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www.ssoar.info Rassistische Straftaten erkennen und verhandeln : ein Reader für die Strafjustiz Veröffentlichungsversion / Published Version Sammelwerk / collection Zur Verfügung gestellt in Kooperation mit / provided in cooperation with: Deutsches Institut für Menschenrechte Empfohlene Zitierung / Suggested Citation: Deutsches Institut für Menschenrechte. (2018). Rassistische Straftaten erkennen und verhandeln : ein Reader für die Strafjustiz (Praxis / Deutsches Institut für Menschenrechte). Berlin. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168ssoar-61081-4 Nutzungsbedingungen: Dieser Text wird unter einer Deposit-Lizenz (Keine Weiterverbreitung - keine Bearbeitung) zur Verfügung gestellt. Gewährt wird ein nicht exklusives, nicht übertragbares, persönliches und beschränktes Recht auf Nutzung dieses Dokuments. Dieses Dokument ist ausschließlich für den persönlichen, nicht-kommerziellen Gebrauch bestimmt. Auf sämtlichen Kopien dieses Dokuments müssen alle Urheberrechtshinweise und sonstigen Hinweise auf gesetzlichen Schutz beibehalten werden. Sie dürfen dieses Dokument nicht in irgendeiner Weise abändern, noch dürfen Sie dieses Dokument für öffentliche oder kommerzielle Zwecke vervielfältigen, öffentlich ausstellen, aufführen, vertreiben oder anderweitig nutzen. Mit der Verwendung dieses Dokuments erkennen Sie die Nutzungsbedingungen an. Terms of use: This document is made available under Deposit Licence (No Redistribution - no modifications). We grant a non-exclusive, nontransferable, individual and limited right to using this document. This document is solely intended for your personal, noncommercial use. All of the copies of this documents must retain all copyright information and other information regarding legal protection. You are not allowed to alter this document in any way, to copy it for public or commercial purposes, to exhibit the document in public, to perform, distribute or otherwise use the document in public. By using this particular document, you accept the above-stated conditions of use. Praxis Rassistische Straftaten erkennen und verhandeln Ein Reader für die Strafjustiz Das Institut Redaktion Das Deutsche Institut für Menschenrechte ist die unabhängige Nationale Menschenrechtsinstitution Deutschlands. Es ist gemäß den Pariser Prinzipien der Vereinten Nationen akkreditiert (A-Status). Zu den Aufgaben des Instituts gehören Politikberatung, Menschenrechtsbildung, Information und Dokumentation, anwendungsorientierte Forschung zu menschenrechtlichen Themen sowie die Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen. Es wird vom Deutschen Bundestag finanziert. Das Institut ist zudem mit dem Monitoring der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und der UN-Kinderrechtskonvention betraut worden und hat hierfür entsprechende MonitoringStellen eingerichtet. Beatrice Cobbinah und Chandra-Milena Danielzik sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen des Deutschen Instituts für Menschenrechte und arbeiten beide an dem Projekt „Rassismus und Menschenrechte – Stärkung der Strafjustiz“. Dr. Petra Follmar-Otto ist Leiterin der Abteilung Inland/Europa des Deutschen Instituts für Menschenrechte. Praxis Rassistische Straftaten erkennen und verhandeln Ein Reader für die Strafjustiz Grußwort Im Jahr 1966 wurde im Rahmen der Vereinten Nationen das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung angenommen. Wir teilen die Überzeugung, dass Rassismus mit den Grundlagen jeder zivilisierten Gesellschaft unvereinbar ist. Wie es in der Präambel heißt, ächtet das Übereinkommen, das Deutschland im Jahr 1969 ratifiziert hat, rassistische Diskriminierung in jeder Form. Trotz großer Fortschritte erleben wir auch heute, mehr als 50 Jahre später, die zerstörerische Kraft rassistischen Denkens und Handelns. Es ist und bleibt eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, Rassismus die Stirn zu bieten. Gefragt sind wir hier alle – jede einzelne Bürgerin und jeder einzelne Bürger wie auch die staatlichen Institutionen. Ein wichtiges Element im Kampf gegen Rassismus ist die konsequente Ahndung von rassistisch motivierten Straftaten. Sie setzt voraus, dass die für die Strafverfolgung zuständigen staatlichen Institutionen – Staatsanwältinnen und Staatsanwälte, Richterinnen und Richter – Rassismus erkennen und benennen. Hier setzt das vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz geförderte Projekt des Deutschen Instituts für Menschenrechte „Rassismus und Menschenrechte: Stärkung der Strafjustiz“ an. Mit gezielten Fortbildungen sollen Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte dadurch unterstützt werden, dass ihnen Kenntnisse und Strategien zum Umgang mit rassistisch motivierten Straftaten vermittelt werden. Von erheblicher Bedeutung ist dabei der interdisziplinäre Ansatz. Er fordert dazu auf, die eigene Wahrnehmung kritisch zu hinterfragen und legt auf diese Weise den Grundstein für einen reflektierten Umgang mit Rassismus in seinen verschiedensten Erscheinungsformen. Oberste Leitlinie der Fortbildungen ist ihre Praxisrelevanz. Richterinnen und Richter sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälte sollen unter anderem bei der Frage unterstützt werden, wie sie rassistisch motivierte Straftaten erkennen, die rassistische Gesinnung einer Täterin oder eines Täters im Rahmen der Strafzumessung berücksichtigen und wie sie mit Rassismus im Gerichtssaal umgehen können. Dem Team des Deutschen Instituts für Menschenrechte, das dieses Projekt mit großem Engagement betrieben hat, danke ich herzlich. Es ist gut, wenn die Elemente des Projekts als selbstverständlicher Teil der richterlichen und staatsanwaltschaftlichen Aus- und Fortbildung an- und wahrgenommen werden! Dr. Katarina Barley Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz Vorwort Rassistische Taten sind Hassverbrechen. Sie richten sich gegen Menschen, nur weil diese sind, was sie sind – oder wegen dem, was die Täter in ihnen sehen. Sie erschüttern damit zutiefst die Lebensqualität und das Sicherheitsgefühl der Opfer. Zugleich sind sie auch ein Angriff auf das soziale Gefüge unserer Gesellschaft als Ganzes und auf die Menschenwürde als Grundlage unseres demokratischen Rechtsstaats. Die Menschenrechte fordern daher, rassistisch motivierte Taten als solche zu benennen und effektiv zu verfolgen, sowie den Opfern diskriminierungsfreien Zugang zum Recht zu gewährleisten. Das Gerichtsverfahren hat aus der Sicht der Betroffenen eine wichtige Rolle bei der Herstellung von Gerechtigkeit und der Anerkennung der rassistischen Motivation der Taten. Die effektive Verfolgung der Taten und die angemessene Behandlung der Opfer ist auch eine zentrale Voraussetzung für die Stärkung des Vertrauens dieser Opfergruppen in die Strafverfolgungsbehörden, das nicht zuletzt durch die systemischen Mängel in der Aufklärung der terroristischen Mordserie des NSU schwer erschüttert wurde. Mangelndes Vertrauen der Opfer in die Behörden kann dazu führen, dass Taten nicht angezeigt werden und damit unsichtbar und straflos bleiben – und ein gesellschaftliches Klima der Angst und des Wegsehens entsteht und verstärkt wird. In den letzten Jahren mussten wir in Deutschland eine erschreckende Zunahme von Straftaten gegen Geflüchtete, von antisemitischen und anti-muslimischen Übergriffen beobachten. Rassistische Hetze verbreitet sich immer mehr in den sozialen Medien, auf der Straße bis in die Politik. Mit ihr geht auch ein Verächtlichmachen des Rechtsstaats und seiner Institutionen einher. Die Bekämpfung von Rassismus und die Auseinandersetzung mit diskriminierenden Strukturen und Einstellungen ist eine staatliche und gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Das bedeutet aber beileibe nicht, dass sie einfach ist. Sie kann für Menschen, die keine eigenen Erfahrungen mit rassistischen Diskriminierungen haben, schmerzhaft an vermeintlichen Selbstverständlichkeiten rühren und Widerstand und Abwehr auslösen. Wir danken dem BMJV für die Bereitschaft, das Projekt „Rassismus und Menschenrechte: Stärkung der Strafjustiz“ mit dem Institut gemeinsam anzugehen, und für die Förderung und Unterstützung des Projekts. Die Partnerländer Bayern, Berlin und Brandenburg sowie Niedersachsen haben das Projekt durch das Angebot unterstützt, die entwickelten Fortbildungskonzepte in verschiedenen Formaten im Rahmen ihrer Fortbildungsprogramme für die Strafjustiz zu erproben. Unser besonderer Dank gilt den Expert_innen innerhalb und außerhalb der Strafjustiz, die im Rahmen der Bedarfsanalyse ihre Perspektive auf das Thema Rassismus und Strafjustiz mit uns geteilt haben, die als Referent_innen in den Fortbildungen mitgewirkt haben oder als Teilnehmende der Probefortbildungen hilfreiche Hinweise für die Weiterentwicklung gegeben haben. Nicht zuletzt gilt unser Dank den Autor_innen der Beiträge dieses Bandes sowie den Neuen Deutschen Medienmachern für die freundliche Erlaubnis, Auszüge aus dem von ihnen entwickelten Glossar für den Materialanhang nutzen zu können. Prof. Dr. Beate Rudolf, Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte Dr. Petra Follmar-Otto, Leiterin der Abteilung Inland und Europa des Deutschen Instituts für Menschenrechte Inhalt Einleitung 8 STATEMENTS 11 Andrea Titz: Richterliche Unabhängigkeit und Vorverständnis 12 Biplab Basu: Rassismus und das Strafjustizsystem 13 Björn Jesse: Selbstverortung als Herausforderung für Justizangehörige 15 BEITRÄGE 17 Doris Liebscher: Rassismus und Strafrecht. Begriffe, Definitionen, menschenrechtliche Verpflichtungen und Anwendung im deutschen Strafrecht 18 Chandra-Milena Danielzik: Was ist Rassismus? Eine Begriffsklärung 33 Kathleen Jäger: Unbewusste Vorurteile im Gerichtssaal 48 Marjam Samadzade: Interkulturelle Kompetenz. Voraussetzung für ein faires Verfahren und Zukunftsaufgabe der Justiz 55 Eben Louw: Erfahrungen von Opfern rassistischer Taten mit der Justiz 64 Über die Autor_innen 71 ANHANG 73 Leitfragen zum Erkennen rassistisch motivierter Delikte 74 Glossar: Diskriminierungssensible Sprache im Strafverfahren 77 Allgemeine Empfehlung XXXI über die Verhütung von rassistischer Diskriminierung in der Strafrechtspflege 84 8 Einleitung Der vorliegende Reader ist im Rahmen des Projektes „Rassismus und Menschenrechte – Stärkung der Strafjustiz“ (2017–2018) entstanden. Das Projekt entwickelte und erprobte verschiedene Fortbildungsangebote für die Strafjustiz, um das Erkennen und die effektive Verfolgung rassistischer Straftaten zu unterstützen und einen angemessenen Umgang mit den Opfern solcher Taten zu fördern. Dieser Reader richtet sich an die Teilnehmenden der Fortbildungsveranstaltungen und alle weiteren Interessierten in der Justiz. Er stellt Hintergrundbeiträge zu einzelnen Aspekten der Fortbildungsinhalte sowie konkrete Handlungsanregungen für den Berufsalltag zur Verfügung. Für die Auswahl der Themen wurde auf die Erkenntnisse der im Rahmen des Projektes durchgeführten Bedarfsanalyse zurückgegriffen. Durch angeleitete Fokusgruppengespräche1 und Einzelinterviews mit Justizpraktiker_innen und Akteur_innen aus den Bereichen der Nebenklagevertretung, der Wissenschaft und der Opfer- und Antidiskriminierungsberatung konnten einerseits bestehende Barrieren beim Zugang zum Recht für Personen mit Rassismuserfahrung und anderseits Herausforderungen in der Ahndung rassistisch motivierter Straftaten herausgearbeitet werden. In den Diskussionsgruppen wurde hervorgehoben, dass die Konkretisierung des neuen gesetzlichen Begriffs der rassistischen Tatmotivation für die Justizpraxis schwierig sei; es fehlten Kriterien und Maßstäbe in der Rechtsprechung und rechtswissenschaftlichen Literatur. Dies erschwere die Anwendung der Strafzumessungsregeln und könne dazu führen, dass eine explizite Benennung der 1 rassistischen Motive in den Akten und im Urteil vermieden werde. Als weitere Herausforderung im Strafverfahren nannten die Teilnehmenden den „eigenen“ Rassismus der Justiz, etwa bestimmte Erwartungen und bewusste und unbewusste Vorurteile gegenüber Verfahrensbeteiligten mit Migrationsgeschichte. Diese wirkten sich insbesondere auf die Beweiswürdigung und die Entscheidungen des Gerichts aus. Mangels eigener Rassismuserfahrungen gäbe es in Staatsanwaltschaften und Gerichten wenig Wissen über die Lebensrealität von Rassismusbetroffenen. Welche Auswirkungen es auf diese haben kann, wenn Rassismus in Gerichtsverfahren „verschwiegen“, also nicht explizit thematisiert wird, sei in der Strafjustiz ebenfalls weitgehend unbekannt. Thematisiert wurden auch Unsicherheiten in Bezug auf diskriminierungssensiblen Sprachgebrauch und angemessene Begrifflichkeiten. Viele dieser offenen Fragen versucht der vorliegende Band aufzugreifen. Zum Aufbau des Readers Die einführenden Statements werfen aus der Sicht von zwei Justizpraktiker_innen und einer Beratungsstelle für Opfer rassistischer Gewalt ein Schlaglicht darauf, warum die Auseinandersetzung der Strafjustiz mit Rassismus, mit der Situation der Opfer vor Gericht und mit eigenen Vorverständnissen für eine effektive und angemessene Verfolgung und Verhandlung rassistischer Straftaten bedeutsam ist. Die drei Autor_innen haben das Projekt in unterschiedlicher Form unterstützt: Andrea Titz, Direktorin des Amtsgerichts Wolfratshausen und Vorsitzende des Bayerischen Richtervereins als Referentin bei einer Diskussionsveranstaltung im Rahmen des Projekts in Fokusgruppeninterviews sind eine Methode der qualitativen Sozialforschung. Die leitfadengestützte moderierte Gruppendiskussion dient dazu, die Sichtweisen und Relevanzsysteme der Teilnehmenden zu ermitteln und setzt dabei auf vertiefte Einsichten durch die Gruppeninteraktion. Sie eignen sich insbesondere für die frühe Phase von Projekten und Studien, in der Ideen entwickelt, Konzepte erstellt und Anforderungen erfragt werden sollen. 9 München; die Berliner Beratungsstelle Reach Out als Mitglied des projektbegleitenden Beirats; und Dr. Björn Jesse, Richter am Landgericht Berlin, als Referent einer eintägigen Fortbildungsveranstaltung des Projekts in Berlin. Einen einführenden Überblick gibt der Beitrag „Rassismus und Strafrecht. Begriffe, Definitionen, menschenrechtliche Verpflichtungen und Anwendung im deutschen Strafrecht“ von Doris Liebscher. Er stellt zum einen grund- und menschenrechtliche Definitionen von Rassismus vor, die für die konkrete Rechtsanwendung im Strafrecht nutzbar gemacht werden können. Zum anderen fasst der Beitrag zusammen, an welchen Stellen des Strafverfahrens die Erfassung von Rassismus relevant ist und welche menschenrechtlichen Verpflichtungen bei der Strafverfolgung beachtet werden müssen. Der Beitrag „Was ist Rassismus. Eine Begriffsklärung“ von Chandra-Milena Danielzik ergänzt die rechtliche Perspektive auf Diskriminierung und Rassismus durch eine sozialwissenschaftliche Betrachtung. Die Autorin stellt verschiedene Formen von Rassismus vor und skizziert Mechanismen und Wirkungsweisen von Rassismus. Inwiefern sich unbewusste Vorurteile auf unsere Entscheidungen, Handlungen, Wahrnehmungen und Beurteilungen auswirken können und wie diese zu Diskriminierung bestimmter sozialer Gruppen im Gerichtssaal betragen, führt Kathleen Jäger in ihrem Beitrag „Unbewusste Vorurteile im Gerichtssaal“ aus. Sie stellt Maßnahmen vor, welche sowohl die Justiz als Institution als auch einzelne Richter_innen ergreifen können, um den Einfluss unbewusster Vorurteile im Gerichtssaal zu verringern. Als weitere Voraussetzung für ein faires und effizientes Strafverfahren benennt Richterin Marjam Samadzade in ihrem Beitrag „Interkulturelle Kompetenz – Voraussetzung für ein faires Verfahren und Zukunftsaufgabe der Justiz“ den Erwerb von interkultureller Kompetenz. Dabei werden verschiedene Barrieren und Herausforderungen der Justiz und der Ermittlungsbehörden in der interkulturellen Kommunikation analysiert. Schließlich beschäftigt sich der Beitrag „Erfahrungen von Opfern rassistischer Taten mit der Justiz – aus der Perspektive der psychologischen Opferbetreuung“ von Eben Louw mit den psychischen Folgen von Rassismus-Erfahrungen für die Betroffenen und stellt Bausteine einer rassismussensiblen Justiz aus Perspektive der Opferberatung vor. Zudem werden Denkanstöße geliefert, was einzelne Justizpraktiker_innen dazu beitragen können, um deutsche Gerichte zu sicheren Orten für Betroffene von Rassismus zu machen und wie diese vor weiterer Diskriminierung geschützt werden können. Im Materialanhang des Readers finden Sie eine Leitfragenliste mit subjektiven sowie objektiven Indikatoren zur Feststellung von möglichen rassistischen Beweggründen. Sie soll Justizpraktiker_ innen, die sich in ihrem Arbeitsalltag hauptsächlich mit Fällen der allgemeinen Kriminalität beschäftigen, als Reflexionsgrundlage zum Erkennen von rassistisch motivierten Taten dienen. Das Glossar erläutert einzelne Begriffe und Zusammenhänge im Kontext von Diskriminierung, Rassismus und Rechtsextremismus. Die Erläuterungen sind nicht abschließend und als Hilfestellung für alle interessierten Justizpraktiker_innen in ihrer täglichen Arbeit und als Anregung für einen diskriminierungssensiblen Sprachgebrauch gedacht. Zudem finden Sie eine deutsche Übersetzung der Allgemeinen Empfehlung Nr. 31 des UN-Fachausschusses zur Anti-Rassismus-Konvention (CERD) zur Prävention gegen rassistische Diskriminierung in der Verwaltung und im Strafjustizsystem. In seinen Allgemeinen Empfehlungen aus dem Jahr 2005 stellt CERD konkrete Maßnahmen und Strategien vor, um rassistische Diskriminierung in der Verwaltung und der Justiz abzubauen, die Betroffenen zu schützen und ihnen diskriminierungsfreien Zugang zum Recht zu verschaffen. STATEMENTS 12 STAT E M E NTS Richterliche Unabhängigkeit und Vorverständnis Ein Appell für mehr Selbstreflexion Andrea Titz, Direktorin des Amtsgerichts Wolfratshausen und Vorsitzende des Bayerischen Richtervereins Grundgesetz, Deutsches Richtergesetz und Richtereid verpflichten uns zu Unabhängigkeit und Neutralität. Dennoch geht kein_e Richter_in und kein_e Staatsanwält_in an die von ihr oder ihm bearbeiteten Verfahren völlig wertneutral und im eigentlichen Sinn unvoreingenommen heran. Und das ist unvermeidlich. Denn wir sind keine „Gesetzesanwendungs-Automaten“, sondern Menschen aus Fleisch und Blut. Unser Verhalten wird unweigerlich von unseren Wertvorstellungen, unserem Vorverständnis, von eigenen Erfahrungen und letztlich auch von Sympathien und Antipathien beeinflusst. Wenn wir die genannten Einflussfaktoren aber nicht ausschließen können, müssen wir lernen, verantwortungsbewusst mit ihnen umzugehen. Das setzt zunächst voraus, sie uns immer wieder bewusst zu machen – und das geht nicht ohne ein gewisses Maß an Selbstreflexion. Denn wichtig für eine unvoreingenommene und unparteiliche Entscheidung ist auch das Wissen über uns selbst: Was verärgert uns? Was macht uns Angst? Was löst bei uns Zuneigung oder Mitgefühl aus? Welche Wertvorstellungen haben wir? Wo fühlen wir uns möglicherweise durch eine Situation selbst bedroht? Kein Mensch ist eine Insel, wie ein Sprichwort sagt. Wenn wir es für richtig halten, dass Richter_innen gerade deshalb über Sachverhalte in unserer Gesellschaft urteilen können, weil sie Teil dieser Gesellschaft sind, müssen wir in Kauf nehmen, dass sie aus ihrer jeweiligen Lebenssituation heraus Erfahrungen machen, Einstellungen entwickeln und Positionen beziehen. Um die Objektivität trotz zahlreicher Einflussfaktoren zu bewahren, ist es aber unabdingbar, diese Umstände kennenzulernen und dafür zu sorgen, dass ihr Einfluss nicht unbewusst den unvoreingenommenen Blick auf den Fall verstellt. Mein Appell, auch und gerade aus berufsethischer Perspektive, lautet daher: Machen wir uns bewusst, dass wir nicht immer unvoreingenommen sind, wenn wir einen Fall bearbeiten, und dass wir es auch gar nicht sein können. Versuchen wir herauszufinden, wo unser „wunder Punkt“ ist und wieso er das ist. Und dann können wir seinen Einfluss auf unsere Entscheidungen bewerten. Bei dieser Selbstreflexion können Fortbildungsangebote und der Austausch mit Kollegen unterstützen. Erst wenn wir unsere inneren Vorbehalte kennen, können wir beginnen, an uns zu arbeiten – um im nächsten Fall nicht wieder in die „Vorurteilsfalle“ zu tappen. STATEMENTS 13 Rassismus und das Strafjustizsystem Biplab Basu, Berater bei der Beratungsstelle ReachOut e. V. in Berlin ReachOut ist eine Berliner Beratungsstelle für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt und Bedrohungen. Auch Angehörige und Freund_innen der Opfer und Zeug_innen eines Angriffs finden dort Unterstützung. In der Beratung orientiert sich ReachOut an den Bedürfnissen der Betroffenen. Jede Handlungsmöglichkeit wird gemeinsam besprochen. Nichts geschieht ohne das Einverständnis der Ratsuchenden. Die Beratungen sind für die Betroffenen kostenlos und folgen dem Prinzip der Parteilichkeit. Vertraulichkeit und auf Wunsch Anonymität sind dabei selbstverständlich. Die Mitarbeiter_innen von ReachOut recherchieren, dokumentieren und veröffentlichen Angriffe mit rechtem, rassistischem oder antisemitischem Hintergrund. Das Projekt bietet außerdem Workshops, Veranstaltungen und Fortbildungen an. Dabei stehen immer die Situation und die Perspektive der Betroffenen im Zentrum der Arbeit. In unserer Arbeit beobachten wir häufig, welche Schwierigkeiten Opfer von rassistischer Gewalt haben, die Prozesse – von der polizeilichen Ermittlung bis hin zur Anklage und dem Gerichtsurteil – zu begreifen. Oftmals ist es nicht nachvollziehbar, wie die Ermittlungen gegen die Täter_innen laufen, wie und warum die Staatsanwaltschaften zu den jeweiligen Entscheidungen kommen und was letztendlich der Urteilsspruch der Richter_innen genau bedeutet. Eine fruchtbare Auseinandersetzung über Rassismus im Justizsystem wird zusätzlich dadurch erschwert, dass ein vermeintlich „Colour blindes“ Gericht von der überwiegenden Mehrheit der Law Community und auch der allgemeinen 1 Öffentlichkeit angenommen wird. Der herrschende Mythos, dass Gerichte und Ermittlungsbehörden neutral seien, muss dekonstruiert werden. Polizei, Ermittlungsbehörden, Staatsanwaltschaft und Gerichtsbarkeit sind keine neutralen Institutionen; auch sie sind in der rassistischen Gesellschaft verankert und müssen bewusst institutionellen und strukturellen Rassismus in der eigenen Behörde bekämpfen. Heute wird sich kein_e Polizeibeamt_in, Staatsanwält_in oder Richter_in eine offene rassistische Bemerkung erlauben. Was allerdings geschieht, ist die ständige Verleugnung von Rassismus in den Institutionen und in der Struktur. Dimitrina Petrova schreibt hierzu: „The denial of racism is fast becoming the most typical and widespread modern manifestation of racist attidues, openions, statements, actions and policies.