder kollektiven) Rassismus auseinandersetzen zu müssen, gleichermaßen
ermöglicht wie abgesichert wird.“ Arndt, Susan (2011): Rassismus. In: Arndt, Susan/Ofuatey-Alazard, Nadja (Hg.): Wie Rassismus aus
Wörtern spricht: (K) Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. Münster: Unrast-Verlag, S. 43.
In Deutschland sind die „Lebenschancen der Migrantinnen und Migranten […] wesentlich von der starken tendenziellen Unterschichtung
der deutschen Sozialstruktur durch Zuwanderer beeinflusst, das heißt Migranten sind in den unteren Schichten häufiger und in den
höheren Schichten seltener platziert als Einheimische.“ Siehe Bundeszentrale für politische Bildung (2014): Sozialer Wandel in Deutschland. Migration und Integration, http://www.bpb.de/izpb/198020/migration-und-integration?p=all, (abgerufen am 22.11.2018). Davon
profitieren beispielsweise die deutsche Mittel- und Oberschicht, da sie auf billige Arbeitskräfte und Dienstleistungen zugreifen kann.
WAS IST RASSISMU S?
Auswirkungen auf eigene Vorannahmen und
Überzeugungen. Denn die Justiz ist ein Teil der
Gesellschaft. Justizpraktiker_innen, die ihrer
Aufgabe nach verpflichtet sind, allen Menschen
einen diskriminierungsfreien Zugang zum Recht
47
zu ermöglichen, sollten sich deshalb mit den
Grundstrukturen rassialisierenden Denkens auseinandersetzen, um auch Menschen mit Migrationsgeschichte im Verfahren diskriminierungsfrei und
rassismussensibel begegnen zu können.
48
U N B EW U S ST E VO RU RT EIL E IM G ER ICH TS SAAL
Unbewusste Vorurteile im Gerichtssaal
Kathleen Jäger
1
2
2.1
2.2
2.3
2.4
2.5
3
4
5
6
Einleitung
Was sind unbewusste Vorurteile?
Unbewusste und bewusste mentale Prozesse
Vorurteile, Stereotypen und Kategorien
Die Unbewusstheit von Vorurteilen
Unbewusste Vorurteile messen
Weitere Messverfahren
Wie können sich unbewusste Vorurteile vor Gericht auswirken?
Ungünstige Entscheidungsumstände
Interventionen
Fazit
1 Einleitung
Im Gerichtssaal müssen Richter_innen in jedem
beliebigen Moment eine Vielzahl von Sinneseindrücken gleichzeitig bewältigen. Bei der Vernehmung
einer Zeugin beispielsweise ist die Aufmerksamkeit
auf die Aussage an sich gerichtet und ebenso auf
nonverbale Signale, gleichzeitig wird das Gesagte
mit Informationen zum Sachverhalt verglichen und
unter Umständen rechtlich gewürdigt, während
weitere Eindrücke – visuelle (der Sitzungssaal,
weitere Beteiligte), auditive (Geräusche in und
außerhalb des Raumes) und sensorische (Temperatur, Gerüche, körperliche Empfindungen) – wahrgenommen und verarbeitet werden. Um mit dieser
überwältigend erscheinenden Menge an Informationen umzugehen, laufen viele Verarbeitungsprozesse unbewusst und unter Rückgriff auf kognitive
Schemata und Heuristiken ab. Deren Inhalte sind
keineswegs kognitiv biologisch vorgegeben, vielmehr werden sie im Laufe der Sozialisation erlernt
und spiegeln gesellschaftliche Machtverhältnisse
wider. Zu diesen erlernten kognitiven Schemata
1
2
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53
54
gehören die sogenannten unbewussten Vorurteile.
Diese sind somit keine „unschuldigen“ Vorurteile.
Beispielsweise reproduziert der unbewusste
Rückgriff auf rassistisches Wissen im Gerichtssaal
strukturellen Rassismus, unabhängig von den individuellen Intentionen der Beteiligten.
Die US-amerikanische Rechtswissenschaft
beschäftigt sich seit Langem intensiv mit unbewussten Vorurteilen (implicit bias).1 Dies tut sie
nicht zuletzt deswegen, weil zahlreiche Studien
gravierende Ungleichheiten offenlegen, die deutliche Hinweise auf den Einfluss vor allem rassistischer Vorurteile geben.2 So werden Schwarze
Angeklagte für die gleichen Delikte deutlich
härter bestraft als weiße Angeklagte. Als eine
Maßnahme gegen Ungleichbehandlung aufgrund
rassistischer Zuschreibungen wurden in den USA
unter anderem Fortbildungsprogramme für die
Richterschaft entwickelt, die neben Grundwissen
zur kognitiven Funktionsweise unbewusster Vorurteile auch deren Rolle als Baustein struktureller
Grundlegend Jolls, Christine/Sunstein, Cass (2006): The law of implicit bias. In: California Law Review 94, S. 969-996. Aus Perspektive
eines Richters: Bennett, Mark (2010): Unraveling the gordian knot of implicit bias in jury selection. In: Harvard Law and Policy Review 4,
S. 149–170.
Siehe zum Beispiel Blair, Irene/Judd, Charles/Chapleau, Kristine (2004): The influence of Afrocentric facial features in criminal sentencing. In: Psychological Science 15, S. 674–679.
UNBEW USSTE VORU RTE I LE I M G E R I CHTSSA A L
Diskriminierung thematisieren.3 In Deutschland
wurden seitens der juristischen Forschung und
Praxis unbewusste Vorurteile bislang kaum direkt
in den Blick genommen.4 Es finden sich aber
zahlreiche Verbindungslinien zu aktuellen Diskussionen, beispielsweise zur Richterethik und zu
Forderungen nach einer stärkeren interkulturellen
Kompetenz der Richterschaft.
Im Folgenden wird eine Einführung in das Themenfeld unbewusster Vorurteile gegeben und
dargelegt, an welchen Stellen des gerichtlichen
Verfahrens und sonstiger richterlicher Tätigkeit
sich unbewusste Vorurteile auswirken können und
welche Umstände dies begünstigen. Abschließend
werden individuelle und institutionelle Maßnahmen
vorgestellt, mit denen der Einfluss unbewusster
Vorurteile verhindert oder zumindest verringert
werden kann.
49
Langem bekannt. Zur Veranschaulichung wird
häufig das Bild zweier kognitiver Systeme verwendet, welche weitgehend unabhängig voneinander operieren.5 Ein System umfasst Prozesse,
die automatisch und unbewusst ablaufen. Es
liefert beispielsweise die Lösung für einfachste
mathematische Aufgaben (1+1) oder erkennt
Buchstabenfolgen wie „USA“ oder „BGB“ sofort
als Abkürzungen für die Vereinigten Staaten von
Amerika und das Bürgerliche Gesetzbuch.6 Auch
Tätigkeiten können unbewusst ablaufen, wie zum
Beispiel das Betätigen der Kupplung und des Gaspedals beim Autofahren.7 Die mentalen Prozesse
dieses Systems werden auch als „schnell“, „intuitiv“, „implizit“ oder „heuristisch“ bezeichnet. Sie
sind kognitiv wenig aufwendig.8
Wie der Begriff „unbewusste Vorurteile“ nahelegt,
sind zum Verständnis des Konzepts zwei Aspekte
relevant: das Konzept unbewusster mentaler Prozesse und das des Vorurteils.
Demgegenüber stehen kontrollierte, bewusste
kognitive Prozesse. Diese sind beispielsweise
aktiv, wenn schwierigere mathematische Aufgaben
(17x24) gelöst werden oder die Abkürzung BankFachwPrV9 entschlüsselt wird. Ein Spurwechsel auf
einer befahrenen Straße bildet ein Beispiel für eine
von dem zweiten System ausgeführte kontrollierte,
bewusste Tätigkeit.10 Diese Prozesse werden auch
als „langsam“, „reflektiert“, „explizit“ oder „analytisch“ beschrieben und beanspruchen vergleichsweise mehr kognitive Ressourcen.11
2.1 Unbewusste und bewusste
mentale Prozesse
2.2 Vorurteile, Stereotypen und
Kategorien
Dass ein beträchtlicher Teil kognitiver Prozesse
unbewusst abläuft, ist in der Psychologie seit
Vorurteile sind eine spezielle Form von Einstellungen und bestehen aus einer negativen Bewertung
2 Was sind unbewusste
Vorurteile?
3
4
5
6
7
8
9
10
11
Siehe Casey, Pamela u. a. (2012): Helping courts address implicit bias. Ressources for education. National Center for State Courts,
S. 6–31.
Eine Ausnahme bildet zum Beispiel Zimmer, Mark/Stajcic, Sara (2017): Unbewusste Denkmuster – Sollen Arbeitgeber dagegen mit
unconscious bias Trainings vorgehen? In: Neue Zeitschrift Für Arbeitsrecht (16), S. 1040–1046.
Zurückgehend auf die Forschung des Wirtschaftsnobelpreisträgers Daniel Kahneman, aufbereitet in: Kahneman, Daniel (2012): Schnelles
Denken, langsames Denken. München: Siedler-Verlag.
Ebd., S. 21.
Vgl. Pendry, Luise (2014): Soziale Kognition. In: Jonas, Klaus/Stroebe, Wolfgang/Hewstone, Miles (Hg.): Sozialpsychologie. Eine Einführung, 6. Auflage, Berlin/Heidelberg: Springer.
Evans, Jonathan (2008): Dual-processing accounts of reasoning, judgment, and social cognition. In: Annual Review of Psychology 59,
S. 255 (257, 259, 261).
Es ist die Verordnung über die Prüfung zum anerkannten Abschluss Geprüfter Bankfachwirt/Geprüfte Bankfachwirtin vom 01. März 2000
(BGBl. I S. 193), zuletzt geändert am 26. März 2014 (BGBl. I S. 274).
Vgl. Pendry (2014), Fn. 7, S. 111.
Evans (2008), Fn. 8, S. 257.
50
U N B EW U S ST E VO RU RT EIL E IM G ER ICH TS SAAL
einer sozialen Gruppe und deren Mitgliedern.12
Vorurteile können als pauschale Bewertung
verstanden werden, die sich aus weiteren Komponenten zusammensetzt, unter anderem aus
Stereotypen. Stereotype sind „Bilder in unseren
Köpfen“, die unser kulturelles, im Laufe der Sozialisation erworbenes „Wissen, unsere Überzeugungen und Erwartungen über eine soziale Gruppe von
Menschen“13 enthalten. Vorurteile und Stereotypen
betreffen nicht alle Menschen gleichermaßen. Sie
bilden Diskriminierungsverhältnisse ab. Rassistische Vorurteile und Stereotypen beispielsweise
bestehen nur gegenüber People of Color, nicht
gegenüber weißen Menschen.
Vorurteile und Stereotypen knüpfen an soziale
Kategorien an. Aus psychologischer Sicht sind
Kategorien erlernte psychologische Konstrukte,
die vor allem kognitiver Effizienz dienen und mit
denen eine große Menge an Informationen auf ein
verarbeitbares Maß reduziert werden kann. Wenn
beispielsweise ein Holzobjekt mit vier Beinen und
flacher Oberfläche einfach als „Tisch“ klassifiziert
werden kann, kostet dies bedeutend weniger
kognitive Ressourcen, als wenn das Objekt einzeln gewürdigt und seine Funktion erst hergeleitet
werden müsste.14
Menschen werden, entsprechend gesellschaftlicher Machtverhältnisse, meist entlang äußerlicher
Merkmale und sozialem Habitus in Kategorien
„geordnet“ und unterschieden. Die Kategorien
bestehen unabhängig davon, wie sich eine Person
selbst identifiziert und ob sie sich einer bestimmten Kategorie zugehörig fühlt oder nicht. Einige
Kategorien sind besonders wirkmächtig: Alter,
Hautfarbe und Geschlecht, aber auch soziale
Herkunft und sichtbare Behinderungen.15 Die
herausragende Bedeutung der genannten Kategorien lässt sich leicht dadurch nachvollziehen,
dass es unmöglich erscheint, sich eine Person
12
13
14
15
16
17
ins Gedächtnis zu rufen oder neu wahrzunehmen,
ohne zu wissen, wie die Person entlang dieser
Kategorien einzuordnen ist.16
2.3 Die Unbewusstheit von Vorurteilen
In der Sozialpsychologie wurde lange davon
ausgegangen, dass Vorurteile (und Stereotypen)
bewusste Gedankeninhalte sind und eine Person
dementsprechend bewusst entscheiden kann, ob
sie ihren Vorurteilen entsprechend handelt oder,
etwa wegen gesellschaftlicher oder gesetzlicher
Vorgaben, davon absieht.
Neuere Forschung hat offengelegt, dass diese
Grundannahmen nicht in allen Fällen zutreffen.
Einstellungen, Vorurteile und Stereotypen können
auch dem ersten System zuzuordnen sein, sind
also nicht immer bewusst zugänglich und können
unbewusst Verhalten, Wahrnehmung und Entscheidungsfindung beeinflussen. Vor allem müssen
unbewusste und bewusste Vorurteile nicht übereinstimmen. Es ist also möglich, dass eine Person
unbewusst von Vorurteilen beeinflusst wird, deren
Inhalte sie bewusst nicht gutheißen würde und die
ihren sonstigen Wertvorstellungen direkt entgegenstehen können.17 In ihrem Inhalt unterscheiden
sich unbewusste und bewusste Vorurteile aber
nicht: rassistische Vorurteile, egal ob bewusst
oder unbewusst, greifen auf dasselbe rassistische
Wissen zurück.
2.4 Unbewusste Vorurteile messen
Herkömmliche, sogenannte direkte oder explizite
Verfahren zur Erfassung von (bewussten) Vorurteilen, zum Beispiel Fragebögen, sind darauf angewiesen, dass die Versuchspersonen bereit sind,
über ihre Vorurteile Auskunft zu geben (und dies
nicht aus Gründen sozialer Erwünschtheit vermeiden) und diese Auskunft auch geben können, weil
sie bewussten Zugang zu den abgefragten Inhalten
haben. Die Erforschung unbewusster Vorurteile
Degner, Juliane/Meiser, Thorsten/Rothermund, Klaus (2009): Kognitive und sozial-kognitive Determinanten: Stereotype und Vorurteile. In:
Beelmann, Andreas/Jonas, Kai (Hg.): Diskriminierung und Toleranz: Psychologische Grundlagen und Anwendungsperspektiven, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 75 (76).
Vgl. Pendry (2014), Fn. 7, S. 111.
Freeman, Jonathan/Ambady, Naili (2011): A Dynamic Interactive Theory of Person Construal. In: Psychological Review 118, S. 247.
Vgl. Pendry (2014), Fn. 7, S. 112.
Degner/Meiser/Rothermund (2009), Fn. 12, S. 80.
Kang, Jerry u. a. (2012): Implicit bias in the courtroom. In: UCLA Law Review (59), S. 1124 (1129).
UNBEW USSTE VORU RTE I LE I M G E R I CHTSSA A L
wurde durch neue, sogenannte indirekte oder
implizite, Messverfahren ermöglicht, die nicht
mehr auf die Auskunftsbereitschaft und -fähigkeit
der Versuchspersonen angewiesen sind.18
Das bekannteste dieser Messverfahren ist der
sogenannte Implizite Assoziationstest (IAT). Der
IAT ist ein computerbasiertes Verfahren, bei dem
die Versuchspersonen verschiedene Stimuli entlang vorgegebener Kategorien zuordnen müssen.
Bei einem IAT zur Messung unbewusster Vorurteile
gegenüber Menschen türkischer Herkunft (im
Vergleich zu „Deutschen“) beispielsweise werden
den Versuchspersonen Vornamen wie „Matthias“
und „Ahmed“ (häufig auch Gesichter) angezeigt,
die sie mittels zwei Tasten auf der Tastatur (zum
Beispiel „S“ mit der linken Hand und „K“ mit der
rechten Hand) so schnell wie möglich den Kategorien „deutsch“ und „türkisch“ zuordnen müssen.
In einem zweiten Durchgang sind Begriffe (zum
Beispiel „Glück“, „Hass“) den Kategorien „positiv“
und „negativ“ zuzuordnen. Anschließend werden
die Aufgaben der beiden ersten Blöcke kombiniert,
sodass Vornamen und Begriffe mit jeweils der
gleichen Taste als „deutsch oder positiv“ oder „türkisch oder negativ“ zugeordnet werden müssen.
Später wird diese Kombination umgekehrt. Fällt
es einer Versuchsperson leichter – ausweislich
kürzerer Reaktionszeiten und geringerer Fehlerzahl – die Stimuli zuzuordnen, wenn „deutsch“ und
„positiv“ kombiniert werden und „türkisch“ und
„negativ“, wird dies als Indiz für unbewusste Vorurteile gegenüber Menschen türkischer Herkunft
gewertet.19 IATs wurden zu verschiedenen sozialen
Kategorien und Vorurteilsformen entwickelt, auf
Deutsch sind Beispieltests zu „Geschlecht – Karriere“, „dick – dünn“, „Wessi – Ossi“, „jung – alt“
18
19
20
21
22
51
und „Homosexualität – Heterosexualität“20
verfügbar.
Seit der Entwicklung des IAT Ende der 1990er
Jahre haben hunderte Forschungsteams in aller
Welt Daten von mehreren Millionen abgelegten
IATs ausgewertet und das Verfahren in methodischer Hinsicht validiert. Die Daten zeigen eindeutig: Unbewusste Vorurteile und Stereotypen sind
weit verbreitet, stark ausgeprägt, weichen häufig
ab von bewussten Vorurteilen und vor allem sagen
sie Diskriminierungsrealitäten in einer Gesellschaft
verlässlich voraus.21
2.5 Weitere Messverfahren
Weitere Messverfahren bestätigen die mit dem IAT
erlangten Ergebnisse. Ein eindringliches Beispiel
bildet die sogenannte Shooter-Task. Bei diesem
Verfahren zur Messung unbewusster stereotyper
Verknüpfungen zwischen der sozialen Kategorie
„Afroamerikaner_innen“ und Waffen müssen
Versuchspersonen in der Rolle einer Polizistin
oder eines Polizisten binnen einer halben Sekunde
entscheiden, ob sie auf eine verdächtige Person
schießen oder nicht (und auf eine „Schießen“oder „Nicht schießen“-Taste drücken) – je nachdem, ob die auf einem Foto gezeigte Person eine
Waffe oder ein harmloses Objekt (zum Beispiel
ein Mobiltelefon) in der Hand hält. Unabhängig
davon, ob die Versuchspersonen selbst Schwarz
oder weiß sind, erkennen sie eine Waffe schneller,
wenn die verdächtige Person Schwarz ist, schießen aber auch eher auf unbewaffnete Schwarze
Personen.22 Ähnliche Ergebnisse brachte eine
Untersuchung in Deutschland, mit der stereotype
Assoziationen zwischen Islam und Terrorismus
untersucht wurden. Die Versuchspersonen erkannten Waffen schneller und irrten sich häufiger, wenn
Ebd.
Gawronski, Bertram (2002): What does the Implicit Association Test measure? A test of the convergent and discriminant validity of prejudice related IATs. In: Experimental Psychology 49 (3), S. 171 (173–174, 180).
Diese und weitere Tests sind verfügbar auf der Website des Project Implicit: https://implicit.harvard.edu/implicit/germany/selectatest.
jsp (abgerufen am 01.12.2017).
Nosek, Brian u. a. (2007): Pervasiveness and Correlates of Implicit Attitudes and Stereotypes. In: European Review of Social Psychology
18 (1), S. 36–88.
Online verfügbar unter: http://www.csun.edu/~dma/FPST/consent.html (abgerufen am 01.12.2017). Siehe dazu Correll, James u. a.
(2002): The police officer’s dilemma: Using ethnicity to disambiguate potentially threatening individuals. In: Journal of Personality and
Social Psychology 83, S. 1314–1329.
52
U N B EW U S ST E VO RU RT EIL E IM G ER ICH TS SAAL
die Personen auf den Bildern islamische Kopfbedeckung (Turban und Kopftuch) trugen.23
Auch neurowissenschaftliche Maße werden zur
Erforschung unbewusster Vorurteile eingesetzt.
So zeigten beispielsweise weiße Versuchspersonen mit ausgeprägten unbewussten rassistischen
Vorurteilen bei der Betrachtung eines Fotos eines
Schwarzen Mannes eine verstärkte Aktivität der
Amygdala im Gehirn, welche negative Emotionen
wie Bedrohung, Angst oder Furcht reguliert.24
Solche Befunde zeigen, dass unbewusste Vorurteile auch ein neurologisches Phänomen sind.
Gleichzeitig bieten sie aber keine Rechtfertigung
dafür, die Existenz und den Einfluss unbewusster
Vorurteile tatenlos hinzunehmen.
3 Wie können sich
unbewusste Vorurteile vor
Gericht auswirken?
Unbewusste Vorurteile können Verhalten, Wahrnehmung, Beurteilung und Entscheidungen in
vielfältiger Weise beeinflussen. Entsprechende
Erkenntnisse sozialpsychologischer Forschung
geben Anhaltspunkte dafür, wie sich unbewusste
Vorurteile auch vor Gericht auswirken können.
Gleichzeitig ist anzumerken, dass Interaktions- und
Entscheidungsprozesse vor Gericht hochkomplex
und von zahlreichen Akteur_innen (und deren
unbewussten Denkmustern) geprägt sind.
23
24
25
26
27
28
29
30
Studien zeigen, dass sich (mit dem IAT gemessene) unbewusste Vorurteile auf nonverbale
Kommunikation auswirken, was sich unter anderem in geringerer Sprechzeit, weniger freundlicher
Mimik und mehr Sprechverzögerungen („ähm“)
und Sprechfehlern äußerte. Eine als unangenehm
empfundene Gesprächsatmosphäre kann dazu führen, dass eine befragte Person unsicherer auftritt,
was beispielsweise im Kontext von Zeug_innenoder Beschuldigtenvernehmung von Bedeutung
erscheint.25
Zweideutiges Verhalten einer Person kann unter
dem Einfluss unbewusster Vorurteile unterschiedlich bewertet werden, je nachdem welche sozialen
Kategorien präsent sind. So bewerteten Versuchspersonen das gleiche Verhalten negativer, wenn
der Akteur für sie „typisch türkisch“ im Gegensatz
zu „typisch deutsch“ aussah.26 US-amerikanische
Studien zu den Parametern Verurteilungswahrscheinlichkeit27, Strafzumessung28 und Bewährungsentscheidungen zeigen Verzerrungen entlang
unbewusster rassistischer Vorurteile.29
Auch außerhalb des Kernbereichs richterlicher
Tätigkeit können sich unbewusste Vorurteile
auswirken, so zum Beispiel bei Beförderungs- und
Personalentscheidungen und der Bewertung von
Prüfungsleistungen.30
Unkelbach, Christian u. a. (2009): A shooter bias in Germany against people wearing Muslims headgear. In: International Review of Social
Psychology 22 (3), S. 181–202.
Phelps, Elizabeth (2000): Performance on indirect measures of race evaluation predicts amygdala activation. In: Journal of Cognitive Neuroscience 12 (5), S. 729–738.
Vgl. McConnell, Allen/Leibold, Jill (2001): Relations among the Implicit Association Test, Discriminatory Behavior, and Explicit Measures of
Racial Attitudes. In: Journal of Experimental Social Psychology 37, S. 435–442; vgl. Greenwald, Anthony/Hamilton Krieger, Linda (2006):
Implicit bias: Scientific foundations. In: California Law Review 94, S. 945 (962).