“1 Indem Rassismus allein individuellen Rassist_innen, Neonazis und Rechtspopulist_innen angelastet wird, können Institutionen als frei von Rassismus erklärt werden. Ein weiteres Problem ist, dass die überwiegende Mehrheit der im juristischen Komplex beteiligten Personen nicht von rassistischer Diskriminierung betroffen ist und deswegen das Problem auch selten bemerkt. Sie mögen das Phänomen vielleicht diskutieren oder sich theoretisch und wissenschaftlich für das Thema interessieren, aber sie erleben keine rassistische Diskriminierung. Aus diesem Grund investieren sie nicht viel in diesen Bereich. Das geschieht nicht aus bösem Willen, sondern weil Diskriminierung für sie kein Thema darstellt. Das mag auch erklären, weshalb Diskriminierung im gesamten Justizbereich nicht als ein zu bekämpfendes Phänomen verstanden wird. So formulierte der US-amerikanische Jurist, Justin Murray: „Prosecutors, like most Americans, view Petrova, Dimitrina (2001): Racial Discrimination and the Rights of Minority Cultures. In: Fredman, Sandra (Hg.) (2001): Discrimination and Human Rights. The case of Racism, Oxford: Oxford University Press, S. 45. 14 STAT E M E NTS the criminal justice system as fundamentaly race neutral. They are aware that blacks are stopped, searched, arrested, and locked up in numbers that are vastly out of proportion to their fraction of the overall population. Yet, they generally assume that this outcome is justified because it reflects the sad reality that blacks commit a disproportionate 2 share of crime in America. They are unable to detect the ways in which their own discertionary choices – and those of other actors in the criminal-justice system, such as legislators, police officers, and jurors – contribute to the staggering and unequal incarceration of black Americans.“2 Murray, Justin (2012): Re-imagining criminal prosecution: Toward a color-conscious professional ethic for prosecutors. In: American criminal law review 49 (3), S. 1. STATEMENTS 15 Selbstverortung als Herausforderung für Justizangehörige Dr. Björn Jesse, Richter am Landgericht Berlin und Referent im Rahmen des Projektes vielschichtig, als dass ihm mit solchen Schemata beizukommen wäre. Wenn es um die Stärkung der Strafjustiz im Zusammenhang mit dem Erkennen und Bekämpfen von Rassismus geht, ist eine Selbstverortung der Handelnden wichtig: Staatsanwält_innen und Richter_innen bewerten ständig die Konflikte Dritter. Die Bewertungsmaßstäbe ergeben sich aus den Gesetzen. Die Diskussionen im Auftaktseminar in Berlin haben gezeigt, dass die Auseinandersetzung mit den eigenen Erfahrungen und der eigenen Haltung in Bezug auf Rassismus bei den Teilnehmenden einen besonderen Nachhall bewirkt und vielfach als besonders konstruktiv und für die eigene Praxis als gewinnbringend wahrgenommen wurde. Dennoch sind Staatsanwält_innen sowie Richter_innen keine Subsumtionsautomaten: Die Auslegung von Gesetzen macht den Kern der juristischen Tätigkeit aus; Beweiswürdigung und die sich daraus ergebende Tatsachenfeststellung stehen im Zentrum der Praxis. Die Auseinandersetzung mit den Erfahrungen anderer und vor allem mit denen, die von Rassismus Betroffene selber gemacht haben, ermöglicht – ohne dabei als Staatsanwält_in oder Richter_in selbst einen „Fall“ ermitteln oder überhaupt bewerten zu müssen – die Auseinandersetzung mit eigenen Vorverständnissen: Welches Bild habe ich von mir selbst? Welches Bild habe ich von den anderen? So wie es unterschiedliche Rechtsansichten gibt, so gibt es selbstverständlich auch unterschiedliche Bewertungen desselben Sachverhaltes – und hier kommt dem menschlichen Faktor eine besondere Bedeutung zu. Zugleich ist Rassismus ein Tabu und wird oft als ein Problem am Rande der Gesellschaft gesehen. In der Auseinandersetzung mit Rassismus gibt es oftmals eine Externalisierung (die Rassisten, das sind die anderen) oder eine Historisierung (Nazis sind Rassisten), aber Rassismus ist zu Durch die damit einhergehende Selbstverortung öffnet sich ein weiterer Zugang zu dem Themenbereich Rassismus, der nicht zuletzt für eine qualifizierte Strafzumessung nach § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB und für den angemessenen Umgang mit Beschuldigten, Geschädigten, Zeug_innen, aber auch Verteidiger_innen, Justizmitarbeitenden und staatsanwaltlichen oder richterlichen Kolleg_innen von Bedeutung ist. BEITRÄGE 18 R AS S IS MU S U N D ST R AFRE CHT Rassismus und Strafrecht Begriffe, Definitionen, menschenrechtliche Verpflichtungen und Anwendung im deutschen Strafrecht Doris Liebscher 1 2 3 3.1 3.2 3.3 4 4.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.3 5 Einleitung Welche Rolle spielen Rassismusdefinitionen im deutschen Strafverfahren? Menschenrechtliche Pflichten bei der Strafverfolgung Pflicht zur effektiven Strafverfolgung rassistischer Taten Rechte der Opfer rassistischer Taten im Strafverfahren Pflicht zur diskriminierungsfreien Strafverfolgung Das grund- und menschenrechtliche Verständnis von Rassismus in der strafrechtlichen Anwendung Rassismus als Diskriminierungsverhältnis Wer ist geschützt? Anknüpfungsmerkmale für rassistische Benachteiligung Rasse, Ethnie, Religion: Biologistischer Rassismus und kulturalistischer Rassismus Das weite Rassismusverständnis des Bundesverfassungsgerichtes Rassistische Diskriminierung wegen vermuteter Zugehörigkeit und assoziierter Diskriminierung Der Begriff „Rasse“ in Diskriminierungsverboten Tatbezogene rassistische Beweggründe und Tatbestandsmerkmale Fazit 1 Einleitung Die effektive Bekämpfung und Ahndung rassistischer Straftaten setzt eine besondere Aufmerksamkeit von Ermittlungsbehörden und Gerichten für rassistische Kontexte und Verhaltensweisen voraus.1 Was genau unter Rassismus und damit unter rassistischen Tathandlungen und rassistischen Beweggründen zu verstehen ist, ist weder juristisch definiert, noch herrscht in der Rechtsprechung und im Schrifttum Einigkeit darüber. Die Rechtsanwendung wird zudem dadurch erschwert, dass schon hinsichtlich der 1 18 19 21 21 23 24 25 26 26 26 28 29 29 30 32 verwendeten Begriffe keine einheitliche Linie besteht. Während in Deutschland lange die Begriffe Rassenhass und Ausländer- oder Fremdenfeindlichkeit die strafrechtliche Auseinandersetzung mit rassistischer Gewalt und Hetze dominierten, setzt sich im internationalen und englischsprachigen Kontext zunehmend der etablierte Begriff Rassismus durch. Dieser Beitrag stellt deshalb Rassismusdefinitionen vor, die für die konkrete Rechtsanwendung nutzbar gemacht werden können. Berücksichtigt Näher dazu: Payandeh, Mehrdad (2017): Die Sensibilität der Strafjustiz für Rassismus und Diskriminierung. In: Deutsche Richterzeitung 2017 (10), S. 322–325. R ASSISMUS UND STR A F R E CHT wird einerseits das Verständnis von Rassismus im internationalen und europäischen Recht sowie im deutschen Verfassungsrecht.2 Weil Rassismus kein Begriff des Rechts ist, ist für seine Anwendung auch der Rückbezug auf sozialwissenschaftliche Erkenntnisse bedeutsam. Zunächst folgt ein Überblick, wo Rassismusdefinitionen im Strafverfahren relevant sind. Danach werden die für die Strafverfolgung rassistischer Taten geltenden menschenrechtlichen Pflichten beschrieben und das grund- und menschenrechtliche Verständnis von Rassismus und seine Anwendung im deutschen Strafrecht vorgestellt. Für die Darstellung wird sowohl die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und die Spruchpraxis weiterer internationaler Menschenrechtsgremien als auch die deutsche Rechtsprechung ausgewertet. 2 Welche Rolle spielen Rassismusdefinitionen im deutschen Strafverfahren? Die Frage, wie Rassismus definiert wird und welche Tathandlungen und Motivlagen als rassistisch bewertet werden, ist im deutschen Strafrecht in mehrerlei Hinsicht relevant. Materiell-rechtlich kann Rassismus bei den Straftatbeständen der Beleidigungsdelikte (§§ 185 StGB), der Volksverhetzung (§ 130 StGB) oder des Mordes aus niedrigen Beweggründen (§ 211 StGB) in Betracht kommen. § 130 StGB Volksverhetzung (1) Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, 1. gegen eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe, gegen Teile der Bevölkerung oder gegen einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu 2 19 einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung zum Hass aufstachelt, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen auffordert oder 2. die Menschenwürde anderer dadurch angreift, dass er eine vorbezeichnete Gruppe, Teile der Bevölkerung oder einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. Im Rahmen der Strafzumessung sind zudem bei Verbrechen und auch bei Vergehen besonders auch rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende Beweggründe und die Ziele des Täters zu berücksichtigen (§ 46 II StGB). § 46 StGB Grundsätze der Strafzumessung […] (2) Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht: die Beweggründe und die Ziele des Täters, besonders auch rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende […]. Prozessual beeinflusst die Einschätzung, ob Anhaltspunkte für rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende Beweggründe bestehen, einerseits die Ermittlungsausrichtung (15.5 RiStBV), andererseits die Frage, ob ein (besonderes) öffentliches Interesse an der Verfolgung von Amts wegen besteht (86, 234 RiStBV). Gibt es Anhaltspunkte für ein rassistisches Motiv, müssen sich von nun an die Ermittlungen auf diese Umstände erstrecken (15.5 RiStBV). In einigen Fällen müssen die Strafverfolgungsbehörden, wenn ein solches Motiv vorliegt, ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung feststellen (86.2 Nicht erläutert werden die EU-Anti-Rassismus-Richtlinie RL 43/2000/EG sowie das zu deren Umsetzung verabschiedete Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Von Bedeutung für das Strafrecht sind diese Regelungen nur mittelbar, weil sie im Einklang mit der UN-Antirassismus-Konvention erläutern, wie die Bundesrepublik Deutschland den auch im Strafrecht verwendeten Begriff „Rasse“ versteht. 20 R AS S IS MU S U N D ST R AFRE CHT und 234). Bei Körperverletzungen, die mit einer rassistischen Tatmotivation einhergehen, besteht nach Nr. 234 RiStBV also ein besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung. Das gleiche gilt nach Nr. 86 RiStBV unter anderem für Beleidigungen, Bedrohungen und Sachbeschädigungen. 15 Aufklärung der für die Bestimmung der Rechtsfolgen der Tat bedeutsamen Umstände […] (5) Soweit Anhaltspunkte für rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende Beweggründe bestehen, sind die Ermittlungen auch auf solche Tatumstände zu erstrecken. 86 Allgemeines (1) Sobald der Staatsanwalt von einer Straftat erfährt, die mit der Privatklage verfolgt werden kann, prüft er, ob ein öffentliches Interesse an der Verfolgung von Amts wegen besteht. (2) Ein öffentliches Interesse wird in der Regel vorliegen, wenn der Rechtsfrieden über den Lebenskreis des Verletzten hinaus gestört und die Strafverfolgung ein gegenwärtiges Anliegen der Allgemeinheit ist, zum Beispiel wegen des Ausmaßes der Rechtsverletzung, wegen der Rohheit oder Gefährlichkeit der Tat, der rassistischen, fremdenfeindlichen oder sonstigen menschenverachtenden Beweggründe des Täters oder der Stellung des Verletzten im öffentlichen Leben. Ist der Rechtsfrieden über den Lebenskreis des Verletzten hinaus nicht gestört worden, so kann ein öffentliches Interesse auch dann vorliegen, wenn dem Verletzten wegen seiner persönlichen Beziehung zum Täter nicht zugemutet werden kann, die Privatklage zu erheben, und die Strafverfolgung ein gegenwärtiges Anliegen der Allgemeinheit ist. (3) Der Staatsanwalt kann Ermittlungen darüber anstellen, ob ein öffentliches Interesse besteht. 3 234 Besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung (§ 230 Abs. 1 StGB) (1) Ein besonderes öffentliches Interesse an der Verfolgung von Körperverletzungen (§ 230 Abs. 1 Satz 1 StGB) wird namentlich dann anzunehmen sein, wenn der Täter einschlägig vorbestraft ist, roh oder besonders leichtfertig oder aus rassistischen, fremdenfeindlichen oder sonstigen menschenverachtenden Beweggründen gehandelt hat, durch die Tat eine erhebliche Verletzung verursacht wurde oder dem Opfer wegen seiner persönlichen Beziehung zum Täter nicht zugemutet werden kann, Strafantrag zu stellen, und die Strafverfolgung ein gegenwärtiges Anliegen der Allgemeinheit ist. […] Für die Bestimmung der sachlichen Zuständigkeit des Gerichtes ist die Frage, ob eine rassistisch motivierte Tat vermutet wird, für die Einordnung als Fall besonderer Bedeutung i. S.v. § 120 Abs. 2 Nr. 3 GVG relevant. Denn damit würde die Zuständigkeit des Bundes für die Verfolgung von Staatsschutzstrafsachen ausgelöst.3 Wenn nach Verfahrensabschluss Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass das Opfer nach rassistischen Kriterien ausgewählt wurde, müssen die Akten nach Auswertung und Dokumentation an das Bundeskriminalamt übersendet werden (207 RiStBV). Benachrichtigung des Bundeskriminalamtes (2) Die Akten über Ermittlungs- und Strafverfahren wegen […] 5. Straftaten gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit in den Fällen der §§ 211, 212 und 227 StGB, wenn die Tat politisch motiviert ist, 6. gemeingefährliche Straftaten in den Fällen der §§ 306 bis 306c, 308, 310 Abs. 1 Nr. 2 StGB, wenn die Tat politisch motiviert ist, […] werden von der Staatsanwaltschaft alsbald nach Abschluss des Verfahrens dem Bundeskriminalamt, Thaerstraße 11, 65193 Wiesbaden, zur Auswertung übersandt. […] Vgl. Bundesgerichtshof (2000): Beschluss vom 12.01.2000, StB 15/99, juris; Bundesgerichtshof (2000), Urteil vom 22.12.2000, 3 StR 378/00, Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen BGHSt 46, 238–256; Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof, Anklageschrift vom 05.11.2012, 2 BJs 162/11-2, 2 StE 8/12-2 (NSU-Prozess). R ASSISMUS UND STR A F R E CHT (3) Straftaten im Sinne des Absatzes 2 Nr. 5 und 6 sind politisch motiviert, wenn bei Würdigung der Umstände der Tat und/oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie […] gegen eine Person wegen ihrer politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft oder aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes, ihrer Behinderung, ihrer sexuellen Orientierung oder ihres gesellschaftlichen Status gerichtet sind und die Tathandlung damit im Kausalzusammenhang steht beziehungsweise sich in diesem Zusammenhang gegen eine Institution, Sache oder ein Objekt richtet. 3 Menschenrechtliche Pflichten bei der Strafverfolgung Nach dem Gebot der Auslegung innerstaatlichen Rechts im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands ist nationales Recht grundsätzlich so auszulegen, dass ein völkerrechtskonformes Ergebnis daraus folgt. Dies gilt für Menschenrechtsverträge der Vereinten Nationen – zum Beispiel für den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) oder für das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von rassistischer Diskriminierung (UN-Antirassismus-Konvention, ICERD) – ebenso wie für die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK).4 Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind bei der Anwendung der EMRK die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ebenfalls heranzuziehen, weil sich in ihnen der aktuelle Entwicklungsstand der Konvention widerspiegelt.5 Die UN-Menschenrechtsverträge haben unabhängige Fachausschüsse (Treaty Bodies) etabliert, um zu überwachen, dass die Vertragsparteien ihre 4 5 6 21 Verpflichtungen erfüllen. Deren Überprüfungsverfahren bleiben zwar in ihrer Reichweite hinter der Rechtsverbindlichkeit der Entscheidungen des EGMR zurück. Sie können jedoch, ebenso wie die Allgemeinen Bemerkungen der Fachausschüsse zur Auslegung der jeweiligen Konvention (General Comments beziehungsweise General Recommendations) und die Abschließenden Bemerkungen der Fachausschüsse zu den Staatenberichten von deutschen Gerichten wegen ihrer Leit- und Orientierungsfunktion herangezogen werden, um als Auslegungshilfe Inhalt und Reichweite grundgesetzlicher Menschenrechtsgarantien näher zu bestimmen.6 In Bezug auf das Strafverfahren sind dabei die menschenrechtliche Verpflichtung zur effektiven Strafverfolgung rassistischer Taten, die Rechte der Opfer rassistischer Taten und die Pflicht zur diskriminierungsfreien Strafverfolgung besonders relevant. 3.1 Pflicht zur effektiven Strafverfolgung rassistischer Taten Die UN-Anti-Rassismus-Konvention ist speziell auf die Verhinderung und Bekämpfung rassistischer Diskriminierung zugeschnitten; sie soll sicherstellen, dass Menschen in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vor rassistischer Diskriminierung geschützt werden. Artikel 2 und Artikel 6 ICERD begründen das Recht jeder Person auf wirksamen Rechtsschutz gegen alle rassistisch diskriminierenden Handlungen, die im Widerspruch zu ICERD stehen. Daraus folgt ein subjektives Recht der Betroffenen darauf, dass Gerichte und alle sonstigen Organe der Rechtspflege, wie die Strafverfolgungsbehörden, nationales Recht zum Schutz vor rassistisch diskriminierenden Handlungen beachten und anwenden. Der Fachausschuss CERD überwacht die Einhaltung der UN-Anti-Rassismus-Konvention. Er hat in seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 31 über die Vgl. Bundesverfassungsgericht (2011): Beschluss vom 23.03.2011, 2 BvR 882/09, Rn. 52. Bundesverfassungsgericht (2011): Urteil vom 04.05.2011, 2 BvR 2365/09, Leitsatz 1; Bundesverfassungsgericht (2018): Urteil vom 24.07.2018, 2 BvR 309/15, Rn 86. Vgl. nur Bundesverfassungsgericht (2018): Urteil vom 24.07.2018, 2 BvR 309/15, Rn 91. Die wichtigsten Entscheidungen des EGMR sowie der Treaty Bodies der UN sind in deutschsprachiger Zusammenfassung in der Rechtsprechungsdatenbank des Deutschen Instituts für Menschenrechte einsehbar. 