Gawronski, Bertram/Geschke, Daniel/Banse, Rainer (2003): Implicit bias in impression formation: Associations influence the construal of
individuating information. In: European Journal of Social Psychology 33, S. 573 (576, 577).
Levinson, Justin/Young, Danielle (2010): Different Shades of Bias: Skin Tone, Implicit Racial Bias, and Judgments of Ambiguous Evidence.
In: West Virginia Law Review 112, S. 307 (331–338).
Blair, Irene et al. (2004), Fn. 2, S. 674 (675); Eberhardt, Jennifer/Purdie-Vaughns, Valerie/Johnson, Sheri (2006): Looking Deathworthy:
Perceived Stereotypicality of Black Defendants Predicts Capital-Sentencing Outcomes. In: Psychological Science 17, S. 383–386.
Graham, Sandra/Lowery, Brian (2004): Priming unconscious racial stereotypes about adolescent offenders. In: Law & Human Behavior 28,
S. 483 (485). Levinson, Justin/Huajian, Cai/Young, Danielle (2010): Guilty by implicit racial bias: The guilty/not guilty Implicit Association
Test. In: Ohio State Journal of Criminal Law 415, S. 187 (207).
Towfigh, Emanuel/Traxler, Christian/Glöckner, Andreas (2014): Zur Benotung in der Examensvorbereitung und im ersten Examen. In:
Zeitschrift die Didaktik der Rechtswissenschaft, S. 8–20.
UNBEW USSTE VORU RTE I LE I M G E R I CHTSSA A L
4 Ungünstige
Entscheidungsumstände
Bislang liegen kaum Studien zu unbewussten Vorurteilen mit Richter_innen als Versuchspersonen
vor.31 Die Vermutung, dass Richter_innen keinesfalls gegen den Einfluss unbewusster Vorurteile
immun sind, wird verstärkt durch Hinweise, dass
einige wesentliche Charakteristika richterlichen
Arbeitens den Einfluss unbewusster Vorurteile
begünstigen können: die Überzeugung von der
eigenen Objektivität, Ambiguität der zu beurteilenden Fakten und Rechtsfragen, Zeitdruck und
begrenzte Begründungspflicht.
„Ohne Ansehen der Person“ (vgl. § 38 Abs. 1
DRiG) zu urteilen, ist elementarer Teil des richterlichen Selbstverständnisses. Wer sich selbst
für besonders objektiv hält, ist Studien zufolge
aber eher anfällig für den Einfluss unbewusster
Vorurteile.32
53
Rechenschaftspflicht entscheidet.35 Selbstverständlich begründen Richter_innen ihre Entscheidungen im Ganzen. Sie müssen aber nicht
über jede Mikroentscheidung und -einschätzung
Rechenschaft ablegen, die beispielsweise zum
Gesamteindruck einer Zeugin als (un)glaubwürdig
führen. Dies wäre auch nicht praktikabel, muss
aber als Risikofaktor für den möglichen Einfluss
unbewusster Vorurteile anerkannt werden.
5 Interventionen
Die beschriebenen Risikofaktoren können den
Anschein erwecken, als sei der Einfluss unbewusster Vorurteile vor Gericht fast unvermeidlich, ist
doch an den grundsätzlichen Bedingungen richterlichen Arbeitens kaum etwas zu ändern. Es gibt
aber eine Reihe von Maßnahmen, die die Justiz als
Institution und einzelne Richter_innen ergreifen
können.36
Weiterhin kann ein Arbeitsumfeld, das durch Zeitdruck, sehr hohes Arbeitsaufkommen, ein hohes
Maß an Verantwortung und weitere potenzielle
Stressfaktoren gekennzeichnet ist, den Einfluss
unbewusster Vorurteile begünstigen.34
An erster Stelle muss die Informationsvermittlung
stehen. Denn nur wer um die Existenz und Wirkungsweise unbewusster Vorurteile weiß, kann
sich auch bemühen, ihren Einfluss zu verringern.
Neben der Schaffung neuer Fortbildungsformate
speziell zum Thema unbewusster Vorurteile,
können Informationen dazu auch in bereits bestehende Fortbildungsangebote, beispielsweise
zur Vernehmungslehre oder zu interkultureller
Kompetenz, aufgenommen werden. Vor allem die
Notwendigkeit von Fortbildungen zu interkultureller Kompetenz wird auch aus der Richterschaft
betont.37 An den einzelnen Richter_innen liegt es,
Fortbildungsangebote wahrzunehmen oder einzufordern und die vermittelten Inhalte zu vertiefen.
Schließlich wirken sich unbewusste Vorurteile auch dann eher auf Entscheidungen aus,
wenn eine Person allein und ohne unmittelbare
Der individuelle Vorsatz, „gerecht zu sein“, ist zur
Unterdrückung unbewusster Vorurteile nachweislich ungeeignet und scheint deren Einfluss eher zu
Auch wenn die zu beurteilenden Fakten oder
rechtlichen Fragen ambivalent sind, wenn Ermessensspielraum besteht, steigt das Risiko, dass sich
unbewusste Vorurteile auswirken. Denn entscheidende Personen neigen in den beschriebenen Situationen dazu, fehlende Informationen unbewusst
zu füllen, unter Zuhilfenahme von Stereotypen und
Vorurteilen.33
31
32
33
34
35
36
37
Siehe aber Rachlinski, Jeffrey u. a. (2009): Does unconscious racial bias affect trial judges? In: Notre Dame Law Review 84, S. 1195–1246.
Uhlmann, Eric/Cohen, Geoffrey (2007): “I think It, therefore it’s true”: Effects of self-perceived objectivity on hiring discrimination. In
Organizational Behavior & Human Decision Processes 104, S. 207 (210-211).
Casey (2012), Fn. 3, Appendix G, S. 3.
Ebd., S. 4.
Ebd.
Ausführlich: Ebd., S. 5–13.
Siehe zum Beispiel die Bad Boller Erklärung zur interkulturellen Kompetenz in der deutschen Justiz (2011). Abrufbar unter https://www.
neuerichter.de/fileadmin/user_upload/fg_interkulturelle_kommunikation/FG-IK-2011-09-19_Bad_Boll.pdf (abgerufen am 01.12.2017)
54
U N B EW U S ST E VO RU RT EIL E IM G ER ICH TS SAAL
begünstigen.38 Ähnliches gilt für Strategien, soziale
Kategorien „auszublenden“, damit mit ihnen
verbundene Stereotypen und Vorurteile keinen
Einfluss zeigen. Das entgegengesetzte Vorgehen,
also die bewusste Anerkennung der gesellschaftlichen Relevanz sozialer Kategorien und der mit
ihnen verbundenen Ausschließungsmechanismen,
verspricht mehr Erfolg. Auch hierfür sind Fortbildungsangebote, wie Diversity- und Anti-BiasTrainings, in denen Richter_innen sich mit den
Funktionsweisen von Rassismus, Sexismus, Homophobie und weiteren Diskriminierungsformen
auseinandersetzen, ein geeigneter Ansatzpunkt.39
Die Verbesserung belastender Arbeits- und Entscheidungsumstände ist eine weitere Intervention
auf institutioneller Ebene. Einzelne Richter_innen
können aktiv werden, indem sie sich selbst zu
bewusstem, reflektiertem Entscheiden anhalten
und in belastenden Situationen hinterfragen,
ob unbewusste Vorurteile ihre Entscheidungen
beeinflussen.40 Nur mit einer solchen Verpflichtung zu „Gewissenhaftigkeit“ (so die Formulierung
einer Arbeitsgruppe zu Richterethik des Deutschen
Richterbundes) kann verhindert werden, dass Erledigungsdruck zulasten der Verfahrensbeteiligten
geht.41
Als weitere Intervention, die vornehmlich auf institutioneller Ebene anzusiedeln ist, wird die Erhebung von Daten vorgeschlagen. Ohne konkrete
Daten können eventuelle Schieflagen zu Lasten
von Verfahrensbeteiligten entlang sozialer Kategorien weder offengelegt noch ausgeschlossen
werden. Einzelne Richter_innen könnten ihre Entscheidungen entlang sozialer Kategorien verfolgen.
38
39
40
41
42
43
44
Zum Beispiel: Wende ich bei Heranwachsenden
mit Migrationshintergrund genauso häufig das
Jugendstrafrecht an wie bei Heranwachsenden
deutscher Herkunft? Werden vergleichbare Delikte
für Täter_innen verschiedener Herkunft ähnlich
bestraft? Eine einfache „Strichliste“ genügt, sie
muss nicht statistischen Ansprüchen genügen,
sondern soll eine objektive Feedback-Schleife
schaffen, die ihnen erste Hinweise auf den möglichen Einfluss von Vorurteilen gibt.42
6 Fazit
Unbewusste Vorurteile sind nur ein Faktor, der zu
Diskriminierung bestimmter sozialer Gruppen im
Gerichtssaal beträgt. In Bezug auf Rassismus kann
beispielsweise die sehr geringe Zahl an Richter_innen mit Migrationshintergrund dazu führen,
dass entsprechende Diskriminierungserfahrungen
nicht nachvollzogen werden können und somit
Rassismus als Tatmotiv übersehen oder geschilderte Ungleichbehandlung als Lappalie abgetan
wird.43 Der hier angebotene knappe Überblick über
die Funktionsweise unbewusster Vorurteile zeigt
ihren möglichen Einfluss auf richterliche Tätigkeit. Die unbewussten Vorurteilen innewohnende
Unabsichtlichkeit entbindet keineswegs von der
Verantwortung, gegen ihren Einfluss vorzugehen
und diese nicht nur als kognitives Phänomen,
sondern als Faktor struktureller Diskriminierung
zu sehen. In diesem Sinne ist es wichtig, sich vor
Augen zu führen, dass von Vorurteilen geprägte
Entscheidungen gegen den Gleichheitsgrundsatz
des Artikels 3 Grundgesetz ebenso wie gegen
das Rechtsstaatsprinzip des Artikels 20 Absatz 3
Grundgesetz verstoßen.44
Ausführlich Casey (2012), Fn. 3, S. 8.
Vgl. Kang (2012), Fn. 17, S. 1172.
Casey (2012), Fn. 3, S. 8–9.
Deutscher Richterbund (2012): Richterethik in Deutschland. Thesen zur Diskussion richterlicher und staatsanwaltlicher Berufsethik im
Deutschen Richterbund. Abrufbar unter http://www.drb.de/fileadmin/docs/120121_DRB-Diskussionspapier_Richterethik_in_Deutschland.pdf ([abgerufen am 01.12.2017)].
Vgl. Kang (2012), Fn. 17, S. 1178.
Payandeh, Mehrdad (2017): Die Sensibilität der Strafjustiz für Rassismus und Diskriminierung. In: Deutsche Richterzeitung (10), S. 14
(16).
Vgl. Baer, Susanne (2017): Rechtssoziologie. 3. Auflage, Baden-Baden: Nomos, S. 241.
I NTERKULT URELLE KOM P E TE NZ
55
Interkulturelle Kompetenz
Voraussetzung für ein faires Verfahren und Zukunftsaufgabe der Justiz
Marjam Samadzade
1
2
3
4
5
6
7
Einleitung
Interkulturelle Kompetenz
Interkulturelle Kommunikation
Kollektivistische und individualistische Kulturformen
Trauma und Aussageverhalten
Einsatz von Dolmetscher_innen
Ausblick
1 Einleitung
Ein Angehöriger eines der Opfer der Terrorzelle
Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) schilderte im Rahmen einer Veranstaltung in Hamburg
am 4. November 2016 seine Erfahrungen mit
den Ermittlungsbehörden und der Justiz. Es war
beschämend, wie unsensibel und diskriminierend
mit den Betroffenen umgegangen worden war. Der
Abschlussbericht des 2. Untersuchungsausschusses des Bundestages zur Terrorzelle NSU1 zeigt,
dass es sich hierbei leider nicht um einen Einzelfall
gehandelt hat.
In dem Bericht findet sich ein Einzelvotum der
SPD-Fraktion, in dem es unter anderem heißt:
„Strukturelle rassistische Vorurteile waren eine
wesentliche Ursache für die fehlende Offenheit der
Ermittlungen zu den Morden und Sprengstoffattentaten des NSU“2 Diese eindimensionale – und
in den Formulierungen fast schon offen rassistische – Ermittlungs- und Gedankenführung in Richtung „Ausländerkriminalität“, Rotlichtmilieu, Mafia
und Rauschgifthandel mit einer unverständlichen
Fixierung auf das – in der Regel türkische – „Opferumfeld“, in dem man mit aller Kraft den kriminellen Hintergrund der Taten finden wollte, dieses
1
2
Deutscher Bundestag, Drucksache 17/14600, 22.08.2013.
Ebd., S. 877.
55
56
56
57
58
60
62
eindeutige „Versagen“ von Polizeien und Staatsanwaltschaften bei der Aufklärung der Mordserie,
kann nicht mehr als bloßer „Zufall“ oder eine Massierung handwerklicher Fehler gewertet werden.
Vielmehr ist im Ausschuss eindeutig erkennbar
geworden, dass nicht in Frage gestellte Routinen
des alltäglichen Betriebs eine wesentliche Ursache
für den verengten Blickwinkel gewesen sind. Alle
haben „funktioniert“, ohne die Motive ihres Handelns jemals zu reflektieren und zu hinterfragen.
„Es geht dabei nicht etwa um eine ‚Blindheit auf
dem rechten Auge‘ offen rassistisch veranlagter
Polizist_innen, sondern um vorurteilsbehaftete
Routinen in der Polizeiarbeit, die Delinquenz
bestimmten Personengruppen, Milieus und
Ethnien schematisch zuordnen. Es handelt sich
um Routinen, die längst nicht mehr der Einwanderungsgesellschaft des 21. Jahrhunderts entsprechen. Bei diesen routinisierten Verdachts- und
Vorurteilsstrukturen gegenüber Personen mit
Migrationshintergrund wird deutlich, dass es sich
nicht um das Fehlverhalten einzelner Beamter mit
‚rechtem Hintergrund‘ handelt, dass dieses Fehlverhalten also nicht intentional, sondern vielmehr
strukturell bedingt ist. Selbstverständlich wollten
56
IN T ER K U LT U R EL L E KO MPE T E NZ
die unzähligen Sicherheitskräfte, die mit der Mordserie befasst waren, die Fälle aufklären, die Mörder finden und die Mordserie stoppen. Sie waren
nur nicht in der Lage, sich selbstreflexiv aus den
bestehenden routinisierten, oftmals rassistisch
geprägten, Verdachts- und Vorurteilsstrukturen zu
befreien. Wo die Mittel zur Reflektion fehlen, greift
man eben auf „verbreitete Wissensbestände“
zurück. Es handelt sich um unbewusste Prozesse
institutioneller Diskriminierung, die sich in Routinen der Ungleichbehandlung von Minderheiten
niederschlugen“.3
Die Erkenntnisse aus dem NSU-Verfahren verdeutlichen, wie wichtig interkulturelle Kompetenz
sowohl bei den Ermittlungsbehörden als auch bei
der Justiz ist. Die Justiz steht durch die Zuwanderung vor der immer größer werdenden Herausforderung, in gerichtlichen Verfahren Menschen aus
verschiedenen Kulturkreisen gerecht zu werden.
In der juristischen Ausbildung wird interkulturelle
Kompetenz nicht vermittelt. Kenntnisse in interkultureller Kommunikation sind jedoch für ein
faires und effizientes Verfahren erforderlich. Es ist
notwendig, unterschiedliche Kultur- und Kommunikationsmuster zu erkennen und zu verstehen, um
kulturelle Barrieren zu überwinden. Interkulturelle
Kompetenz fordert von Menschen die Bereitschaft,
sich in fremde Lebenswelten „einzudenken“. In
diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass
das Verstehen von migrations- beziehungsweise
kulturspezifischen Prozessen nicht bedeutet, dass
man für kulturelle Besonderheiten in der Rechtsprechung Verständnis haben muss.
2 Interkulturelle Kompetenz
Interkulturelle Kompetenz ist die Kompetenz, über
kulturelle Grenzen hinweg kommunizieren zu können. Diese Kompetenz setzt sich zusammen aus
Wissen, Fähigkeiten und Haltungen.4
Man benötigt Wissen etwa über die Herkunftsländer, das politische System, die Rollen von Frauen
3
4
5
und Männern, die Bedeutung der Religion etc.
Allerdings kann Allgemeinwissen über ein Land nur
erste Anhaltspunkte liefern, eine stereotype Übertragung auf alle Mitglieder verbietet sich.
Die Fähigkeit zu Empathie und Selbstreflexion –
das Bewusstsein, dass die eigenen Werte und
Denkweisen keine Allgemeingültigkeit besitzen,
sondern auch andere Deutungen möglich und
berechtigt sind – erleichtert die interkulturelle
Kommunikation.
Auch eine offene, vorurteilsfreie Haltung dem
Fremden gegenüber ist zentral. Das Andere gelten
lassen, ohne es abzuwerten, aber auch ohne die
eigenen Werte aufzugeben. Es geht darum, ein
Gleichgewicht zu finden zwischen kultureller Offenheit, aber ohne Abwertung der eigenen Kultur, und
kulturellem Selbstbewusstsein, aber ohne eigenkulturelle Überheblichkeit und ohne Vorurteile.
Interkulturell kompetent ist eine Person somit
dann, wenn sie beim Zusammentreffen mit Menschen aus ihr fremden Kulturen deren spezifische
Konzepte der Wahrnehmung, des Denkens, Fühlens und Handelns erfasst und sich ihrer eigenen
kulturellen Konzepte bewusst ist.5
Zu beachten ist stets, dass Menschen zwar
kulturell geprägt sind, aber nicht darauf reduziert
werden sollten. Die jeweiligen unterschiedlichen
Aspekte der Persönlichkeit sind weiterhin zu
beachten. Menschen sollten daher nicht allein
aufgrund ihrer Herkunft generell als „anders“
betrachtet werden.
3 Interkulturelle
Kommunikation
Interkulturelle Kommunikation bezeichnet
die Kommunikation zwischen zwei Personen,
die unterschiedlichen Kulturen angehören,
wodurch sie unterschiedliche Vorannahmen,
Ebd., S. 878 f.
Auernheimer, Georg (2005): Interkulturelle Kommunikation und Kompetenz. In: Migration und Soziale Arbeit, 2005 (1), S. 15–22.
Barrios, Catarina (2014): Interkulturelle Mediation in Teams mit multinationaler Belegschaft aus Deutschland und Lateinamerika. In: Kumbier, Dagmar/Schulz von Thun, Friedemann (Hg.) (2014): Interkulturelle Kommunikation: Methoden, Modelle, Beispiele. Reinbek: Rowohlt
Taschenbuch Verlag, S. 248–310, 257.
I NTERKULT URELLE KOM P E TE NZ
Glaubensgrundsätze, Werte und Traditionen haben
und sie daher anders denken, fühlen und sich
verhalten.
Jede Gesellschaft hat bestimmte Kulturstandards,
die festlegen, wie wir miteinander umgehen, was
wir für richtig erachten, was wir wahrnehmen und
von anderen erwarten.6
Eigene Kulturstandards werden meist für selbstverständlich gehalten und oftmals nicht als solche
erkannt oder reflektiert. Daher werden die Verhaltensweisen von Fremden vor dem Hintergrund der
eigenen Kulturstandards und aufgrund von Vorurteilen leicht fehlinterpretiert.7
Kommunikation erfolgt verbal durch das gesprochene Wort, nonverbal durch alle Aspekte der
Körpersprache und paraverbal durch die individuellen Stimmeigenschaften und das Sprechverhalten. Die paraverbale Kommunikation beinhaltet die
Stimmlage, die Lautstärke, die Betonung einzelner
Wörter oder Satzteile, das Sprechtempo und die
Sprachmelodie. In der direkten Kommunikation
machen non- und paraverbale Aspekte über
90 Prozent der gesamten Botschaft aus.
Die jeweilige kulturelle Sozialisation entscheidet
darüber, was ich sage, wie ich es sage, welche
nonverbalen Signale ich aussende, wie ich das
gesprochene Wort meines Gegenübers verstehe
und paraverbale und nonverbale Signale deute, die
er aussendet.8
Bei Verunsicherung über die richtige Deutung
eines Verhaltens oder einer Aussage ist es sinnvoll, anzusprechen, was man wahrgenommen hat,
zu beschreiben, wie es wirkt beziehungsweise
wie man es verstanden hat, und nachzufragen, ob
es so richtig verstanden wurde. Auf diese Weise
6
7
8
9
10
11
12
57
können Missverständnisse auf der Kommunikationsebene leichter ausgeräumt werden, da insbesondere paraverbale und nonverbale Aspekte der
Kommunikation kulturell unterschiedlich sind.
4 Kollektivistische
und individualistische
Kulturformen
Forschungen zur interkulturellen Kommunikation
haben ergeben, dass sich Kulturen hinsichtlich
bestimmter Fragestellungen deutlich unterscheiden.9 Eine dieser Fragestellungen betrifft die
Rolle des Individuums in der Gesellschaft und
unterscheidet zwischen „Kollektivismus“ und
„Individualismus“.10
Viele Verfahrensbeteiligte mit Migrationshintergrund kommen aus sogenannten kollektivistischen
Kulturen. Ein Angehöriger dieser Kultur definiert
sich hauptsächlich und wesentlich in seiner
Zugehörigkeit zu einer größeren Gemeinschaft
und richtet sein ganzes Streben auf das Gelingen
dieser Gemeinschaft aus.11
In diesen Kulturkreisen sind die Interessen des
Individuums denen der Gemeinschaft untergeordnet. Es besteht ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl und eine Einbindung in eine
Großfamilie. Eine freie, eigene Meinungsäußerung
ist nicht besonders erwünscht. Es gilt, direkte
Auseinandersetzungen zu vermeiden, um einen
Gesichtsverlust zu verhindern. Die Harmonie innerhalb der Gemeinschaft steht im Vordergrund.12
In individualistischen Kulturen wird dagegen
betont, dass der Einzelne in seiner Entfaltung und
Selbstverwirklichung, in seinen Grundrechten und
Kollermann, Nicole (2014): Spinn ich oder spinnen die? Über den konstruktiven Umgang mit interkulturellen Irritationen. In: Kumbier/
Schulz von Thun (Hg.) (2014), wie Fn. 5, S. 73 f..
Kumbier, Dagmar/Schulz von Thun, Friedemann (2014): Interkulturelle Kommunikation aus kommunikationspsychologischer Perspektive.
In: Kumbier/Schulz von Thun (Hg.) (2014), wie Fn. 5, S. 9 f..
Yalcin, Ünal (2011): Interkulturelle Kommunikation im Gerichtssaal. In: Betrifft Justiz, 2011 (107), S. 112.
Kumbier/Schulz von Thun (2014), Fn. 7, S. 14.
Yalcin (2011), Fn. 8, S. 114 mit Verweis auf Hofstede, Geer/Hofstede, Gert Jan (2009): Lokales Denken, globales Handeln. Interkulturelle
Zusammenarbeit und globales Management, 4. Auflage, München: dtv.
Kumbier/Schulz von Thun (2014), Fn. 7, S. 14.
Vgl. hierzu Menzel, Peter (2000): Zum Umgang mit dem Fremden im Gerichtssaal. In: Betrifft Justiz, 2000 (66), S. 247 ff.