22 R AS S IS MU S U N D ST R AFRE CHT Verhütung von rassistischer Diskriminierung in der Strafrechtspflege aus dem Jahr 2004 ausgeführt, welche Verpflichtungen sich aus der Konvention für die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte ergeben.7 Grundsätzlich müssen diese effektive Maßnahmen gegen die Täter_innen rassistisch diskriminierender Handlungen ergreifen – und zwar ganz unabhängig davon, ob die Taten von Privatpersonen oder Amtsträgern begangen werden (Nr. 6). Ergänzt wird dieser Grundsatz durch konkrete Empfehlungen. So sollen Anzeigen unverzüglich aufgenommen und die Ermittlungen ohne Verzögerung, unabhängig und unparteiisch durchgeführt werden. Akten, die rassistische Vorfälle enthalten, sollen aufbewahrt und die Fälle dokumentiert werden (Nr. 11). Weil jede rassistisch motivierte Tat das soziale Gefüge einer Gesellschaft als Ganzes bedroht, sollen die Staatsanwaltschaften die generelle, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung rassistischer Taten beachten, weshalb auch Vergehen aus rassistischen Motiven effektiv ermittelt werden sollen (Nr. 15). Auch die EMRK enthält entsprechende Rechtsgarantien. Nach ständiger Rechtsprechung des EGMR ist das Ziel der Konvention, nicht theoretische und illusorische Rechte zu gewähren, sondern praktische und effektive.8 Das bedeutet, dass der EGMR die Konvention so auslegt, dass die Rechte auch wirksam sind. Insbesondere in der Rechtsprechung zu Artikel 2 (Recht auf Leben) und zu Artikel 3 (Verbot der Folter und Misshandlung) hat der Gerichtshof neben der materiellen Dimension der Rechte (Schutz vor Verletzung der Rechte) auch einen verfahrensrechtlichen Aspekt dieser Rechte (unabhängige und effektive staatliche Ermittlung und Ahndung von Rechtsverletzungen) entwickelt. Aus dieser Verpflichtung ergibt sich nach ständiger Rechtsprechung aus der Verletzung von Artikel 2 oder Artikel 3 alleine oder 7 8 9 10 11 12 in Verbindung mit dem Diskriminierungsverbot aus Artikel 14 EMRK das Gebot prompter, umfassender, unvoreingenommener und gründlicher Aufklärung besonders in Fällen des Verdachts rassistischer Gewalt. In solchen Fällen ist sogar besonders gründlich zu ermitteln, denn „Fälle von rassistisch motivierter Gewalt und Brutalität gleich zu behandeln wie jene, bei denen ein rassistischer Hintergrund fehlt, würde bedeuten, die spezifische Natur von Handlungen, welche sich in besonders destruktiver Weise gegen die Grundrechte wenden, zu ignorieren“.9 Diesen Grundsatz hat der EGMR in mehreren Entscheidungen präzisiert: Im Fall Natchova und andere vs. Bulgarien10 hatten Zeug_innen ausgesagt, dass die Verdächtigen sich gegenüber den Opfern, zwei Roma, vor der Tat rassistisch geäußert hatten. Die zuständige Staatsanwaltschaft stellte alle Ermittlungen ein. Der EGMR entschied: Die Ermittlungen müssen besonders nachdrücklich und unvoreingenommen mit erhöhter und äußerster Sorgfältigkeit geführt werden, wenn der Verdacht einer rassistischen Tatmotivation bei einer Gewalttat im Raum steht. Rassistische Gewalt stellt „einen besonderen Affront gegen die Menschenwürde“11 dar und verlangt angesichts ihrer gefährlichen Auswirkungen von den Behörden besondere Aufmerksamkeit und energische Reaktion. Im Fall Angelova und Iliev vs. Bulgarien12 präzisierte der Gerichtshof: Behörden sind verpflichtet, Todesfälle zügig und beharrlich zu untersuchen. Dies gilt insbesondere bei offensichtlich rassistischen Motiven angesichts der Notwendigkeit, das Vertrauen von Minderheiten in die Fähigkeit der Behörden, sie vor rassistischer Gewalt zu schützen, aufrechtzuerhalten. UN, Committee on the Elimination of Racial Discrimination (2004): General Recommendation No. 31 on the prevention of racial discrimination in the administration and functioning of the criminal justice system, CERD/C/GC/31/Rev.4 (2005); eine nichtamtliche Übersetzung des Dokuments finden Sie im Anhang dieser Publikation. EGMR (1980): Artico gegen Italien. 13.05.1980. Beschwerde Nr. 6694/74 Serie A Bd. 37, § 33. EGMR (2017): Škorjanec gegen Kroatien. 28.03.2017, Beschwerde-Nr. 25536/14. EGMR (2004/2017): Natchova und andere gegen Bulgarien. 26.02.2004/05.04.2017. Beschwerde Nr. 43577/98, 43579/98. Ebd., Nr. 145. EGMR (2007): Angelova und Iliev gegen Bulgarien. 26.7.2007. Beschwerde Nr. 55523/00. R ASSISMUS UND STR A F R E CHT In weiteren Fällen entschied der Gerichtshof: Bei der Untersuchung von Gewalttaten haben staatliche Behörden die Pflicht, alle angemessenen Schritte zu unternehmen, um etwaige rassistische Motive zu enthüllen und festzustellen, ob Hass oder Vorurteile gegenüber ethnischen Gruppen eine Rolle gespielt haben. Das ist der Fall, wenn der Angreifer vermutlich Mitglied einer polizeibekannten Skinheadgruppe ist, die aller Wahrscheinlichkeit nach eine rechtsradikale und rassistische Ideologie vertritt.13 Wenn aus den Umständen des Falles eine starke Vermutung dafür vorliegt, dass rassistische Beweggründe eine Rolle gespielt haben können, müssen die Ermittlungsbehörden diesen Vermutungen mit allen Mitteln sorgfältig, angemessen und objektiv nachgehen.14 Die Gleichbehandlung von Taten mit rassistisch motivierter Gewalt und Brutalität und Fällen ohne rassistischen Hintergrund käme einer wissentlichen Ignorierung der spezifischen Art dieser Taten gleich, die sich immer besonders verheerend auf grundlegende Menschenrechte auswirken. Das Versäumnis einer Unterscheidung dieser grundsätzlich verschiedenen Situationen kann eine ungerechtfertigte, mit Artikel 14 der Konvention unvereinbare Behandlung darstellen.15 Die nunmehr ausdrücklich in § 46 Abs. 2 StGB und in der RiStBV enthaltenen Regeln setzen somit die menschenrechtliche Verpflichtung zur effektiven Strafverfolgung rassistischer Gewalt im nationalen Recht um. Werden sie nicht berücksichtigt, kann eine Konventionsverletzung vorliegen. Wie die oben dargestellten Fälle deutlich machen, stellt der EGMR einen Konventionsverstoß bereits dann fest, wenn im Ermittlungsverfahren Anhaltspunkte für eine rassistische Motivation gegeben waren, aus den Akten aber nicht ersichtlich ist, ob Strafverfolgungsbehörden und Gerichte diese Anhaltspunkte verfolgt und sich in der Beweiswürdigung damit auseinandergesetzt haben. Damit können sowohl eine Praxis des „unbenannten Aufschlags“ (rassistische Beweggründe werden nicht explizit 13 14 15 16 17 23 im Urteil benannt, vom Gericht aber implizit bei der Strafzumessung berücksichtigt) als auch eine fehlende ausdrückliche Auseinandersetzung mit der Frage, warum nach Überzeugung des Gerichts trotz Anhaltspunkten im Ergebnis keine rassistische Motivation vorlag, einen Konventionsverstoß begründen. 3.2 Rechte der Opfer rassistischer Taten im Strafverfahren Im Umgang mit Opferzeug_innen rassistischer Taten ergeben sich besondere grund- und menschenrechtliche Verpflichtungen für die Strafjustiz. Betroffene rassistischer Straftaten sollen zunächst über ihre Rechte im Verfahren informiert werden (§§ 406i ff. StPO). Dazu zählt der Hinweis auf spezialisierte Opferberatungsstellen, die im Bundesverband unabhängiger Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) organisiert sind.16 Opfer rassistischer Straftaten sollen respektvoll, einfühlsam, unvoreingenommenen und professionell behandelt werden, ohne dass es im Verfahren zu Diskriminierungen aus rassistischen Gründen mit Blick auf Hautfarbe, Migrationshintergrund, Sprache, Religion oder Aufenthaltsstatus kommt (Erwägungsgrund 9, Art. 25 RL 2012/29/29). Insbesondere ist sicherzustellen, dass Anhörungen, Befragungen und Gegenüberstellungen mit der nötigen Sensibilität für die Würde der Betroffenen durchgeführt werden (CERD GR Nr. 31, Nr. 19b). Richter_innen sollen eingreifen, wenn rassistische Vorurteile von weisungsabhängigem Justizpersonal oder von Rechtsanwält_innen oder anderen Verfahrensbeteiligten geäußert werden.17 Diese Pflicht zur diskriminierungsfreien Strafverfolgung ergibt sich auch aus Artikel 14 ICCPR (Gleiches und Faires Verfahren) und Artikel 2 Abs. 1 und 26 ICCPR (Diskriminierungsverbot). Opfer rassistischer Taten sind Opfer von Hasstaten. Sie sind daher – ebenso wie Opfer sexualisierter EGMR (2007): Šečić gegen Kroatien. 31.07.2007. Beschwerde Nr. 40116/02. EGMR (2012): Yotova gegen Bulgarien. 23.10.2012. Beschwerde Nr. 43606/04. EGMR (2014): Abdu gegen Bulgarien. 11.03.2014. Beschwerde Nr. 6827/08. Für einen Überblick der Beratungsstelle siehe https://www.verband-brg.de. CERD/C/GC/31/Rev.4 (2005) Nr. 33 unter Verweis auf die Bangalore Principles of Judicial Conduct, 2002, E/CN.4/2003/65. 24 R AS S IS MU S U N D ST R AFRE CHT Gewalt oder Kinder – als besonders schutzbedürftige Opfer anzusehen.18 Diese Einstufung berücksichtigt die besonders schwerwiegenden psychischen Folgen, die rassistisch motivierte Straftaten für die Betroffenen haben, sowie die erhöhte Gefahr sekundärer Viktimisierung durch das Strafverfahren.19 Als besonders schutzbedürftige Opfer sollten Opfer rassistischer Taten die Möglichkeit haben, vor, während und nach der Hauptverhandlung von einem psychosozialen Prozessbegleiter unterstützt zu werden (§ 406g StPO). Zudem soll individuell festgestellt werden, ob den Opfern während des Strafverfahrens in besonderem Maße die Gefahr sekundärer und wiederholter Viktimisierung, Einschüchterung oder Vergeltung durch Täter_innen droht; dabei sollen persönliche Merkmale des Opfers, unter anderem Herkunft, Rassismuserfahrungen und Aufenthaltsstatus berücksichtigt werden (Erwägungsgrund 55 f. RL 2012/29/29). Ist dies der Fall, sollten die Opferzeug_innen besonderen Schutz nach § 48 Abs. 3 StPO erhalten. 3.3 Pflicht zur diskriminierungsfreien Strafverfolgung Die Pflicht zur diskriminierungsfreien Strafverfolgung ergibt sich nicht nur mit Blick auf die Opfer von rassistischen Straftaten. Beschuldigte und Angeklagte in Strafverfahren dürfen ebenso nicht aus rassistischen Gründen diskriminiert werden. Deshalb sollen Verdächtigungen, Befragungen, Festnahmen und Durchsuchungen vermieden werden, die nur an der physischen Erscheinung einer Person, an deren Hautfarbe oder an der Zuordnung zu einer rassialisierten oder einer ethnischen Gruppe anknüpfen.20 Auch hier sollen Richter_innen eingreifen, wenn rassistische Vorurteile von weisungsabhängigem Justizpersonal oder von Rechtsanwält_innen oder anderen Verfahrensbeteiligten geäußert werden.21 CERD 18 19 20 21 22 23 24 hat in einem Individualbeschwerdeverfahren gegen Norwegen entschieden, dass eine gerichtliche Anhörung beziehungsweise Befragung nicht fair ist, wenn sich Verfahrensbeteiligte feindselig und rassistisch gegenüber dem Angeklagten äußern. Im konkreten Fall ging es um rassistische Äußerungen einer Jury, die vom Gericht toleriert wurden.22 Gerichte dürfen keine härteren Strafen verordnen, nur weil die angeklagte Person einer bestimmten rassialisierten oder ethnischen Gruppe zugehört oder zugeordnet wird.23 So wurde auch höchstrichterlich bestätigt, dass die sogenannte Ausländereigenschaft von Täter_innen als solche nicht strafschärfend berücksichtigt werden darf, da die Staatsangehörigkeit keine Grundlage zur Bemessung der Schuld darstellt.24 4 Das grund- und menschenrechtliche Verständnis von Rassismus in der strafrechtlichen Anwendung Staatsanwaltschaft und Gerichte müssen den Begriff Rassismus anwenden, um diese menschenrechtlichen Verpflichtungen im Strafverfahren einlösen zu können. Sie müssen wissen, was Rassismus bedeutet und entscheiden, wann eine Tat rassistisch motiviert ist. Für die Umsetzung der menschenrechtlichen Verpflichtung zur Strafverfolgung rassistischer Taten ist das zugrunde gelegte Verständnis von Rassismus ein Dreh- und Angelpunkt. Auch hierfür sind bei der Auslegung des nationalen Rechts die grund- und menschenrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands heranzuziehen. Erwägungsgrund 57 und Art. 22 Abs. 3 EU-Richtlinie 2012/29/29 über die Mindeststandards für Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten (Opferschutzrichtlinie), die durch das Gesetz zur Stärkung der Opferrechte im Strafverfahren (3. Opferrechtsreformgesetz) umgesetzt wurde. Zum Begriff der sekundären Viktimisierung siehe den Beitrag von Eben Louw in dieser Publikation. CERD/C/GC/31/Rev.4 (2005), Nr. 19b; das ergibt sich auch aus Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz (2017/: Urteil vom 21.04.2016, 7 A 11108/14, NJW 2016, 2779–2830. CERD/C/GC/31/Rev.4 (2005), Nr. 33 unter Verweis auf die UN Bangalore Principles of Judicial Conduct (2002) E/CN.4/2003/65. UN, Committee on the Elimination of Racial Discrimination (1994): Narrainen gegen Norwegen. 15.03.1994. Communication Nr. 3/1991, 9.3. CERD/C/GC/31/Rev.4 (2005) Nr. 34. Bundesgerichtshof (1993): Beschluss vom 16.03.1993 – 4 StR 602/92. R ASSISMUS UND STR A F R E CHT Im Rahmen der inhaltlichen Begründung von strafprozessualen und strafrechtlichen Entscheidungen können die Abkommen im Wege der menschenrechtskonformen Auslegung einer Norm herangezogen werden. Die Grenze der menschenrechtskonformen Auslegung bildet der Wortlaut des auszulegenden Gesetzes. Völkerrechtlich maßgebend sind die Amtssprachen der jeweiligen internationalen Organisationen.25 Das gilt insbesondere für die Frage, ob eine rechtlich relevante rassistische Diskriminierung vorliegt. Für Behörden und Gerichte ist eine solche Rechtspraxis geboten, wenn es ohne diese menschenrechtskonforme Auslegung zu einer konventionswidrigen Entscheidung käme. Menschenrechtliche Definitionen rassistischer Diskriminierung Art. 1 Abs. 1 der UN-Anti-Rassismus-Konvention (ICERD) Jede auf der Rasse, der Hautfarbe, der Abstammung, dem nationalen Ursprung oder der ethnischen Herkunft beruhende Unterscheidung, Ausschließung, Beschränkung oder Bevorzugung, die zum Ziel oder zur Folge hat, dass dadurch ein gleichberechtigtes Anerkennen, Genießen oder Ausüben von Menschenrechten und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen oder jedem sonstigen Bereich des öffentlichen Lebens vereitelt oder beeinträchtigt wird. Die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI), ein Menschenrechtsgremium des Europarats, definiert rassistische Diskriminierung in ihrer Aufgabenbeschreibung ähnlich: „ECRI […] beobachtet Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Intoleranz und Diskriminierung aufgrund von Gründen wie „Rasse“, 25 26 27 28 25 nationale/ethnische Herkunft, Hautfarbe, Staatsangehörigkeit, Religion und Sprache (rassische Diskriminierung) […].“26 Auch wenn die Menschenrechte nicht für jede rassistische Diskriminierung eine strafrechtliche Ahndung fordern, ergeben sich aus diesen Definitionen Konsequenzen für eine strafrechtliche Rassismusdefinition bei der Anwendung des § 46 Abs. 2 StGB sowie weiterer Strafrechtsnormen. Das gilt sowohl in Bezug auf Formen von Rassismus, als auch hinsichtlich der Auslegung der Diskriminierungskategorie „Rasse“ und der Tatumstände und Motivlagen. 4.1 Rassismus als Diskriminierungsverhältnis Ausgangspunkt einer grund- und menschenrechtlichen Definition von Rassismus ist die Betrachtung von Rassismus als soziales Diskriminierungsverhältnis. Kennzeichnend sind dafür die Elemente der Klassifizierung (auch Kategorisierung) als Gruppe (Menschen werden einer Gruppe zugeordnet) und der Subordination. Entscheidend für Rassismus als Diskriminierungsverhältnis ist die Zuordnung von Menschen zu homogenen und statisch konstruierten Gruppen.27 Diese Zuordnung geht oft auf historische Rassentheorien zurück und wird in der sozialwissenschaftlichen Forschung als Rassialisierung bezeichnet.28 Auch wenn es keine Menschenrassen gibt, werden Menschen rassialisiert und ethnisiert, also durch soziale Zuschreibungsprozesse zu Rassen und Ethnien gemacht. Mit dieser Kategorisierung geht eine Zuweisung einer marginalisierten Position einher, die nicht nur situativ, sondern auch strukturell ist. Als Diskriminierungsverhältnis ist Rassismus daher asymmetrisch; er betrifft nicht alle Menschen gleichermaßen, sondern Angehörige marginalisierter Gruppen, die ein besonderes EMRK: Englisch, Französisch; ICERD: Chinesisch, Englisch, Französisch, Russisch und Spanisch; ICCPR: Englisch, Französisch, Spanisch, Chinesisch. Die deutschen Fassungen der Übereinkommen dienen der besseren Verständlichkeit, bei Auslegungszweifeln entscheidet die amtssprachliche Fassung. ECRI (2018): European Commisson against Racism and Intolerance, Brüssel, S. 2, https://: https://rm.coe.int/ecri-european-commission-against-racism-and-intolerance-brochure/16808c6e42 (abgerufen am 01.11.2018). Siehe dazu den Beitrag von Chandra-Milena Danielzik in dieser Publikation. Die Sozialwissenschaften sprechen hier vom Begriff der „Rassialisierung“, vgl. Banton, Michael (1977): The Idea of Race, Boulder: Westview Press, S. 18. 26 R AS S IS MU S U N D ST R AFRE CHT Diskriminierungsrisiko trifft. Deutlich wird ein solches Verständnis von Diskriminierung in der Entscheidung „Dritte Option“ des Bundesverfassungsgerichtes, dort heißt es: „Zweck des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG ist es, Angehörige strukturell diskriminierungsgefährdeter Gruppen vor Benachteiligung zu schützen.“29 4.2 Wer ist geschützt? Anknüpfungsmerkmale für rassistische Benachteiligung Internationale Menschenrechtsabkommen und nationale Regelungen verwenden traditionell eine Aufzählung verschiedener Diskriminierungskategorien beziehungsweise verbotener Anknüpfungsmerkmale für rassistische Ungleichbehandlungen, wie „Rasse, Hautfarbe, Abstammung, nationaler Ursprung oder ethnische Herkunft“ in Artikel 1 Abs. 1 ICERD. Eine möglichst ausführliche Auflistung soll umfassenden Schutz bieten – das kommt schon in den Debatten zur Formulierung eines Diskriminierungsverbotes gegen Rassismus in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zum Ausdruck.30 Dies schließt auch an Erkenntnisse der sozialwissenschaftlichen Forschung an, wonach Rassismus kein uniformes, statisches Phänomen ist, sondern verschiedene Ausformungen hat und wandelbar ist. Merkmale wie Hautfarbe, Religion oder Sprache, an die eine rassistische Zuschreibung anknüpfen kann, sind daher sich überschneidende Begriffe zur Beschreibung rassistischer Diskriminierung. Rassistische Zuschreibungen verletzen die bezeichneten Menschen ganz unabhängig von fremdimaginierten Rassezugehörigkeiten, von selbstgewählten ethnischen Identifikationen oder von der Staatsangehörigkeit. 29 30 31 32 33 34 4.2.1 Rasse, Ethnie, Religion: Biologistischer Rassismus und kulturalistischer Rassismus Für die Einordnung einer Tat als rassistisch ist nicht entscheidend, welche Anknüpfungsmerkmale (Hautfarbe, Religion, Sprache) genutzt wurde. Erfasst werden auch Gewalt, Hassrede und Diskriminierungen, die nicht von der Annahme biologischer Rasseunterschiede getragen sind, sondern die zum Beispiel von unveränderlichen kulturellen oder religiösen Unterschieden ausgehen. Diese Variante des Rassismus wird auch als Neo-Rassismus oder kulturalistischer Rassismus bezeichnet. Rasse wird darin als Kultur kodiert. Egal, ob Menschen als einer „Rasse“ oder einer „Kultur“ zugehörig eingeordnet und diskriminiert werden, in beiden Fällen werden Eigenschaften von sozialen Gruppen homogenisiert, fixiert und naturalisiert.31 Auch der EGMR stellt in ständiger Rechtsprechung klar: „Ethnische Herkunft und Rasse sind miteinander verbundene und überlappende Konzepte. Rassevorstellungen gehen auf die Idee von biologischen Klassifikationen von Menschen in Anknüpfung an morphologische Merkmale wie Hautfarbe oder Gesichtszüge zurück. Ethnische Herkunft hat ihren Ursprung in der Idee von sozialen Gruppen, die z. B. durch gemeinsame Nationalität, […] religiöser Glaube, gemeinsame Sprache oder kultureller und traditioneller Ursprünge und Hintergründe verbunden sind.“32 In der Praxis kann und muss eine genaue Abgrenzung oftmals nicht vorgenommen werden. So wird die Diskriminierung von Jüd_innen (Antisemitismus) und von Sint_ezze und Rom_nja (Antiromaismus oder Antiziganismus) in der Rechtsprechung zum Teil als solche aufgrund der Rasse33 und zum Teil aufgrund der ethnischen Herkunft34 angenommen. Vom Verbot rassistischer Gewalt und Diskriminierung ist sie in jedem Fall erfasst. Das Bundesverfassungsgericht (2018), Beschluss vom 10.102017, 1 BvR 2019/16, juris Rn. 59. In dem Fall ging es um Diskriminierung wegen der Geschlechtsidentität. Morsink, Johannes (2000): The Universal Declaration of Human Rights. Origins, Drafting, and Intent. University of Pennsylvania Press. Vgl. George M. Fredrickson (2004): Rassismus. Ein historischer Abriss. Hamburg: Hamburger Edition, Einleitung. EGMR (2005): Timishev gegen Russland. 13.12.2005 – Rs. 55762/00, 55974/00, ebenso EGMR (2009): Sejdić und Finci gegen Bosnia und Herzegovina. 22.12.2009, Rs.: 27996/06, 34836/06. So das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung in Entschädigungssachen, Bundesverfassungsgesicht (1996): Beschluss vom 13.05.1996. 2 BvL 33/93; BVerfGE 94, 315-334. Für Roma in ständiger Rechtsprechung der EGMR, zum Beispiel Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (2012): Aksu gegen Türkei 15.03.2012. Beschwerde Nr. 4149/04, 41029/04; Bundesverfassungsgesicht (1991): Beschluss vom 08.11.1991. BvR 1351/91, juris. R ASSISMUS UND STR A F R E CHT stellt der EGMR ausdrücklich fest: „Als Folge ihrer wechselvollen Geschichte und dauerhaften Entwurzelung sind die Roma eine benachteiligte und verletzbare Minderheit, die besonderen Schutzes bedarf.