58
IN T ER K U LT U R EL L E KO MPE T E NZ
in seiner Würde einen hohen unverletzlichen Wert
darstellt.13
Auch in der Kommunikation wirken sich die
Unterschiede zwischen individualistischen und
kollektivistischen Kulturen aus. Während in individualistischen Kulturen die verbale Kommunikation
mit einem expliziten, direkten und rationalen Stil
im Vordergrund steht und beim Gegenüber nur
wenig gemeinsames Vorwissen vorausgesetzt
wird (sogenannte low-context-cultures), kommunizieren Mitglieder kollektivistischer Kulturen eher
indirekt, ausführlich und stets um Harmonie und
Gesichtswahrung – der eigenen wie auch der des
Gegenübers – bedacht und zwar auch auf Kosten
der Verständlichkeit (sogenannte high-context-cultures).14 Ein Großteil der eigentlichen Kommunikation ergibt sich aus dem Kontext und dem
impliziten Wissen der Beteiligten über kulturspezifische „Verschlüsselungscodes“.15 Kritik wird in
Andeutungen verpackt. Es wird davon ausgegangen, dass der andere aus Tonfall, Mimik, Gestik
oder Finessen in der Wortwahl schon heraushört,
was gemeint ist.16
Jede Gesellschaft möchte, dass ihre Mitglieder die festgelegten Regeln von erlaubtem und
unerlaubtem Verhalten einhalten.17 Es ist daher
erforderlich, dass die Mitglieder das jeweilige
Wertesystem der Gesellschaft verinnerlichen.
Dies erfolgt in individualistischen und kollektivistischen Kulturen auf unterschiedliche Art.
Individualistische Kulturen sind sogenannte
Schuldkulturen. In einer Schuldkultur herrschen
allgemeingültige, staatliche Rechtsnormen,
die – unabhängig von der näheren sozialen Umgebung – ständige Wirkung haben. Werden sie vom
13
14
15
16
17
18
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20
21
22
Einzelnen verletzt, so befürchtet dieser, bestraft
zu werden, und fühlt bei der Übertretung der
Normen „Schuld“.18 Kollektivistische Kulturen
sind sogenannte Schamkulturen. Scham fühlt ein
Mitglied einer kollektivistischen Gesellschaft dann,
wenn sein Fehlverhalten innerhalb der eigenen
Gruppe wahrgenommen und sanktioniert wird.19
Im Vordergrund steht die Angst vor einem sozialen
Abstieg innerhalb der eigenen Gruppe durch die
Normübertretung. Scham ist daher ein eher situativer Kontrollmechanismus, der nur im sozialen
Kontext der eigenen Gruppe von Bedeutung ist.20
Die eigene Gruppe bemüht sich daher, die soziale Kontrolle durch Beobachtung ihrer Mitglieder
aufrechtzuerhalten.21
5 Trauma und
Aussageverhalten
Eine weitere Schwierigkeit im interkulturellen
Kontext kann sich durch die Auswirkungen traumatischer Erlebnisse auf das Aussageverhalten im Gerichtssaal ergeben, insbesondere in
Asylverfahren.22
Die kriterienorientierte Aussageanalyse, die vom
Bundesgerichtshof als Standard für die Glaubhaftigkeitsbegutachtung von Zeug_innen im Rahmen
von Sexualstrafverfahren festgelegt wurde, ist
nicht ohne Weiteres auf die Aussagen von Flüchtlingen in Asylverfahren anwendbar. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sowie Behörden
und einige Verwaltungsgerichte haben lange Zeit
mangels anderer Methoden zur Glaubhaftigkeitsprüfung einige dieser Kriterien übernommen, um
mit ihrer Hilfe die Angaben der Asylantragsteller
Kumbier/Schulz von Thun (2014), Fn. 7, S.14., vgl. hierzu auch Menzel (2010), Fn. 12.
Vgl.Yalcin (2011), Fn. 8, S. 114 f.
Barrios (2014), Fn. 5, S. 258.
Ebd.
Menzel (2000), Fn. 12, S. 247 ff.
Ebd.
Ebd.
Ebd.
Yalcin (2011), Fn. 8, S. 114.
Vgl. hierzu Gierlichs, Hans Wolfgang (2010): Die Überprüfung der Glaubhaftigkeit in aufenthaltsrechtlichen Verfahren. In: Zeitschrift für
Ausländerrecht und Ausländerpolitik (ZAR), 2010 (3), S. 102 ff. m. w.N.; Gierlichs, Hans Wolfgang u.a (2005): Grenzen und Möglichkeiten
klinischer Gutachten im Ausländerrecht. In: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik (ZAR), 2005 (5), S. 158 ff. m. w.N.
I NTERKULT URELLE KOM P E TE NZ
zu überprüfen.23 Dabei wurde außer Acht gelassen,
dass diese Methode voraussetzt, dass jemand
einen Geschehensablauf zusammenhängend
ungesteuert erzählt. Dies ist bei fehlenden Sprachkenntnissen und Einsatz von Dolmetscher_innen
schwierig und führt unvermeidlich zu Verfälschungen des Mitteilungsstils und des Inhalts. In
Strafverfahren liegt meist ein schriftliches Aussageprotokoll in der Muttersprache vor – oder sogar
eine videodokumentierte Aussage der Zeug_innen.
Zu beachten ist ferner, dass diese Kriterien für
Personen aus dem hiesigen Kulturkreis entwickelt
wurden. Daher lassen sie sich auf Aussagen von
Menschen aus anderen Kulturkreisen mit einem
anderen Mitteilungs-, Erlebens- und Beziehungsstil, deren Berichte nur übersetzt vorliegen, nicht
Erfolg versprechend anwenden. Die methodisch
unverzichtbare Inhaltsanalyse des wörtlichen
Berichts über das fragliche Geschehen ist nicht
mehr zuverlässig möglich.
Das methodische Grundprinzip der Glaubhaftigkeitsbeurteilung ist aufgrund seiner konzeptionellen Verknüpfung mit der strafrechtlichen
Unschuldsvermutung nicht ohne Weiteres auf
andere Verfahren übertragbar. Die Methode ist
nicht darauf fokussiert, eine unglaubhafte Aussage
zu erkennen, was jedoch in der Regel Gegenstand
von Asylverfahren ist.24 Bestandteile der aussagepsychologischen Methode isoliert zu verwenden
führt keineswegs zu sachgerechten Ergebnissen
und verkürzt den Rechtsschutz der Asylsuchenden
in unzulässiger Weise.
In Asylverfahren kommt hinzu, dass einige
Asylsuchende unter Posttraumatischen Belastungsstörungen leiden. Sie können häufig
krankheitsbedingt nicht „kontrolliert“ über ihr Verfolgungsschicksal berichten.25 Traumastörungen
führen neben Gedächtnisstörungen zu weiteren
23
24
25
26
27
28
29
30
31
59
Aussagestörungen – durch Übererregtheit, Nachhallerinnerungen, Vermeiden und Versprachlichungsprobleme.26 Hinzu kommt bei erlebten
sexuellen Übergriffen häufig eine so tiefe Scham,
dass diese Taten oftmals nicht berichtet werden.
Die Glaubhaftigkeit der Berichte dieser Menschen
ist somit besonders schwierig zu beurteilen.
Neben den dargestellten grundsätzlichen methodischen Problemen muss die aussagebeeinflussende
Symptomatik der Traumastörungen berücksichtigt
werden.27 Die Posttraumatische Belastungsstörung
steht, anders als andere psychiatrische Störungen,
in direktem Zusammenhang mit extremen Gewalterfahrungen – entweder als Opfer, als Augenzeuge oder als naher Verwandter von Opfern.
Damit erlangt sie für das Asylverfahren eine
herausragende Bedeutung.28 Zu berücksichtigen
ist in diesem Zusammenhang, dass es Hinweise
auf kulturspezifische Verarbeitungsprozesse für
Traumata gibt, die auch andere Symptommuster
und Folgeerscheinungen haben können und somit
einer kultursensitiven Prüfung bedürfen.29
Die kultursensitive Prüfung der Anwendbarkeit
standardisierter rechtspsychologischer Verfahren bei Personen aus fremden Kulturkreisen liegt
noch in den Anfängen.30 Es ist daher notwendig,
dass medizinische Sachverständige und Gerichte
miteinander zusammenarbeiten, um eine Methode
zu entwickeln, die die Glaubhaftigkeit der Berichte
von geflüchteten Menschen methodisch besser
untersucht. Eine Reihe von Erkenntnissen aus der
Aussagepsychologie könnte in modifizierter Form
als Grundlage für eine Untersuchungsmethode
dienen, die aber von medizinischen Sachverständigen anzuwenden wäre.31 Kulturelle Einflüsse
sind in den verschiedenen Phasen einer Aussage
zu berücksichtigen, da es zahlreiche Hinweise
auf kulturabhängige kognitive und emotionale
Gierlichs (2010), Fn. 22, S.102.
Ebd.
Ebd., S. 103 m. w.N.
Ebd.
Ebd.
Ebd.
Bliesener, Dr. Thomas/Hänert, Dr. Petra (2018): Glaubhaftigkeitsanalyse bei Personen aus fremden Kulturkreisen. In: Schleswig-Holsteinische Anzeigen, 2018, S. 285, 287 m. w.N.
Ebd., S. 287.
Vgl. Gierlichs (2010), Fn. 22, S. 104.
60
IN T ER K U LT U R EL L E KO MPE T E NZ
Begleitprozesse gibt, die sich beispielsweise bei
der Wahrnehmungssteuerung, der Bedeutsamkeitszuschreibung von Ereignissen, der Vertrautheit mit Abläufen in der äußeren Welt oder den
kulturellen Gepflogenheiten des interpersonalen
Austauschs bemerkbar machen können.32 Diese
kulturellen Besonderheiten sind daher im gesamten Begutachtungsprozess von der Gesprächsführung bei der Exploration bis zur Integration
und Bewertung der Befunde zu berücksichtigen.33
Kulturspezifische Besonderheiten sind insbesondere bei der Analyse der Aussagekompetenz in der
Bewertung der Aussagequalität zu beachten.34
Es ist trotz des „Erledigungsdruckes“ und der
besonderen Belastungssituation der Verwaltungsgerichte notwendig, insbesondere die Fälle stark
traumatisierter Asylsuchender frühzeitig durch
medizinische Sachverständige begutachten zu
lassen.
Medizinische Gutachten sind somit wichtige
Hilfsmittel für die juristische Klärung der Erlebnisfundierung des Vorgetragenen, auch wegen des
breiten methodischen Ansatzes, der nonverbale
Kommunikation und Verhalten berücksichtigt. Sie
liefern eine Diagnose, die gegebenenfalls auf eine
Verursachung hinweist, der im gerichtlichen Verfahren im Rahmen der Beweisaufnahme nachzugehen ist.35
6 Einsatz von
Dolmetscher_innen
Gerichtsdolmetscher_innen sind Teil des Rechtssystems und müssen berücksichtigen, dass jede
Interaktion im Gerichtssaal die praktische Durchführung von Rechten und Pflichten beinhaltet. Sie
müssen ihre Rolle als neutrale und verschwiegene
interkulturelle Vermittler reflektieren und so den
der Gerichtssprache nicht mächtigen Fremden
in die Lage eines Einheimischen versetzen. Sie
32
33
34
35
36
37
sollten Kenntnis über die Rolle von Richter_innen,
Staatsanwält_innen, Rechtsanwält_innen und
anderen Verfahrensbeteiligten haben.
Unverzichtbar ist ein umfassendes Wissen über
das Rechtssystem sowie die Inhalte und Themen
des jeweiligen Rechtsgebiets. Dolmetscher_innen
müssen die Rechtsterminologie in Ausgangsund Zielsprache beherrschen und sollten mit
den jeweiligen Dialekten und Sprachwendungen
vertraut sein. Es ist wichtig, dass sie in der Lage
sind, die richtige Kommunikationsebene zu finden.
Kenntnis über und Verständnis für die kulturelle
und intellektuelle Denkweise des Gegenübers sind
notwendig für eine gelingende Kommunikation.
In Verfahren, in denen auch die Glaubhaftigkeit
einer Aussage zu beurteilen ist, sollten die Dolmetscher_innen mit den Grundzügen der Glaubhaftigkeitsanalyse vertraut gemacht werden.36
Es ist in Gerichtsverfahren gelegentlich zu beobachten, dass einige Dolmetscher_innen Diskussionen mit den Vernommenen führen, bevor sie
die Verdolmetschung durchführen, wodurch sie
ohne Absicht die Aussage beeinflussen. Dieses
Phänomen trifft häufig dann auf, wenn spezielle
Akzente oder Dialekte nicht bekannt sind, weil
dann Missverständnisse entstehen, oder wenn
etwa die Antwort des Vernommenen nicht verstanden wurde. Dolmetscher_innen sind vom Gericht
darauf hinzuweisen, dass eine derartige Vorgehensweise nicht sachgerecht ist. Vielmehr müssen
sie dem Gericht mitteilen, dass sie etwas nicht
verstanden haben und diesbezüglich eine Frage an
den Vernommenen stellen möchten.
Übersetzungsprobleme tauchen immer dann
auf, wenn Einheiten der Ausgangssprache nicht
durch eine 1:1-Umkodierung in der Zielsprache
wiedergegeben werden können, sondern durch
lexikalische, grammatikalische und semantische
Veränderungen übertragen werden müssen.37 In
diesen Fällen müssen Dolmetscher_innen darauf
Vgl. Bliesener/Hänert (2018), Fn. 29, S. 289.
Ebd.
Ebd.
Gierlichs (2010), Fn. 22, S. 104.
Vgl. Bliesener/Hänert (2018), Fn. 29, S. 290.
Kautz, Ulrich (2000): Handbuch Didaktik des Übersetzens und Dolmetschens. München: Goethe Institut, S. 119.
I NTERKULT URELLE KOM P E TE NZ
hinweisen, dass eine wortgetreue Übersetzung
nicht möglich ist.38 Umordnungen in der Reihenfolge des Gesagten, Strukturierungen, Abstraktionen oder Zusammenfassungen sind weitestgehend
zu vermeiden.39
Eine Schwierigkeit bei Übersetzungen aus dem
Arabischen besteht beispielsweise darin, dass es
für ein arabisches Verb verschiedene deutsche
Begriffe gibt, die sehr unterschiedliche Bedeutungen haben. Dadurch, dass der Dolmetscher den
aus seiner Sicht passenden Begriff auswählt, liegt
in der Übersetzung zugleich eine Interpretation.
Dolmetscher_innen müssen sich daher ihrer eigenen fachlichen Grenzen bewusst sein, das heißt,
sie müssen Sprach- und Kommunikationsschwierigkeiten offenbaren, was leider selten der Fall
ist. Die Qualifikationen von Dolmetscher_innen
müssen daher dringend verbessert werden.
Die Grenze zwischen Übersetzen und Kulturvermittlung ist also fließend. Viele Gesten, Metaphern, Sprichwörter und Handlungen lassen sich
nur mit Kenntnis des kulturellen Kontextes erklären.40 Liefert ein_e Dolmetscher_in die kulturelle
Bedeutung beziehungsweise Erklärung mit, ist er/
sie als Kultursachverständige_r anzusehen und
entsprechend zu vereidigen. Diese vielfältigen
Anforderungen an Gerichtsdolmetscher_innen
verdeutlichen, dass bundeseinheitliche Qualitätsstandards für die Ausbildung von Gerichtsdolmetscher_innen notwendig sind.41
In Verfahren mit Beteiligung von Dolmetscher_
innen ist es sinnvoll, ausreichend Zeit einzuplanen.
Die kognitive Belastungssituation der Dolmetscher_innen ist extrem hoch, sie sind keine „Übersetzungsmaschinen“ und benötigen ausreichend
38
39
40
41
42
61
Pausen, um ihre Konzentrationsfähigkeit zu
erhalten.42
Bei der Auswahl von Dolmetscher_innen ist nach
Möglichkeit die politische, religiöse, sexuelle und
ethnische Zugehörigkeit zu beachten. Störungen in
der Kommunikation mit Dolmetscher_innen oder
ein erhöhtes Misstrauen gegenüber Dolmetscher_
innen wirken sich auf die Aussage aus.
Dolmetscher_innen sollten nach Möglichkeit
wortgetreu übersetzen, worauf das Gericht
hinweisen sollte. Bei bereits gerichtserfahrenen
Dolmetscher_innen kommt es vor, dass diese die
Angaben des Vernommenen bereits „protokollreif“
übersetzen und zusammenfassen, wodurch wichtige Informationen verloren gehen. Insbesondere
paraverbale Aspekte sind enorm wichtig, das heißt
wie etwas gesagt wird, zum Beispiel: Zeitsprünge
in der Erzählung, Verwendung des Präsens, obwohl
ein Ereignis aus der Vergangenheit geschildert
wird, stockende Erzählweise, sprachliche Defizite,
andere Ausdrucksweise, erhöhte Muskelspannung bei gewissen Schilderungen als Zeichen von
Stress, Bewusstseinsveränderungen, Körpersprache oder Mimik. Diesen non- und paraverbalen
Symptomen kommt insbesondere bei Menschen,
die ihr Leiden und dessen Verursachung nicht gut
versprachlichen können, eine wesentliche Bedeutung zu.
Dolmetscher_innen sollten darauf hingewiesen
werden, dass sie Verständigungsprobleme unverzüglich dem Gericht mitteilen müssen, da andernfalls ein faires Verfahren nicht gewährleistet
werden kann. Die ausländischen Verfahrensbeteiligten werden selten in der Lage sein, die Dolmetscherleistung in der Zielsprache zu überprüfen und
fehlerhafte Übersetzungen zu rügen.
Vgl. ebd., S. 119.
Bliesener/Hänert (2018), Fn. 29, S. 290.
Vgl. Kaminski, Andrea/Wenning-Morgenthaler, Martin (2011): Arbeiten mit Dolmetschern – eine kleine Handreichung. In: Betrifft Justiz,
2011 (107), S. 118 f.
Die Betrachtung der Dolmetschergesetze der Länder zeigt, dass es keine einheitlichen Ausbildungsstandards oder Prüfungsordnungen
gibt. An der Universität Hamburg existiert ein berufsbegleitendes weiterbildendes Studium (Dolmetschen und Übersetzen an Gerichten
und Behörden) für ausgebildete Dolmetscher_innen, um sie für die verantwortungsvolle Tätigkeit bei Gerichten und Behörden zu qualifizieren. Die Weiterbildung führt in rechtliche und behördliche Verfahren und Gebiete ein und vermittelt gerichts- und behördenrelevante
Dolmetsch- und Übersetzungstechniken. An der Ausbildung sind Praktiker_innen wie beispielsweise Richter_innen sowie Mitarbeitende
aus Behörden und der Polizei beteiligt.
Vgl. hierzu Kaminski/Wenning-Morgenthaler (2011), Fn. 40, S.120.
62
IN T ER K U LT U R EL L E KO MPE T E NZ
7 Ausblick
Der Erwerb interkultureller Kompetenz ist eine
wesentliche Zukunftsaufgabe der Justiz. Interkulturelle Kompetenz ist nicht angeboren, auch nicht
bei Menschen, die selbst einen Migrationshintergrund haben. Vielmehr kann und sollte sie erworben werden.
Die Integration von Menschen, die aus kulturell
und religiös anders geprägten Ländern nach
Deutschland kommen, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Sie kann nicht einseitig erfolgen,
sondern erfordert Respekt und Veränderungsbereitschaft auch auf Seiten der einheimischen
Bevölkerung und ihrer Institutionen.
Wir können nicht von den zu uns gekommenen
Menschen erwarten, dass sie die deutsche Sprache erlernen, die rechtsstaatlichen Regeln beachten und sich integrieren, wenn wir nicht unseren
Anteil leisten und in der Lage sind, mit ihnen im
Rahmen von gerichtlichen Verfahren angemessen
zu kommunizieren und ihnen gerichtliche Entscheidungen verständlich zu machen. Migrationsund kulturspezifische Prozesse verständlich zu
machen heißt in erster Linie, Orientierungshilfe zu
leisten und die Beteiligten zu sensibilisieren, mit
dem Ziel, kulturelle Barrieren zu erkennen und zu
überwinden.
Eine „Gebrauchsanweisung für fremde Kulturen“
gibt es nicht und eine „globale interkulturelle
Kompetenz“ ist nicht möglich. Interkulturelle Kompetenz sollte im Rahmen der juristischen Aus- und
Fortbildung vermittelt werden, da sie eine unverzichtbare Schlüsselqualifikation ist. Richter_innen
und Staatsanwält_innen sollten kulturspezifische
Wahrnehmungs-, Interaktions- und Interpretationsmuster erkennen und deuten können, damit
sie angemessene Entscheidungen treffen können.
Sie sollten diskriminierende Kommunikationsformen vermeiden und Menschen mit anderer
43
44
45
46
kultureller Prägung aufgeschlossen und respektvoll entgegentreten.
Grundkenntnisse des islamischen Rechts und
seiner Bedeutung für die Rechtspraxis sind ebenfalls hilfreich zum besseren Verständnis, da viele
Verfahrensbeteiligte aus muslimisch geprägten
Ländern stammen.43
Die öffentlichen Diskussionen insbesondere über
„den Islam“ und „die Muslime“ entwickeln sich
zunehmend in eine islamfeindliche Richtung und
sind geprägt von Vorurteilen und Stereotypen.
Parteien wie die Alternative für Deutschland (AfD)
machen bewusst mit einem islamfeindlichen
Parteiprogramm Wahlkampf. Fremdenfeindliche
Straftaten, aber auch die Alltagsdiskriminierungen
nehmen zu. „Der Islam“ hat sich mittlerweile in
der öffentlichen Wahrnehmung als Angstfaktor
verselbständigt.
Selbstverständlich darf aber nicht verschwiegen
werden, dass es in einigen muslimischen Kreisen auch ein recht eindimensionales und vorurteilsbeladenes Bild von Deutschland und seiner
Gesellschaft gibt. Berechtigte Kritik an einigen
Erscheinungsformen des Islam wird mit dem
Vorwurf der „Islamophobie“ und des Rassismus
diskreditiert.44 Wir müssen auch lernen, damit im
Gerichtssaal professionell umzugehen. Wichtig ist
eine klare Grenzziehung zwischen zulässiger und
notwendiger Kritik an manchen Erscheinungsformen des Islam und pauschaler Abwertung und
Ausgrenzung aufgrund von Stereotypen.45 Abwertung durch die Mehrheitsgesellschaft wirkt als
Desintegrationsfaktor und führt zur Überhöhung
der eigenen Religion und Kultur und Abwertung
anderer.46
Zur Entwicklung von interkultureller Kompetenz
gehört es, eine Sensibilität dafür zu entwickeln,
wann Stereotypen und Vorurteile den Blick auf das
Individuum verschleiern. Unbewusste Vorurteile
Vgl. hierzu Rohe, Mathias (2014): Scharia und deutsches Recht. In: Rohe, Mathias u.a (Hg.): Handbuch Christentum und Islam in Deutschland: Grundlagen, Erfahrungen und Perspektiven des Zusammenlebens. Freiburg u. a.: Herder, S. 272 ff.
Rohe, Mathias (2016): Der Islam in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme, München: C. H. Beck , S. 264.
Ebd., S. 265.
Ebd., S. 264.
I NTERKULT URELLE KOM P E TE NZ
sind ein Faktor, der zur Diskriminierung bestimmter sozialer Gruppen im Gerichtssaal beiträgt.47
Gerade Richter_innen und Staatsanwält_innen
müssen sich darüber bewusst sein, dass die in
ihrem Arbeitsalltag gemachten Erfahrungen leicht
zu Vorurteilen führen können.48
Es ist nicht nur eine Frage der professionellen
Berufsausübung, ein Bewusstsein für die in der
Gesellschaft vorhandenen Ausgrenzungsmechanismen und Chancenungleichheiten zu besitzen
47
48
63
und kompetent mit unterschiedlichen Menschen
umzugehen. Als Organe der Rechtspflege haben
Richter_innen, Staatsanwält_innen und Rechtsanwält_innen eine besondere Verantwortung,
den diskriminierungsfreien Zugang zum Recht
zu gewährleisten und für ein faires Verfahren zu
sorgen. Diese Verantwortung können sie nur wahrnehmen, wenn sie aufgrund von interkultureller
Kompetenz mit den Verfahrensbeteiligten interkulturell kommunizieren können.
Jäger, Kathleen (2018): Unbewusste Vorurteile und ihre Bedeutung für den Richter. In: Deutsche Richterzeitung (DRiZ), 2018 (1), S. 24, 27.
Vgl. Payandeh, Mehrdad (2017): Die Sensibilität der Strafjustiz für Rassismus und Diskriminierung. In: DRiZ 2017 (10), S. 322, 325.
64
ER FAH RU N G EN VO N O PF ER N R AS S IST IS CH ER TAT EN MIT DER J UST I Z
Erfahrungen von Opfern rassistischer Taten
mit der Justiz
Eben Louw
1
2
3
4
4.1
4.2
4.3
5
5.1
5.2
5.3
6
7
Einleitung
Farbenblinder Rassismus in der Justiz
Rassismus ist weitverbreitet in unserer Gesellschaft
Vorbelastungen der von Rassismus Betroffenen
Schutz- und Bewältigungsstrategien
Vertrauensverlust und „Cultural Mistrust“
Rassismus als Stressor
Rassistische Phänomene im Gericht
Kriminalisierung der Opfer von Straftaten
Glaubwürdigkeits-Bias
Sekundäre Viktimisierung
Bausteine einer rassismussensiblen Justiz
Fazit
1 Einleitung
Bereits im Jahr 1966 unterzeichnete Deutschland
das Internationale Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von
Rassendiskriminierung. Darin bekannte sich die
Bundesrepublik dazu, „dass alle Menschen vor
dem Gesetz gleich sind und ein Recht auf gleichen
Schutz des Gesetzes gegen jede Diskriminierung“
haben.1 Und Deutschland verpflichtete sich, all
seinen Einwohner_innen das Recht auf Gleichbehandlung durch die Gerichte und alle sonstigen
Organe der Rechtspflege zu gewährleisten und
dieses Recht zu schützen (Artikel 5).
Doch werden Menschen mit Rassismus-Erfahrung im Sinne dieses Übereinkommens sowie der
EU-Vorgaben zu rassistischer Hasskriminalität
und Opferrechten wirklich von der Justiz wahrgenommen, angemessen geschützt und respektvoll
1
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behandelt? Welche psychischen Konsequenzen
haben rassistische Erfahrungen für Menschen?
Wie können sich Gerichte als menschenwürdige
und sichere Orte für Betroffene erweisen und sie
vor weiterer Diskriminierung, Demütigung und
Ungerechtigkeit schützen?
Die Opferberatungsstellen Reach Out und OPRA
setzen sich seit über 15 Jahren mit diesen Fragen
auseinander. Der vorliegende Beitrag resümiert
die Erfahrungen von Opfern rassistisch motivierter
Straftaten bei den Begegnungen mit dem Justizapparat. Dabei wird einleitend der Begriff Rassismus
erläutert, um dann die psychischen Folgen von
Rassismus-Erfahrungen darzustellen. Anschließend geht es um die Auswirkungen rassistischer
Erscheinungen im Gerichtsaal. Schließlich wird
aus Sicht der Opferberatung umrissen, wie eine
UN, General Assembly (1965): International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination (CERD). Resolution.
Deutsche Übersetzung siehe https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Dateien/Pakte_Konventionen/
ICERD/icerd_de.pdf (abgerufen am 13.11.2018).
E RFAHRUNGEN VON OP F E R N R A SSI STI SCH E R TATEN MIT DER J U ST IZ
rassismussensible Justiz arbeiten sollte (Bausteine
einer rassismussensiblen Justiz).
2 Farbenblinder Rassismus
in der Justiz
Nach dem Grundgesetz und den internationalen
Menschenrechtsverträgen sind alle Menschen
vor dem Gesetz gleich. Dieses Postulat ist ein
Ausdruck des menschenrechtlichen Gleichheitsgebots. Es darf von der Justiz aber nicht als Aussage
über den tatsächlichen Zustand missverstanden
werden. Denn tatsächlich sind in unserer Gesellschaft eben nicht alle Menschen gleich. „People of
Color“2 und Schwarze3 Menschen werden aufgrund
ihrer Hautfarbe, ihrer zugeschriebenen ethnischen
Herkunft, Kultur, Religion oder „Rasse“4 in der
Gesellschaft anders behandelt als weiße5 Menschen. Strukturelle sowie institutionelle Diskriminierung und Rassismus bestimmen die Realität
dieser Menschen. Um dem menschenrechtlichen
Gleichheitsprinzip gerecht zu werden, muss die
Justiz diese Diskriminierungsrealität im Umgang
mit von Rassismus betroffenen Menschen gerade
berücksichtigen. Das Nicht-Sehen von Hautfarbe
und der durch Unterdrückung geprägten Lebensrealitäten dieser Menschen würde nämlich de facto
einen „farbenblinden“ Rassismus bedeuten. Im
Folgenden wird aus psychologischer Sicht erläutert, welche Konsequenzen die Justiz im Umgang
mit betroffenen Menschen berücksichtigen muss.
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4
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3 Rassismus ist
weitverbreitet in unserer
Gesellschaft
Die Ergebnisse der Studie „Die enthemmte Mitte.
Autoritäre und rechtsextreme Einstellungen in
Deutschland“ der Heinrich-Böll-Stiftung zeigen,
dass weite Teile der Bevölkerung bereit sind,
abzuwerten und zu verfolgen, was sie als abweichend und fremd wahrnehmen. Zum Beispiel hält
ein Drittel der Deutschen das Land für gefährlich
überfremdet.“6
Richter_innen, Staatsanwält_innen, Anwält_innen,
Schöff_innen und andere Akteur_innen innerhalb
des Justizsystems sind als Bürger_innen Teil der
Gesellschaft. Allgemein verbreitete Einstellungen
sind deshalb logischerweise auch in diesen Berufsgruppen zu erwarten. Für die Entwicklung einer
rassismussensiblen Justiz ist es wichtig, zu erkennen, wie unser Denken und Handeln unterschwellig und oft unbewusst durch rassistische Vorurteile
beeinflusst werden kann.7
Häufig wird der Begriff „ausländerfeindlich“ zur
Beschreibung aktueller rassistischer Erscheinungen in der deutschen Gesellschaft benutzt. Denn
während die überwiegende Mehrheit von Menschen in Deutschland sich nicht als rassistisch
wahrnimmt, sind viele von ihnen eher bereit einzuräumen, dass in manchen Regionen die Ausländerfeindlichkeit zunimmt. Die gilt offenbar als weniger
People of Color ist die Selbstbezeichnung von Menschen, die Rassismuserfahrungen machen. Die Bezeichnung ist in der Bürgerrechtsbewegung in den USA entstanden und zielt darauf ab, die unterschiedlichen Gruppen, die Rassismus erfahren, zu vereinen, um so Kräfte
zu bündeln und gemeinsam gegen Rassismus zu kämpfen. i-päd (2018): http://www.i-paed-berlin.de/de/Glossar/ (abgerufen am
12.02.2018).
Schwarz ist die Selbstbezeichnung für Schwarze Menschen, die afrikanische beziehungsweise afrodiasporale Bezüge haben. Afrodiasporal
bedeutet, dass Menschen in ihrer Geschichte verwandtschaftliche Bezüge zum afrikanischen Kontinent haben. Um den Widerstandscharakter dieses Wortes zu betonen, wird das „S“ großgeschrieben. Im Deutschen Kontext existiert auch die Bezeichnung Afrodeutsche_r.
i-päd (2018): http://www.i-paed-berlin.de/de/Glossar/ (abgerufen am 12.02.2018.)
Bei dem Begriff „Rasse“/„Menschenrasse“ handelt es sich um ein soziales Konstrukt, das mit der Ausdehnung der Herrschaftsmacht
europäischer Länder auf außereuropäische Gebiete, mit dem vorrangigen Ziel der wirtschaftlichen Ausbeutung entstand. Es wurde als ein
vermeintlich relevantes Differenzierungsmerkmal konstruiert. Die vermeintlichen biologischen „Rassen“ wurden mit Bewertungen ausgestattet. Wissenschaftlich ist es mittlerweile unumstritten, dass es keine biologischen Rassen gibt.
Weiß beschreibt die durch Rassismus privilegierte sozialhistorische Position. Im Gegensatz zur politischen – im Sinne von widerständiger
Selbstbezeichnung – Kategorie Schwarz wird „weiß“ als Adjektiv klein geschrieben. Um den Konstruktionscharakter der Kategorie weiß
hervorzuheben, wird diese manchmal kursiv geschrieben.
Decker/Oliver, Kiess/Johannes, Brähler/Elmar (2016): Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland,
Gießen: Psychosozial-Verlag, S. 21. Die Studie entstand in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung, der Otto-Brenner-Stiftung und der
Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Vgl. hierzu den Beitrag von Kathleen Jäger in dieser Publikation.
66
ER FAH RU N G EN VO N O PF ER N R AS S IST IS CH ER TAT EN MIT DER J UST I Z
gravierend oder verbreitet. Aber nach übereinstimmender Ansicht der Rassismusforschung ist auch
„Ausländerfeindlichkeit“ bereits als rassistisch
zu werten,8 denn sie diskriminiert Menschen aus
der Position der Macht heraus wegen bestimmter
genetisch und/oder kulturell bedingter Merkmale
und Eigenarten. „In Übereinstimmung mit einer
Fülle von Umfragen und auch auf der Grundlage
unserer eigenen empirischen Untersuchungen zum
‚Alltäglichen Rassismus‘ läßt sich sagen, dass die
überwältigende Mehrheit aller Deutschen mehr
oder minder stark in rassistische Diskurse verstrickt ist.“9
Hier In diesem Beitrag wird folgendes, in den Sozialwissenschaften weit verbreitetes und auch von
Menschenrechtsgremien angewandtes Begriffsverständnis zugrunde gelegt: Rassismus umfasst
„jene Einstellung und Verhaltensweisen, die
Abwertungen auf der Grundlage einer konstruierten ‚natürlichen“ Höherwertigkeit der Eigengruppen vornehmen“.10 Rassismus ist eine Ideologie
von Herrschaft und Dominanz. Die Ungleichverteilung von Macht, Privilegien und Ressourcen
zwischen weißen und nicht weißen Menschen wird
somit in einer Gesellschaft, in der „Weißsein“ als
unsichtbare Norm und Normalität in allen Lebensbereichen regiert, legitimiert und verfestigt.
Rassismus äußert sich im Alltag vor allem in zwei
Formen: in individuellem Rassismus und in institutionellem Rassismus. Letzterer ist dadurch
gekennzeichnet, „dass eine oder mehrere Organisationen systematisch Menschen aufgrund ihrer
Hautfarbe, Kultur oder ethnischen Herkunft geeignete und professionelle Leistungen implizit oder
explizit verweigern. Es lässt sich in Prozessen,
Einstellungen und Verhaltensweisen festmachen,
welche auf eine Diskriminierung hinauslaufen
und durch unbewusste Vorurteile, Ignoranz,
8
9
10
11
12
Gedankenlosigkeit und rassistische Stereotypen,
ethnische Minderheiten benachteiligen.“11
Individueller Rassismus hingegen beschreibt das
Verhalten einer einzelnen Person gegenüber einer
anderen Person oder Gruppe, denen eine untergeordnete „Rasse“ aufgrund von Merkmalen wie
Hautfarbe, Herkunft oder Ähnliches zugeschrieben
wird. Befindet sich eine von Rassismus betroffene
Person im Strafgericht als Zeug_in, handelt es sich
meistens um eine Straftat, die auf individuellem
Rassismus beruht. So etwa die Anklage, Herr X
habe Frau Y rassistisch beschimpft, beleidigt,
geschubst und getreten.
Doch die Auswirkungen von institutionellem Rassismus können vor Gericht ähnlich schwer wiegen
wie individuelle, rassistisch motivierte Straftaten.
Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen, dass
institutioneller Rassismus jederzeit Betroffenen
auf allen Ebenen des Justizsystems in Deutschland
begegnen kann. Neben den Beobachtungen, die
OPRA (kurz für „Opfer rechter, rassistischer und
antisemitischer Gewalt“) und Reach Out tagtäglich
machen, sprechen auch die gesammelten Berichte
von Untersuchungsausschüssen und Medien über
den Fall des terroristischen „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) eine deutliche Sprache
in Bezug auf institutionellen Rassismus. So wurde
überwiegend im Bereich der Ausländerkriminalität
ermittelt; alle Aussagen von Zeug_innen, die in
eine ganz andere Richtung wiesen, wurden nicht
ernst genommen oder weiterverfolgt. Die Täterprofile der zuständigen Polizeibehörden basierten
auf einem rassistischen Weltkonstrukt. Diese Art
von Ermittlungen war ohne Mitwissen der zuständigen Staatsanwaltschaften nicht möglich. Zusätzlich wird „die Institutionalisierung von Rassismus
an der Unterrepräsentation von People of Color im
Rechtssystem deutlich.“12
Vgl. Auernheimer, Georg (1990): Einführung in die interkulturelle Erziehung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Jäger, Siegfried (1993): Rassismus und Rechtsextremismus – Gefahr für die Demokratie. In: Forschungsinstitut der FES (Hg.) (1993):
Entstehung von Fremdenfeindlichkeit. Die Verantwortung von Politik und Medien, Bonn. Electronic ed.: Bonn: FES, 2002, http://library.
fes.de/fulltext/asfo/01014001.htm (abgerufen am 13.11.2017).
Heitmeyer, Wilhelm (2005): Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. In: Deutsche Zustände. Frankfurt a.M: Suhrkamp, S. 15
Home Office U.K (Hg.) (1999): The Stephen Lawrence Inquiry. Report of an inquiry by Sir William Macpherson of Cluny, S. 46.
Bartel, Daniel/Liebscher, Doris/Remus, Juana (2017): Rassismus vor Gericht: weiße Norm und Schwarzes Wissen im deutschen Recht. In:
Fereidooni, Karim/ El, Meral (Hg.): Rassismuskritik und Widerstandsformen, Heidelberg: Springer, S. 366.
E RFAHRUNGEN VON OP F E R N R A SSI STI SCH E R TATEN MIT DER J U ST IZ
In vielen Fällen ungehört und unerfüllt bleibt
darum der Ruf der Opfer nach einer gründlichen
polizeilichen Ermittlung, nach einer vorurteilsfreien
Behandlung oder einer Anerkennung des Leids
und der Schäden, die von rassistisch motivierten
Täter_innen verursacht werden.
4 Vorbelastungen der von
Rassismus Betroffenen
Aus psychologischer Sicht können sich bei wiederholten Rassismuserfahrungen zahlreiche (problematische) Schutz- und Bewältigungsstrategien und
psychische Belastungen bis hin zu chronischen
psychischen Störungen entwickeln.13 Es ist nicht
nur empfehlenswert, sondern dringend geboten,
etwaige Vorbelastungen und die besondere Verletzlichkeit der Betroffenen bei Gerichtsverfahren
zu berücksichtigen. Dies kann dazu beitragen, zum
einen die Aussagen von Zeug_innen im Interesse
der Wahrheitsfindung angemessen zu bewerten
und zum anderen deren sekundäre Viktimisierung
zu vermeiden. Im Folgenden werden einige dieser
psychologischen Mechanismen und Reaktionen
exemplarisch dargestellt.
4.1 Schutz- und
Bewältigungsstrategien
Wiederholte rassistische Erfahrungen führen
zu dem Gefühl, von anderen Menschen und der
Gesellschaft nicht als ganze Person (mit individuellen Talenten, Charaktereigenschaften usw.)
wahrgenommen zu werden.14 Dies bezieht sich
auf negative wie auf positive Zuschreibungen und
Pauschalurteile. So werden zum Beispiel häufig
nur solche Qualitäten angesprochen, die bestimmten Stereotypen und rassistischen Bildern von zum
Beispiel Schwarzen Menschen entsprechen. Werden im Rahmen von polizeilichen Ermittlungen und
Gerichtsprozessen in unverhältnismäßiger Weise
solche Bilder aufgerufen, kann dies gravierende
13
14
15
67
negative Folgen für von Rassismus Betroffene
haben.
Manche Betroffene nehmen zudem zum Selbstschutz Verhaltensweisen an, von denen sie
glauben, sie verliehen ihnen im Alltag eine Art
„Unsichtbarkeit“ gegenüber rassistischen Kränkungen. Das kann bedeuten, dass Rassismus
„übersehen“ und nicht angesprochen wird und/
oder dass die Person alles dafür tut, als „gut integriert“, ungefährlich und als äußerst höflich wahrgenommen zu werden. Problematisch an dieser
Bewältigungsstrategie ist, dass diese Menschen
ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse nicht
äußern, sondern sich ständig dem Konsens der
weißen Mehrheitsgesellschaft unterwerfen. Dieses
Verhalten zeigen Betroffene dann auch gegenüber
Mitarbeiter_innen des Justizsystems. Nicht selten
gelten sie deshalb als „Musteropfer“, weil sie für
die Justizangestellten keinen „Aufwand“ bedeuten.
Im Gegensatz dazu gelten Personen, die keine
Überanpassung zeigen, eine Gleichbehandlung
fordern, ihre Wünsche und Bedürfnisse zum Ausdruck bringen, als „störend“ und als „zusätzliche
Arbeit“. Diese unterschiedlichen Bewältigungsstrategien müssen von Justizmitarbeitenden reflektiert
werden.
4.2 Vertrauensverlust und „Cultural
Mistrust“
Forscher_innen aus den USA stellten Ähnlichkeiten zwischen traumatischen Rassismuserfahrungen und anderen Formen von Traumata (zum
Beispiel Vergewaltigung) fest: „Survivors of racist
incidents may have difficulty trusting and connecting with those who are similar to their perpetrators, as do survivors of rape.“15
Ähnlich wie bei Vergewaltigungsopfern können
Opfer von rassistischer Gewalt Schwierigkeiten
entwickeln, Menschen zu vertrauen, die dem_der
Täter_in ähneln. Diese Form von „Cultural
Wallace, Stephanie/Nazroo, James/Bécares, Laia (2016): Cumulative Effect of Racial Discrimination on the Mental Health of Ethnic Minorities in the United Kingdom. In: American Journal of Public Health (AJPH), Vol. 106 (No. 7), S. 1294.
Franklin, Anderson J./Boyd-Franklin N. (2000): Invisibility Syndrome: A Clinical Model of the Effects of Racism on African-American Males.
In: American journal of Orthopsychiatry, 70(1), S. 33.
Bryant-Davis, Thema/Ocampo, Carlota (2005): Racist Incident – Based Trauma. In: The Counseling Psychologist, Vol. 33 (No. 4),
S. 479–500.
68
ER FAH RU N G EN VO N O PF ER N R AS S IST IS CH ER TAT EN MIT DER J UST I Z
Mistrust“16 führt unvermeidlich auch zu einem
Misstrauen in die Justiz. Das ist damit zu erklären,
dass in der deutschen Justiz überwiegend weiße
Menschen beruflich tätig sind. Von Rassismus
Betroffene nehmen daher den Gerichtsaal häufig
als „weißen Raum“ wahr, in dem sie sich als nichtweiße Person allein und nicht verstanden fühlen.
Viele Betroffene berichten, dass sie bereits bei der
Ermittlung einer Straftat durch die Art und Weise
der Befragung kriminalisiert werden. Die Polizei
stellt ihnen vorurteilsbeladene Fragen, wie zum
Beispiel: „Warum sprechen Sie so gut Deutsch?“
Sie haben außerdem das Gefühl, die Überprüfung
ihrer Nationalität und ihres Aufenthaltsstatus
seien wichtiger als die straftatrelevante Ermittlung. Zudem berichten sie, dass Hinweise auf
mögliche rassistische Motive einer Straftat, die
sie selber geben, nicht ausreichend beachtet
werden – genauer gesagt, dass sehr selten darauf
eingegangen wird. Am Ende entsteht dadurch ein
allgemeiner Vertrauensverlust in die Justiz und ihre
Institutionen, der nachvollziehbar ist.
4.3 Rassismus als Stressor
Rassismusforscher_innen zufolge kann Alltagsrassismus, individueller Rassismus und/oder
institutioneller Rassismus bei den Betroffenen eine
Vielzahl von psychischen Folgen auslösen. Studien
deuten darauf hin, dass Rassismuserfahrungen zu
erhöhtem Stress führen – mit physiologischen und
psychischen Konsequenzen für die Betroffenen.17
Es gehört zu den Aufgaben einer rassismussensiblen Justiz, von diesen Belastungen und Folgen
Notiz zu nehmen und darauf zu reagieren.
Phänomene, mit denen Opfer von Rassismus
täglich zu kämpfen haben und die sie bis in den
Gerichtsaal begleiten, sind sogenannte Mikroaggressionen. Darunter verstehen die Fachleute
flüchtige und alltägliche verbale, im Verhalten
begründete oder in der Umwelt platzierte Demütigungen, die feindselige und/oder negative
16
17
18
rassistische Abwertungen gegenüber People of
Color oder Schwarzen Menschen vermitteln. Unabhängig davon, ob solche Verletzungen absichtlich
oder unabsichtlich geschehen, lösen sie die oben
erwähnten Stressreaktionen bei den Betroffenen
aus.18 Die meisten Betroffenen sind aufgrund alltäglicher Erfahrungen besonders sensibel für das
Auftreten dieser subtilen Formen von Rassismus
und erkennen diese daher sofort.
Im Gerichtssaal kommen in der Praxis zum Beispiel folgende Mikroaggressionen vor:
– die Reduzierung von People of Color oder
Schwarzen Menschen auf ihren/ihre vermeintlichen ethnischen, kulturellen und/oder
religiösen Hintergrund beziehungsweise Gruppenzugehörigkeit, auch wenn diese/dieser für
den Prozess nicht relevant ist
– die Aberkennung von Leid und Betroffenheit
– bewusstes oder unbewusstes, explizit oder
implizit rassistisches, herabwürdigendes und
aggressives verbales und nonverbales Verhalten von Verfahrensbeteiligten
5 Rassistische Phänomene
im Gericht
5.1 Kriminalisierung der Opfer von
Straftaten
In unserer christlich geprägten, westeuropäischen
Gesellschaft, wo weiße Dominanz nicht hinterfragt
wird, werden Kriminalität und Hautfarbe sowie
Kriminalität und ethnischer, kultureller und/oder
religiöser Hintergrund immer wieder miteinander
verknüpft. Dies ist seit Jahrzehnten Gegenstand
kriminologischer Forschung: Menschen wird auf
Grund phänotypischer und demographischer
Merkmale eine natürliche Nähe oder Neigung zur
Kriminalität unterstellt. In Deutschland trifft diese
Whaley, Arthur L. (2001): Cultural Mistrust: An Important Psychological Construct for Diagnosis and Treatment of African Americans,. In:
Professional Psychology: Research and Practice, Vol. 32 (No. 6), S. 555–562.