“35 Rassistische Diskriminierung kann auch an die Religion anknüpfen. Das ist dann der Fall, wenn rassialisierende oder ethnisierende Zuschreibungen mit der tatsächlichen oder vermeintlichen Religionszugehörigkeit verbunden werden und diese stigmatisieren. Zumeist ist das der Fall, wenn Angehörige dieser Religionen (zum Beispiel Islam oder Judentum) in der betreffenden Gesellschaft Minderheiten darstellen, die antimuslimischem Rassismus oder Antisemitismus ausgesetzt sein können.36 CERD hat ebenfalls auf die „Anschlussstellen zwischen Rasse und Religion“37 und die Überschneidung von „Rasse, Hautfarbe, Abstammung und nationaler oder ethnischer Herkunft mit Religion und Geschlecht“ hingewiesen.38 Handlungen, die sich alleine auf eine Kritik der Religion stützen – ohne dass damit generalisierende, stigmatisierende Bezüge auf „die Kultur der diese Religion ausübenden Gruppe“ einhergehen – sind dagegen keine rassistischen Diskriminierungen.39 In der Praxis wird diese Unterscheidung oft schwierig sein, wenn unter dem Vorwand der „Religionskritik“ rassistische Hetze betrieben wird. 35 36 37 38 39 40 41 42 27 Der EU-Rahmenbeschluss 2008/913/JI zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit stellt ebenfalls klar, dass religiöse Gruppen, wie Jüd_innen oder Muslim_innen, von rassistischen Strafhandlungen betroffen sein können, auch wenn der Täter oder die Täterin die religiöse Zugehörigkeit des Opfers in den Vordergrund stellt: „Der Verweis auf Religion soll mindestens Handlungsweisen erfassen, die als Vorwand für die Begehung von Handlungen gegen eine nach Rasse, Hautfarbe, Abstammung oder nationale oder ethnische Herkunft definierte Gruppe oder ein Mitglied einer solchen Gruppe dienen.“ Das internationale Recht schützt auch eingewanderte Menschen und ihre Nachkommen vor rassistischer Diskriminierung.40 Denn es bestehen zahlreiche Anschlussstellen zwischen rassistischer Diskriminierung, Staatsangehörigkeit, Nationalität und Aufenthaltsdauer. So urteilte der EGMR, dass Propaganda, die fordert, dass eingewanderte Menschen und ihre Nachkommen41, völlig unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit, Nationalität, Aufenthaltsdauer und familiären Bezügen, das Land verlassen sollen, eine rassistische Diskriminierung darstellt, die von der Konvention verboten ist.42 CERD hat entschieden, dass Hassrede gegen „Juden und Immigranten“, die einem homogenen Volksbegriff („unserem Volk“) gegenübergestellt EGMR (2007): D. H. u. a. gegen Tschechien.13.11.2007 Beschwerde Nr. 57325/00. CERD/C/GC/35 vom 26.09.2013, Combating racist hate speech, Nr. 6. UN, Committee on the Elimination of Racial Discrimination (2007): P. S. N. gegen Dänemark. 08.08.2007. Communication Nr. 36/2006, Rn. 6.3. CERD/C/GC/32 vom 24.09.2009, The meaning and scope of special measures in the International Convention on the Elimination of All Forms Racial Discrimination, Nr. 7. UN, Committee on the Elimination of Racial Discrimination (2007): P. S. N. gegen Dänemark. 08.08.2007. „Communication Nr. 36/2006, Rn. 6.3. Zum Begriff Einwanderer siehe http://glossar.neuemedienmacher.de/glossar/filter:e/ Zum Begriff Menschen mit Migrationshintergrund siehe das Glossar im Anhang. Das in Rede stehende Flugblatt postulierte: „The major part of our population since a long time has had enough of the presence in our country of hundreds of thousand Surinamers, Turks and other so-called guest workers s, who moreover are not at all needed here, […]”. EGMR (1979): Glimmerveen and Hagenbeek/Niederlande. 11.10.1979. Beschwerde Nr. 8348/78, 8406/78. Im Original: Thus, the policy advocated by the applicants is inspired by the overall aim to remove all non-white people from the Netherlands’ territory, in complete disregard of their nationality, time of residence, family ties, as well as social, economic, humanitarian or other considerations. The Commission considers that this policy is clearly containing elements of racial discrimination which is prohibited under the Convention and other international agreements. 28 R AS S IS MU S U N D ST R AFRE CHT wird, eine rassistische Diskriminierung i. S.d. Konvention darstellt.43 Auch die herabwürdigende und verdinglichende Darstellung von Menschen aus türkischen und arabischen Einwanderungsfamilien als eine für die Entwicklung einer Gesellschaft schädliche Personengruppen hat CERD nach der UN-Anti-Rassismus-Konvention als verbotene rassistische Diskriminierung eingeordnet.44 4.2.2 Das weite Rassismusverständnis des Bundesverfassungsgerichtes Dieses weite Verständnis von Rassismus ist auch bei der Anwendung von Artikel 3 Abs. 3 GG sowie den strafrechtlichen Vorschriften wie § 46 Abs. 2 oder § 130 StGB zugrunde zu legen. Zwar liegt wenig deutsche Rechtsprechung zur Auslegung des Verbots rassistischer Diskriminierung in Artikel 3 Abs. 3 GG vor. Allerdings enthält die Entscheidung des BVerfG im NPD-Verbotsverfahren zahlreiche Bezugspunkte, die sich mit der dargestellten internationalen Spruchpraxis decken. Im Grundsatz befand das Gericht, ein „Konzept einer ethnisch definierten Volksgemeinschaft“, das einhergeht mit einem „Konzept weitgehender Rechtlosstellung und entwürdigender Ungleichbehandlung […] aller, die dieser Gemeinschaft abstammungsmäßig nicht angehören“ beziehungsweise nicht zugerechnet werden, sei rassistisch.45 Vom BVerfG im NPD-Verbotsverfahren46 als rassistisch bewertete Einlassungen: – die pauschale Unterstellung, Schwarze Menschen hätten eine niedrigere Intelligenz – die Darstellung von Muslimen, Schwarzen Menschen, Migrant_innen und Asylsuchenden als dreckig, kriminell, islamistische Extremist_ innen, Vergewaltiger und Asyl-Betrüger – die Darstellung von Menschen (zum Beispiel Jüd_innen und Sinti_zze und Rom_nja) als raffgierig und sich ohne eigene Leistung bereichernd – die Behauptung, eine jüdische und islamische Lobby wollten das deutsche Gemeinwesen zersetzen – die Behauptung, Israel sei ein Schurken- und Zionistenstaat, von dem historisch konstante Gewalt ausgehe und das die eigene Rolle als Tätervolk verschweige – Anspielungen auf Juden als „raffgierige Religionskörperschaften“ oder „Wucherkapitalisten“, die die Welt in den Untergang stürzen würden – die pauschale Unterstellung, Sinti_zze und Rom_nja besäßen einen Hang zur Kriminalität, Verwahrlosung und Prostitution – die herabsetzende Bezeichnung Zigeuner sowie das Reden von einem „Überschwemmen durch eine Zigeunerflut“ – die Instrumentalisierung der Muslime als Projektionsfläche für die gegen alle Ausländer gerichteten Rückführungsvorstellungen oder deren Verächtlichmachung als „Bombenleger“ oder „Samenkanonen“.47 43 44 45 46 47 UN, Committee on the Elimination of Racial Discrimination (2005): Jüdische Gemeinde von Oslo unter anderem gegen Norwegen. 22.05.2005, Communication Nr. 30/2003. UN, Committee on the Elimination of Racial Discrimination, TBB/Deutschland. 04.04.2013 Communication Nr. 48/2010. Bundesverfassungsgericht (2017): Urteil vom 17.01.2017. 2 BvB 1/13 – juris, Rn 688 f. Ebd., Rn 699. Ebd. Rn 701, 717, 721, 736, 742, 743, 744, 745, 748, 757. R ASSISMUS UND STR A F R E CHT 4.2.3 Rassistische Diskriminierung wegen vermuteter Zugehörigkeit und assoziierter Diskriminierung Von strafrechtlich relevanter rassistischer Gewalt und rassistischer Hassrede können auch Menschen betroffen sein, die selbst Angehörige der Mehrheitsgesellschaft sind, aber von Täter_innen rassistisch diskriminiert werden, weil sie „falsch“ zugeordnet werden. So erfolgte der Angriff auf einen Mann, der eine Kippa trug und antisemitisch beschimpft wurde, aus antisemitischen Beweggründen – ganz unabhängig davon, ob der KippaTräger tatsächlich Jude war oder die Kippa aus Solidarität oder schlicht als Souvenir trug.48 Manche Opfer von Hassverbrechen werden nicht ausgewählt, weil sie spezielle Eigenschaften aufweisen, sondern weil sie mit einer anderen Person in Verbindung gebracht werden, die die entsprechenden Eigenschaften tatsächlich oder mutmaßlich aufweist. Auch sie sind umfassend zu schützen. Im Fall Škorjanec gegen Kroatien entschied der EGMR angesichts einer rassistischen Gewalttat unter antiziganistischen Beschimpfungen gegen einen Rom und seine Partnerin, die keine Romnja war, dass sich die Pflicht zu effektiven Ermittlungen in Fällen rassistischer Gewalt auch dann ergibt, wenn sich die nachteilige Behandlung einer Person auf den Status oder die geschützten Eigenschaften einer anderen Person bezieht. Der Gerichtshof urteilte: „Daraus folgt, dass die Verpflichtung der Behörden, eine mögliche Verbindung zwischen einer rassistischen Haltung und einem begangenen Gewaltakt herzustellen, […] nicht nur Gewaltakte basierend auf einem tatsächlichen oder empfundenen persönlichen Status oder entsprechenden Eigenschaften des Opfers betrifft, sondern auch Gewaltakte basierend auf der tatsächlichen oder vermuteten Verbindung des Opfers oder seiner Zugehörigkeit zu einer anderen Person, die 48 49 50 29 tatsächlich oder mutmaßlich einen besonderen Status oder eine geschützte Eigenschaft besitzt. Diese Verbindung kann einerseits aufgrund der Mitgliedschaft des Opfers in oder seiner Verbindung zu einer bestimmten Gruppe bestehen oder andererseits durch die tatsächliche oder mutmaßliche Zugehörigkeit des Opfers zu einem Mitglied dieser bestimmten Gruppe, z. B. durch eine persönliche Beziehung, einer Freundschaft oder Ehe.“49 4.2.4 Der Begriff „Rasse“ in Diskriminierungsverboten Rassismus ist, wie beschrieben, im grund-, menschen- und strafrechtlichen Sinne nicht auf biologistischen Rassismus beschränkt. Sofern in Diskriminierungsverboten im Recht – wie in Artikel 3 Grundgesetz – das Diskriminierungsmerkmal „Rasse“ verwendet wird, ist der Begriff so zu verstehen, dass er sich auf die soziale Konstruktion von Menschengruppen bezieht, die Menschen anhand physischer Merkmale in Kategorien einteilt. „Rasse“ entstand als soziale Konstruktion historisch mit der Herausbildung des Rassismus.50 Das Recht verwendet diese Kategorie mit dem Ziel, eben diesen Rassismus „zu verhindern oder zu beseitigen“ (§ 1 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz). Im Unterschied zu tatsächlichen Eigenschaften (wie Hautfarbe, Haarfarbe oder Sprache), an die rassistische Vorurteile anknüpfen, ist „Rasse“ keine Eigenschaft der von Rassismus betroffenen Menschen, sondern eine sozial- und rechtswissenschaftliche Kategorie, um die rassistische Zuschreibung und Kategorisierung von Menschen zu beschreiben. Die Präambel von ICERD stellt klar, „dass jede Lehre von einer auf Rassenunterschiede gegründeten Überlegenheit wissenschaftlich falsch, moralisch verwerflich sowie sozial ungerecht und gefährlich ist und dass eine Rassendiskriminierung, gleichviel ob in Theorie oder in Praxis, nirgends gerechtfertigt ist.“ Die Verwendung des Begriffs „Rasse“ oder „rassische Gruppe“ in Amtsgericht Berlin (2018): Urteil vom 19.06.2018–422 Ls 32/18. EGMR (2017): Škorjanec gegen Kroatien. 28.03.2017, Beschwerde-Nr. 25536/14. Vgl. die Darstellung der Verbindung von Rassenkonstruktionen und Rassismus bei: Hund (2011): Rassismus. In: Sandkühler, Hans Jörg/ Borchers, Dagmar (Hg.): Enzyklopädie Philosophie. Bd. 3, Hamburg, S. 2191–2200. 30 R AS S IS MU S U N D ST R AFRE CHT Rechtsvorschriften gegen rassistische Diskriminierung und Gewalt impliziert deswegen weder, dass es biologische Rassegruppen und natürliche Rassenunterschiede gibt, noch dass ein aus rassistischen Motiven handelnder Täter solchen biologistischen Rassetheorien anhängen muss.51 So stellt etwa die Hetze gegen die türkeistämmige Bevölkerung Deutschland eine rassistische Diskriminierung dar52 und der Mord an türkeistämmigen Menschen einen rassistischen Mord53, auch wenn es eine türkische Rasse im biologistischen Rassenverständnis nicht gibt.54 Die Völkerrechtlerin Stefanie Schmahl fasst zusammen: „Die Beibehaltung des Begriffs der ‚Rasse‘ im internationalen Menschenrechtsschutz gründet allein auf der Absicht, alle Formen von Rassismus zu erfassen und zu bekämpfen. Gruppenzugehörigkeit im rechtlichen Sinne orientiert sich nicht an genetisch-morphologischen Merkmalen, sondern vornehmlich an der Selbstidentifizierung der Betroffenen und an den [Zuschreibungen] der Mehrheitsgesellschaft.“55 Das Bundesverfassungsgericht distanziert sich von einem naturalisierend-biologistischen Rassebegriff durch die Verwendung von Anführungszeichen.56 In seiner Grundsatzentscheidung zur rückwirkenden Unwirksamkeit der Ausbürgerung jüdischer deutscher Staatsbürger definiert das Gericht „Rasse“ als soziale Konstruktion, zusammengesetzt aus rassischer Fremdeinteilung (Rassialisierung) und daran anknüpfender Diskriminierungsgefährdung: „Diese Norm […] knüpfte allein an ein ‚rassisches‘ Merkmal an und traf zunächst vornehmlich diejenigen, denen es gelungen war, unter Gefahr für Leib 51 52 53 54 55 56 57 58 59 und Leben der nationalsozialistischen Tyrannis zu entrinnen. [Sie kann] nur richtig beurteilt werden, wenn sie im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Rassengesetzgebung und dem politischen Ziel des Nationalsozialismus, das deutsche und europäische Judentum auszurotten, gesehen wird. […]“57 Im Strafrecht kommt die Überzeugung, dass es dem Recht nicht um die Bestimmungen von „Rassen“, sondern um den Schutz vor Rassismus geht, bereits in der Formulierung „rassistische [Beweggründe und Ziele]“ in § 46 Abs. 2 StGB zum Ausdruck.58 Auch im Kontext der Volksverhetzung ist das Verbot der Aufstachelung zum Hass gegen eine „rassische Gruppe“ (§ 130 Abs. 1 Nr. 1 StGB) daher als Verbot zu verstehen, „in rassistischer Weise“ zum Hass aufzustacheln. Ob das Opfer einer Straftat „in rassistischer Weise“ beleidigt, verletzt oder getötet wurde, hängt also nicht von einer tatsächlichen als vielmehr von einer zugeschriebenen oder vermuteten Gruppenzugehörigkeit ab. Dafür kann die Selbstidentifikation der betroffenen Person als Indiz herangezogen werden,59 ebenso wie die Haut- und Haarfarbe, die Sprache, die Religion oder nationale Herkunft. 4.3 Tatbezogene rassistische Beweggründe und Tatbestandsmerkmale Nach dem dargestellten Verständnis von Rassismus kommt es für den Nachweis einer rassistischen Tat nicht darauf an, ob die für die Tat verantwortliche Person Anhäng_erin einer gefestigten Rassenideologie ist. Rassistisch sein im So auch die Gesetzesbegründung zu § 1 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, der ebenfalls den Begriff „Rasse“ enthält, BT-Drs. 16/1780, S. 31. Vgl. UN, Committee on the Elimination of Racial Discrimination, TBB/Deutschland. 04.04.2013 Communication Nr. 48/2010. BAW, 08.11.2012–32/2012 (NSU), https://www.generalbundesanwalt.de/de/showpress.php?newsid=460 (abgerufen am 01.11.2018). Anders Tomuschat, Christian (2013): EuGRZ 2013, S. 262–265. Schmahl, Stefanie (2015): Rechtsgutachten über den Umgang mit rassistischen Wahlkampfplakaten der NPD, im Auftrag des BMJV, S. 85 (auch 12, 14). www.bmjv.de/DE/Themen/Menschenrechte/GutachtenWahlwerbung/GutachtenWahlwerbung_node.html Bundesverfassungsgericht (1968): Beschluss vom 14.02.1968. 2 BvR 557/62, BVerfGE 23, 98-113; Bundesverfassungsgericht (1995): Kammerbeschluss vom 13.01.1995 – 1 BvR 205/88 – juris. Bundesverfassungsgericht (1968): Beschluss vom 14.02.1968. 2 BvR 557/62, Rn 26. Vgl. auch die durchgängige Formulierung „rassistische Straftat“ im EU-Rahmenbeschluss 2008/913/JI zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. CERD 22/08/90, General Recommendation VIII, Identification with a particular racial or ethnic group (Art.1 Abs. 1, 4 ICERD). R ASSISMUS UND STR A F R E CHT Sinne des Rechts bedeutet nicht, dass die verantwortliche Person nachweislich ein_e Rassist_in ist oder sein will. Es reicht, dass die beweisbaren Tatumstände ergeben, dass ein objektiver Dritter die Tat als rassistisch i. S.d. grund- und menschenrechtlichen Definition von Rassismus einschätzt. Das gilt sowohl für die Frage einer rassistischen Motivation etwa von Gewalttaten als auch für die Erfüllung des Tatbestands bei Äußerungsdelikten. Die ehemalige oder aktuelle Zugehörigkeit von Beschuldigten/Angeklagten zu einer neonazistischen oder rechtsterroristischen Organisation oder Gruppe ist ein ernstzunehmendes Indiz.60 Weitere Anhaltspunkte, die Ausschlag für die Ermittlungsrichtung geben und in der Beweiswürdigung berücksichtigt werden müssen, sind das Äußern, Zeigen oder Besitzen von Anschauungen, Symbolen oder Materialien nationalsozialistischer Rassenideologie oder anderweitiger rassistischer Überlegenheitsideen. Mögliche Indizien sind szenetypische Kleidung, Tätowierungen, Literatur, Sammelobjekte aus dem Nationalsozialismus, Musik oder rassistischer Bands oder auch der Besuch einschlägig bekannter, von Rechten frequentierter Gaststätten.61 Als Unterstützung zur Einordnung von regionalen und lokalen Gruppierungen und Szenetreffpunkten sollten nicht nur die Verfassungsschutzberichte des Bundes und der Länder, sondern auch Erkenntnisse von Forschungs- sowie Beratungsstellen herangezogen werden. Auch wenn solche Indizien nicht vorliegen, kann es sich um eine strafrechtlich relevante rassistische Gewalthandlung handeln. Für eine rassistische Motivation können auch weitere Umständen 60 61 62 63 64 65 31 sprechen, wie die Opferauswahl (wenn zum Beispiel der überwiegende Teil der im Rahmen eines Tatkomplexes angegriffenen Personen aus Einwanderungsfamilien stammt und damit aus Täterperspektive spezifische hassenswerte Merkmale62 besitzt oder wenn ein aufgrund seiner akzentfreien deutschen Sprache als weiß/deutsch verkanntes Mitglied einer angegriffenen Gruppe von Migranten als Einziger verschont wird63) oder Tatort und Tatzeitpunkt (zum Beispiel Anknüpfen an symbolische historische Tage).64 Auch Täter_innen, die aus bürgerlichen Verhältnissen stammen und sich selbst nicht als rechtsradikal einordnen, können rassistisch motivierte Straftaten begehen. Wenn Beschuldigte als Tatmotiv für einen Brandanschlag auf ein Flüchtlingsheim Ärger, Frust oder subjektive Sicherheitsbedenken angesichts des Zuzugs von Flüchtlingen angeben, schließt das eine rassistische Motivation nicht aus.65 Auch rassistische Hassrede ist nach dem menschenrechtlichen Rassismusverständnis nicht auf Äußerungen oder Darstellungen, die sich an nationalsozialistisches Gedankengut anlehnen, beschränkt. Strafrechtlich relevant ist nach Art. 4 lit. a, lit. b ICERD die Verbreitung aller Ideen, die sich auf die Überlegenheit einer Rasse oder rassistischen Hass gründen oder die zu rassistischer Diskriminierung aufreizen. Nach Auslegung des CERD sind unter strafrechtlich zu verfolgender rassistischer Hassrede zu verstehen: Drohungen oder Anspornen zur Gewalt gegen Personen oder Gruppen, anknüpfend an rassistische Zuschreibungen, nationale oder ethnische Herkunft, Hautfarbe oder Abstammung, sowie Beleidigungen, Bundesgerichtshof (2012): Beschluss vom 10.01.2012–5 StR 490/11, BeckRS 2012, 02552, vorausg. Landgericht Leipzig (2011): Urteil vom 08.07.2011 – 1 Ks 306 Js 51333/10. Ebd. Vgl. Quendt (Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft) (2017): Ist die Mehrfachtötung am OEZ München ein Hassverbrechen? Gutachten über die Mehrfachtötung am 22. Juli 2016 im Auftrag der Landeshauptstadt München. https://: www.idz-jena.de/fileadmin/ user_upload/Gutachten_OEZ_M%C3%BCnchen_MQuent.pdf (abgerufen am 01.11.2018). Siehe Bundesgerichtshof (2012): Beschluss vom 10.01. 2012 – 5 StR 490/11, BeckRS 2012, 02552, Landgericht G Leipzig (2011): Urteil vom 08.07.2011 – 1 Ks 306 Js 51333/10. Vgl. Quendt, Fn 61. Vgl. Müller, Henning (2015): Brandanschlag auf Flüchtlingsfamilie in Altena – ganz ohne politische Motive? https://community.beck. de/2015/10/09/brandanschlag-auf-fl-chtlingsfamilie-in-altena-ganz-ohne-politische-motive; Landgericht Hagen (2016): Urteil vom 12.09.2016 – 31 Ks 1/16. 32 R AS S IS MU S U N D ST R AFRE CHT Verächtlich- und Lächerlichmachen oder Verleumdung von solchen Personen oder Gruppen.66 Der Straftatbestand der Volksverhetzung laut § 130 StGB kann im Lichte menschenrechtlicher Vorgaben also auch durch Tathandlungen erfüllt werden, die über „scharfe“, unmittelbar in Gewaltakte mündende Formen der Aufstachelung zu rassistischem Hass hinausgehen.67 Sowohl nach Artikel 4 lit. a und lit. b ICERD als auch nach Artikel 20 Abs. 2 ICCPR genügt es, dass eine Meinungsäußerung geeignet ist, rassistische Diskriminierung und rassistischen Hass zu verfechten, zu fördern oder dazu aufzureizen („to incite“)68, wobei eine Abwägung mit der Meinungsfreiheit zu erfolgen hat.69 Diese Auslegung ergibt sich auch erstens aus dem EU-Rahmenbeschluss 2008/913/JI zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, zweitens aus dem Übereinkommen des Europarats vom 23. November 2001 über Computerkriminalität (betreffend die Kriminalisierung digitaler Handlungen rassistischer und fremdenfeindlicher Art, Drucksache17/3123) und drittens aus der Rechtsprechung des EGMR, der die Notwendigkeit betont, in demokratischen Gesellschaften alle Meinungsäußerungen zu verfolgen, die rassistischen Hass „verbreiten, bewerben, dazu aufreizen und solchen rechtfertigen.“70 5 Fazit Rassistische Gewalt stellt mit den Worten des EGMR „einen besonderen Affront gegen die Menschenwürde“71 dar. Sie verlangt angesichts ihrer gefährlichen Auswirkungen auf die Betroffenen und auf den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft besondere Aufmerksamkeit und energische Reaktion. Die Änderungen des § 46 Abs. 2 StGB sowie der RiStBV sind vor diesem Hintergrund nicht nur eine Reaktion auf die 66 67 68 69 70 71 Versäumnisse im Umgang mit den Taten des NSU, sie sind auch eine Umsetzung menschenrechtlicher Verpflichtungen. Ihre Botschaft ist eindeutig: Rassistische Straftaten werden von der Justiz effektiv ermittelt und konsequent verfolgt. Von rassistischer Gewalt Betroffene können sich an die Justiz wenden in dem Wissen, dass ihr Interesse an Aufklärung, an Wiederherstellung des Rechtsfriedens durch Strafverfolgung und an diskriminierungssensibler Behandlung gewahrt wird. Diese Postulate in der Praxis umzusetzen, ist eine Herausforderung für Jurist_innen. Es erfordert neben dogmatischer Konsequenz auch Wissen über Erscheinungsweisen des Rassismus und über deren Folgen für die davon betroffenen Menschen. Welche Taten „rassistisch“ sind und welche nicht, dazu gibt es bislang wenig Rechtsprechung. Die grund- und menschenrechtliche Spruchpraxis stellt dazu jedoch, ebenso wie das Strafrecht selbst, Instrumente und Maßstäbe zur Begriffsbestimmung zur Verfügung. Daraus ergibt sich, dass auch Tatkomplexe, in denen keine offene Rassenideologie zutage tritt und keine Indizien für eine rechtsextreme Organisierung der Täter_innen vorliegen, strafrechtlich relevante rassistische Handlungen darstellen können. Wie in anderen Fällen von sogenannter Hassgewalt und Diskriminierung verlangt der Umgang mit rassistischen Taten deshalb besondere Aufmerksamkeit: Indizien müssen gefunden und bewertet und besonders schützenswerte Opfer durch das Verfahren begleitet werden. In Ermittlungsverfahren und auch vor Gericht werden deren spezifische Erfahrungen mit Rassismus oft wenig beachtet, mitunter herrscht keine oder wenig Aufmerksamkeit für Essenzialisierungen und für rassistische Sprache. Für von Rassismus betroffene Menschen ist das deutsche Rechtssystem ein risikoreicher Raum. Eine diskriminierungssensible Rechtsprechung kann das ändern. UN, Committee on the Elimination of Racial Discrimination (2013): General Recommendation No. 35 Combating racist hate speech, CERD/C/GC/35. Vgl. Schmahl (2015), a. a. O.,S. 85 (auch 12, 14). Schmahl (2015), Fn. 54, S. 14 m. w. N. Ausführlich zum Verhältnis von Meinungsfreiheit und Schutz vor rassistischer Diskriminierung vgl. Schmahl, Fn. 54, S. 18 ff. EGMR (1994): Jersild gegen Dänemark. 23.09.1994. Beschwerde Nr. 15890/89 und EGMR (2006): Erbakan gegen Türkei. 06.07.2006. Beschwerde Nr.,59405/00, so auch EGMR (2013): Vona gegen Ungarn. 09.07.2013. Beschwerde Nr. 35943/10. EGMR (2004/2017): Natchova und andere gegen Bulgarien. 26.02.2004/05.04.2017. Beschwerde Nr. 43577/98, 43579/98. WAS IST RASSISMU S? 33 Was ist Rassismus? Eine Begriffsklärung Chandra-Milena Danielzik 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 Es gibt Rassismus, aber keine menschlichen Rassen … Grundstrukturen von rassistischem Denken Wie werden die Anderen zu Anderen gemacht? Rassismus und die Mitte der Gesellschaft Struktureller und institutioneller Rassismus Situative Benachteiligung und strukturelle Diskriminierung Die Modernisierung des Rassismus Rassismus und Gewalt Sprache und Rassismus „Ich bin doch kein Rassist!“ Nichts ist weniger unschuldig, als den Dingen ihren Lauf zu lassen. Was die Sozialwelt hervorgebracht hat, kann die Sozialwelt mit Wissen gerüstet auch wieder abschaffen. Eines jedenfalls ist sicher: Nichts ist weniger unschuldig, als den Dingen einfach ihren Lauf zu lassen. (Pierre Bourdieu, 1997)1 Rassismus ist ein gesellschaftliches Verhältnis und gestaltet all unsere sozialen Beziehungen sowie das Verhältnis zwischen Subjekten und gesellschaftlichen Institutionen, indem es sie strukturiert. Grund- und menschenrechtliche Verbote rassistischer Diskriminierung sind eine Reaktion auf historisch entstandene und gesellschaftlich verwurzelte Ungleichheit und das Resultat sozialer Kämpfe gegen Diskriminierung. Das Strafrecht ist also kein ahistorischer Raum, sondern steht immer im dynamischen Zusammenhang mit gesellschaftlichen Veränderungsprozessen, Diskursen und Ideologien. Nicht zuletzt sind es Justizpraktiker_ innen selbst, welche die Justiz und das Strafrecht 1 33 35 37 38 39 40 41 43 45 45 46 als gesellschaftlichen Raum von Aushandlungen maßgeblich mitgestalten. Das Strafrecht vermag nicht zu erklären, was Rassismus ist und wie dieser funktioniert. Gleichwohl muss es – etwa im Kontext der Anwendung des § 46 Absatz 2 StGB – Rassismus erkennen und bewerten. Dieser Beitrag erläutert und exemplifiziert die Elemente des sozialwissenschaftlichen Verständnisses und bietet somit Hilfestellung, die Konsequenzen für die Rechtsanwendung und die Verfahrungsgestaltung zu reflektieren. 1 Es gibt Rassismus, aber keine menschlichen Rassen … … denn die menschliche genetische Vielfalt tritt nicht entlang jener Kriterien in Erscheinung, über die Menschen in der Regel in unterschiedliche Gruppen eingeteilt werden. Hautfarbe, Augenform Pierre Bourdieu u. a. (Hg) (1997): Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz: UVK, S. 826. 34 WAS IST R AS S I S M US ? und Haarstruktur bilden genetisch gesehen keine Demarkationslinien. Auch wenn diese äußeren Kriterien alltäglich benutzt und bereits über Jahrhunderte hinweg als evidente Markierungen herangezogen werden, stellen die vermeintlichen genetischen Demarkationslinien lediglich ideologische Fiktionen dar. Die Kategorie Rasse ist also eine reine Erfindung des Rassismus, hält sich jedoch hartnäckig als omnipräsenter Orientierungspunkt, um Menschen in Kategorien einzuordnen.2 Selbst die nationale Zugehörigkeit und die vermeintliche kulturelle Prägung einer Person meinen viele Menschen an der wahrgenommenen Hautfarbe oder anderen physischen oder kulturellen Markern ablesen zu können. So wird die beiläufige Frage „Wo kommen Sie her?“ oder sogar „Wo kommen Sie eigentlich her?“ oft unbedarft gestellt. Sie birgt in sich jedoch die Grundannahme, dass es einem Menschen äußerlich anzusehen ist, aus welcher (nationalen) Kultur er kommt, welche soziale Prägung er erfahren hat und welche Werte er vertritt. Menschen werden mit der Frage nach ihrer vermeintlich tatsächlichen Herkunft auf ihren „eigentlichen“ Platz verwiesen, unabhängig davon, wo sich die gefragte Person selbst verortet. Migration und Menschen mit Migrationsgeschichte werden in dieser Denkweise nicht als inhärenter Bestandteil von „Deutschsein“ und der deutschen Geschichte gedacht. People of Color/Schwarzen Menschen in Deutschland wird Zeit ihres Lebens zu verstehen gegeben, dass sie anhand ihrer 2 3 4 5 Körper als nicht zugehörig und als „Nicht-Weiß“ identifiziert werden.3 Während Weiße4 Menschen mit dem Bewusstsein aufwachsen, normal und am richtigen Platz zu sein, wird People of Color/ Schwarzen Menschen bereits in der Kindheit von der Gesellschaft verdeutlicht, dass sie nicht normal, sondern „anders“ seien und offensichtlich nicht dazugehörten. Von klein auf müssen People of Color, die in Deutschland aufwachsen, mit Ausgrenzung und Fremdzuschreibungen umgehen. Rassialisierende Fremdzuschreibungen werden oftmals internalisiert und Teil eines somit deformierten Selbstbildes und Selbstwert; oftmals wird beispielsweise die eigene Hautfarbe als zu dunkel und somit hässlich empfunden, es wird das eigene Können unterbewertet und fehlende Repräsentation und Teilhabe an gesellschaftlichen Sphäre, wie gehobene Berufsfelder, als „normal“ akzeptiert. Dies hat schwerwiegende psychische Folgen für die Betroffenen.5 Sie werden mit der Frage nach ihrer eigentlichen Herkunft ferner immer wieder auf ein Land oder einen Ort verwiesen, den sie vielleicht nicht mal kennen oder mit dem sie etwas gänzlich anderes verbinden als die Fragenden. „Ich war mir immer bewusst, dass ich Schwarz war. Die Leute fragten mich immer, wo ich herkomme […] sie fragen mich wieder und wieder und wieder […] seitdem ich ein Kind bin: ‚Wo kommst du her?‘, Einfach so! […] Sie schauen dich an, und das Erste, was ihnen einfällt, ist zu überprüfen: ‚Wo kommt sie her?‘ Egal, wo du bist: im Bus, auf einer Party, auf der Straße, beim Abendessen oder Bei der rechtlichen Anwendung des Verbots rassistischer Diskriminierung wird immer wieder die Frage gestellt, ob eine bestimmte (zugeschriebene) Gruppenzugehörigkeit als „Rasse“ einzuordnen ist. Damit wird also auf ein naturalistisches Konstrukt menschlicher Rassen zurückgegriffen, um zu entscheiden, ob Rassismus vorliegt. So schreibt etwa Tomuschat, Christian 2013: Der „Fall Sarrazin“ vor dem UN-Rassendiskriminierungsausschuss. In: EuGRZ, S. 262–265: In kritischer Auseinandersetzung mit der Entscheidung des UN-Anti-Rassismus-Ausschusses lehnt Tomuschat die Einordnung des Ausschusses, die Äußerungen Sarrazins seien rassistisch gewesen, unter anderem mit der Begründung ab, dass Türken und Araber nicht „als eine ‚Rasse‘ betrachtet werden“ könnten. „Gehören alle Personen, die nach Deutschland einwandern möchten, einer Rasse an?“ (ebd., 265) fragt Tomuschat weiter. Vgl. Kilmoba, Grada (2006): „Wo kommst du her?“ https://heimatkunde.boell.de/2006/05/01/wo-kommst-du-her (abgerufen am 16.10.18). Es wird die Großschreibweise verwendet, um hervorzuheben, dass der Begriff Weiß nicht eine Farbe beziehungsweise eine objektiv wahrnehmbare Kategorie oder eine Eigenschaft beschreibt. Mit Weiß wird eine dominante gesellschaftliche Position innerhalb eines gesellschaftlichen Verhältnisses benannt. Ähnlich verhält es sich mit Schwarz, nur dass der Begriff Schwarze Menschen eine emanzipatorische Selbstbezeichnung ist. „Nicht-Weiß“ wird in Anführungszeichen gesetzt, da bei dieser Benennung herausgestellt werden muss, dass „Nicht-Weiß“ keine einfache negative Abweichung der Weißen Norm darstellt. Ausführliche Auseinandersetzung mit psychischen und gesundheitlichen Auswirkungen, die Rassismus auf die Betroffenen hat, sowie Zusammenfassungen von Forschungsergebnissen hierzu können der Dokumentation der Fachtagung „Alltagsrassismus und rassistische Diskriminierung Auswirkungen auf die psychische und körperliche Gesundheit“ von 2010 entnommen werden: https://www.elina-marmer.com/wp-content/uploads/2014/02/fachtagung_alltagsrassismus.pdf (abgerufen am 26.11.2018). WAS IST RASSISMU S? 35 im Supermarkt. […] Irgendwie finde ich diese Frage sehr rassistisch und sehr offensiv … weil sie wissen, dass es Schwarze gibt, die Deutsche sind.“6 eine bloße, wertneutrale Kategoriebildung handelt, sondern um ein Diskriminierungs- und Gewaltverhältnis, wird im Folgenden erläutert. Die gestellte Frage umschließt das unhinterfragte Bedürfnis, Schlüsse aus der vermeintlich anderen Herkunft einer Person zu ziehen, auch wenn eine territoriale Verortung faktisch nichts über das Wesen oder die Eigenschaften eines Individuums aussagt.7 Die bekundete Neugier soll ein ganz bestimmtes Verlangen stillen, ein Bedürfnis befriedigen, das es zu hinterfragen gilt.8 Nicht zuletzt deswegen, weil die Biographie und Familiengeschichte einer Person etwas zutiefst Persönliches ist. Eine flüchtige Bekannte danach zu fragen, ob ihre Eltern heterosexuell und verheiratet sind oder getrennt leben, würden beispielsweise viele als unangemessen beschreiben – ebenso wie die aus einer Antwort ad hoc gezogenen Schlüsse und Assoziationen. Um die Funktion und Wirkungsweise von Rassismus verstehen und kritisch reflektieren zu können, ist es wichtig, sich mit seinen grundlegenden Mechanismen vertraut zu machen: Charakteristisch für Rassismus ist, dass auf Grundlage physischer und/oder vermeintlicher kultureller oder religiöser Merkmale (zum Beispiel ein Kopftuch, eine Kippa) beziehungsweise auf Grundlage von Herkunft oder Nationalität Menschen kategorisiert und zu Gruppen zusammengefasst werden – mit der Konsequenz, dass sie nicht mehr als Individuen wahrgenommen und nicht als Individuen behandelt werden. Personen werden zu Repräsentant_innen der ihnen zugeschriebenen Gruppe gemacht, wie etwa „die Flüchtlinge“ oder „die Moslems“. Das bedeutet, dass von der Einzelperson auf die gesamte konstruierte Gruppe geschlossen wird. Ein Beispiel: Wird in den Medien berichtet, „ein Ausländer“, „ein Flüchtling“ oder „ein Moslem“ habe eine Gewalttat begangen, verlangt die Weiß-deutsche Öffentlichkeit von anderen „Ausländern“, anderen „Flüchtlingen“ oder anderen „Moslems“, sich verantwortlich zu zeigen, sich zu distanzieren und sich gegebenenfalls auch zu entschuldigen. Damit wird es zum strukturellen Privileg, als Individuum und Subjekt wahrgenommen zu werden. So wird weder von Weißen Deutschen generell, noch von einzelnen Christen in Deutschland erwartet, sich etwa im Sinne einer verbindlichen christlichen Leitkultur vom deutschen christlichen Fundamentalismus9 und vom sexuellen Missbrauch durch christliche 2 Grundstrukturen von rassistischem Denken „Alle Menschen haben Vorurteile“ heißt es oft – und dies wird als relativierendes Argument ins Feld geführt, wenn auf Rassismus oder andere Diskriminierungsverhältnisse aufmerksam gemacht wird. Vorurteile, so wird gesagt, dienten dazu, die Komplexität des gesellschaftlichen Umfelds zu verarbeiten. Kategorisierungen und Stereotype hätten die Aufgabe, Orientierung zu schaffen, damit eine Person sich selbst in einer Gruppe verorten und somit die eigene Identität bestimmen könne. Inwiefern es sich bei Rassismus aber nicht um 6 7 8 9 Ebd. Es ist deswegen nicht das gleiche, wenn eine Weiße Deutsche im Ausland gefragt wird, wo sie herkommt. Deutschland und Deutschsein ist eine global privilegierte Position. Ebenso hat die Frage „Wo kommen Sie her?“ nicht die gleiche Kontextbedeutung, wenn eine Weiße deutsche Person eine andere Weiße europäische Person fragt. Rassismus vermittelt sich nicht schlicht über Hass und Gewalt, auch vermeintlich „positive“ Attribuierungen oder das als „Interesse“ verpackte kann – insbesondere durch die Exotisierung des Gegenübers – rassistisch sein. Siehe hierzu: Danielzik, Chandra-Milena/Bendix, Daniel (2010): Exotismus. “Get into the mystery …” In: ROSA – Die Zeitschrift für Geschlechterforschung, Nr. 40, 2010, S. 4-7: https:// www.mangoes-and-bullets.org/wp-content/uploads/2015/06/C.-M.-Danielzik-und-D.-Bendix-2010_Exotimus.-Get-into-the-Mystery…Die-Verflechtung-von-Rassismus-und-Sexismus.pdf (abgerufen am 28.10.2018). Der Wissenschaftsjournalist Martin Urban konstatiert einen zunehmenden Fundamentalismus innerhalb der evangelischen Kirche in Deutschland. Vgl. https://www.sueddeutsche.de/panorama/religion-fundamentalisten-gewinnen-in-der-evangelischen-kirche-immer-mehr-einfluss-1.2939174 (abgerufen am 16.10.2018). Die Theologin und Herausgeberin des Sammelbands „Rechtsextremismus als Herausforderung für die Theologie“, Sonja Strube, bezieht sich auf verschiedene Studien, wenn sie feststellt, dass eine gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und rechtsextreme Einstellungen unter Christen überdurchschnittlich vertreten seien (vgl. https://www.katholisch. de/aktuelles/aktuelle-artikel/schockierende-beobachtungen (abgerufen am 16.10.2018). Auch der Konfliktforscher und Soziologe 36 WAS IST R AS S I S M US ? Priester abzugrenzen oder sich von einzelnen – zum Beispiel antisemitischen – Passagen und Auslegungen der Bibel oder von anderen Christen zu distanzieren. Genauso wenig müssen sich Weiße Menschen für schwere Straftaten oder für rassistische beziehungsweise rechtsmotivierte Taten anderer Weißer Menschen öffentlich entschuldigen. Es wird (unausgesprochen) vorausgesetzt, dass sich rassialisierte Menschen mit der von außen an sie herangetragenen Projektion des „anders Aussehens“ identifizieren und damit Aussehen sowie kulturelle Symbole eine objektive und faktische Differenzlinie zu Weißen (Deutschen) bilden würden. Ein zweiter grundlegender Mechanismus von Rassismus ist das sogenannte Othering. Dieser Begriff beschreibt den Prozess, in dem Menschen durch die Konstruktion eines normbildenden Wir zu normabweichenden Anderen gemacht werden. Das „Wir“ und „die Anderen“ wird in das Verhältnis einer binären10, hierarchisierten Gegenüberstellung gesetzt. Das dominante westliche Geschlechtermodell ist beispielsweise binär aufgebaut und kennt lediglich Mann und Frau. Dabei beschreibt die Kategorie Mann alles das, was Frau angeblich nicht ist und vice versa. Ebenso verhält es sich im (alltäglichen) Rassismus, in welchem Weiß oder europäisch all das verkörpert, was die „Nicht-Weißen“ Anderen nicht sind. Geläufige und alltagsgebräuchliche Beispiele einer solchen wertenden Gegenüberstellung zweier Begriffe, die sich jedoch gegenseitig voraussetzen, sind zum Beispiel: entwickelt – unterentwickelt, modern – traditionell, Hochkultur – naturverbunden, normal – behindert, heterosexuell – homosexuell, rational – emotional, zivilisiert – primitiv/wild, Westen – islamische 10 11 Welt, Mittelschicht – Unterschicht, und eben Weiß – Schwarz sowie Mann – Frau. Diese Gegenüberstellungen sind nicht neutral, sondern hierarchisch miteinander verbunden: Während der eine Begriff (zum Beispiel entwickelt, modern, Hochkultur, …) Träger positiver Bedeutung und Bewertung ist, sind die jeweiligen Gegenbegriffe (unterentwickelt, traditionell, naturverbunden, …) unterlegene Attribute, negativ konnotiert und beschreiben diskriminierte Positionen in der Gesellschaft. So ist der Westen, dem sich das Weiß-deutsche „Wir“ zurechnet, entwickelt, modern, zivilisiert, rational, hochkulturell geprägt, etc. Diese positiven Begrifflichkeiten bilden die (erstrebenswerte) Norm, von der das binäre Gegenüber abweicht. Die Anderen werden somit immer als Differenz definiert. Das bedeutet, dass mit der Beschreibung der Anderen immer auch eine implizite oder explizite Selbstkonstruktion und Selbstbeschreibung verbunden ist: „Die ausgeschlossene Gruppe verkörpert das Gegenteil der Tugenden, die die Identitätsgemeinschaft verkörpert. Das heißt also, weil wir rational sind, müssen sie irrational sein, weil wir kultiviert sind, müssen sie primitiv sein, wir haben gelernt, Triebverzicht zu leisten, sie sind Opfer unendlicher Lust und Begierde, wir sind durch den Geist beherrscht, sie können ihren Körper bewegen, wir denken, sie tanzen usw. Jede Eigenschaft ist das umgekehrte Spiegelbild der anderen. Dieses System der Spaltung der Welt in ihre binären Gegensätze ist das fundamentale Charakteristikum des Rassismus, wo immer man ihn findet. […] Rassismus mit seinem System binärer Gegensätze ist ein Versuch, das Andere zu fixieren, an seinem Platz festzuhalten […]. Er ist Teil unserer Selbstdefinition, unserer Definition, zu welcher Gemeinschaft wir gehören…“11 Andreas Zick beschreibt, dass in einer Studie festgestellt werden konnte, „[…] dass tatsächlich christlich gebundene Menschen, die der Meinung sind, dass die christliche Religion die einzig wahre ist und die dominante Religion sein muss, in allen Facetten der Menschenfeindlichkeit höhere Zustimmungen haben im Vergleich zu denen, die sich keiner Konfession zugehörig fühlen“ https://www.katholisch. de/aktuelles/aktuelle-artikel/schockierende-beobachtungen (abgerufen am 16.10.2018). Vgl. auch https://www.br.de/nachricht/ rechtsaussen/christen-rechtsaussen-fundamentalismus-100.html (abgerufen am 16.10.2018) und https://www.nw.de/lokal/bielefeld/ mitte/22136530_Bielefelder-Konfliktforscher-warnt-auch-vor-christlichem-Terror.html (abgerufen am 16.10.2018). Binär bedeutet in der Linguistik, dass ein Ganzes in zwei, einander wechselseitig ausschließende Oppositionen unterteilt ist. Hall, Stuart (2000): Rassismus als ideologischer Diskurs. In: Räthzel, Nora (Hg.): Theorien über Rassismus, Hamburg: Argument Verlag, S. 14. Hervorhebung durch die Autorin. WAS IST RASSISMU S? Was wäre die europäische Moderne ohne die vermeintliche Rückständigkeit anderer Gesellschaften? Was würde Männlichkeit ausmachen, wenn sie nicht alles das wäre, was Frauen und Weiblichkeit nicht ist? Was wären Weiße Menschen, gäbe es keine „Nicht-Weißen“/Schwarzen Menschen und wie würden sich „Nicht-Weiße“/Schwarze Menschen selbst wahrnehmen, gäbe es keine Weißen, wären sie dann trotzdem „Nicht-Weiße“/ Schwarze Menschen? 