Crocker, John (2007): The Effects of Racism related stress on the psychological and physiological well being of non-whites. In: Rivier Academic Journal 3 (1), S. 1–3.
Wing Sue, Derald u. a. (2007): Racial Microaggressions in Everyday Life: Implications for Clinical Practice. In: American Psychologist, 62
(4), S. 271–286.
E RFAHRUNGEN VON OP F E R N R A SSI STI SCH E R TATEN MIT DER J U ST IZ
Unterstellung insbesondere Schwarze Menschen,
People of Color, Geflüchtete und tatsächliche oder
vermeintliche Anhänger_innen der Weltreligion
Islam. Konsistent erhalten die Strafverfolgungsbehörde und die Medien ein „Verständnis von Straffälligkeit aufrecht, in dem Hautfarbe, Nationalität,
Herkunft, Religion und Sprache rassialisiert sind
und als Zeichen für eine Sicherheitsbedrohung gelten“.19 Mit anderen Worten: Es trifft diejenigen, die
als „anders“ konstruiert und rassifiziert werden.
Wie bereits erwähnt, haben auch Richter_innen,
Staatsanwält_innen und andere im juristischen
System tätige Menschen dieses Weltbild erlernt
und sind durch diese Sozialisation geprägt worden. Die kognitiven Prozesse dabei laufen teilweise
unbewusst ab. Nichtsdestotrotz laufen sie konsequent ab und haben weitreichende Folgen für
nicht-weiße Menschen.
Zur Verdeutlichung ein Beispiel, das sich so in
einem deutschen Gericht abgespielt hat:
Ein junger Schwarzer Mann berichtet, er sei
von einem Sicherheitsmann eines Geschäftes
fälschlich des Ladendiebstahls beschuldigt und
anschließend rassistisch beleidigt und körperlich
angegriffen worden. Das Verfahren habe zwar
einen erfreulichen Ausgang für ihn gehabt, da
es zur Verurteilung des wirklichen Täters kam.
Aber obwohl bei dem zu Unrecht Beschuldigten
keinerlei Anhaltspunkte für einen Ladendiebstahl
vorlagen, habe der Richter in seinem Abschlusskommentar rassistische Vorurteile zum Ausdruck
gebracht, indem er den jungen Schwarzen mit den
Worten „und Sie, junger Mann, lassen Sie das mal
mit dem Klauen“ belehrt habe.
Das Verhalten des Richters macht deutlich, wie
mechanisch er die rassistischen Vorstellungen,
Schwarze Menschen seien generell kriminell,
reproduzierte und damit erneut zu ihrer Kriminalisierung beitrug.
19
20
69
5.2 Glaubwürdigkeits-Bias
Bezüglich des Umgangs mit Zeug_innen ist kritisch
anzumerken, dass weiße Personen aufgrund
weißer Privilegien auch vor dem Gericht einen
Glaubwürdigkeitsvorschuss genießen. Da diese
Privilegien, insbesondere von weißen Menschen,
meist nicht als solche erkannt werden, bleibt auch
die Reflexion über diese bestehende Ungerechtigkeit aus. Umso wichtiger ist es für Jurist_innen,
sich mit dieser subtilen Form des institutionellen
Rassismus auseinanderzusetzen und ihren Blick
dafür zu schärfen.
5.3 Sekundäre Viktimisierung
Der Begriff sekundäre Viktimisierung beschreibt
einen Prozess, in dem das Opfer einer Straftat
erneut zum Opfer wird. Gemeint ist eine „Verschärfung des primären Opferwerdens durch
Fehlreaktionen des sozialen Nahraums des Opfers
und der Instanzen der formellen Sozialkontrolle“.20 Die negativen Folgen resultieren also nicht
unmittelbar aus der Straftat selbst, sondern aus
den Reaktionen der sozialen Umwelt und aus der
Art und Weise der Behandlung durch Personen
oder Institutionen, mit denen das Opfer nach der
Straftat zu tun hat. Die Vermeidung sekundärer
Viktimisierung wurde bislang in Deutschland vor
allem mit Blick auf die Opfer von Sexualstraftaten
thematisiert. Angesichts der oben beschriebenen
Ähnlichkeiten in der traumatisierenden Wirkung
rassistischer Taten muss sie in diesen Fällen ebenfalls stärker berücksichtigt werden.
Auch im Gerichtsaal kommt es zu bewussten und
unbewussten, zu beabsichtigten und teilweise
auch zu unbeabsichtigten, jedenfalls aber unangemessenen Reaktionen und Bemerkungen bei
rassistischen Taten. Dazu gehören etwa Bagatellisierungen des rassistischen Tatmotivs, das
Gelangweilt- oder Genervtsein, wenn Betroffene
über Rassismuserfahrungen berichten und das
Unterstellen einer Mitschuld. Selbstverständlich
ist auch die Reproduktion rassistischer Stereotype
und Vorurteile gegenüber Schwarzen Menschen
Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (Hg.) (2016). Alltäglicher Ausnahmezustand. Institutioneller Rassismus in deutschen Strafverfolgungsbehörden. Münster: edition assemblage, S. 13.
Schneider, Hans Joachim (1979): Das Opfer und sein Täter – Partner im Verbrechen. München: Kindler, S. 16.
70
ER FAH RU N G EN VO N O PF ER N R AS S IST IS CH ER TAT EN MIT DER J UST I Z
und People of Color im eigenen Sprachgebrauch
unangebracht.
6 Bausteine einer
rassismussensiblen Justiz
Die Berliner Beratungsstellen Reach Out und OPRA
haben Kernpunkte für diejenigen herausgearbeitet,
die sich im Gerichtssaal gegen Rassismus verteidigen. Von besonderer Wichtigkeit sind:
– die Anerkennung und die Benennung von Rassismus (insbesondere in Urteilsverkündungen)
– Beschwerdemöglichkeiten und Sanktionen im Fall von rassistischem Verhalten im
Gerichtssaal
– eine respektvolle Behandlung, die sich durch
das Wahrnehmen und das Ernstnehmen der
betroffenen Personen äußert
– Thematisierung jedes Vorfalles, bei dem im
Gerichtsaal Rassismus reproduziert wird und
das energische Unterbinden solcher Reproduktion. Als bedeutendste Auswirkung von institutionellem Rassismus erscheint in den deutschen
Gerichten die Existenz einer als objektiv
gesetzten, aber unsichtbaren weißen Norm.
Ihre unausgesprochene Wirkung kann zum Beispiel dazu führen, dass das Gerichtspersonal,
möglicherweise unbeabsichtigt, nicht-weiße
Opferzeug_innen fälschlicherweise wiederholt
als „Angeklagte“ anspricht. Nicht-weißen Menschen unterstellt die Institution damit de facto
eine „angeborene Neigung“ zur Kriminalität.
So werden rassistische Bilder zementiert und
reproduziert.
7 Fazit
Das Gericht kann ein menschenwürdiger und
sicherer Ort für Rassismusbetroffene werden,
wenn mehr Justizmitarbeiter_innen den Mut
21
22
haben, Rassismus im Gericht anzusprechen, wenn
Beschwerdemöglichkeiten geschaffen werden und
wenn alle Akteur_innen (inklusive Richter_innen)
mit spürbaren Konsequenzen für rassistische
Äußerungen und für rassistisches Handeln zu
rechnen haben.
Im folgenden Fall aus Großbritannien setzte
sich eine Justizmitarbeiterin gegen Rassismus
im Gericht ein: Der vorsitzende Richter Richard
Hollingworth habe sich in einem Prozess im
Preston Magistrates Court rassistisch über die
Opferzeugin Frau Patel geäußert. Dies sei geschehen, als die Staatsanwältin, Rachel Parker, ihm
berichtet habe, die Zeugin könne nicht im Gericht
erscheinen, da sie arbeiten müsse. Der Richter
habe daraufhin behauptet, dass eine Person mit
einem solchem Namen keinen „wichtigen“ Beruf
ausübe und es daher auch kein Problem für sie
sei, einen so kurzfristigen Termin wahrzunehmen.
Er habe weiter ausgeführt, dass eine Person mit
einem Namen wie „Patel“21 wahrscheinlich in
einem Einkaufsladen oder einem „Spätkaufladen“
arbeite und daher kein Problem habe, vom Arbeitgeber kurzfristig freigestellt zu werden.
Frau Patel habe sich zum Zeitpunkt der rassistischen Äußerungen nicht im Gerichtsaal befunden.
Die Staatsanwältin Rachel Parker habe Richter
Hollingworth gegenüber jedoch bemerkt, dass
seine Äußerungen beschämend seien. Es sei
Beschwerde eingereicht worden und der Richter
habe noch am selben Tag personelle Konsequenzen gezogen und seine Kündigung eingereicht. Der
Fall sei weiter durch die offizielle Beschwerde- und
Untersuchungsstelle der Justiz (Judicial Conduct
Investigation Office) untersucht worden.22
Im Interesse einer diskriminierungsfreien und
rassismussensiblen Justiz in Deutschland sind
Staatsanwält_innen, Richter_innen und Angehörige anderer juristischer Berufsgruppen aufgefordert, dieselbe Art von Courage zu zeigen wie die
britische Staatsanwältin.
Name pakistanisch/indischer Herkunft.
Bunyan, Nigel (2014): Judge resigns after making racist remark about victim. In: The Guardian, 07.12.2014: https://www.theguardian.
com/law/2014/dec/07/judge-resigns-racist-remark-about-victim-richard-hollingworth (abgerufen am 12.02.18).
E RFAHRUNGEN VON OP F E R N R A SSI STI SCH E R TATEN MIT DER J U ST IZ
71
Über die Autor_innen
Chandra-Milena Danielzik ist Politikwissenschaftlerin und arbeitet seit 2017 am Deutschen
Institut für Menschenrechte in der Abteilung
Menschenrechtspolitik Inland/Europa. Sie hat
in Deutschland und Südafrika studiert, lehrt im
universitären Bereich und ist als Trainerin in
der politischen Erwachsenenbildung tätig. Ihre
Schwerpunkte sind Internationale Beziehungen,
Rassismus und Ernährungspolitik.
Kathleen Jäger, LL.M. arbeitet als Juristin und
Diversity-Trainerin in Berlin. Sie forscht unter
anderem zum Einfluss unbewusster Vorurteile auf
richterliche Entscheidungsfindung und gibt Diversity-Trainings für Jura Studierende, Rechtsreferendar_innen und Richter_innen.
Doris Liebscher, LL.M. ist Juristin mit den
Schwerpunkten Antidiskriminierungsrecht, Recht
und Rassismus sowie interdisziplinäre Rechtsforschung. Sie arbeitet an der Humboldt Law Clinic
Grund- und Menschenrechte am Lehrstuhl für
Öffentliches Recht und Geschlechterstudien an
der Humboldt Universität zu Berlin und im Büro für
Recht und Wissenschaft Berlin. Sie ist Mitbegründerin und Vorständin des Antidiskriminierungsbüro
Sachsen.
Eben Louw ist Psychologe, Fachberater für
Psychotraumatologie, Systematischer Psychotherapeut und Berater mit dem Schwerpunkt der
Beratung und Betreuung von Opfern rassistischer,
rechtsextremer und antisemitischer Gewalt. Er leitet das Projekt „Psychologische Beratung für Opfer
rechtsextremer, rassistischer & antisemitischer
Gewalt“ (OPRA) bei ARIBA e.V., Berlin. OPRA bietet
Betroffenen, Zeug_innen und Angehörigen von
rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt
psychologische und therapeutische Unterstützung.
Marjam Samadzade ist seit 2013 Richterin am
Amtsgericht in Ratzeburg, war zuvor Staatsanwältin in Kiel und Rechtsanwältin in Hamburg. Daneben ist sie als Referentin für Fortbildungen zum
Thema „Interkulturelle Kompetenz und Kommunikation“ tätig. Sie ist außerdem Beiratsmitglied und
Referentin in dem Projekt „Rassismus und Menschenrechte – Stärkung der Strafjustiz“.
ANHANG
74
L EIT F R AG EN Z U M ER K EN N EN R AS S IST IS CH MOT IV IERT ER D E L I K T E
Leitfragen zum Erkennen rassistisch
motivierter Delikte
Im Zuge der Änderung des § 46 Abs. 2 StGB
wurden auch die Richtlinien für das Straf- und
Bußgeldverfahren ergänzt. „Soweit Anhaltspunkte
für rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige
menschenverachtende Beweggründe bestehen,
sind die Ermittlungen auch auf solche Tatumstände zu erstrecken“, heißt es nun in Nr. 15
RiStBV. Wann aber liegen solche Anhaltspunkte
vor, auf welche Aspekte beispielweise in Bezug auf
die Wahrnehmung von Zeug_innen, das Verhältnis
von Täter_innen und Opfer, Tatmodalitäten, Tatort
und -zeit, Muster und Häufigkeit früherer Vorfälle
ist zu achten?
Mit der folgenden Leitfragenliste soll das Bewusstsein für solche Anhaltspunkte (Indikatoren)
geschärft werden.
Indikatorenlisten dienen als nützliches Instrument
für Ermittlungsbehörden und Gerichte, um zu
analysieren, ob eine gemeldete Straftat vorurteilsmotiviert sein könnte.1 Im Justizalltag soll die unten
folgende Liste insbesondere für Richter_innen und
Staatsanwält_innen, die sich in ihrem Arbeitsalltag
hauptsächlich mit Fällen aus dem Bereich der
allgemeinen Kriminalität beschäftigen, eine Hilfestellung darstellen. Als Reflexionsgrundlage tragen
die darin enthaltenen Fragen zum Erkennen von
rassistisch motivierten Taten bei. Auch wenn damit
womöglich nicht bewiesen werden kann, dass eine
Tat tatsächlich durch rassistische Beweggründe
motiviert ist, können die Leitfragen die Entscheidung unterstützen, ob ein Motiv weiter untersucht
werden sollte.
Die in den Fußnoten genannten Urteile und
Beschlüsse enthalten Beispiele, wo der jeweilige
1
Aspekt im Sachverhalt relevant beziehungsweise
im Urteil berücksichtigt wurde.
Bitte beachten Sie:
Die Leitfragenliste eignet sich insbesondere zum
Ermitteln von Anhaltspunkten für rassistische
Gewaltdelikte:
Die Fragen selbst sind nicht geeignet, in dieser Form direkt an die Tatbeteiligten gestellt
zu werden, zum Beispiel im Rahmen der
Zeugenvernehmung.
Die Leitfragenliste ist nicht abgeschlossen und
kann ergänzt und abgeändert werden.
Wahrnehmung der Beweggründe der
Tat seitens der Opferzeugin/des Opferzeugen oder anderer Zeugen/Zeuginnen
– Hat die Opferzeugin/der Opferzeuge die
Handlung des Täters/der Täterin als rassistisch
motiviert wahrgenommen? Wenn ja, warum?
– Hat eine Zeugin/ein Zeuge die Handlung des
Täters/der Täterin als rassistisch motiviert
wahrgenommen? Wenn ja, warum?
Unterschiede zwischen Täter_innen und
von der Tat betroffenen Personen
– Wird die betroffene Person einer bestimmten
Gruppe zugeordnet, die von vorurteilsgeleiteten
Straftaten betroffen ist?
– Hatte der oder die Täter_in eine andere (zugeschriebene) Religionszugehörigkeit, Nationalität, Herkunft und/oder Sprache als die
betroffene Person? Wurde dies von dem oder
Wie zum Beispiel das vom Generalbundesanwalt erstellte Merkblatt mit Indikatoren zum Erkennen rechtsterroristischer Zusammenhänge
aus dem Jahr 2015.
LEITFRAGEN ZUM E R K E NNE N R A SSI STI SCH M OTI V IERT ER DEL IK T E
der Täter_in wahrgenommen und gegebenenfalls verbalisiert?2
– Hätte der Vorfall so stattgefunden, wenn die
betroffene Person und der oder die Täter_in
sich in Bezug auf (zugeschriebene) Religionszugehörigkeit und/oder (zugeschriebene)
Nationalität, Herkunft und/oder Sprache nicht
unterschieden hätten?3
– Wurde die Person vor, während oder nach der
Tat in irgendeiner Form rassialisiert?4
Ermittlungsrichtungen und diskriminierungsfreie Durchführung des (polizeilichen) Ermittlungsverfahrens
– Wurde im Ermittlungsverfahren durch die
Polizeibehörden in Richtung eines rassistischen
Tatmotivs ermittelt?5
– Wenn nein, gibt es Anhaltspunkte dafür, dass
im Ermittlungsverfahren durch die Polizeibehörden ein rassistisches Motiv nicht ausreichend
ausermittelt wurde?
– Hat die betroffene Person genug Zeit und Raum
bekommen, die Tat aus ihrer Sicht zu schildern?
Wurde sie ggf. entmutigt, ein rassistisches
Moment im Tathergang zu benennen, oder ist
sie eingeschüchtert?
– Werden in den Ermittlungsakten rassistische
Zuschreibungen und Begriffe verharmlost oder
als irrelevant bewertet?
– Werden Personen in den Ermittlungsakten mit
stereotypen Darstellungsweisen oder diskriminierenden Begriffen belegt?
– Ist bei der Bewertung von Rechtfertigungsgründen und anderem die Situation des/der
2
3
4
5
6
7
8
75
Betroffenen als potenzielles Opfer eines rassistischen Übergriffs sowie das Zahlenverhältnis
zwischen den Parteien berücksichtigt worden
(insbesondere bei angeblicher Tatprovokation
durch das Opfer oder wechselseitigen Taten)?
Tatmodalitäten, Muster und Häufigkeit
früherer Vorfälle
– Ähnelt der Tathergang anderen bekannten und
dokumentierten Fällen von rassistischer, antisemitischer und/oder rechtsextremer Gewalt?
– Gab oder gibt es immer wieder ähnliche Übergriffe auf eine bestimmte Gruppe von Menschen in dieser Gegend oder an diesem Ort?
– Hat der Vorfall an einem Gedenktag oder einem
anderen Tag stattgefunden, der Bedeutung für
die Gruppe der betroffenen Person oder des
Täters/der Täterin hat?
– Zeichnete sich die Tat durch besondere Brutalität beziehungsweise enthemmte Gewalt seitens
des Täters/der Täterin aus (zum Beispiel hohe
Intensität der Gewaltausübung, Quälen des
Opfers, Dauer der Gewalteinwirkung)?6
Einzeltatgesinnung, Motiv und Ziel
– Fand ein scheinbar grundloser/unvermittelter
Angriff auf Rechtsgüter7 oder die körperliche
Unversehrtheit der betroffenen Person statt?8
– Gab es Kommentare oder Aussagen des
Täters/der Täterin, die auf Voreingenommenheit in Bezug auf die (zugeschriebene)
Nationalität, Herkunft, Sprache und/oder
Landgericht Neuruppin (2010): Urteil vom 09.01.2010 – Az. 344Js24 212.
Landgericht Leipzig (2011): Urteil vom 08.07.2011 – Az. 1 Ks 306 Js 51 333/10.
Rassialisierung beschreibt den Prozess, in welchem Menschen – in Bezug auf ihre vermeintliche Ethnie/Nationalität/Herkunft – zu „den
Anderen“ gemacht werden. Menschen, die von Rassismus negativ betroffen sind, werden auf unterschiedliche Weise rassialisiert. Während zum Beispiel „asiatische“ Männer als feminin, asexuell, schwach, quasi unsichtbar wahrgenommen werden, werden „afrikanische“
Männer als hypersexuell, aggressiv und frauenfeindlich dargestellt. Die Art und Weise, wie Menschen als „die Anderen“ markiert werden,
variiert. So kann beispielsweise das Tragen eines Kopftuches zur Rassialisierung durch die Mehrheitsgesellschaft führen, indem die Person
aus dem Kollektiv der deutschen Bevölkerung herausgegriffen und einer anderen Kultur, Gesellschaft sowie anderen Werten zugewiesen
wird. Damit wird sie zu einer „Rasse“ gemacht, also einer homogenen anderen Gruppe zugewiesen, die der eigenen Gruppe direkt oder
indirekt untergeordnet wird.
Landgericht Hannover (2016): Urteil vom 17.03.2016 – Az. 39 Ks 20/15.
Landgericht Neuruppin (2004): Urteil vom 19.08.2004 – Az. 12 Kls 326 Js 32 674/02.
Durch die Rechtsordnung geschützte Güter oder Interessen.
Amtsgericht Gummersbach (2009): Urteil vom 14.09.2009 – Az. 82 Ls-121 Js 539/08-1/09.
76
L EIT F R AG EN Z U M ER K EN N EN R AS S IST IS CH MOT IV IERT ER D E L I K T E
Religionszugehörigkeit der betroffenen Person
schließen lassen könnten?9
– Wurden Bemerkungen zur (zugeschriebenen)
Nationalität, Herkunft, Sprache und/oder
Religionszugehörigkeit der betroffenen Person
gemacht, die sich der oder die Täter_in zumindest zu eigen gemacht hat?10
– Wurden eine oder mehrere betroffene Personen
anders behandelt als anwesende potenzielle
Opfer, die als weiß/deutsch wahrgenommen
wurden?11
Bei spontanen oder ungeplanten Taten
– Zeigte der oder die Täter_in, obwohl kein
offensichtliches Motiv vorliegt, eine hohe
Gewaltbereitschaft gegenüber der betroffenen Person und ihrer (zugeschriebenen)
Gruppenzugehörigkeit?12
– Hat der Täter/die Täterin im Vorfeld der Tat
rassistische, rechtsextremistische Parolen und
Aussagen getätigt?13
Kleidungsstücke, Literatur, Musik, Bilder,
Sammlerstücke?14
– Hat der Täter/die Täterin rassistische Aussagen verschriftlicht (in Social Media und
Ähnlichem)?15
Bezug zu rechter/rechtsextremistischer
Szene
– War der Täter/die Täterin zuvor an einer ähnlichen oder vergleichbaren Tat beteiligt?16
– Ist oder war der Täter/die Täterin Mitglied
einer (bekannten) rechten, rassistischen, antisemitischen oder neonazistischen Organisation
oder Gruppe oder fühlt sich der rechten Szene
zugehörig?17
– Finden regelmäßige Besuche von rechtsextremen Musikveranstaltungen, Bars oder anderen einschlägigen Veranstaltungen und Orten
statt?18
Verschuldete Auswirkungen der Tat19
Kommentare, Symbole, schriftliche
Statements
– Liegt während oder nach der Tatausübung ein
aggressiver, rassistischer Sprachgebrauch des
Täters/der Täterin vor?
– Lassen Symbole, Worte, Handlungen oder
andere Hinweise auf ein rassistisch motiviertes Delikt schließen, wie zum Beispiel Tattoos,
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
– Sind schwerwiegende psychische Folgen oder
posttraumatische Belastungsstörungen für das
Opfer entstanden?
– Befürchtet die betroffene Person weitere, ähnliche Angriffe? Hat die betroffene Person Angst
vor weiteren, ähnlichen Angriffen?
– Ist von einem negativen Einfluss der Tat auf das
Sicherheitsempfinden der betroffenen Person
und der Gruppe, die die betroffene Person
repräsentiert, auszugehen?20
Bundesgerichtshof (1998): Urteil vom 09.12.1998 – Az. 5 StR 569/98; Landgericht Neuruppin (2003): Urteil vom 14.03.2003 – Az. 13 NS
326 Js 14 869/01 (20/02).
Bundesgerichtshof (1993): Beschluss vom 07.07.1993 – Az. 5 StR 359/93.