3 Wie werden die Anderen zu Anderen gemacht? Die Wirkungsweise von Rassismus ist sehr komplex. Um Rassismus erkennen zu können, muss betrachtet werden, auf welche Weise Menschen zu Gruppen zusammengefasst und abgewertet werden. Denn es existiert keine Rassismusschablone, die anzulegen wäre, um zu überprüfen, ob Rassismus vorliegt oder nicht – und all jenes, was nicht abgedeckt wird, wäre schlicht kein Rassismus. Menschen werden auf unterschiedliche Weise rassialisiert. Rassialisierung12 bedeutet, dass Menschen zu Zugehörigen einer Rasse erst gemacht werden. So legt der Begriff den Konstruktionscharakter offen, der sich aus vermeintlich objektiven Merkmalen wie Hautfarbe, Kopftuch oder Augenform ergibt.13 Rassismus tritt quasi als Plural in Erscheinung; man kann von verschiedenen Rassismen sprechen. Beispielsweise werden muslimische Frauen nicht primär über phänotypische Körperlichkeit, sondern über das Tragen eines Kopftuchs oder bestimmter Kleidung zu 12 13 14 37 Anderen gemacht. Anhand solcher Merkmale identifiziert, gehören sie dann nicht zum westlichen Abendland und sind den vermeintlich deutschen Werten fremd (anti-muslimischer Rassismus). Sinti und Roma werden unter anderem als kriminell und ungebildet stigmatisiert und bis zur Verarmung ausgegrenzt und verfolgt (Anti-Romaismus/ Antiziganismus); zudem wird die Verfolgung und Vernichtung von Sinti und Roma im Nationalsozialismus in Deutschland nach wie vor vielfach ignoriert. Afrikanische und arabische Männer werden als sexuell besonders aktiv und aggressiv, die sexuelle Selbstbestimmtheit der Weißen Frau gefährdend und übergriffig konstruiert, während asiatische Männlichkeit eher als verweiblicht und devot wahrgenommen wird. Weiße (deutsche) Frauen hingegen gelten in diesem Kontext als rein, unschuldig und von den sexuellen Übergriffen „Nicht-Weißer“ Männer bedroht, sie gilt es vor der Verunreinigung zu schützen.14 Diese Zuschreibungen und Bilder über rassialisierte Menschen gehören zum gesellschaftlich gängigen Repertoire. Sie sind unterschwellig Teil der Sozialisation und müssen nicht erst durch vorsätzlichen, bewussten Rassismus erzeugt werden. Rassismus ist also mehr als das, was offensichtlich gegen das Diskriminierungsverbot verstößt. Rassialisierende Kategorien und Zuschreibungen sind verinnerlicht und führen zur „Andersbehandlung“ und Benachteiligung. Sie sind von Kindheit an in das Denken und in die Identitäten aller Gesellschaftsmitglieder eingesickert und wirken so bis tief in die Kapillarsysteme der Gesellschaft – auf struktureller Ebene ebenso wie in sozialen Zum Teil werden auch die bedeutungsgleichen Begriffe Rassifizierung oder Rassisierung verwendet. Es wird auch von rassialisierten Menschen gesprochen, wenn „Nicht-Weiße“ Menschen gemeint sind, also Menschen, die rassistisch diskriminiert werden. Ein Phänomen von Weißsein ist, dass Weiße Menschen eben nicht wirkmächtig zu den Anderen gemacht werden. Vielmehr bilden sie die Norm, welcher die Anderen als Abweichungen untergeordnet werden; dabei wird Weißsein ent-nannt. In der Silvesternacht 2015/2016 ereigneten sich am Kölner Hauptbahnhof in großer Anzahl sexuelle Übergriffe und Gewalttaten seitens Gruppen von Männern gegen Frauen. Rassismusanalytische Beiträge, welche auf die mediale politische Debatte eingehen, die im Anschluss entfacht wurde, sind unter anderem hier zu finden: Vgl. Dietze, Gabriela (2016): Ethnosexismus. Sex-Mob-Narrative um die Kölner Silvesternacht. In: Journal for Critical Migration and Border Regime Studies 2 (1). http://movements-journal.org/issues/03. rassismus/10.dietze--ethnosexismus.html (abgerufen am 28.10.2018). Vgl. MiGazin (2016): Ausländer in Köln angegriffen. Vergeltung. http://www.migazin.de/2016/01/12/vergeltung-auslaender-in-koeln-angegriffen/ (aufgerufen 28.10.2018). Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung (2017): „Nach“ Köln ist wie „vor“ Köln. Die Silvesternacht und ihre Folgen: http://www.bpb.de/apuz/239696/ die-silvesternacht-und-ihre-folgen?p=all (aufgerufen am 28.10.2018). Vgl. amnesty international (2017): Massives Racial Profiling durch die Kölner Polizei in der Silvesternacht. Maßnahme muss kritisch aufgearbeitet werde: http://amnesty-polizei.de/massives-racial-profiling-durch-die-koelner-polizei-in-der-silvesternacht-massnahme-muss-kritisch-aufgearbeitet-werden/ (aufgerufen am 28.10.2018). Vgl. Deutschlandfunk (2017): Herrschaft durch Vorurteile. Vergifteter Feminismus: https://www.deutschlandfunk.de/herrschaft-durch-vorurteile-vergifteter-feminismus.1310.de.html?dram:article_id=400904 (aufgerufen am 28.10.2018). 38 WAS IST R AS S I S M US ? Beziehungen und Begegnungen des täglichen Zusammenlebens. Nicht einmal diejenigen, die wissen, dass es keine menschlichen Rassen gibt und die keinesfalls rassistisch denken wollen, sind immun dagegen, Menschen mittels der beschriebenen Mechanismen zu rassialisieren. Es bedarf eines aktiven und selbst-reflexiven Prozesses des Ver-lernens solcher Wahrnehmungsmuster. Ein erster Schritt dazu ist es, sich der eigenen, untergründig rassialisierenden Ressentiments, Denkstrukturen und Affekte bewusst zu werden – nicht zuletzt sind diese die Legitimationsgrundlage diskriminierenden Handelns und ökonomischer Ausbeutung. 4 Rassismus und die Mitte der Gesellschaft Rassismus ist also keine Ausnahmeerscheinung, kein Phänomen, das sich auf vereinzelte neo-nazistische Organisationen oder Individuen beschränkt. In Deutschland und Europa begannen Rassismus und der Antisemitismus und die ideologische Herstellung menschlicher Rassen nicht erst im Januar 1933; sie fanden auch kein Ende mit dem Jahr 1945. Der deutsche Faschismus stützte sich auf bestehende rassistische, koloniale, antisemitische Bilder und rassistische, koloniale, antisemitische Praktiken von Ausbeutung und Vernichtung, die auch nach dem Untergang des Nationalsozialismus weiterbestanden. Diese Traditionslinien und ziehen sich von der Jahrhunderte andauernden antisemitischen Verfolgung über den europäischen Imperialismus und Kolonialismus bis in die Gegenwart. Dennoch wird Rassismus im dominanten Diskurs in Deutschland auf Rechtsextremismus 15 16 17 verengt und historisch auf den Nationalsozialismus reduziert. Ein zu verengtes Verständnis von Rassismus in Deutschland – auch in der deutschen Justiz –, demzufolge das Problem allein mit dem organisierten Rechtsextremismus gleichgesetzt wird, wurde in den vergangenen Jahren von mehreren internationalen Fachgremien kritisiert. Eine davon war die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI), ein Menschenrechtsgremium des Europarats. Laut ECRI führt dieses verengte Verständnis von Rassismus bei Strafverfahren dazu, dass rassistische Tatmotive wenig Berücksichtigung finden und Taten von Personen außerhalb des organisierten rechtsextremen Spektrums nicht adäquat erfasst werden.15 Menschenfeindliche beziehungsweise rassistische Einstellungen sind faktisch nicht nur am sogenannten rechten Rand der deutschen Gesellschaft verortet. Vielmehr können rechtspopulistische Artikulationen als Zuspitzungen dessen verstanden werden, was in einer Gesellschaft denk- und sagbar ist. Dass Ausgrenzung und Hass auf Menschen mit Migrationshintergrund/„NichtWeiße“ nicht bloß bei einer kleinen Minderheit der Deutschen zu finden sind, zeigt eine Langzeitstudie der Universität Leipzig über rechtsextreme und antidemokratische Einstellungen:16 Mehr als jede_r zweite Deutsche (57,8 Prozent)17 hätte Probleme damit, wenn sich Sinti und Roma in ihrer Gegend aufhalten würden. Dass muslimischen Menschen die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden sollte, findet fast jede_r zweite Deutsche (41,4 Prozent), während sich mehr als die Hälfte aller Deutschen „überfremdet“ fühlt. Siehe ECRI (2017): Conclusions on the Implementation of the Recommendations in respect of Germany, subject to interim follow-up 28.2.2017 https://rm.coe.int/interim-follow-up-conclusions-on-germany-5th-monitoring-cycle/16808b568a (abgerufen am 9.10.2018). Die Universität Leipzig führt seit 2002 alle zwei Jahre bevölkerungsrepräsentative Befragungen zu politischen Einstellungen in Deutschland durch. Die sogenannte Mitte-Studie geht auch darauf ein, dass Befürworter_innen von Pegida (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) meist rechtsextreme und islamfeindliche Einstellungen haben und diese unabhängig von Bildungsabschluss oder Haushaltseinkommen sind. Dies widerlegt die Behauptung, Rassismus/Rechtsextremismus wäre ein sogenanntes Unterschichtenphänomen und stünde in zwingendem kausalen Zusammenhang mit finanzieller Not. Vgl. Universität Leipzig (2016): https://www.uni-leipzig.de/ service/kommunikation/medienredaktion/nachrichten.html?ifab_modus=detail&ifab_uid=2d5c4ea4c420170721112446&ifab_id=6655 (abgerufen am 28.10.2018). Die folgenden drei statistischen Angaben sind der Studie „Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland – Die Leipziger ‚Mitte‘-Studien 2016” der Universität Leipzig entnommen. Die angegebenen Werte sind das Ergebnis jener zusammengefassten Antworten, die den genannten Aussagen „eher“ oder „voll und ganz“ zugestimmt haben, vgl. https://www.uni-leipzig.de/ pressedaten/dokumente/dok_20160615154026_34260c0426.pdf (abgerufen am 28.10.2018). WAS IST RASSISMU S? Sinti und Roma neigen zur Kriminalität, sagen 58,5 Prozent der Befragten; bei der Prüfung von Asylanträgen sollte der Staat nicht großzügig sein, sagen 80,9 Prozent. Rassismus überlappt sich und korrespondiert dabei mit anderen Diskriminierungen, aber auch mit Ideologien und (internalisierten) Werten und Haltungen gegenüber dem Staat, der Auslegung von Demokratie18 und in Bezug auf de-privilegierte Menschengruppen. Fast die Hälfte aller befragten Deutschen (49 Prozent) wertet auch Langzeitarbeitslose als Gruppe ab,19 was unter anderem damit im Zusammenhang steht, dass der Wunsch nach und die Vorstellung von individueller Überlegenheit sowie Weiß-deutscher Vorherrschaft – ein Triebmittel des Kolonialismus und Faschismus – in Deutschland auch aus einer vermeintlichen wirtschaftlichen Überlegenheit abgeleitet wird. In diesem Kontext von Begründungsstrategien zur Abwertung von Menschen sowie im Kontext Deutschlands als Gesellschaft mit einer kolonialen und nationalsozialistischen Geschichte, verschwinden Vorstellungen, Ideologien und Werte nicht einfach, sondern suchen sich neue Wege, um sagbar zu bleiben und damit ausgrenzende und ausbeutende Strukturen aufrechtzuerhalten. Je mehr die Grenzen des Sagbaren in der Gesellschaft sich nach rechts verschieben, desto höhere Aufmerksamkeit und Sensibilität ist vonnöten, um rassistische Straftaten zu erkennen – und um zu verstehen, wodurch sie gesellschaftlich ermöglicht werden und welche Verantwortung die Justiz hierbei übernehmen muss. 18 19 20 21 39 5 Struktureller und institutioneller Rassismus Rassismus ist eine Form der Diskriminierung: Menschen, die aufgrund tatsächlicher oder zugeschriebener Merkmale zu Anderen gemacht werden, erfahren Ausschlüsse und Ungleichbehandlung. Sie haben unzureichende soziale, kulturelle und politische Teilhabe- und Gestaltungsmöglichkeiten, welche jedoch das Fundament einer demokratischen und offenen Gesellschaft bilden. Die durch Diskriminierung hergestellte Differenz zwischen Menschen wird interpersonell vermittelt, durch Institutionen praktiziert und strukturell getragen: „Von strukturellem Rassismus spricht man, wenn das gesellschaftliche System mit seinen Rechtsvorstellungen und seinen politischen und ökonomischen Strukturen Ausgrenzungen bewirkt, während der institutionelle Rassismus sich auf Strukturen von Organisationen, eingeschliffene Gewohnheiten, etablierte Wertvorstellungen und bewährte Handlungsmaximen bezieht. Der strukturelle schließt also den institutionellen Rassismus ein.“20 Ein gutes Beispiel für die Analyse von strukturellem und institutionellem Rassismus stellt die Arbeit der britischen Macpherson-Untersuchungskommission zum rassistisch motivierten Mord am Schwarzen Jugendlichen Stephen Lawrence dar. Stephen Lawrence war 1993 von fünf Weißen Jugendlichen an einer Bushaltestelle in London getötet worden. Die Täter wurden jedoch aufgrund eklatanter Versäumnisse der Ermittlungsbehörden, die auf direkte und indirekte rassistische Diskriminierung21 zurückzuführen waren, nicht verurteilt. Mehr als jede_r achte Deutsche stimmte der Aussage zu, dass die Deutschen von Natur aus allen anderen Völkern überlegen sind, und mehr als jede_r neunte Deutsche war der Meinung, Deutschland solle einen Führer haben, der das Land mit starker Hand regiert vgl. https://www.uni-leipzig.de/pressedaten/dokumente/dok_20160615154026_34260c0426.pdf (abgerufen am 28.10.2018). Langzeitstudie der Friedrich-Ebert-Stiftung: „Gespaltene Mitte — feindselige Zustände Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2016“, Erhebungen zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit Vgl. https://www.fes.de/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=11006&token=26af2f2c69f53b6d669a19e9f7e05da7237c0d87 (abgerufen am 28.10.2018). Rommelspacher, Birgit (2011): Was ist eigentlich Rassismus? In: Melter, Claus/Mecheril, Paul (Hg.): Rassismuskritik. Band 1: Rassismustheorie und -forschung. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag, S. 30 (Hervorhebung durch die Autorin). Direkte Diskriminierung meint eine explizite Ungleichbehandlung durch Regelungen und Gesetze. Beispielswiese dann, wenn People of Color nicht in eine Diskothek gelassen werden oder People of Color oder (Weiße) Frauen weniger Gehalt erhalten als männliche Kollegen für die gleiche Arbeit. Indirekte Diskriminierung ist insbesondere Teil von struktureller und institutioneller Diskriminierung. Insbesondere für die Nicht-Betroffenen ist diese selten offensichtlich und dadurch auch schwer nachweisbar, siehe unter anderem Deutsches Institut für Menschenrechte 2012: https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/uploads/tx_commerce/stellungnahme_des_dimr_fuer_die_17_ oeffentliche_anhoerung_der_enquetekommission_migration_u_integration_in_hessen_am_8_juni_2012.pdf (abgerufen am 28.10.2018). 40 WAS IST R AS S I S M US ? Aufgrund zivilgesellschaftlicher Initiativen und Protesten hat die Regierung im Jahr 1997 eine unabhängige Untersuchungskommission eingerichtet. Sie wurde von Sir William Macpherson, einem Richter am Obersten Gerichtshof Großbritanniens, geleitet und legte 1999 ihren Abschlussbericht vor.22 Der Kommission ging es bei ihrer Arbeit nicht um die Identifizierung einzelner Personen in Polizei und Justiz als Rassist_innen, sondern um institutionellen Rassismus der Ermittlungsbehörden und der Strafjustiz, also um die strukturellen Gegebenheiten, die unhinterfragte rassistische Zuschreibungen und Abneigungen ermöglichten und festigten.23 In diesem Sinne beschreibt die Untersuchungskommission institutionellen Rassismus als das „kollektive Versagen einer Organisation, Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, Kultur oder ethnischen Herkunft eine angemessene und professionelle Dienstleistung zu bieten. Er kann in Prozessen, Einstellungen und Verhaltensweisen gesehen und aufgedeckt werden, die durch unwissentliche Vorurteile, Ignoranz und Gedankenlosigkeit zu Diskriminierung führen und durch rassistische Stereotypisierungen […] benachteiligen. Er überdauert aufgrund des Versagens der Organisation, seine Existenz und seine Ursachen offen und in angemessener Weise zur Kenntnis zu nehmen und durch Programme, vorbildliches Handeln und Führungsverhalten anzugehen. Ohne Anerkennung und ein Handeln, um solchen Rassismus zu beseitigen, kann er als Teil des Ethos oder der Kultur der Organisation weit verbreitet sein.“24 22 23 24 6 Situative Benachteiligung und strukturelle Diskriminierung Von Bedeutung ist im Kontext rassistischer Diskriminierung die Unterscheidung zwischen situativer Benachteiligung und struktureller Diskriminierung. Von einer Weißen Person kann beispielsweise in ihrem Kenia-Urlaub bei der Nutzung des Taxis ein höheres Entgelt verlangt werden. Diese Situation kann durchaus als unangenehm erlebt werden, es kann das Gefühl entstehen, für „doof verkauft“ und betrogen worden zu sein – dennoch wäre es nicht zutreffend, sie als rassistische Diskriminierung gegen Weiße Europäer_innen zu beschreiben. Es handelt sich um eine situative, temporäre und individuelle Benachteiligung, die noch dazu unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten insgesamt für die betroffene Person wenig ins Gewicht fallen dürfte. Damit ein gesellschaftliches Diskriminierungsverhältnis gegeben ist, müssten (globale) gesellschaftliche Strukturen in einer Art und Weise gestaltet sein, dass Weiße Menschen als Gruppe immanent benachteiligt wären, was weder global noch innergesellschaftlich der Fall ist. Durch die Ungleichbehandlung erleiden die Betroffenen immaterielle und auch materielle Schäden. Diese Nachteile können ebenso direkt wahrnehmbar sein wie offen rassistische Beschimpfungen. Sie können aber auch subtil sein – was sie nicht weniger wirkmächtig macht, da sie auf die Lebensgestaltung, die zur Verfügung stehenden Entfaltungsressourcen, die Selbstwahrnehmung und die Identität der diskriminierten und diskriminierenden Personen grundlegenden Einfluss nehmen. Für erstere bedeuten sie soziale und gesellschaftliche Exklusion. Vollständiger Bericht in englischer Sprache einzusehen unter Gouvernment UK/Home Office 1999: https://www.gov.uk/government/ publications/the-stephen-lawrence-inquiry, (abgerufen am 24.10.2018). Vgl. auch Büro zur Umsetzung von Gleichbehandlung e. V.: Dossier zum Thema Polizeiliche Untersuchungen bei rassistisch motivierten Straftaten https://bug-ev.org/fileadmin/user_upload/Dossier_zum_Thema_Polizeiliche_Untersuchungen_bei_rassistisch_motivierten_Straftaten.pdf (abgerufen am 24.10.2018). Vgl. Lewicki, Aleksandra (2014): 15 Jahre Macpherson-Bericht: Institutioneller Rassismus in Großbritannien und Deutschland. https:// www.nsu-watch.info/2014/02/15-jahre-macpherson-bericht-institutioneller-rassismus-in-grossbritannien-und-deutschland/ (abgerufen am 24.10.2018). Macpherson_Bericht, zitiert nach Gomolla, Mechthild (2005): Schulentwicklung in der Einwanderungsgesellschaft. Strategien gegen institutionelle Diskriminierung in England, Deutschland und in der Schweiz, Münster: Waxmann Verlag, S. 58. WAS IST RASSISMU S? 7 Die Modernisierung des Rassismus Die Art und Weise, wie sich Rassismus artikuliert, ist von starken Wandlungsprozessen geprägt. Unterschiedliche Ausformungen, die in bestimmen zeitlichen Phasen Konjunktur haben, stehen im Zusammenhang gesellschaftlicher und historische Veränderungen. Rassismus zeigt sich so immer wieder im neuen Gewand, ohne dabei seine grundlegenden Funktionsweisen abzulegen.25 Im Nationalsozialismus dominierte in Deutschland beispielsweise ein vordergründig genetisch-biologistischer Rassismus, gepaart mit einer agrarisch-völkischen Blut-und-Boden-Ideologie, die im Menschheitsverbrechen der Vernichtung der europäischen Juden und der Sinti und Roma mündete. Nach dem zweiten Weltkrieg kam es in Deutschland zu einer Verlagerung hin zu einem Rassismus, der ohne ein explizites Rassekonzept auskam und stattdessen gegensätzliche, national oder „völkisch“ unvereinbare Kulturen postulierte. Dass es zur Rassialisierung von Menschen nicht immer primär äußerer Unterscheidungsmerkmale bedarf, um Unterdrückung, Ausbeutung und Vernichtung zu legitimieren, zeigt auch der Antisemitismus und der deutsche Faschismus. Dadurch, dass Rassismus immer wieder neue Formen annimmt und auf unterschiedliche Arten rationalisiert und plausibel gemacht wird, konnte er über die Jahrhunderte hinweg Bestand haben. Eine Form des Rassismus löst eine andere jedoch nicht einfach ab. Kultur, evolutionistisches Fortschritts- und Entwicklungsdenken, Religion, Biologie und phänotypische Differenzlinien wirkten im europäischen Rassismus, welcher durch Kolonialismus und Imperialismus globalisiert wurde, immer schon zusammen.26 Durch den Nationalsozialismus 25 26 27 41 ist der Begriff „Rasse“ in Deutschland weitestgehend diskreditiert worden. Dies hat den Effekt, dass Rassismus externalisiert wird; sei es als abwälzende Projektion auf andere Gesellschaften27 oder sogar auf abtrünnige Einzelne in der eigenen Gesellschaft (wie organisierte Neo-Nazis). Eine weitere Externalisierungsstrategie besteht darin, Rassismus auf den Nationalsozialismus zu reduzieren, der als abgeschlossene Vergangenheit sozusagen im Museum entsorgt wird. Weder die Tatsache, dass der Begriff „Rasse“ in Deutschland nach dem Nationalsozialismus mit einem Tabu belegt war, noch die naturwissenschaftliche Widerlegung der Rassentheorien hat dazu geführt, dass es keinen Rassismus mehr gibt. Im Gegenteil: Modifizierte Formen des Rassismus werden gerade dadurch wirksam, dass Rassismus nicht thematisiert und schlicht geleugnet wird. Es gibt manchmal mehr Empörung gegen jene Menschen, die Rassismus anprangern und benennen, als gegen Rassismus selbst. Dies ist Teil von strukturellem Rassismus. Ein verantwortungsvoller Umgang damit kann sich also nicht auf das Erinnern an den Nationalsozialismus beschränken, sondern muss die (ideologischen) Kontinuitäten von Nationalsozialismus und Kolonialismus in der Gegenwart in den Blick nehmen. Es hat sich, wie oben beschrieben, also nur die Ausdrucksform des Rassismus geändert, sozusagen die Bildoberfläche. Heute ist oftmals statt von unterschiedlichen biologisch-genetischen Rassen von unterschiedlichen Kulturen die Rede. Wir sprechen darum vom sogenannten Neo-Rassismus oder auch Kulturalismus. Letzteres soll die Platzhalterfunktion des Begriffs Kultur für den Begriff Rasse herausstellen. In ihrer Verwendung weisen beide Konzepte, Rasse und Kultur, weitestgehend „[Im Kolonialismus wurde] die Schwarze Bevölkerung als „primitiv“ und „unzivilisiert“ deklariert, um ihre Ausbeutung und Versklavung zu rechtfertigen. Eine solche Legitimation war vor allem deshalb geboten, weil die Zeit der kolonialen Eroberungen auch die Zeit der bürgerlichen Revolutionen und der Deklaration der Menschenrechte war. Das heißt die Europäer mussten eine Erklärung dafür finden, warum sie einem großen Teil der Erdbevölkerung den Status des Menschseins absprachen, obwohl sie doch gerade alle Menschen zu freien und gleichen erklärt hatten. Insofern kann Rassismus als eine Legitimationslegende verstanden werden, die die Tatsache der Ungleichbehandlung von Menschen „rational“ zu erklären versucht, obgleich die Gesellschaft von der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen ausgeht. Vgl. Rommelspacher, Birgit (2011): Was ist eigentlich Rassismus? In: Melter, Claus/Mecheril, Paul (Hg.): Rassismuskritik. Band 1: Rassismustheorie und -forschung. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag, S. 25–38. Vgl. Hund, Wulf D. (2007): Rassismus, Bielefeld: transcript Verlag, S. 6–8. Etwa das frühere Apartheidregime in Südafrika oder die USA in den Zeiten der „racial segregation“ oder sogar „der Osten“ Deutschlands: das seien Beispiele für „wahren“ Rassismus, alles andere sei nicht wirklich rassistisch. 42 WAS IST R AS S I S M US ? den gleichen Bedeutungsradius auf: Menschen werden zu einer Gruppe zusammengefasst, in welche sie vermeintlich hineingeboren werden.28 Diese Gruppe ist als Entität von anderen abgegrenzt und in sich homogen; die Zugehörigkeit zu ihr hängt nicht von der Entscheidung einer Person ab, sondern wird gegebenenfalls phänotypisch und anhand von vermeintlich kulturellen Markern bestimmt. Kulturelle Eigenschaften werden also naturalisiert.29 Ebenso verhält es sich mit dem Begriff Ethnie. Die Bedeutungsüberschneidung mit dem Konzept der Menschenrasse wird an der Definition von Ethnie im deutschen Duden deutlich. Hier wird eine Ethnie als „Menschengruppe (insbesondere Stamm oder Volk) mit einheitlicher Kultur“30 definiert, wobei die Einheitlichkeit der Kultur vorausgesetzt ist und schließlich wieder zum Platzhalter von Rasse wird. Menschen innerhalb eines Strafverfahrens als „einer ethnischen Gruppe zugehörig“ oder „mit anderer ethnischer Herkunft“ zu beschreiben, reproduziert rassistisches Denken und ist auch deshalb bedenklich, da keine Kultur einheitlich ist. Insbesondere wenn Opfer oder Täter_innen bereits länger in Deutschland leben oder sozialisiert worden sind, kann schwerlich eine „andere einheitliche Kultur“ unterstellt werden, die sich in Abgrenzung zur vermeintlich „reinen deutschen“ Kultur definiert, welche nur von Weißen Deutschen verkörpert wird. Auch die Verwendung des Begriffes Volk ist häufig Ausdruck autoritären und rassistischen Denkens. Im Gegensatz zur eher neutralen Definition von Staatsvolk, das als „die Gesamtheit der durch die Herrschaftsordnung vereinigten Menschen“31 verstanden wird, wird der Begriff Volk ideologisch benutzt. Er bezieht sich nicht auf eine empirische 28 29 30 31 32 Größe wie der Begriff Bevölkerung und benötigt immer ein „Wir“ und „die Anderen“. Die heutige Rede vom „Volk“ ist im historischen Kontext zu betrachten: „[Sie] legt eine spezifisch deutsche Färbung frei. Dieser Volksbegriff hat viel mehr mit den rassistischen Wurzeln des völkischen Denkens gemein, als das neue Staatsbürgerrecht erkennen lässt. Wenn ein Autor wie Thilo Sarrazin ‚Deutschland schafft sich ab‘ titelt, ist diese Behauptung rassisch-eugenisch grundiert. Wenn sich eine Bewegung ‚Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes‘ nennt, ruft sie einen völkisch-rassischen Hintergrund auf […]“32 Sogenannte Neue Rechte nutzen nicht nur die rassische Konnotation von „Volk“, sie bedienen sich auch der inhaltlichen Überschneidung von Rasse und Ethnie. In öffentlichen Darstellungen der eigenen Ideologien und Politiken wird Rasse als Begrifflichkeit aktiv vermieden und stattdessen Ethnie verwendet. Die Funktion des Konzepts Rasse muss somit nicht aufgegeben werden – außer mit Ethnie kann Rasse auch mit Nation und Volk ersetzt werden. Die Neuen Rechten sehen mit ihrem sogenannten Ethnopluralismus nicht die Herkunft von Menschen als zentral an und differenzieren diese auch nicht primär nach genetisch-biologischen Merkmalen, sondern über unterschiedliche Kulturen. Die Grundannahme ist die Unvereinbarkeit verschiedener Kulturen, die gegeneinander abgegrenzt, voreinander geschützt und reingehalten werden sollen: „Unter Ethnopluralismus verstehen wir die Vielfalt der Völker, wie sie sich über Jahrtausende entwickelt hat. […] Es gibt ein Recht auf Verschiedenheit. Jede Ethnie hat das Recht, ihre Kultur, ihre Bräuche und Traditionen, also ihre ethnokulturelle Identität, zu erhalten. Wir treten So erscheint es vielen als auffällig, wenn eine Weiße Deutsche muslimischen Glaubens ein Kopftuch trägt – quasi unnatürlich. Soziale Verhältnisse und rassistisch bedingte Ungleichheiten zu naturalisieren ist ein Mechanismus, der Rassismus Wirkungsmacht verleiht. Naturalisierung bedeutet, dass etwas als „natürlich“, als „Naturgesetz“ und somit als biologisch oder genetisch determiniert betrachtet wird, obwohl es jedoch tatsächlich sozial herbeigeführt wurde. Gesellschaftliche Ordnung und soziale Ungleichheit werden oftmals als aus der „Natur“ entlehnt beschrieben und müssen somit weder erläutert noch infrage gestellt werden. Duden Online (2018): Ethnie https://www.duden.de/rechtschreibung/Ethnie (abgerufen am 10.10.2018). Lemma „Staat“ in: Duden Recht A-Z (2015). Fachlexikon für Studium, Ausbildung und Beruf. 3. Aufl. Berlin: Bibliographisches Institut 2015. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. Zitiert nach: Bundeszentrale für politische Bildung. http://www.bpb. de/nachschlagen/lexika/recht-a-z/22908/staat (abgerufen am 10.10.2018). Decker, Oliver/Kiess, Johannes/Brähler, Elmar (2016): Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland, Gießen: Psychosozial-Verlag, S. 17. WAS IST RASSISMU S? 43 für diesen Erhalt ein, hierzulande und in der Welt. Immer wieder wird der Begriff Ethnopluralismus fälschlicherweise als weltweite Apartheit ausgelegt. Das ist ungefähr so richtig, als wenn man den amerikanischen Ureinwohnern Rassismus vorwerfen wollte, weil sie sich gegen die Landnahme der Europäer wehrten. Ethnopluralismus bedeutet lediglich: bewahren, nicht zerstören; Unterschiede wertschätzen, nicht nivellieren.“33 So liest sich das Verständnis von Kultur und Ethnopluralismus auf der Website der sogenannten Identitäten Bewegung Deutschland, einem seit 2014 bestehendem Ableger der in Frankreich gegründeten rechtsextremen Gruppierung, die sich tendenziell aus jungen, hippen Mitgliedern jenseits des brachialen Erscheinungsbildes von klassischen Neo-Nazis zusammensetzt. ist und sich auf einen (indirekten) mehrheitsgesellschaftlichen Konsens stützt. Konsens in diesem Kontext bedeutet, dass die Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft eine übereinstimmende Meinung zu etwas haben und diese Meinung nicht immer wieder erfragt werden muss, sondern als normal vorausgesetzt werden kann. Und Konsens meint hier auch all das, dem eine Gesellschaft indirekt zustimmt und das sie zulässt (indem sie es nicht verhindert). Das bedeutet, dass Diskriminierung erst dann Wirkungsmacht entfaltet, wenn sie von der Mehrheitsgesellschaft als ausgesprochener und unausgesprochener Konsens getragen wird und strukturell eingebettet ist. Es bedarf einer gesellschaftlichen Machtposition, um Diskriminierung und Rassismus auszuüben und (strukturell) wirksam zu machen. Durch alltagsgebräuchliche Argumentationmuster wird versucht, rassistische und rechte Positionen mehrheitsfähig und unangreifbar zu machen. Hier wird deutlich, dass Wissen und Sensibilität erforderlich sind, um rassistische Grundmuster zu erkennen: Sogar rassismuskritische und antikoloniale Argumentationsfiguren können auf diese Art umfunktioniert werden, um rassistisch zu argumentieren und rassisch-völkische Ideologien anschlussfähig zu machen. Es zeigt sich: Um rechtsextrem oder rassistisch zu wirken, bedarf es keines expliziten Rassebegriffs, keiner offensichtlichen rassistischen Beschimpfung, keiner „Ausländer raus!“-Parolen, keiner Mitgliedschaft in einer rechten Partei oder Organisation, keiner rechten Tatoos, keiner Springerstiefel oder Glatze. Umso dringender ist es, sich aus dem verengten Rassismusverständnis zu lösen, um Rechtsextremismus und auch Alltagsrassismus begegnen zu können. Sowohl Macht als auch Gewalt sind komplexe und abstrakte Begrifflichkeiten, die im Alltagsverständnis oftmals im verengten Sinn gebraucht werden. Gewalt wird dabei als körperlich, unter Umständen auch psychisch, vermittelter Zwang verstanden, der auf Personen oder Personengruppen ausgeübt wird. Eine solche Auffassung von Gewalt berücksichtigt vor allem direkte, sichtbare (und körperlich artikulierte) Gewaltakte, wie sie das Strafrecht etwa als Körperverletzungs- und Tötungsdelikte verfolgt. Um gesellschaftliche Realität und Diskriminierungsverhältnisse beschreiben zu können, muss jedoch der Blick auf weitere Formen von Gewalt gelenkt werden, die nicht zwangsläufig strafrechtlich erfasst werden, die jedoch für Rassismus als Diskriminierungsverhältnis grundlegend sind: Hierbei handelt es sich um strukturelle/institutionelle und sozio-kulturelle/symbolische Macht beziehungsweise Gewalt.34 8 Rassismus und Gewalt Strukturelle Gewalt tritt nicht unmittelbar und situativ vermittelt in Erscheinung, sondern ist eingewoben in das soziale und institutionelle Ordnungssystem einer Gesellschaft und zeigt sich beispielsweise am Zugang zu Ressourcen wie unter anderem zu Bildung, zum Wohnungs- und Der beschriebene Unterschied zwischen situativer Benachteiligung und struktureller Diskriminierung liegt darin begründet, dass Diskriminierung immer ein Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse 33 34 Siehe https://www.identitaere-bewegung.de/faq/was-ist-unter-dem-begriff-ethnopluralismus-zu-verstehen/, (abgerufen am 10.10.2018). Der norwegische Soziologe und Mathematiker Johan Galtung erweiterte den vereinfachten Gewaltbegriff und entwarf ein sogenanntes modellhaftes Gewaltdreieck aus personaler/direkter Gewalt, struktureller Gewalt/indirekter Gewalt und kultureller Gewalt, wobei alle Gewaltformen in Wechselwirkung zueinander stehen. 44 WAS IST R AS S I S M US ? Arbeitsmarkt, zur Gesundheitsversorgung und zur Verwirklichung von Rechten und gesellschaftlicher Teilhabe. Die Beschränkung materieller Ressourcen wird zumeist naturalisiert und nicht als strukturelle Gewalt anerkannt. So mag es quasi natürlich erscheinen, dass abgewertete und schlecht bezahlte Hausarbeit von Frauen, vor allem von migrantischen Frauen, geleistet wird. Es mag auch natürlich erscheinen, dass Kinder von Arbeiter_innen und/oder Migrant_innen wesentlich seltener Universitätsabschlüsse machen und beispielsweise im Jurastudium unterrepräsentiert sind. Die Ursachen dafür nicht zu benennen, trägt bei zur Verstetigung struktureller und institutioneller Macht und gesellschaftlicher Gewaltverhältnisse. Um Rassismus auszuüben, bedarf es Durchsetzungs- und Handlungsmacht. Nur so können rassistische Handlungen, wie zum Beispiel (indirekte) Ausschlüsse aus Institutionen oder von Teilhabe, wirksam werden. Dabei kann Macht als der Radius an Möglichkeiten einer Person oder einer Gruppe verstanden werden, eigene Interessen und Normen durchzusetzen. Diese Durchsetzung kann über physische Gewalt, aber auch über die Ausgestaltung von Gesetzen oder staatlichen Einrichtungen (zum Beispiel ein segregierendes Schulsystem) erfolgen. Auch die Beeinflussung der öffentlichen Meinung und des mehrheitsgesellschaftlichen Konsens gehört zu den Formen, in denen strukturelle Gewalt sich ausdrücken und durchsetzen lässt. Das Verfügen über Kapital oder soziale Netzwerke bestimmt ebenfalls das Ausmaß an gesellschaftlicher Dominanz und Durchsetzungsfähigkeit. Je freier eine bestimmte Person in der Entscheidung und den Möglichkeiten ist, einen angestrebten Zustand herbeizuführen – sei es durch Geld, politischen oder sozio-kulturellen Einfluss oder aus einer gesellschaftlichen Position heraus –, desto mehr Handlungsmacht hat sie. Das Konzept der symbolischen Gewalt35 soll erklären, wie Ideologien, Werte, Normen, die alltäglich wirksam sind, als normal, selbstverständlich und 35 36 plausibel erscheinen und deshalb nicht als Gewalt erlebt und anerkannt werden. Die symbolische Gewalt bleibt daher quasi „unter dem Radar“, formt jedoch das Leben jedes einzelnen Menschen in einer von Ungleichheit geprägten Gesellschaft. Somit ist unter anderem die Glaubwürdigkeit einer Person, die bei Zeug_innenaussagen vor Gericht von besonderer Relevanz ist, eine soziale und symbolische Ressource. So spielen die Kleidung, der Habitus, die Ausdrucksweise, der Beruf, die körperliche Erscheinung, Gender,36 Klasse, und ob eine Person Weiß oder of Color ist, immer eine Rolle. Es handelt sich um sozio-politische Codes, die klare Ab- und Aufwertung vermitteln und automatisch vom Gegenüber registriert und eingeordnet werden. Nicht erst körperliche oder verbale Gewalt gegenüber rassistisch Diskriminierten ist Rassismus. Auch Gefühle, Wahrnehmungen und Haltungen – die einer Person selbst manchmal nicht bewusst sind – bringen die Manifestation von Rassismus in der Gesellschaft bis hin zum Individuum zum Ausdruck. Der Begriff des rassistischen Ressentiments ist hier insofern brauchbar, da dieser die Aufmerksamkeit auf die psychische Dimension und auf latente, unbewusste Aggressionen lenkt. Macht drückt sich auch in der Selbstrepräsentation in der Öffentlichkeit aus. Es handelt sich um die sogenannte Repräsentationsmacht: Wer schafft welches Wissen über wen? Welches Wissen wird als Wahrheit anerkannt, von allen geteilt und somit durchgesetzt? Die Frage danach, wie Menschen in der Gesellschaft repräsentiert werden, das heißt welches Bild von ihnen dominant ist und mit welchen Zuschreibungen sie belegt sind, ist eine Frage nach der Durchsetzung symbolischer Macht. Rassialisierte Menschen schlagen zum Beispiel die Zeitung auf und werden dort vor allem negativ repräsentiert. Sogenannte Jugendliche mit Migrationshintergrund, Menschen afrikanischer Herkunft, muslimische Frauen mit Kopftuch werden als Problem und Gegenstand von Politik dargestellt. Weiße Männer und Frauen hingegen werden als politische Akteur_innen dargestellt, die Dieses Konzept geht auf den französischen Soziologen Pierre Bourdieu zurück. Deutschlandfunk (2017): Witnessing Gender. Von der Grammatik der Zeugenschaft vgl. https://www.deutschlandfunk.de/witnessing-gender-von-der-grammatik-der-zeugenschaft.1184.de.html?dram:article_id=393717 (abgerufen am 10.10.2018). WAS IST RASSISMU S? 45 handeln, das Weltgeschehen lenken und Veränderung herbeiführen. Sie schaffen Arbeitsplätze, sie äußern sich als Expert_innen und können dabei über andere sprechen etc. zu „Ausländern“ gemacht, es wird gleichzeitig auch impliziert, dass sie keine „richtigen Deutschen“ wären – unabhängig von der tatsächlichen Staatsangehörigkeit. 9 Sprache und Rassismus An dem Begriffspaar „arabische Großfamilie“ kann ebenfalls verdeutlicht werden, wie neutrale Worte und Bezeichnungen über ihre Kontextualisierung zu rassistischen Markierungen werden, somit eine gesellschaftliche Funktion einnehmen und nicht länger neutral sind. „Arabische Großfamilie“ als Begriffspaar wird in der Regel nur im Kontext von Drogen-, Banden und Gewaltkriminalität benutzt. Kriminalität wird somit externalisiert: Die Großfamilie wird als arabisch, als anders und eben nicht als deutsch bezeichnet. Sie bildet eine vermeintliche kulturelle Enklave innerhalb der rechtschaffenen Weißen Gesellschaft. Großfamilie deutet dabei auf vermeintlich archaische Familien- und Gesellschaftsstrukturen hin, die dem scheinbar modernen Familienmodell der Kleinfamilie binär gegenüberstehen. Sprache ist Macht. Sie ist nicht nur ein Abbild von Wirklichkeit – ihre Sprache und Begriffe bringen die Wirklichkeit auch hervor und gestalten diese. Wie eine Person benannt wird, nimmt Einfluss auf ihre Identität und Selbstwahrnehmung und setzt sie zu anderen Menschen in ein (hierarchisiertes) Verhältnis. Die Worte Mama oder Papa zum Beispiel tragen einen ganzen gesellschaftlichen Komplex in sich. Ein einziges Wort drückt aus, wie Familie, soziale Beziehungen und Gefühle in der Gesellschaft strukturiert, gelebt und an Normen und Werte gebunden werden. So spiegelt sich auch rassistisches beziehungsweise rassialisierendes Denken als vermeintliche Normalität in unserer Alltagssprache wider. Es setzt Menschen zueinander in Beziehung und weist ihnen so einen Platz in der Gesellschaft zu. Begriffe sind dabei nicht statisch, sondern werden von gesellschaftsdynamischen Veränderungsprozessen immer wieder neu bestimmt. So hat beispielsweise der Begriff „Asylant“ im Kontext von rassistischen Debatten in der deutschen Gesellschaft, insbesondere seit den 1990er Jahren, eine Bedeutungsverschiebung erfahren: Von einer Bezeichnung für eine Person, die das Grundrecht des politischen Asyls in Anspruch nimmt hin zu einem pejorativen Begriff. Schließlich haben auch die Medien von der Verwendung dieser Bezeichnung abgesehen. Ein Begriff ist gewissermaßen die Hülle einer Sache und keinesfalls mit dieser identisch. So können gesellschaftliche Diskriminierungsverhältnisse mit Sprache reproduziert und symbolische und faktische Ausschlüsse vollzogen/ manifestiert werden. Ein anderes Beispiel ist der Begriff „Ausländerhass“, der oftmals synonym mit dem Rassismusbegriff verwendet wird. Er soll Gewalt gegen Menschen verdeutlichen, die aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes abgewertet oder angegriffen werden. In der Strafjustiz wird der Begriff häufig in Zusammenhang mit rassistisch motivierten Straftaten verwendet, wenn das Opfer der Tat nicht als Weiß gesehen wird. Die Betroffenen werden dadurch nicht nur Auch für das Strafverfahren sind diskriminierungssensible Sprache und eine Auseinandersetzung mit dem Bedeutungsraum von Begriffen wichtig. Praktische Hinweise dafür gibt das Glossar im Materialanhang dieses Bandes. 10 „Ich bin doch kein Rassist!“ Gesellschaftliche Sphären und Institutionen, wie Schule, Familie, Justiz, Ehe, Polizei, Kindergärten und Gerichtsverfahren, sind nicht per se diskriminierungsfrei. Vielmehr müssen Institutionen und soziale Räume aktiv diskriminierungssensibel gestaltet werden. Erst die Anerkennung dieser Tatsache ermöglicht Transformation und den Abbau von Rassismus. Hierfür müssen sich Akteur_innen in einem ersten Schritt der omnipräsenten und alltäglichen Möglichkeit rassistischer Diskriminierung bewusst werden und diese für sich und andere sichtbar machen. „Ich bin doch kein Rassist!“, „Ich bin doch kein Nazi!“, sind Abwehrstrategien, um sich gegen Kritik und gegen Bestrebungen zum Abbau rassistischer Diskriminierung zur Wehr zu setzen. Durch solche Beteuerungen wird der Weg geebnet, die strukturelle, institutionelle und alltägliche Gegenwart von Rassismus zu negieren 46 WAS IST R AS S I S M US ? und gleichzeitig zu verstetigen. Um Rassismus zu überwinden, muss dieser zuerst erkannt werden: Wo kein Problem gesehen wird, kann auch keine Lösung gefunden werden. Der Wunsch, nicht rassistisch zu sein, ist nicht deckungsgleich mit der Tatsache, tatsächlich nicht rassistisch zu sein. Rassistische Strukturen können auch unbewusst übernommen und reproduziert werden. Wenn ich mit meinem Ball eine Fensterscheibe meiner Nachbarin zerschlagen würde, ginge es im nächsten Schritt darum, Verantwortung dafür zu übernehmen und den entstandenen Schaden auszugleichen. Denn die Scheibe ist kaputt – unabhängig davon, ob ich sie absichtlich oder versehentlich zerstört habe. Es würde nicht von Verantwortungsbewusstsein zeugen, wenn ich leugne, die Scheibe zerbrochen zu haben, und die Nachbarin voller Empörung als Lügnerin und überempfindlich darstelle, oder mich sogar durch die Unterstellung verletzt zeige und am Ende noch eine Entschuldigung von der Nachbarin einfordere. In Bezug auf Rassismus bedeutet dies, das strukturelle Moment und das darin eingebettete individuelle Handeln anzuerkennen und selbstreflexiv die Möglichkeit, dass etwas gegebenenfalls rassistisch ist beziehungsweise rassistische Strukturen unterstützt, zu beleuchten. 