Landgericht Leipzig (2011): Urteil vom 08.07.2011 – Az. 1 Ks 306 Js 51 333/10.
Landgericht Neuruppin (2004): Urteil vom 19.08.2004 – Az. 12 Kls 326 Js 32 674/02; Bundesgerichtshof (1998): Urteil vom 09.12.1998 –
Az. 5 StR 569/98.
Landgericht Neuruppin (2010): Urteil vom 09.01.2010 – Az. 344Js24 212.
Amtsgericht Gummersbach (2009): Urteil vom 14.09.2009 – Az. 82 Ls-121 Js 539/08-1/09.; Landgericht Neuruppin (2002): Urteil vom
10.05.2002 – Az. 82 LS 326 Js 14 869/01 (28/01).
Amtsgericht Duisburg (2016): Urteil vom 10.06.2016 – Az. 81 Ds 78/16.
Amtsgericht Neuruppin (2001): Urteil vom 22.11.2001 – Az. 81 Ls 326 Js 14 869/01 (38/01).
Bundesgerichtshof (2015): Urteil vom 02.07.2015 – Az. 4 StR 509/14.
Amtsgericht Gummersbach (2009): Urteil vom 14.09.2009 – Az. 82 Ls-121 Js 539/08-1/09.
Als weiterer zu berücksichtigender Faktor nach § 46 II 2, 4. Alt.
Amtsgericht Duisburg (2016): Urteil vom 10.06.2016 – Az. 81 Ds 78/16; Bundesgerichtshof (2010): Beschluss vom 12.01.2000 – Az. StB
15/99.
G LOSSAR
77
Glossar: Diskriminierungssensible Sprache
im Strafverfahren
Justizpraktiker_innen haben in der Bedarfsanalyse des Projekts und in den Fortbildungen den
Wunsch geäußert, bei einem diskriminierungssensiblen Sprachgebrauch in Strafakten und Urteilen
unterstützt zu werden. Gerade wenn es um die
Beschreibung der Umstände geht, die die rassistische Tatmotivation begründen, bestehen häufig
Unsicherheiten, welche Begriffe und Formulierungen angemessen sind. Hier hilft auch der Rückgriff
auf Lexika und Wörterbücher wenig, da diese
selbst häufig noch diskriminierende und rassistische Inhalte enthalten.
Um die Reproduktion rassistischer Zuschreibungen in einem Strafverfahren über eine mutmaßlich
rassistische Tat zu vermeiden, spielt die Sprache
im Gerichtssaal tatsächlich eine wichtige Rolle.
Dabei geht es sowohl um den eigenen Sprachgebrauch von Gericht und Staatsanwaltschaft,
aber auch darum, dass diese intervenieren, wenn
andere Verfahrensbeteiligte sich rassistisch
äußern.
Für einen diskriminierungssensiblen Sprachgebrauch der Justiz ist zunächst die Erkenntnis
wichtig, dass es ganz einfache Lösungen im Sinne
einer „Positivliste“ von Begriffen nicht geben kann.
Denn die mit Begriffen transportierten Bedeutungsräume sind kontextabhängig und wandelbar.
So kann dasselbe Wort je nach der Person des/
der Sprechenden ein diskriminierendes Schimpfwort oder eine emanzipatorisch verwendete
Selbstbezeichnung sein (vgl. unten „Kanacke“
oder „schwul“). Ein zunächst neutraler Begriff,
der einen als diskriminierend erkannten Begriff
ersetzen soll, kann mit der Zeit mit den gleichen
negativen Zuschreibungen aufgeladen werden wie
1
https://glossar.neuemedienmacher.de/glossar/filter:a/
der Ursprungsbegriff (vgl. unten „Menschen mit
Migrationshintergrund“).
Eine erste Leitschnur kann deshalb sein, für die
Beschreibung von Personen auf möglichst individuelle Bezeichnungen, statt auf gruppenbezogene
Adjektive und Nomen zu setzen. So könnte etwa
ein Betroffener einer rassistischen Tat in einem
Urteil beschrieben werden als „A, dessen Vater
vor seiner Geburt aus Eritrea nach Deutschland
migriert ist“.
Vor diesem Hintergrund ist auch das folgende
Glossar zu verstehen. Es reflektiert die Bedeutungsräume von Begriffen und spricht Empfehlungen aus. Es ist mit freundlicher Genehmigung
auszugsweise dem Glossar der Neuen Deutschen
Medienmacher1 entnommen.
Antimuslimischer Rassismus
bezeichnet die Diskriminierung von Menschen,
die aufgrund ihrer tatsächlichen oder auch bloß
zugeschriebenen Religionszugehörigkeit als Muslim*innen wahrgenommen werden. Im Vergleich
zu den Begriffen Islamophobie oder Islamfeindlichkeit verweist die Bezeichnung antimuslimischer
Rassismus auf die Vorstellung von Muslimen als
homogener Gruppe, der bestimmte (zumeist negative) Eigenschaften zugewiesen werden und die als
nicht zugehörig eingeordnet wird.
Antisemitismus
ist eine weit verbreitete Bezeichnung für Judenfeindschaft. Weit gefasst werden damit sämtliche
Formen von Hass, feindlichen Einstellungen, Äußerungen, Handlungen und Vorurteilen beschrieben,
78
die sich gegen Jüdinnen und Juden und alle richten, die mutmaßlich als jüdisch wahrgenommen
werden. Der Begriff wurde erstmalig im 19. Jhd.
öffentlich verwendet und löste mit rassistischen
Motiven den religiös begründeten Antijudaismus
ab; diese Rassentheorien waren eine Grundlage
der Nazi-Ideologie. Öffentliche antisemitische
Hetze ist heute in Deutschland strafbar, dazu
gehört auch die Leugnung des Holocausts.
Antiziganismus
bezeichnet einen spezifischen Rassismus gegen
Sinti und Roma und umfasst verschiedene Ebenen,
die ein Ergebnis jahrhundertealter Vorurteile sind:
Zum einen werden Sinti*ze und Rom*nja, mit dem
Stigma „Zigeuner“ oder verwandter Bezeichnungen
belegt. Darauf aufbauend, werden den Angehörigen der Roma-Minderheiten vermeintlich von der
Norm abweichende, widersprüchliche Eigenschaften (teils romantisierend, oft kriminalisierend)
zugeschrieben. Zuletzt beschreibt Antiziganismus
die strukturelle und institutionalisierte Diskriminierung von Sinti*ze und Rom*nja. Ein erschwerter Zugang zu Bildungseinrichtungen sowie die
andauernde Belegung mit Klischees gehören für
viele Rom*nja zur Lebensrealität. Sie sind als
Ausprägungen des Phänomens Antiziganismus zu
verstehen, nicht als das Phänomen selbst.
Antizionismus
richtet sich gegen die Ideologie des Zionismus und
kann daher implizit als Ablehnung des Existenzrechts des Staates Israel verstanden werden. In
diesem Fall kann man auch von antizionistischem
Antisemitismus sprechen/schreiben. Gleichzeitig
sind nicht alle, die die unterschiedlichen Ideen
zionistischer Strömungen kritisieren, automatisch
gegen die Existenz Israels. So gibt es im innerisraelischen Diskurs jüdischen Antizionismus, der
nicht antisemitisch ist.
Ausländer
bezeichnet Einwohner*innen ohne deutsche
Staatsbürgerschaft. Als Synonym für Einwanderer
ist er dagegen falsch, da die meisten Migranten
und ihre Nachkommen keine Ausländer*innen
mehr sind, sondern Deutsche. Grundsätzlich verortet „Ausländer“ Menschen im Ausland und klingt
G LOS SAR
nicht nach jemandem, der*die den Lebensmittelpunkt in Deutschland hat.
Ausländerhass, Fremdenfeindlichkeit sind als
Synonyme für Rassismus und rassistische Tatmotive sind ungenau, da es selten um tatsächliche
Fremde wie etwa Tourist*innen geht. Von der
vermeintlichen „Ausländerfeindlichkeit“ sind oft
deutsche Staatsangehörige betroffen. Werden Ausländerhass oder Fremdenfeindlichkeit als Motive
genannt, gibt das die Perspektive der Täter*innen
wieder. Präziser ist es, die Motive, Straftaten oder
Gesinnungen als rassistisch, rassistisch motiviert,
rechtsextrem oder neonazistisch zu bezeichnen.
Aussiedler/Spätaussiedler
sind deutsche „Volkszugehörige“ und mit etwa
4,5 Millionen Menschen die größte Einwanderergruppe in der Bundesrepublik. Laut Definition des
Innenministeriums handelt es sich bei ihnen um
„Personen deutscher Herkunft, die in Ost- und
Südosteuropa sowie in der Sowjetunion unter
den Folgen des Zweiten Weltkrieges gelitten
haben (und die) noch Jahrzehnte nach Kriegsende
aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit massiv verfolgt“
wurden. In der Bundesrepublik können sie die
„Statusdeutscheneigenschaft“ bekommen, werden
damit deutschen Staatsangehörigen gleichgestellt
und sind keine Ausländer (siehe auch Vertriebene).
Biodeutsche
wurde vor einigen Jahren von „Migrationshintergründler*innen“ als Gegenentwurf mit
scherzhaft-provokantem Unterton in die Debatte
gebracht und wird inzwischen aus Mangel an
Alternativen mitunter ernsthaft verwendet. Viele
so Bezeichnete lehnen ihn ab, weil in ihm die
Vorstellung von Genetik mitschwingt. Das Gegenteil wären Synthetik-Deutsche – also wieder eine
Zuordnung in echte und nicht echte Deutsche.
Allerdings: als Kürzel für Biografisch-Deutsche
möglich, wenn einmal die ausgeschriebene Form
verwendet wird.
Deutsche Sinti und Roma
sind eine nationale Minderheit. Sprachforscher
verorten die ursprüngliche Herkunft der Sinti
und Roma in Indien und dem heutigen Pakistan.
G LOSSAR
Derzeit leben zwischen 70.000 und 150.000 Sinti
und Roma in Deutschland. Genaue Zahlen sind
nicht bekannt, da seit dem Ende des Zweiten
Weltkrieges in Deutschland generell keine bevölkerungsstatistischen und sozioökonomischen Daten
auf ethnischer Basis erhoben werden. Neben
Deutsch sprechen sie als zweite Muttersprache
häufig die Minderheitensprache Romanes. Oft
werden in der aktuellen Diskussion Einwanderer
aus Rumänien, Bulgarien oder Serbien irrtümlicherweise als „Sinti und Roma“ bezeichnet. Auf
sie würde gegebenenfalls nur die Bezeichnung
Rom*nja zutreffen. Bei Zuwanderern wird jedoch
nur die Staatsangehörigkeit erfasst – es ist also
nicht bekannt, welche Eingewanderten Angehörige
der Minderheit sind.
Extremismus
bezeichnet in Anlehnung an die Extremismustheorie vor allem eine radikale, gewaltsam durchgesetzte politische Haltung. Nach Definition von
Polizei und Verfassungsschutz gelten Bestrebungen als extremistisch, wenn sie gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung gerichtet sind.
Ebenso wie die Bezeichnung „Radikalismus“ ist
der Begriff „Extremismus“ umstritten, weil beide
voraussetzen, dass es eine unpolitische Mitte der
Gesellschaft gibt und vermeintlich abgegrenzt
davon einen linken und rechten Rand, denen undemokratische, verfassungsfeindliche und totalitäre
Gruppen oder Personen angehören. Ideologien
der Ungleichwertigkeit und die Ablehnung der
Demokratie können jedoch in der gesamten Bevölkerung vertreten sein. Deshalb empfiehlt es sich,
in der Berichterstattung z. B. nicht von extremistischen, sondern eher von extremen Motiven zu
sprechen/schreiben oder sie besser konkret zu
benennen.
Hasskriminalität, Hassverbrechen
deutsch für Hate-Crime, bezeichnet Gewalt- und
Straftaten, die durch Rassismus (siehe Ausländerhass), religiöse Intoleranz, Trans- oder Homophobie und ähnlichem motiviert sind. Hasskriminalität
ist sinnvoll zur Benennung von Straftaten, wenn
die Betroffenen von den Täter*innen als Zugehörige einer Gruppe angesehen werden, die
als ungleichwertig beurteilt wird. In der Fachsprache ist als Motiv für Hasskriminalität von
79
Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit die
Rede.
Holocaust
(griech. vollständig verbrannt) bezeichnet die systematische massenhafte Ermordung von Jüdinnen
und Juden und anderen Minderheiten durch die
Nationalsozialist*innen. Eingeführt wurde der
Begriff 1979 als Titel der amerikanischen Fernsehserie „Holocaust – Die Geschichte der Familie
Weiß“, die auch in Deutschland sehr populär war.
Manche Jüdinnen und Juden lehnen das Wort
allerdings ab, weil das Brandopfer in der Thora die
Obhut Gottes verspricht, und bevorzugen deswegen den hebräischen Begriff Shoa (auch Shoah,
Schoa oder Schoah), der für „große Katastrophe“
steht. Bis heute gibt es keinen eigenen deutschen
Begriff für diesen historischen Massenmord.
Islamfeindlichkeit
bezeichnet eine generell ablehnende Haltung
gegenüber dem Islam und seinen Glaubensrichtungen, sowie gegenüber Menschen muslimischen
Glaubens und ihren religiösen Praktiken. Islamfeindlichkeit kann in der Praxis auch mit Islamophobie einhergehen. Expert*innen empfehlen,
anstatt Islamfeindlichkeit den Begriff antimuslimischer Rassismus zu verwenden, weil er verdeutlicht, dass es bei dieser Art der Ablehnung weniger
um Religionsfragen geht, sondern vielmehr um
Ausgrenzung.
Islamisierung
bezeichnet im historischen Sinn (analog zum
Begriff Christianisierung) die territoriale Ausbreitung von islamischen Religionsgemeinschaften
ab dem Jahr 632 (nach dem Tod des Propheten
Mohammed) bis ins 10. Jahrhundert. Re-Islamisierung ist der Fachbegriff für die wachsende
Bedeutung islamischer Religionen in der heutigen
Zeit. Als politisches Schlagwort verwendet wird
„Islamisierung“ mit einer Art von Radikalisierung
assoziiert. Dabei wird Muslimen häufig unterstellt,
den Islam generell fundamentalistisch auszulegen
oder extremistisch zu agieren. Nicht nur in rechtspopulistischen Kreisen ist der Begriff verbreitet,
um vor einer Überfremdung durch den Islam und
seinen (mutmaßlichen) Anhängern zu warnen.
80
Juden
sind Angehörige der jüdischen Religion und dem
rabbinischen Religionsgesetz nach alle, deren
Mutter Jüdin ist. Weil es immer mehr gemischtkonfessionelle Ehen gibt, gilt z. B. bei progressiven
Strömungen in den USA auch als jüdisch, wer
einen jüdischen Vater hat und jüdisch erzogen
wird. Ebenso ist es möglich, zum jüdischen Glauben zu konvertieren. Wer von Geburt an jüdisch
ist, ist nicht automatisch religiös; viele Jüdinnen
und Juden sind nicht gläubig, sehen sich aber als
Teil der jüdischen Gemeinschaft – teilweise benennen sie das Judentum als ihre kulturelle Identität
statt als ihre Religion. Einige gläubige Jüdinnen
und Juden bezeichnen sich als Volk Israel. Es ist
aber ein Irrtum, Jüdinnen und Juden, die in vielen
Teilen der Welt leben, mit Israelinnen/Israelis, also
den Bürger*innen des multiethnischen Staates
Israel, gleichzusetzen.
Kanaken
(polynesisch „Kanaka“ = Mensch) ist ein Schimpfwort, wird jedoch manchmal (mit sarkastischem
Unterton) als Selbstzuschreibung verwendet.
Wenn Protagonist*innen sie für sich selbst verwenden, kann die Selbstbezeichnung in Medienberichten übernommen werden, sollte aber als
solche erkennbar sein.
Kopftuch
kann im Gegensatz zum eher eng anliegenden
Hijab auch ein locker um den Kopf geschlungenes
Tuch sein. Je nach Auslegung des Korans, politischer Lage und persönlicher Einstellung ist es
Musliminnen freigestellt, sich zu verhüllen, oder
es gibt eine Pflicht, die Haare zu verdecken. Laut
einer Umfrage unter Musliminnen in Deutschland
trägt von den stark Gläubigen unter ihnen jede
Zweite nie ein Kopftuch. In Ländern wie Iran,
Saudi-Arabien oder den Vereinigten Arabischen
Emiraten sind Frauen gesetzlich verpflichtet, sich
zu bedecken, wenn sie von nicht verwandten Männern gesehen werden könnten.
Kopftuchträgerin
wird oft synonym für praktizierende Musliminnen
verwendet. Grundsätzlich ist die Reduzierung einer
Person auf ein äußeres Merkmal problematisch,
G LOS SAR
vor allem bei den mitunter abfällig gemeinten
Begriffen „Kopftuchfrau“ oder „Kopftuchmädchen“. Was sagt diese Zuschreibung über die vielfältigen Gründe, Weltanschauungen, Auslegungen
und Glaubenspraktiken aus, die dahinterstecken
können?
Leitkultur
wurde als Begriff von dem Göttinger Politologen
Bassam Tibi geprägt, dessen Vorstellung zufolge
sich Migranten in heterogenen Einwanderungsgesellschaften den herrschenden kulturellen Normen
anzupassen hätten, ohne die eigene Kultur aufgeben zu müssen. Tibis Bezeichnung wurde 2000
vom damaligen CDU-Generalsekretär Friedrich
Merz übernommen, der bemängelte, es gebe keine
deutsche Leitkultur mehr. In der folgenden Diskussion ging es allerdings weniger um gemeinsame
Werte als vielmehr um einen Katalog dessen, was
Einwanderer respektieren sollten, wollten sie in
Deutschland leben. Der Begriff kursiert teils in
rechtsextremen Kreisen, ist jedoch im Zuge der
aktuellen Asyldebatte als Schlagwort auch wieder
häufiger in der bürgerlichen Mitte anzutreffen.
Mehrheitsgesellschaft
ist ein gängiger Begriff, der missverständlich ist.
Eigentlich müsste es heißen: Mehrheitsbevölkerung, also die von 64 Millionen Deutschen ohne
Migrationshintergrund. In einem faktischen Einwanderungsland funktionieren Bezeichnungen wie
„die deutsche Gesellschaft“ oder „die Gesellschaft
in Deutschland“ nicht als Synonym für Deutsche
ohne Einwanderungskontext.
Menschen mit Migrationshintergrund
(MH)
sind nach statistischer Definition
– in Deutschland lebende Ausländer_innen
– eingebürgerte Deutsche, die nach 1949 in die
Bundesrepublik eingewandert sind
– sowie in Deutschland geborene Kinder mit
deutschem Pass, bei denen sich der Migrationshintergrund von mindestens einem Elternteil ableitet.
Zunächst wurde „Personen mit Migrationshintergrund“ in der Verwaltungs- und Wissenschaftssprache verwendet. Doch als durch
G LOSSAR
Einbürgerungen und das neue Staatsangehörigkeitsrecht von 2000 der Begriff Ausländer nicht
mehr funktionierte, um Einwanderer und ihre
Nachkommen zu beschreiben, ging die Formulierung auch in die Umgangssprache ein (siehe auch
Einbürgerung und Doppelte Staatsangehörigkeit).
Inzwischen wird der Begriff von manchen als stigmatisierend empfunden, weil damit mittlerweile
vor allem (muslimische) „Problemgruppen“ assoziiert werden. Eine gute Alternative: Menschen aus
Einwandererfamilien.
Migranten
werden vom Statistischen Bundesamt als Menschen definiert, die nicht auf dem Gebiet der
heutigen Bundesrepublik, sondern im Ausland
geboren sind. Rund die Hälfte davon sind Deutsche, die andere Hälfte hat eine ausländische
Staatsangehörigkeit. Im Diskurs wird dieser Begriff
häufig irrtümlich als Synonym für Menschen mit
Migrationshintergrund verwendet.
81
typischen Symbolen der 1990er Jahre zu erkennen
(Glatze, Stiefel, Bomberjacke). Rassistische oder
rechtsextreme Ideologien können in allen Spektren
der Gesellschaft herrschen, z. B. bei selbsternannten Asylgegnern.
Rasse
ist eigentlich seit dem Nationalsozialismus („Rassengesetze“) ein Unwort in Deutschland, das im
Sprachgebrauch nicht mehr üblich ist. Dennoch
existiert es noch in zahlreichen Gesetzestexten
wie dem Grundgesetz („Niemand darf wegen …
seiner Rasse … benachteiligt oder bevorzugt werden.“). In der Berichterstattung taucht es zudem
auf, wenn zum Beispiel Rassismus-Debatten aus
den USA wiedergegeben werden. Doch Begriffe
wie „Rassenunruhen“ (race oder ethnic riots) oder
„Rassenbeziehungen“ (race relations) sollten nicht
unreflektiert wortwörtlich übersetzt werden, da
der Begriff „race“ in den USA anders als im Deutschen „Ethnizität“ oder „Herkunft“ meint. Alternativen wären, neben Rassismus-Debatten, auch
Unruhen wegen Rassismus-Vorwurf etc.
Muslime
bezeichnet Angehörige der islamischen Religionsgemeinschaft. Grundsätzlich gilt es zu hinterfragen, ob die Zuschreibung einer Religion relevant
und zutreffend ist. Beispiel: Warum wurde die Religionszugehörigkeit bei der „ersten muslimischen
CDU-Bundestagsabgeordneten“ 2013 so stark
thematisiert? Häufig wird Muslim*innen auch als
Synonym für Einwanderer und ihre Nachkommen
verwendet, was sachlich falsch ist: Nur ein Fünftel aller Menschen aus Einwandererfamilien in
Deutschland sind Muslim*innen und es gibt deutsche Muslim*innen ohne Migrationshintergrund.
Rassismus
ist der Prozess, in dem Menschen aufgrund
tatsächlicher oder vermeintlicher körperlicher
oder kultureller Merkmale (z. B. Hautfarbe, Herkunft, Sprache, Religion) als homogene Gruppen
konstruiert, negativ bewertet und ausgegrenzt
werden. Der klassische Rassismus behauptet eine
Ungleichheit und Ungleichwertigkeit von Menschengruppen auf Grundlage angeblicher biologischer Unterschiede. Im Kulturrassismus wird die
Ungleichheit und Ungleichwertigkeit mit angeblichen Unterschieden zwischen den „Kulturen“ zu
begründen versucht.
Neonazi
Kurzform von Neo-Nationalsozialist. Neonazis
beziehen sich geistig, politisch sowie in der Symbolik und den Aktionsformen auf den Nationalsozialismus. Die neonazistische Szene pflegt das
NS-Erbe sowie Traditionen von SA- und SS-Verbänden. Neonazismus ist die radikalste und aggressivste Variante des heutigen Rechtsextremismus.
Jeder Neonazi ist rechtsextrem, aber nicht jeder
Rechtsextreme ist Neonazi. Viele Rechtsextreme
beziehen sich heutzutage nicht mehr auf den Nationalsozialismus und sind auch nicht mehr an den
Rechtsextremismus
basiert auf Ideologien der Ungleichwertigkeit mit
dem Ziel, diese gewaltsam durchzusetzen. Der
Rechtsextremismus lehnt die Freiheit und Gleichwertigkeit aller Menschen grundsätzlich ab. Weitere wesentliche Bestandteile sind Nationalismus
sowie die Ablehnung von Demokratie. Als Oberbegriff, der keine einheitliche Ideologie beschreibt,
ist die Bezeichnung Rechtsextremismus wissenschaftlich umstritten, weil sie sehr undifferenziert
82
ist. Meist wird damit das veraltete Bild typischer
Neonazis der 1990er Jahre verbunden, mit Glatze,
Stiefeln, Bomberjacke – Erkennungszeichen, die
in modernen Formen des Rechtsextremismus von
subtileren Codes und Symbolen abgelöst wurden. Zudem gibt es in der Mitte der Gesellschaft
Menschen mit rechtsextremer und/oder neonazistischer Gesinnung, die längst ohne stereotype
Zeichen auskommen. Ebenso können mit dem
verallgemeinernden Begriff Rechtsextreme z. B.
auch Asylgegner gemeint sein.
Rechtspopulist
hat sich als Beschreibung für Vertreter*innen
rassistischer Protestparteien durchgesetzt. In der
Forschung ist umstritten, ob es sich bei Rechtspopulismus um eine Ideologie handelt oder um einen
Politikstil von Parteien der radikalen Rechten. Fest
steht: Rechtspopulist*innen arbeiten mit Gegensätzen, die von einem „reinen Volk“ und einer „korrupten (politischen) Elite“ ausgehen und mit einem
Nationalismus, bei dem Ausländer, People of Color
und Geflüchtete als Eindringlinge und Bedrohung
dargestellt werden.
Im Gegensatz zu Rechtsextremisten treten Vertreter*innen des Rechtspopulismus zuweilen als vermeintliche Hüter der demokratischen Ordnung auf.
Roma
ist sowohl Selbstbeschreibung als auch allgemeiner Sammelbegriff für eine heterogene Gruppe
von Menschen, die im 13. und 14. Jahrhundert
von Indien und dem heutigen Pakistan nach Mittel-, West- und Nordeuropa gekommen sind. Sie
bilden die größte ethnische Minderheit in Europa.
Expert*innen sprechen häufig von Roma-Gruppen
oder Angehörigen der Roma-Minderheiten, da es
zahlreiche verschiedene Untergruppen gibt, die
sich in Sprachen, Religionen und Gewohnheiten
voneinander unterscheiden, bspw. Kalderasch/
Kaldera/Kalderara, Kalé/Kale/Cale oder Lovara/
Lowara. Im weiblichen Singular spricht man von
Romni (Plural: Romnja), im männlichen von Rom
(Plural: Roma).
G LOS SAR
Schwarze
„Wenn es um Rassismus, unterschiedliche Erfahrungen und Sozialisationen geht, ist der politisch
korrekte Begriff Schwarze. In allen anderen Fällen
gibt es aber meistens gar keinen Grund, dazu zu
sagen, ob eine Person Schwarz oder Weiß ist.“
(zitiert von www.derbraunemob.info). Farbige/farbig ist ein kolonialistischer Begriff und negativ konnotiert. Eine Alternative ist die Selbstbezeichnung
People of Color (PoC, Singular: Person of Color).
Schwarze Deutsche
In Deutschland leben mehrere hunderttausend
Schwarze Deutsche. Dabei handelt es sich nicht
um die Beschreibung einer Hautfarbe, sondern um
eine politische Selbstbezeichnung (die allerdings
nichts mit der CDU zu tun hat). Begriffe wie „Farbige“ oder „Dunkelhäutige“ lehnen viele ab. Die
Initiative „der braune mob e. V.“ schreibt: „Es geht
nicht um ‚biologische‘ Eigenschaften, sondern
gesellschaftspolitische Zugehörigkeiten.“ Um das
deutlich zu machen, plädieren sie und andere
dafür, die Zuschreibungen Schwarz und Weiß groß
zu schreiben.
Sinti
ist die Bezeichnung für Nachfahren der
Roma-Gruppen, die bereits im 14. und 15. Jahrhundert in den deutschsprachigen Raum eingewandert sind. Sinti*ze sind die in West- und
Mitteleuropa beheimateten Angehörigen der
Minderheit. Die Bezeichnung wird jedoch nur in
Deutschland, Österreich und Teilen Norditaliens
verwendet. Außerhalb des deutschen Sprachraums wird Roma als Name für die gesamte Minderheit genutzt. Der weibliche Singular ist Sintiza
(Plural: Sintize), der männliche Singular ist Sinto
(Plural: Sinti). Eine Untergruppe der Sinti*ze sind
die Manouche, die vorwiegend in Frankreich leben.
Südländer
ist ein aus der Mode gekommener Begriff, aber
in der Beschreibung „südländisches Aussehen“
häufig noch zu finden. Hier stellt sich die Frage:
Was genau ist gemeint? Geografisch ist der Begriff
unspezifisch und verortet Menschen außerhalb
von Deutschland, obwohl sie hier geboren und
G LOSSAR
aufgewachsen sein könnten. Der Begriff „Südländer“ wird vor allem noch in rechtsextremen
Medien verwendet.
Weiße Deutsche
Der Begriff erscheint oft in Debatten um Rassismus und wird häufig mit dem Argument kritisiert,
er rufe einen unpassenden Hautfarbendiskurs
hervor. Das ist jedoch ein Missverständnis: Tatsächlich wird der Begriff weiß in der internationalen Rassismusdebatte als Gegensatz zu People of
Color (PoC) verwendet und nicht für die Beschreibung der Hautfarbe genutzt. Der Begriff soll eine
gesellschaftspolitische (Macht-) Position und Norm
hervorheben. Dabei müssen sich weiße Menschen
nicht selbst als weiß oder privilegiert fühlen. Allerdings ist die Formulierung nicht selbsterklärend.
In der Wissenschaft wird Weiß oft kursiv und/oder
großgeschrieben, um zu verdeutlichen, dass es
sich nicht um eine Beschreibung von Äußerlichkeiten handelt.
Xenophobie
(griech. xeno, fremd) bezeichnet die ablehnende
Haltung gegenüber einer Gruppe, die als fremd
wahrgenommen wird, aber nicht automatisch
fremd sein muss, wie zum Beispiel Schwarze
Deutsche oder deutsche Muslime. Xenophobie ist eine Form der gruppenbezogenen
Menschenfeindlichkeit.
83
Zigeuner
ist eine Fremdbezeichnung und wird von Angehörigen der Roma-Minderheiten abgelehnt. Die
verunglimpfende Bezeichnung hat ihren Ursprung
im Mittelalter, hält sich allerdings bis heute
hartnäckig im öffentlichen Sprachgebrauch. Der
Begriff ist ein historisch gewachsenes Konstrukt,
der negative oder romantisierende Stereotype
zuschreibt und nichts über das Selbstverständnis
der so Bezeichneten aussagt.
Zionismus
(von Zion, dem Namen des Tempelbergs in Jerusalem) bezeichnet zum einen die historische jüdisch
nationalistische Bewegung, die einen jüdischen
Staat gründen wollte, und zum anderen gegenwärtige politische Strömungen. Entstanden ist der
Zionismus als Teil des europäischen Nationalismus
des 19. Jhd.s. Er war gleichzeitig die Gegenbewegung zum Antisemitismus, der sich damals immer
weiter verbreitete. Mit der Gründung Israels 1948
wurde das zionistische Ziel erreicht. Heute wird
Zionismus als Ideologie in Israel sehr unterschiedlich ausgelegt, so gibt es z. B. liberal-sozialdemokratischen Zionismus, rechtsnationalen oder
nationalreligiösen Zionismus. Zionismus wird teils
undifferenziert als Kampfbegriff gegen Israels
Haltung im Nahost-Konflikt benutzt.
84
AL LG EMEIN E EMPF EH LUNG
Allgemeine Empfehlung XXXI über die
Verhütung von rassistischer Diskriminierung
in der Strafrechtspflege
Nichtamtliche Übersetzung aus dem Englischen*
Der Ausschuss für die Beseitigung rassistischer Diskriminierung,
unter Hinweis auf die in Artikel 1 des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung
jeder Form von rassistischer Diskriminierung enthaltene Definition der rassistischen
Diskriminierung,
unter Hinweis auf die Bestimmungen des Artikels 5 Buchstabe a des Übereinkommens,
wonach die Vertragsstaaten die Pflicht haben, das Recht jedes einzelnen, ohne Unterschied
der Hautfarbe, des nationalen Ursprungs oder des Volkstums, auf Gleichheit vor dem Gesetz
zu gewährleisten, namentlich bei der Wahrnehmung des Rechts auf Gleichbehandlung vor den
Gerichten und allen sonstigen Organen der Rechtspflege,
unter Hinweis darauf, dass die Vertragsstaaten nach Artikel 6 des Übereinkommens gehalten
sind, jeder Person in ihrem Hoheitsbereich einen wirksamen Schutz und wirksame Rechtsbehelfe durch die zuständigen nationalen Gerichte und sonstigen staatlichen Einrichtungen
gegen alle rassistisch diskriminierenden Handlungen zu gewährleisten, ebenso wie auch das
Recht, bei diesen Gerichten eine gerechte und angemessene Entschädigung oder Genugtuung
für jeden infolge von rassistischer Diskriminierung erlittenen Schaden zu verlangen,
verweisend auf Ziffer 25 der Erklärung, die von der Weltkonferenz gegen Rassismus, rassistische Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und damit zusammenhängender Intoleranz, die
2001 in Durban (Südafrika) stattfand, verabschiedet wurde und in der „tiefe Ablehnung gegenüber dem Rassismus, der rassistischen Diskriminierung, der Fremdenfeindlichkeit und der
damit zusammenhängenden Intoleranz [bekundet wird], die in einigen Staaten in der Arbeitsweise der Strafvollzugssysteme und bei der Anwendung der Gesetze sowie in den Handlungen
und Einstellungen der für die Rechtsdurchsetzung verantwortlichen Institutionen und Personen
fortbestehen, insbesondere dort, wo dies dazu beigetragen hat, dass bestimmte Gruppen
unter Inhaftierten oder Gefängnisinsassen überrepräsentiert sind“,
verweisend auf die Arbeit der Menschenrechtskommission und der Unterkommission für die
Förderung und den Schutz der Menschenrechte (siehe E/CN.4/Sub.2/2005/7) über Diskriminierung im Strafjustizsystem,
*
Dieser Text basiert auf der nichtamtlichen Übersetzung der Allgemeinen Empfehlung 31 durch das
BMJV und das Auswärtige Amt, siehe https://www.bmjv.de/SharedDocs/Publikationen/DE/ICERD.
pdf;jsessionid=13BB8D5C464454A77737C9609BAC593D.2_cid334?__blob=publicationFile&v=4
(abgerufen am 28.11.2018). In Absprache mit dem BMJV wurde der Text durch das Deutsche Institut
für Menschenrechte für diese Publikation rassismussensibel überarbeitet.
A LLGEMEINE EMPF E HLU NG
eingedenk der Berichte des Sonderberichterstatters für zeitgenössische Formen des Rassismus, der rassistischen Diskriminierung, der Fremdenfeindlichkeit und damit zusammenhängender Intoleranz,
verweisend auf das 1951 geschlossene Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge,
insbesondere dessen Artikel 16, der bestimmt, dass „Flüchtlinge … auf dem Gebiete der vertragschließenden Staaten freien Zutritt zu den Gerichten [haben],“
eingedenk der Bemerkungen zur Arbeitsweise des Justizsystems in den Schlussfolgerungen
des Ausschusses zu den von den Vertragsstaaten vorgelegten Berichten und in den Allgemeinen Empfehlungen XXVII (2000) über die Diskriminierung der Roma, XXIX (2002) über
Diskriminierung aufgrund der Abstammung und XXX (2004) über die Diskriminierung von
Nichtstaatsangehörigen,
davon überzeugt, dass das Justizsystem zwar als unparteiisch und von Rassismus, rassistischer
Diskriminierung oder Fremdenfeindlichkeit unberührt gelten kann, dass es jedoch einen besonders schwerwiegenden Verstoß gegen die Rechtsstaatlichkeit, den Grundsatz der Gleichheit
vor dem Gesetz, den Grundsatz der Verfahrensfairness und das Recht auf ein unabhängiges
und unparteiisches Gericht darstellt, wenn es bei der Rechtspflege und im Justizsystem dennoch zu rassistischer Diskriminierung kommt, da diese sich auf Angehörige einer Gruppe, die
zu schützen doch gerade die Aufgabe der Justiz ist, unmittelbar auswirkt,
in der Auffassung, dass kein Land frei von rassistischer Diskriminierung bei der Strafrechtspflege und im Strafjustizsystem ist, ungeachtet des angewandten Rechts oder des bestehenden Rechtssystems, sei es akkusatorisch, inquisitorisch oder gemischt,
in der Auffassung, dass die Gefahr der Diskriminierung bei der Strafrechtspflege und im
Strafjustizsystem in den letzten Jahren zugenommen hat, teilweise als Folge zunehmender
Einwanderungs- und Bevölkerungsbewegungen, die bei manchen Teilen der Bevölkerung und
manchen Strafverfolgungsbeamten Vorurteile und Gefühle der Fremdenfeindlichkeit oder
Intoleranz hervorgerufen haben, und teilweise als Folge der von vielen Staaten beschlossenen
sicherheitspolitischen Maßnahmen und Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung, die in einer
Reihe von Ländern unter anderem das Aufkommen antiarabischer oder antimuslimischer
Gefühle oder – als Reaktion darauf – antisemitischer Gefühle, begünstigt haben,
entschlossen, alle Formen der rassistischen Diskriminierung bei der Strafrechtspflege und im
Strafjustizsystem zu bekämpfen, die insbesondere Nichtstaatsangehörige – einschließlich Einwanderern, Flüchtlingen, Asylsuchenden und Staatenlosen – Roma/, indigene Völker, vertriebene Bevölkerungsgruppen, Menschen, die wegen ihrer Herkunft diskriminiert werden, sowie
andere gefährdeten Gruppen, die in besonderem Maße der Ausgrenzung, Marginalisierung
und Nicht-Integration in die Gesellschaft ausgesetzt sind, erleiden können, wobei die Situation
der Frauen und Kinder aus den genannten Gruppen, die aus rassistischen Gründen und wegen
ihres Geschlechts oder Alters der Mehrfachdiskriminierung unterliegen können, besonders zu
berücksichtigen ist,
richtet die folgenden Empfehlungen an alle Vertragsstaaten:
I. Allgemeine Schritte
A. Schritte zur besseren Abschätzung des Bestehens und des Ausmaßes
rassistischer Diskriminierung in der Strafrechtspflege; Suche nach Indikatoren
für eine solche Diskriminierung
1. Sachbezogene Indikatoren
1. Die Vertragsstaaten sollen den folgenden möglichen Indikatoren für rassistische Diskriminierung die größte Aufmerksamkeit zuwenden:
85
86
(a) Anzahl und Prozentsatz der Personen, die einer der im letzten Präambelabsatz genannten
Gruppen angehören und Opfer von Aggression oder sonstigen Straftaten werden, insbesondere wenn diese von Polizeibeamten oder sonstigen Staatsbediensteten verübt werden;
(b) keine oder nur wenige Anzeigen, Strafverfolgungen und Verurteilungen im Zusammenhang
mit rassistisch diskriminierenden Handlungen im Land. Entgegen der Überzeugung mancher
Staaten ist eine solche Statistik nicht unbedingt als positiv zu werten. Genauso gut kann sie
entweder zeigen, dass die Opfer nicht ausreichend über ihre Rechte informiert sind oder die
Missbilligung oder Vergeltung der Gesellschaft fürchten, oder dass Opfer mit begrenzten Mitteln die Kosten und Komplexität eines Gerichtsverfahrens scheuen, oder dass mangelndes Vertrauen in die Polizei und die Justizbehörden besteht oder die Behörden in Bezug auf Straftaten
mit rassistischem Hintergrund nicht hinlänglich wachsam oder sensibilisiert sind;
(c) unzulängliche oder fehlende Informationen über das Verhalten der Mitarbeitenden der
Strafverfolgungsbehörden gegenüber Angehörigen einer der in dem letzten Präambelabsatz
genannten Gruppen;
(d) den Angehörigen dieser Gruppen zugeschriebene überproportionale Delinquenz, insbesondere was Kleinkriminalität auf der Straße und drogen- und prostitutionsbezogene Straftaten
angeht, als Indikatoren für die Ausgrenzung oder Nicht-Integration dieser die Menschen in die
Gesellschaft;
(e) Anzahl und Prozentsatz der Angehörigen dieser Gruppen, die sich im Gefängnis oder in
Sicherungsverwahrung befinden, einschließlich Internierungszentren, Strafanstalten, psychiatrischen Einrichtungen oder Gewahrsamsräumen an Flughäfen;
(f) Die Verhängung strengerer oder unangemessener Strafen gegen Angehörige dieser Gruppen durch die Gerichte;
(g) die unzulängliche Vertretung von Angehörigen dieser Gruppen in der Polizei, im Justizsystem, einschließlich Richtern und Richterinnen sowie Geschworenen, und in anderen Bereichen
der Rechtspflege.
2. Im Interesse der Bekanntheit und Verwendung dieser faktischen Indikatoren sollen die
Vertragsstaaten von der Polizei, von Gerichts-, Strafvollzugs- und Zuwanderungsbehörden
regelmäßig und öffentlich Informationen einholen, unter Achtung von Vertraulichkeits-, Anonymitäts- und Datenschutzstandards.
3. Vor allem sollen die Vertragsstaaten Zugang zu umfassenden statistischen oder sonstigen
Informationen über Anzeigen, Strafverfolgungen und Verurteilungen im Zusammenhang mit
rassistischen und fremdenfeindlichen Handlungen sowie über Entschädigungen an die Opfer
solcher Handlungen haben, gleichviel, ob diese Entschädigung von den Straftätern oder im
Rahmen staatlicher, aus öffentlichen Mitteln finanzierter Entschädigungsprogramme gezahlt
wird.
2. Rechtsbezogene Indikatoren
4. Nachstehendes soll als Indikator für mögliche Ursachen von rassistischer Diskriminierung
angesehen werden:
(a) etwaige Lücken in den innerstaatlichen Rechtsvorschriften über rassistische Diskriminierung. In dieser Hinsicht sollen die Vertragsstaaten den Forderungen des Übereinkommensartikels 4 uneingeschränkt nachkommen und alle in diesem Artikel genannten rassistischen
Handlungen unter Strafe stellen, insbesondere die Verbreitung von Ideen, die rassistischen
Ideologien gründen, das Aufreizen zur rassistischen Diskriminierung und die Gewalttätigkeit
oder Aufreizung zu rassistischen Gewalttätigkeit, aber auch rassistische Propagandatätigkeiten
und die Beteiligung an rassistischen Organisationen. Es wird den Vertragsstaaten außerdem
nahegelegt, in ihrem Strafrecht eine Bestimmung einzuführen, wonach die Begehung einer
Straftat aus rassistischen Beweggründen in der Regel einen strafschärfenden Umstand
darstellt.
AL LG EMEIN E EMPF EH LUNG
A LLGEMEINE EMPF E HLU NG
(b) Die potenzielle mittelbar diskriminierende Wirkung bestimmter innerstaatlicher Rechtsvorschriften, insbesondere von Rechtsvorschriften über Terrorismus, Einwanderung, Staatsangehörigkeit, Einreiseverbote oder Ausweisungen von Nichtstaatsangehörigen sowie von
Rechtsvorschriften, die zur Folge haben, dass bestimmte Gruppen oder die Zugehörigkeit zu
bestimmten Gemeinschaften ohne rechtmäßige Begründung bestraft werden. Die Staaten sollen bemüht sein, die diskriminierende Wirkung dieser Rechtsvorschriften zu beseitigen und bei
ihrer Anwendung auf Angehörige der im letzten Präambelabsatz genannten Gruppen in jedem
Fall den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu achten.
B. Zur Verhütung von rassistischer Diskriminierung in der Strafrechtspflege
und im Strafjustizsystem zu entwickelnde Strategien
5. Die Staaten sollen nationale Strategien, unter anderem mit folgenden Zielsetzungen,
verfolgen:
(a) Gesetze abzuschaffen, die rassistische Wirkung haben, insbesondere solche, die mittelbar auf bestimmte Gruppen abzielen, indem sie Handlungen unter Strafe stellen, die nur
von Angehörigen dieser Gruppen verübt werden können, oder solche, die ohne rechtmäßige
Begründung nur auf Nichtstaatsangehörige Anwendung finden oder den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht achten;
(b) Mitarbeitenden der Strafverfolgungsbehörden – Polizeibedienstete sowie im Strafjustizsystem, in Strafanstalten, in psychiatrischen Einrichtungen und in sozialen und medizinischen Diensten tätige Personen usw. – durch geeignete Bildungsprogramme in Bezug auf die
Achtung der Menschenrechte und Toleranz fortzubilden und für interkulturelle Beziehungen zu
sensibilisieren;
(c) zur Bekämpfung von Vorurteilen und zur Schaffung eines Vertrauensverhältnisses den
Dialog und die Zusammenarbeit zwischen den Polizei- und Justizbehörden und den Vertretern
der verschiedenen im letzten Präambelabsatz genannten Gruppen zu fördern;
(d) die angemessene Vertretung von Angehörigen rassismusbetroffener Gruppen in der Polizei
und im Justizsystem zu fördern;
(e) in Übereinstimmung mit den internationalen Menschenrechtsnormen die Achtung und
Anerkennung der traditionellen Justizsysteme indigener Völker zu gewährleisten;
(f) bei Gefangenen, die den im letzten Präambelabsatz genannten Gruppen angehören, die
notwendigen Änderungen im Vollzugsregime vorzunehmen, um ihren kulturellen und religiösen
Gebräuchen Rechnung zu tragen;
(g) in Situationen, in denen massenhafte Bevölkerungsbewegungen stattfinden, die notwendigen vorläufigen Maßnahmen und Vorkehrungen zur Funktionsfähigkeit des Justizsystems
einzuführen, um der besonders prekären Situation von Vertriebenen Rechnung zu tragen,
insbesondere, indem sie an den Aufenthaltsorten der Vertriebenen dezentralisierte Gerichte
aufbauen oder mobile Gerichte einrichten;
(h) in Postkonfliktsituationen Pläne für den Wiederaufbau des Justizsystems und die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit im gesamten Hoheitsgebiet der betreffenden Länder
aufzustellen, insbesondere unter Inanspruchnahme der von den entsprechenden Stellen der
Vereinten Nationen gewährten internationalen technischen Hilfe;
(i) nationale Strategien oder Aktionspläne zur Beseitigung von struktureller rassistischer
Diskriminierung umzusetzen. Diese langfristigen Strategien sollen spezifische Zielsetzungen
und Maßnahmen sowie Indikatoren zur Messung der Fortschritte enthalten. Vor allem sollen
sie auch Leitlinien für die Verhütung, Erfassung, Untersuchung und Strafverfolgung rassistischer oder fremdenfeindlicher Vorfälle, für die Beurteilung des Grads der Zufriedenheit aller
Gemeinschaften mit ihren Beziehungen zur Polizei und zum Justizsystem und für die Einstellung und Beförderung von Angehörigen rassialisierter Gruppen/rassismusbetroffener Gruppen
im Justizsystem enthalten;
87
88
(j) eine unabhängige nationale Institution mit der Aufgabe zu betrauen, die im Rahmen der
nationalen Aktionspläne und Leitlinien gegen rassistische Diskriminierung erzielten Fortschritte zu verfolgen, zu überwachen und zu messen und dabei unerkannte Erscheinungsformen der rassistischen Diskriminierung aufzuzeigen und Verbesserungsempfehlungen und
-vorschläge vorzulegen.
II. Schritte zur Verhütung von rassistischer Diskriminierung in Bezug
auf Betroffene von Rassismus
A. Zugang zu Gesetz und Justiz
6. Nach Artikel 6 des Übereinkommens sind die Vertragsstaaten verpflichtet, allen Personen
in ihrem Hoheitsgebiet das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen diejenigen, die rassistisch diskriminierende Handlungen verüben, ohne jedwede Diskriminierung und gleichviel,
ob diese Handlungen von Privatpersonen oder Staatsbediensteten begangen werden, sowie
das Recht zu gewährleisten, eine gerechte und angemessene Entschädigung oder Genugtuung
für den erlittenen Schaden zu verlangen.
7. Um Betroffene von rassistischer Diskriminierung und Gewalt den Zugang zur Justiz zu
erleichtern, sollen die Vertragsstaaten bestrebt sein, Angehörigen der schwächsten sozialen
Gruppen, die sich oftmals ihrer Rechte nicht bewusst sind, die notwendigen rechtlichen Informationen zukommen zu lassen.
8. In dieser Hinsicht sollen die Vertragsstaaten in den Wohngebieten dieser Personen Einrichtungen wie Zentren für kostenlose rechtliche Hilfe und Beratung, Zentren für Rechtsinformationen und Schlichtungs- und Vermittlungszentren fördern.
9. Außerdem sollen die Vertragsstaaten ihre Zusammenarbeit mit Anwaltsverbänden, universitären Stellen, Zentren für Rechtsberatung und nichtstaatlichen Organisationen, die auf
den Schutz der Rechte marginalisierter Gemeinschaften und der Diskriminierungsverhütung
spezialisiert sind, erweitern.
B. Meldung von Vorfällen bei den für die Entgegennahme von Anzeigen zuständigen Behörden
10. Die Vertragsstaaten sollen die notwendigen Schritte unternehmen, um sicherzustellen,
dass die Polizeidienste in den Nachbarschaften, Regionen, kollektiven Einrichtungen, Lagern
oder Zentren, in denen die Angehörigen der im letzten Präambelabsatz genannten Gruppen
wohnen, ausreichend präsent und zugänglich sind, damit Anzeigen dieser Personen zügig
entgegengenommen werden können.
11. Die zuständigen Dienste sollen angewiesen werden, die Opfer rassistischer Diskriminierung und Gewalt in Polizeidienststellen auf zufriedenstellende Weise zu empfangen, damit
Anzeigen sofort aufgenommen, Ermittlungen unverzüglich, wirksam, unabhängig und unparteiisch durchgeführt und Unterlagen zu rassistischen oder fremdenfeindlichen Vorfällen aufbewahrt und in Datenbanken aufgenommen werden.
12. Weigert sich ein Polizeibeamter, eine Anzeige wegen einer rassistischen Handlung entgegenzunehmen, soll dies zu disziplinarischen oder strafrechtlichen Sanktionen führen, die
verschärft werden sollen, wenn Korruption im Spiel ist.
13. Umgekehrt sollen alle Polizeibeamten und Staatsbediensteten das Recht und die Pflicht
haben, die Befolgung von Befehlen oder Weisungen zu verweigern, die von ihnen die Begehung
von Menschenrechtsverletzungen verlangen, insbesondere solchen, denen eine rassistische
Diskriminierung zugrunde liegt. Die Vertragsstaaten sollen garantieren, dass jeder Amtsträger
die Freiheit hat, sich ohne Furcht vor Strafe auf dieses Recht zu berufen.
14. Die Ermittlungen zu Vorwürfen über Folter, Misshandlung oder Hinrichtung sollen
im Einklang mit den Grundsätzen für die wirksame Verhütung und Untersuchung von
AL LG EMEIN E EMPF EH LUNG
A LLGEMEINE EMPF E HLU NG
89
1
außergesetzlichen, willkürlichen und summarischen Hinrichtungen und den Grundsätzen
für die wirksame Untersuchung und Dokumentation von Folter und anderer grausamer,
2
unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe durchgeführt werden.
C. Einleitung von Gerichtsverfahren
15. Die Vertragsstaaten sollen öffentliche Ankläger und Angehörige der Staatsanwaltschaft
daran erinnern, dass es von allgemeiner Wichtigkeit ist, rassistische Handlungen, einschließlich geringfügiger Verstöße aus rassistischen Motiven, strafrechtlich zu verfolgen, da jede
rassistisch motivierte Straftat den sozialen Zusammenhalt und die Gesellschaft als Ganzes
untergräbt.
16. Vor der Einleitung eines Verfahrens könnten die Vertragsstaaten im Interesse der Achtung
der Opferrechte auch zur Verwendung gerichtsähnlicher Konfliktbeilegungsverfahren anregen,
darunter auch mit den Menschenrechten vereinbare gewohnheitsrechtliche Verfahren, Mediation oder Schlichtung, die den Opfern rassistischer Diskriminierung oder Gewalt als nützliche
Alternative dienen können und denen ein geringeres Stigma anhaftet.
17. Um den Opfern rassistischer Diskriminierung oder Gewalt den Rechtsweg zu erleichtern,
sollen unter anderem folgende Schritte unternommen werden:
(a) Den Opfern von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sowie den Verbänden zum Schutz
der Rechte dieser Opfer soll eine verfahrensrechtliche Stellung angeboten werden, etwa die
Möglichkeit, sich dem Strafverfahren anzuschließen, oder ähnliche Verfahren, die es ihnen
ermöglichen würden, ihre Rechte in dem Strafverfahren geltend zu machen, ohne dass ihnen
dabei Kosten entstehen.
(b) Den Opfern soll effektive justizielle Unterstützung und Prozesskostenhilfe gewährt
werden, einschließlich der Hilfe eines Rechtsbeistands und eines unentgeltlich beigestellten
Dolmetschers;
(c) Es soll gewährleistet werden, dass die Opfer über den Verfahrensfortgang informiert
werden;
(d) Es soll gewährleistet werden, dass die Opfer oder Angehörigen des Opfers jeder Form der
Einschüchterung oder Vergeltung geschützt werden;
(e) Es soll die Möglichkeit geschaffen werden, dass Staatsbedienstete, gegen die Anzeige
erstattet wurde, für die Dauer der Ermittlungen suspendiert werden.
18. In Ländern, in denen es Unterstützungs- und Entschädigungsprogramme für Opfer gibt,
sollen die Vertragsstaaten sicherstellen, dass diese allen Opfern ohne Diskriminierung und
ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit und ihres Aufenthaltsstatus zur Verfügung stehen.
D. Tätigkeit des Justizsystems
19. Die Vertragsstaaten sollen sicherstellen, dass das Justizsystem
(a) Opfern und ihren Angehörigen sowie Zeugen während des gesamten Verfahrens einen
entsprechenden Platz einräumt, indem es den Anzeigeerstattern ermöglicht wird, während des
Ermittlungsverfahrens und der Gerichtsverhandlung von den Richtern gehört werden, Zugang
zu Informationen zu haben, Zeugen der Gegenseite gegenüberzutreten, Beweise anzufechten
und über den Fortgang des Verfahrens unterrichtet zu werden;
(b) die Opfer rassistischer Diskriminierung unter Achtung ihrer Würde diskriminierungsund vorurteilsfrei behandelt, indem insbesondere sichergestellt wird, dass mündliche
1
2
Empfehlung des Wirtschafts- und Sozialrats in seiner Resolution 1989/65 vom 24. Mai 1989.
Empfehlung der Generalversammlung in ihrer Resolution 55/89 vom 4. Dezember 2000.
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AL LG EMEIN E EMPF EH LUNG
Verhandlungen, Befragungen oder Gegenüberstellungen mit der – was Rassismus angeht –
gebotenen Sensibilität durchgeführt werden;
(c) dem Opfer eine gerichtliche Entscheidung innerhalb einer angemessenen Frist garantiert;
(d) den Opfern gerechte und angemessene Entschädigung für jeden infolge von rassistischer
Diskriminierung erlittenen materiellen und immateriellen Schaden garantiert.
III. Schritte zur Verhütung rassistischer Diskriminierung in Bezug auf
Personen, gegen die ein Strafverfahren anhängig ist
A. Vernehmung, Verhör und Festnahme
20. Die Vertragsstaaten sollen die notwendigen Schritte unternehmen, um Vernehmungen,
Verhaftungen und Durchsuchungen, die in Wirklichkeit lediglich auf der physischen Erscheinung einer Person, ihrer Hautfarbe oder Gesichtszügen oder auf rassistischer Voreingenommenheit basieren, und jede Profilerstellung, welche die Person verdächtiger erscheinen lässt,
zu verhindern.
21. Die Vertragsstaaten sollen Gewalt und Folter und grausame, unmenschliche oder entwürdigende Behandlung und alle Menschenrechtsverletzungen verhüten und auf das Strengste
bestrafen, die gegen Angehörige der im letzten Präambelabsatz genannten Gruppen gerichtet
sind und von Staatsbediensteten begangen werden, insbesondere von Polizei- und Armeepersonal, den Zollbehörden und Personen, die an Flughäfen sowie in Strafanstalten und sozialen,
medizinischen und psychiatrischen Diensten tätig sind.
22. Die Vertragsstaaten sollen die Einhaltung des allgemeinen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und strikten Notwendigkeit beim Einsatz von Gewalt gegen Angehörige der im
letzten Präambelabsatz genannten Gruppen sicherstellen, im Einklang mit den Grundprinzipien für die Anwendung von Gewalt und den Gebrauch von Schusswaffen durch Beamte mit
3
Polizeibefugnissen.
23. Die Vertragsstaaten sollen außerdem ausnahmslos allen Verhafteten garantieren, dass
sie die in den einschlägigen internationalen Menschenrechtsinstrumenten (insbesondere der
Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und dem Internationalen Pakt über bürgerliche
und politische Rechte) verankerten grundlegenden Verteidigungsrechte wahrnehmen können,
vor allem das Recht, nicht willkürlich festgenommen oder in Haft gehalten zu werden, das
Recht, über die Gründe für die Festnahme unterrichtet zu werden, das Recht auf den Beistand
eines Dolmetschers, das Recht auf Unterstützung durch einen Rechtsbeistand, das Recht,
unverzüglich einem Richter oder einer gesetzlich zur Wahrnehmung gerichtlicher Aufgaben
ermächtigten Stelle vorgeführt zu werden, das in Artikel 36 des Wiener Übereinkommens über
konsularische Beziehungen garantierte Recht auf konsularischen Schutz und, bei Flüchtlingen,
das Recht, mit dem Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge in
Verbindung zu treten.
24. Die Vertragsstaaten sollen sicherstellen, dass in Einrichtungen für Verwaltungsgewahrsam
oder in Gewahrsamsräumen an Flughäfen untergebrachte Personen über hinlänglich menschenwürdige Lebensbedingungen verfügen.
25. Abschließend sollen die Vertragsstaaten, was die Vernehmung oder Verhaftung von Angehörigen der im letzten Präambelabsatz genannten Gruppen angeht, beim Umgang mit Frauen
oder Minderjährigen beachten, dass in Anbetracht ihrer besonderen Vulnerabilität besondere
Vorsichtsmaßnahmen zu treffen sind.
3
Verabschiedet vom Achten Kongress der Vereinten Nationen für Verbrechensverhütung und die
Behandlung Straffälliger, Havanna, 27. August-7. September 1990.
A LLGEMEINE EMPF E HLU NG
91
B. Untersuchungshaft
26. Da sich anhand von Statistiken belegen lässt, dass unter Untersuchungshäftlingen eine
übermäßige Zahl von Nichtstaatsangehörigen und Angehörigen der im letzten Präambelabsatz
genannten Gruppen vertreten ist, sollen die Vertragsstaaten sicherstellen,
4
(a) dass allein die Zugehörigkeit zu einer rassialisierten oder ethnisierten Gruppe oder einer
der oben genannten Gruppen de iure und de facto kein hinlänglicher Grund ist, eine Person in
Untersuchungshaft zu nehmen. Die Untersuchungshaft ist nur mit aus sachlichen, gesetzlich
vorgesehenen Gründen gerechtfertigt, so etwa wegen Fluchtgefahr, der Gefahr, dass die Person Beweismittel vernichten oder auf Zeugen einwirken werde, oder der Gefahr einer schweren
Störung der öffentlichen Ordnung;
(b) dass das Erfordernis, eine Kaution oder finanzielle Sicherheitsleistung zu hinterlegen, um
bis zum Hauptverfahren auf freiem Fuß bleiben zu können, auf eine der Situation von Angehörigen solcher Gruppen, die sich oft in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen befinden,
angepasste Weise angewandt wird, damit es nicht die Diskriminierung dieser Personen zur
Folge hat;
(c) dass die Garantien, die Beschuldigte häufig als Vorbedingung dafür erbringen müssen,
dass sie bis zur Hauptverhandlung auf freiem Fuß bleiben können (fester Wohnsitz, gemeldete
Beschäftigung, stabile Familienbindungen) unter Berücksichtigung der unsicheren Situation,
die sich insbesondere für Frauen und Minderjährige aus der Zugehörigkeit zu solchen Gruppen
ergeben kann, gewichtet werden;
(d) dass Angehörige solcher Gruppen, die in Untersuchungshaft gehalten werden, alle Reche
wahrnehmen können, auf die Häftlinge nach den einschlägigen internationalen Normen
Anspruch haben, insbesondere die auf ihre Situation besonders zutreffenden Rechte: das
Recht auf Achtung ihrer Traditionen im Hinblick auf Religion, Kultur und Ernährung, das Recht
auf Beziehungen zu ihren Familien, das Recht auf den Beistand eines Dolmetschers und gegebenenfalls das Recht auf konsularische Unterstützung.
C. Die Hauptverhandlung und die Gerichtsentscheidung
27. Vor Beginn des Hauptverfahrens können die Vertragsstaaten gegebenenfalls nicht-gerichtlichen oder gerichtsähnlichen Verfahren zur Behandlung der Straftat den Vorzug geben, unter
Berücksichtigung des kulturellen Hintergrunds oder der Traditionen des Straftäters, insbesondere bei Personen, die indigenen Völkern angehören.
28. Im Allgemeinen müssen die Vertragsstaaten sicherstellen, dass Angehörige der im letzten
Präambelabsatz genannten Gruppen, wie alle anderen Personen, in den Genuss der in den einschlägigen internationalen Menschenrechtsinstrumenten verankerten Garantien eines fairen
Verfahrens und der Gleichheit vor dem Gesetz gelangen, und zwar namentlich
1. Die Unschuldsvermutung
29. Dieses Recht bedeutet, dass es den Polizei-, Gerichts- und sonstigen staatlichen Behörden untersagt sein muss, vor der gerichtlichen Entscheidung öffentlich ihre Meinung über die
Schuld des Beschuldigten zu äußern. Erst recht muss es ihnen untersagt sein, die Angehörigen
von rassialisierten Gruppen vorab zu verdächtigen. Diese Behörden haben die Pflicht, sicherzustellen, dass die Massenmedien keine Informationen verbreiten, die bestimmte Kategorien
von Personen, insbesondere soweit sie den im letzten Präambelabsatz genannten Gruppen
angehören, stigmatisieren könnten.
4
Im englischen Originaltext wird hier der Begriff „racial or ethnic group“ verwendet. Rassialisierung
oder auch Ethnisierung bedeutet, dass Menschen zu einer Rasse beziehungsweise einer Rasse oder
Ethnie zugehörig gemacht werden. Sie werden dabei entlang unterschiedlicher Markierungen und
durch unterschiedliche Zuschreibungen von Eigenschaften rassialisiert, vgl. den Beitrag von Danielzik
in diesem Band.
92
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2. Das Recht auf einen Rechtsbeistand und das Recht auf einen Dolmetscher
30. Die effektive Gewährleistung dieser Rechte setzt voraus, dass Vertragsstaaten ein System
für die unentgeltliche Beiordnung von Rechtsbeiständen und Dolmetschern einrichten und für
rechtliche Hilfe oder Beratung und Dolmetschdienste für Angehörige der im letzten Präambelabsatz genannten Personen sorgen müssen.
3. Das Recht auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht
31. Die Vertragsstaaten sollen sich entschlossen darum bemühen, dass bei Richtern,
Geschworenen und sonstigem Gerichtspersonal keinerlei rassistische oder fremdenfeindliche
Voreingenommenheit besteht.
32. Sie sollen jede direkte Einflussnahme durch Interessengruppen, Ideologien, Religionen und
Kirchen auf die Tätigkeit des Justizsystems und auf richterliche Entscheidungen verhindern, die
sich auf bestimmte Gruppen diskriminierend auswirken kann.
33. In diesem Zusammenhang können die Vertragsstaaten die 2002 verabschiedeten Grundsätze von Bangalore betreffend den Verhaltensstandard von Richtern (E/CN.4/2003/65,
Anlage) berücksichtigen, die insbesondere empfehlen, dass
–
die Richter sich der gesellschaftlichen und kulturellen Vielfaltbewusst sein sollen;
–
dass sie weder durch Worte noch durch ihr Verhalten rassistische Voreingenommenheit
gegenüber Personen oder Gruppen zum Ausdruck bringen sollen.
–
dass sie bei Ausübung ihrer Pflichten auf alle Personen, wie etwa die Parteien, Zeugen,
Anwälte, Gerichtsbediensteten und ihre Kollegen, ohne ungerechtfertigte Unterscheidung
gebührend Rücksicht nehmen sollen;
–
dass sie der Äußerung von Vorurteilen durch ihrer Weisung unterstehende Personen und
durch Anwälte oder deren diskriminierendem Verhalten gegenüber einer Person oder
Gruppe auf Grund ihrer Hautfarbe, ihrer nationalen, religiösen oder sexuellen Herkunft, aus
rassistischen oder aus anderen sachfremden Gründen entgegentreten sollen.
D. Garantie der fairen Bestrafung
34. In dieser Hinsicht sollen die Staaten sicherstellen, dass die Gerichte nicht allein wegen der
Zugehörigkeit eines Angeklagten zu einer rassialisierten Gruppe härtere Strafen verhängen.
35. Besondere Aufmerksamkeit soll in dieser Hinsicht dem System der Mindeststrafen und
zwingenden Haftstrafen bei bestimmten Straftaten sowie der Todesstrafe in Ländern gelten,
die sie nicht abgeschafft haben, da aus Berichten hervorgeht, dass diese Strafe häufiger gegen
Angehörige rassialisierter Gruppen verhängt wird.
36. Bei Personen, die indigenen Völkern angehören, sollen die Vertragsstaaten Alternativen zur
Freiheitsstrafe und anderen, dem Rechtssystem dieser Völker besser angepassten Formen der
Strafe den Vorzug geben, insbesondere eingedenk des Übereinkommens der Internationalen
Arbeitsorganisation Nr. 169 über indigene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen
Ländern.
37. Ausschließlich auf Nichtstaatsangehörige abzielende, zusätzlich zu Strafen nach den allgemeinen Rechtsvorschriften verhängte Strafen, wie etwa Abschiebungen, Ausweisungen oder
Wiedereinreiseverbote, sollen nur unter außergewöhnlichen Umständen und unter Beachtung
der Verhältnismäßigkeit aus gesetzlich festgelegten, schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung verhängt werden; dabei ist das Privat- und Familienleben der Betroffenen sowie
der ihnen zustehende völkerrechtliche Schutz zu achten.
E. Strafvollstreckung
38. Verbüßen Angehörige der im letzten Präambelabsatz genannten Gruppen eine Haftstrafe,
soll der Vertragsstaat
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(a) garantieren, dass diese Personen in den Genuss aller Rechte gelangen, auf die Häftlinge
nach den einschlägigen internationalen Normen Anspruch haben, insbesondere die auf ihre
Situation besonders zutreffenden Rechte: das Recht auf Achtung ihrer religiösen und kulturellen Gepflogenheiten, das Recht auf Achtung ihrer Bräuche im Hinblick auf die Ernährung,
das Recht auf Beziehungen zu ihren Familien, das Recht auf den Beistand eines Dolmetschers,
das Recht auf grundlegende Sozialleistungen und gegebenenfalls das Recht auf konsularische
Unterstützung. Die medizinischen, psychologischen oder sozialen Dienstleistungen, die den
Häftlingen geboten werden, sollen deren kulturellen Hintergrund berücksichtigen.
(b) garantieren, dass alle Gefangenen, deren Rechte verletzt wurden, das Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer unabhängigen und unparteiischen Behörde haben.
(c) in dieser Hinsicht die diesbezüglichen Normen der Vereinten Nationen einhalten, insbeson5
dere die Mindestgrundsätze für die Behandlung von Gefangenen , die Grundprinzipien für die
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Behandlung der Gefangenen und den Grundsatzkatalog für den Schutz aller irgendeiner Form
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von Haft oder Strafgefangenschaft unterworfenen Personen ;
(d) solche Personen gegebenenfalls von den Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts und
internationaler oder bilateraler Übereinkünfte zur Überstellung ausländischer Strafgefangener
profitieren zu lassen und ihnen die Möglichkeit bieten, ihre Haftstrafe in ihrem Herkunftsland
zu verbüßen.
39. Ferner sollen den für die Aufsicht über Haftanstalten verantwortlichen unabhängigen
Behörden in den Vertragsstaaten Personen mit Sachkenntnissen auf dem Gebiet der rassistischen Diskriminierung und fundiertem Wissen über die Probleme rassismusbetroffener
Gruppen und der sonstigen in dem letzten Präambelabsatz genannten vulnerablen Gruppen
angehören; erforderlichenfalls sollen diese Aufsichtsbehörden über wirksame Besuchs- und
Beschwerdemechanismen verfügen.
40. Werden Nichtstaatsangehörige zur Abschiebung oder Ausweisung oder zu einem Verbot
der Wiedereinreise in das Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats verurteilt, soll der betreffende
Vertragsstaat uneingeschränkt der aus den flüchtlingsrechtlichen und menschenrechtlichen
Normen des Völkerrechts erwachsenden Pflicht der Nichtzurückweisung nachkommen und
sicherstellen, dass diese Personen nicht in ein Land oder Hoheitsgebiet zurückgeschickt werden, in dem sie der Gefahr schwerer Verletzungen ihrer Menschenrechte ausgesetzt wären.
41. Abschließend sollen die Vertragsstaaten mit größtmöglicher Aufmerksamkeit darauf achten, im Hinblick auf Frauen und Kinder, die den im letzten Präambelabsatz genannten Gruppen
angehören, sicherzustellen, dass diese in den Genuss der Sondervorkehrungen gelangen,
auf die sie in Bezug auf die Strafvollstreckung Anspruch haben, eingedenk der besonderen
Schwierigkeiten, denen sich Mütter und Frauen gegenübersehen, die bestimmten Gemeinschaften, insbesondere indigenen Gemeinschaften, angehören.
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Verabschiedet vom Ersten Kongress der Vereinten Nationen für Verbrechensverhütung und die
Behandlung Straffälliger, Genf, 22. August-3. September 1955, und gebilligt durch den Wirtschaftsund Sozialrat in seinen Resolutionen 663 C (XXIV) vom 31. Juli 1957 und 2076 (LXII) vom 13. Mai
1977.
Verabschiedet und verkündet von der Generalversammlung in ihrer Resolution 45/111 vom
14. Dezember 1990.
Verabschiedet von der Generalversammlung in ihrer Resolution 43/173 vom 9. Dezember 1988.
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