11 Nichts ist weniger unschuldig, als den Dingen ihren Lauf zu lassen. Das eingangs angeführte Zitat des französischen Soziologen Pierre Bordieu impliziert unter anderem, dass es auch eine Handlung ist, wenn wir im Angesicht von Diskriminierung nicht handeln. Es 37 38 zählt zu den strukturellen Privilegien in unserer Gesellschaft, sich nicht mit Rassismus auseinandersetzen zu müssen. Menschen, die rassistisch diskriminiert werden, müssen sich ständig und in zahlreichen alltäglichen Situationen mit dem Rassismus auseinandersetzen, mit dem sie konfrontiert werden. All jene dagegen, die zu den strukturell Bevorteilten zählen, können die Diskriminierung anderer Menschen verleugnen oder schlicht ignorieren. Wenn es in einer Gesellschaft diskriminierte Menschen gibt, gibt es auf der anderen Seite auch immer diejenigen, die davon profitieren.37 Wer sich nicht mit Rassismus auseinandersetzt, wer nicht versucht, sich mit der eigenen Verstricktheit darin zu konfrontieren, wer nicht die eigenen Vorteile, die aus der Diskriminierung anderer entstehen, reflektiert, wer Strukturen und materielle Vorteile38 nicht aktiv umgestaltet, diskriminierte Menschen nicht unterstützt oder zu ihrem Recht verhilft – der unterstützt Diskriminierung und hilft ihr, sich zu verstetigen. Deutschland ist ein demokratischer Rechtsstaat. Das heißt jedoch nicht, dass institutionelle und strukturelle Diskriminierung hier ausgeschlossen ist. Vielmehr bedeutet es, dass das Recht (anders als in autoritären und faschistischen Regimen) gewisse Sicherheiten und Instrumente bereitstellt, um Diskriminierung zu benennen und abzubauen. Dabei betrifft die Aufgabe der aktiven Gestaltung diskriminierungssensibler Institutionen auch die Justiz. Dazu gehört es, die für das Berufsbild von Richter_innen und Staatsanwält_innen so zentrale Neutralität und Unabhängigkeit nicht als gegeben zu betrachten, sondern als etwas, das fortwährend aktiv hergestellt werden muss – auch in der Auseinandersetzung mit dem Rassismus als gesellschaftlichem Verhältnis und mit seinen So schreibt Susan Arndt: „Bei Rassismus handelt es sich […] um eine europäische Denktradition und Ideologie, die ‚Rassen‘ erfand, um die Weiße ‚Rasse‘ mitsamt des Christentums als vermeintlich naturgegebene Norm zu positionieren, eigene Ansprüche auf Herrschaft, Macht und Privilegien zu legitimieren und sie zu sichern. […] [Das] Nicht-Wahrnehmen von Rassismus [ist] ein aktiver Prozess des Verleugnens, der durch das weiße Privileg, sich nicht mit (dem eigenen und/oder kollektiven) Rassismus auseinandersetzen zu müssen, gleichermaßen ermöglicht wie abgesichert wird.“ Arndt, Susan (2011): Rassismus. In: Arndt, Susan/Ofuatey-Alazard, Nadja (Hg.): Wie Rassismus aus Wörtern spricht: (K) Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. Münster: Unrast-Verlag, S. 43. In Deutschland sind die „Lebenschancen der Migrantinnen und Migranten […] wesentlich von der starken tendenziellen Unterschichtung der deutschen Sozialstruktur durch Zuwanderer beeinflusst, das heißt Migranten sind in den unteren Schichten häufiger und in den höheren Schichten seltener platziert als Einheimische.“ Siehe Bundeszentrale für politische Bildung (2014): Sozialer Wandel in Deutschland. Migration und Integration, http://www.bpb.de/izpb/198020/migration-und-integration?p=all, (abgerufen am 22.11.2018). Davon profitieren beispielsweise die deutsche Mittel- und Oberschicht, da sie auf billige Arbeitskräfte und Dienstleistungen zugreifen kann. WAS IST RASSISMU S? Auswirkungen auf eigene Vorannahmen und Überzeugungen. Denn die Justiz ist ein Teil der Gesellschaft. Justizpraktiker_innen, die ihrer Aufgabe nach verpflichtet sind, allen Menschen einen diskriminierungsfreien Zugang zum Recht 47 zu ermöglichen, sollten sich deshalb mit den Grundstrukturen rassialisierenden Denkens auseinandersetzen, um auch Menschen mit Migrationsgeschichte im Verfahren diskriminierungsfrei und rassismussensibel begegnen zu können. 48 U N B EW U S ST E VO RU RT EIL E IM G ER ICH TS SAAL Unbewusste Vorurteile im Gerichtssaal Kathleen Jäger 1 2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 3 4 5 6 Einleitung Was sind unbewusste Vorurteile? Unbewusste und bewusste mentale Prozesse Vorurteile, Stereotypen und Kategorien Die Unbewusstheit von Vorurteilen Unbewusste Vorurteile messen Weitere Messverfahren Wie können sich unbewusste Vorurteile vor Gericht auswirken? Ungünstige Entscheidungsumstände Interventionen Fazit 1 Einleitung Im Gerichtssaal müssen Richter_innen in jedem beliebigen Moment eine Vielzahl von Sinneseindrücken gleichzeitig bewältigen. Bei der Vernehmung einer Zeugin beispielsweise ist die Aufmerksamkeit auf die Aussage an sich gerichtet und ebenso auf nonverbale Signale, gleichzeitig wird das Gesagte mit Informationen zum Sachverhalt verglichen und unter Umständen rechtlich gewürdigt, während weitere Eindrücke – visuelle (der Sitzungssaal, weitere Beteiligte), auditive (Geräusche in und außerhalb des Raumes) und sensorische (Temperatur, Gerüche, körperliche Empfindungen) – wahrgenommen und verarbeitet werden. Um mit dieser überwältigend erscheinenden Menge an Informationen umzugehen, laufen viele Verarbeitungsprozesse unbewusst und unter Rückgriff auf kognitive Schemata und Heuristiken ab. Deren Inhalte sind keineswegs kognitiv biologisch vorgegeben, vielmehr werden sie im Laufe der Sozialisation erlernt und spiegeln gesellschaftliche Machtverhältnisse wider. Zu diesen erlernten kognitiven Schemata 1 2 48 49 49 49 50 50 51 52 53 53 54 gehören die sogenannten unbewussten Vorurteile. Diese sind somit keine „unschuldigen“ Vorurteile. Beispielsweise reproduziert der unbewusste Rückgriff auf rassistisches Wissen im Gerichtssaal strukturellen Rassismus, unabhängig von den individuellen Intentionen der Beteiligten. Die US-amerikanische Rechtswissenschaft beschäftigt sich seit Langem intensiv mit unbewussten Vorurteilen (implicit bias).1 Dies tut sie nicht zuletzt deswegen, weil zahlreiche Studien gravierende Ungleichheiten offenlegen, die deutliche Hinweise auf den Einfluss vor allem rassistischer Vorurteile geben.2 So werden Schwarze Angeklagte für die gleichen Delikte deutlich härter bestraft als weiße Angeklagte. Als eine Maßnahme gegen Ungleichbehandlung aufgrund rassistischer Zuschreibungen wurden in den USA unter anderem Fortbildungsprogramme für die Richterschaft entwickelt, die neben Grundwissen zur kognitiven Funktionsweise unbewusster Vorurteile auch deren Rolle als Baustein struktureller Grundlegend Jolls, Christine/Sunstein, Cass (2006): The law of implicit bias. In: California Law Review 94, S. 969-996. Aus Perspektive eines Richters: Bennett, Mark (2010): Unraveling the gordian knot of implicit bias in jury selection. In: Harvard Law and Policy Review 4, S. 149–170. Siehe zum Beispiel Blair, Irene/Judd, Charles/Chapleau, Kristine (2004): The influence of Afrocentric facial features in criminal sentencing. In: Psychological Science 15, S. 674–679. UNBEW USSTE VORU RTE I LE I M G E R I CHTSSA A L Diskriminierung thematisieren.3 In Deutschland wurden seitens der juristischen Forschung und Praxis unbewusste Vorurteile bislang kaum direkt in den Blick genommen.4 Es finden sich aber zahlreiche Verbindungslinien zu aktuellen Diskussionen, beispielsweise zur Richterethik und zu Forderungen nach einer stärkeren interkulturellen Kompetenz der Richterschaft. Im Folgenden wird eine Einführung in das Themenfeld unbewusster Vorurteile gegeben und dargelegt, an welchen Stellen des gerichtlichen Verfahrens und sonstiger richterlicher Tätigkeit sich unbewusste Vorurteile auswirken können und welche Umstände dies begünstigen. Abschließend werden individuelle und institutionelle Maßnahmen vorgestellt, mit denen der Einfluss unbewusster Vorurteile verhindert oder zumindest verringert werden kann. 49 Langem bekannt. Zur Veranschaulichung wird häufig das Bild zweier kognitiver Systeme verwendet, welche weitgehend unabhängig voneinander operieren.5 Ein System umfasst Prozesse, die automatisch und unbewusst ablaufen. Es liefert beispielsweise die Lösung für einfachste mathematische Aufgaben (1+1) oder erkennt Buchstabenfolgen wie „USA“ oder „BGB“ sofort als Abkürzungen für die Vereinigten Staaten von Amerika und das Bürgerliche Gesetzbuch.6 Auch Tätigkeiten können unbewusst ablaufen, wie zum Beispiel das Betätigen der Kupplung und des Gaspedals beim Autofahren.7 Die mentalen Prozesse dieses Systems werden auch als „schnell“, „intuitiv“, „implizit“ oder „heuristisch“ bezeichnet. Sie sind kognitiv wenig aufwendig.8 Wie der Begriff „unbewusste Vorurteile“ nahelegt, sind zum Verständnis des Konzepts zwei Aspekte relevant: das Konzept unbewusster mentaler Prozesse und das des Vorurteils. Demgegenüber stehen kontrollierte, bewusste kognitive Prozesse. Diese sind beispielsweise aktiv, wenn schwierigere mathematische Aufgaben (17x24) gelöst werden oder die Abkürzung BankFachwPrV9 entschlüsselt wird. Ein Spurwechsel auf einer befahrenen Straße bildet ein Beispiel für eine von dem zweiten System ausgeführte kontrollierte, bewusste Tätigkeit.10 Diese Prozesse werden auch als „langsam“, „reflektiert“, „explizit“ oder „analytisch“ beschrieben und beanspruchen vergleichsweise mehr kognitive Ressourcen.11 2.1 Unbewusste und bewusste mentale Prozesse 2.2 Vorurteile, Stereotypen und Kategorien Dass ein beträchtlicher Teil kognitiver Prozesse unbewusst abläuft, ist in der Psychologie seit Vorurteile sind eine spezielle Form von Einstellungen und bestehen aus einer negativen Bewertung 2 Was sind unbewusste Vorurteile? 3 4 5 6 7 8 9 10 11 Siehe Casey, Pamela u. a. (2012): Helping courts address implicit bias. Ressources for education. National Center for State Courts, S. 6–31. Eine Ausnahme bildet zum Beispiel Zimmer, Mark/Stajcic, Sara (2017): Unbewusste Denkmuster – Sollen Arbeitgeber dagegen mit unconscious bias Trainings vorgehen? In: Neue Zeitschrift Für Arbeitsrecht (16), S. 1040–1046. Zurückgehend auf die Forschung des Wirtschaftsnobelpreisträgers Daniel Kahneman, aufbereitet in: Kahneman, Daniel (2012): Schnelles Denken, langsames Denken. München: Siedler-Verlag. Ebd., S. 21. Vgl. Pendry, Luise (2014): Soziale Kognition. In: Jonas, Klaus/Stroebe, Wolfgang/Hewstone, Miles (Hg.): Sozialpsychologie. Eine Einführung, 6. Auflage, Berlin/Heidelberg: Springer. Evans, Jonathan (2008): Dual-processing accounts of reasoning, judgment, and social cognition. In: Annual Review of Psychology 59, S. 255 (257, 259, 261). Es ist die Verordnung über die Prüfung zum anerkannten Abschluss Geprüfter Bankfachwirt/Geprüfte Bankfachwirtin vom 01. März 2000 (BGBl. I S. 193), zuletzt geändert am 26. März 2014 (BGBl. I S. 274). Vgl. Pendry (2014), Fn. 7, S. 111. Evans (2008), Fn. 8, S. 257. 50 U N B EW U S ST E VO RU RT EIL E IM G ER ICH TS SAAL einer sozialen Gruppe und deren Mitgliedern.12 Vorurteile können als pauschale Bewertung verstanden werden, die sich aus weiteren Komponenten zusammensetzt, unter anderem aus Stereotypen. Stereotype sind „Bilder in unseren Köpfen“, die unser kulturelles, im Laufe der Sozialisation erworbenes „Wissen, unsere Überzeugungen und Erwartungen über eine soziale Gruppe von Menschen“13 enthalten. Vorurteile und Stereotypen betreffen nicht alle Menschen gleichermaßen. Sie bilden Diskriminierungsverhältnisse ab. Rassistische Vorurteile und Stereotypen beispielsweise bestehen nur gegenüber People of Color, nicht gegenüber weißen Menschen. Vorurteile und Stereotypen knüpfen an soziale Kategorien an. Aus psychologischer Sicht sind Kategorien erlernte psychologische Konstrukte, die vor allem kognitiver Effizienz dienen und mit denen eine große Menge an Informationen auf ein verarbeitbares Maß reduziert werden kann. Wenn beispielsweise ein Holzobjekt mit vier Beinen und flacher Oberfläche einfach als „Tisch“ klassifiziert werden kann, kostet dies bedeutend weniger kognitive Ressourcen, als wenn das Objekt einzeln gewürdigt und seine Funktion erst hergeleitet werden müsste.14 Menschen werden, entsprechend gesellschaftlicher Machtverhältnisse, meist entlang äußerlicher Merkmale und sozialem Habitus in Kategorien „geordnet“ und unterschieden. Die Kategorien bestehen unabhängig davon, wie sich eine Person selbst identifiziert und ob sie sich einer bestimmten Kategorie zugehörig fühlt oder nicht. Einige Kategorien sind besonders wirkmächtig: Alter, Hautfarbe und Geschlecht, aber auch soziale Herkunft und sichtbare Behinderungen.15 Die herausragende Bedeutung der genannten Kategorien lässt sich leicht dadurch nachvollziehen, dass es unmöglich erscheint, sich eine Person 12 13 14 15 16 17 ins Gedächtnis zu rufen oder neu wahrzunehmen, ohne zu wissen, wie die Person entlang dieser Kategorien einzuordnen ist.16 2.3 Die Unbewusstheit von Vorurteilen In der Sozialpsychologie wurde lange davon ausgegangen, dass Vorurteile (und Stereotypen) bewusste Gedankeninhalte sind und eine Person dementsprechend bewusst entscheiden kann, ob sie ihren Vorurteilen entsprechend handelt oder, etwa wegen gesellschaftlicher oder gesetzlicher Vorgaben, davon absieht. Neuere Forschung hat offengelegt, dass diese Grundannahmen nicht in allen Fällen zutreffen. Einstellungen, Vorurteile und Stereotypen können auch dem ersten System zuzuordnen sein, sind also nicht immer bewusst zugänglich und können unbewusst Verhalten, Wahrnehmung und Entscheidungsfindung beeinflussen. Vor allem müssen unbewusste und bewusste Vorurteile nicht übereinstimmen. Es ist also möglich, dass eine Person unbewusst von Vorurteilen beeinflusst wird, deren Inhalte sie bewusst nicht gutheißen würde und die ihren sonstigen Wertvorstellungen direkt entgegenstehen können.17 In ihrem Inhalt unterscheiden sich unbewusste und bewusste Vorurteile aber nicht: rassistische Vorurteile, egal ob bewusst oder unbewusst, greifen auf dasselbe rassistische Wissen zurück. 2.4 Unbewusste Vorurteile messen Herkömmliche, sogenannte direkte oder explizite Verfahren zur Erfassung von (bewussten) Vorurteilen, zum Beispiel Fragebögen, sind darauf angewiesen, dass die Versuchspersonen bereit sind, über ihre Vorurteile Auskunft zu geben (und dies nicht aus Gründen sozialer Erwünschtheit vermeiden) und diese Auskunft auch geben können, weil sie bewussten Zugang zu den abgefragten Inhalten haben. Die Erforschung unbewusster Vorurteile Degner, Juliane/Meiser, Thorsten/Rothermund, Klaus (2009): Kognitive und sozial-kognitive Determinanten: Stereotype und Vorurteile. In: Beelmann, Andreas/Jonas, Kai (Hg.): Diskriminierung und Toleranz: Psychologische Grundlagen und Anwendungsperspektiven, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 75 (76). Vgl. Pendry (2014), Fn. 7, S. 111. Freeman, Jonathan/Ambady, Naili (2011): A Dynamic Interactive Theory of Person Construal. In: Psychological Review 118, S. 247. Vgl. Pendry (2014), Fn. 7, S. 112. Degner/Meiser/Rothermund (2009), Fn. 12, S. 80. Kang, Jerry u. a. (2012): Implicit bias in the courtroom. In: UCLA Law Review (59), S. 1124 (1129). UNBEW USSTE VORU RTE I LE I M G E R I CHTSSA A L wurde durch neue, sogenannte indirekte oder implizite, Messverfahren ermöglicht, die nicht mehr auf die Auskunftsbereitschaft und -fähigkeit der Versuchspersonen angewiesen sind.18 Das bekannteste dieser Messverfahren ist der sogenannte Implizite Assoziationstest (IAT). Der IAT ist ein computerbasiertes Verfahren, bei dem die Versuchspersonen verschiedene Stimuli entlang vorgegebener Kategorien zuordnen müssen. Bei einem IAT zur Messung unbewusster Vorurteile gegenüber Menschen türkischer Herkunft (im Vergleich zu „Deutschen“) beispielsweise werden den Versuchspersonen Vornamen wie „Matthias“ und „Ahmed“ (häufig auch Gesichter) angezeigt, die sie mittels zwei Tasten auf der Tastatur (zum Beispiel „S“ mit der linken Hand und „K“ mit der rechten Hand) so schnell wie möglich den Kategorien „deutsch“ und „türkisch“ zuordnen müssen. In einem zweiten Durchgang sind Begriffe (zum Beispiel „Glück“, „Hass“) den Kategorien „positiv“ und „negativ“ zuzuordnen. Anschließend werden die Aufgaben der beiden ersten Blöcke kombiniert, sodass Vornamen und Begriffe mit jeweils der gleichen Taste als „deutsch oder positiv“ oder „türkisch oder negativ“ zugeordnet werden müssen. Später wird diese Kombination umgekehrt. Fällt es einer Versuchsperson leichter – ausweislich kürzerer Reaktionszeiten und geringerer Fehlerzahl – die Stimuli zuzuordnen, wenn „deutsch“ und „positiv“ kombiniert werden und „türkisch“ und „negativ“, wird dies als Indiz für unbewusste Vorurteile gegenüber Menschen türkischer Herkunft gewertet.19 IATs wurden zu verschiedenen sozialen Kategorien und Vorurteilsformen entwickelt, auf Deutsch sind Beispieltests zu „Geschlecht – Karriere“, „dick – dünn“, „Wessi – Ossi“, „jung – alt“ 18 19 20 21 22 51 und „Homosexualität – Heterosexualität“20 verfügbar. Seit der Entwicklung des IAT Ende der 1990er Jahre haben hunderte Forschungsteams in aller Welt Daten von mehreren Millionen abgelegten IATs ausgewertet und das Verfahren in methodischer Hinsicht validiert. Die Daten zeigen eindeutig: Unbewusste Vorurteile und Stereotypen sind weit verbreitet, stark ausgeprägt, weichen häufig ab von bewussten Vorurteilen und vor allem sagen sie Diskriminierungsrealitäten in einer Gesellschaft verlässlich voraus.21 2.5 Weitere Messverfahren Weitere Messverfahren bestätigen die mit dem IAT erlangten Ergebnisse. Ein eindringliches Beispiel bildet die sogenannte Shooter-Task. Bei diesem Verfahren zur Messung unbewusster stereotyper Verknüpfungen zwischen der sozialen Kategorie „Afroamerikaner_innen“ und Waffen müssen Versuchspersonen in der Rolle einer Polizistin oder eines Polizisten binnen einer halben Sekunde entscheiden, ob sie auf eine verdächtige Person schießen oder nicht (und auf eine „Schießen“oder „Nicht schießen“-Taste drücken) – je nachdem, ob die auf einem Foto gezeigte Person eine Waffe oder ein harmloses Objekt (zum Beispiel ein Mobiltelefon) in der Hand hält. Unabhängig davon, ob die Versuchspersonen selbst Schwarz oder weiß sind, erkennen sie eine Waffe schneller, wenn die verdächtige Person Schwarz ist, schießen aber auch eher auf unbewaffnete Schwarze Personen.22 Ähnliche Ergebnisse brachte eine Untersuchung in Deutschland, mit der stereotype Assoziationen zwischen Islam und Terrorismus untersucht wurden. Die Versuchspersonen erkannten Waffen schneller und irrten sich häufiger, wenn Ebd. Gawronski, Bertram (2002): What does the Implicit Association Test measure? A test of the convergent and discriminant validity of prejudice related IATs. In: Experimental Psychology 49 (3), S. 171 (173–174, 180). Diese und weitere Tests sind verfügbar auf der Website des Project Implicit: https://implicit.harvard.edu/implicit/germany/selectatest. jsp (abgerufen am 01.12.2017). Nosek, Brian u. a. (2007): Pervasiveness and Correlates of Implicit Attitudes and Stereotypes. In: European Review of Social Psychology 18 (1), S. 36–88. Online verfügbar unter: http://www.csun.edu/~dma/FPST/consent.html (abgerufen am 01.12.2017). Siehe dazu Correll, James u. a. (2002): The police officer’s dilemma: Using ethnicity to disambiguate potentially threatening individuals. In: Journal of Personality and Social Psychology 83, S. 1314–1329. 52 U N B EW U S ST E VO RU RT EIL E IM G ER ICH TS SAAL die Personen auf den Bildern islamische Kopfbedeckung (Turban und Kopftuch) trugen.23 Auch neurowissenschaftliche Maße werden zur Erforschung unbewusster Vorurteile eingesetzt. So zeigten beispielsweise weiße Versuchspersonen mit ausgeprägten unbewussten rassistischen Vorurteilen bei der Betrachtung eines Fotos eines Schwarzen Mannes eine verstärkte Aktivität der Amygdala im Gehirn, welche negative Emotionen wie Bedrohung, Angst oder Furcht reguliert.24 Solche Befunde zeigen, dass unbewusste Vorurteile auch ein neurologisches Phänomen sind. Gleichzeitig bieten sie aber keine Rechtfertigung dafür, die Existenz und den Einfluss unbewusster Vorurteile tatenlos hinzunehmen. 3 Wie können sich unbewusste Vorurteile vor Gericht auswirken? Unbewusste Vorurteile können Verhalten, Wahrnehmung, Beurteilung und Entscheidungen in vielfältiger Weise beeinflussen. Entsprechende Erkenntnisse sozialpsychologischer Forschung geben Anhaltspunkte dafür, wie sich unbewusste Vorurteile auch vor Gericht auswirken können. Gleichzeitig ist anzumerken, dass Interaktions- und Entscheidungsprozesse vor Gericht hochkomplex und von zahlreichen Akteur_innen (und deren unbewussten Denkmustern) geprägt sind. 23 24 25 26 27 28 29 30 Studien zeigen, dass sich (mit dem IAT gemessene) unbewusste Vorurteile auf nonverbale Kommunikation auswirken, was sich unter anderem in geringerer Sprechzeit, weniger freundlicher Mimik und mehr Sprechverzögerungen („ähm“) und Sprechfehlern äußerte. Eine als unangenehm empfundene Gesprächsatmosphäre kann dazu führen, dass eine befragte Person unsicherer auftritt, was beispielsweise im Kontext von Zeug_innenoder Beschuldigtenvernehmung von Bedeutung erscheint.25 Zweideutiges Verhalten einer Person kann unter dem Einfluss unbewusster Vorurteile unterschiedlich bewertet werden, je nachdem welche sozialen Kategorien präsent sind. So bewerteten Versuchspersonen das gleiche Verhalten negativer, wenn der Akteur für sie „typisch türkisch“ im Gegensatz zu „typisch deutsch“ aussah.26 US-amerikanische Studien zu den Parametern Verurteilungswahrscheinlichkeit27, Strafzumessung28 und Bewährungsentscheidungen zeigen Verzerrungen entlang unbewusster rassistischer Vorurteile.29 Auch außerhalb des Kernbereichs richterlicher Tätigkeit können sich unbewusste Vorurteile auswirken, so zum Beispiel bei Beförderungs- und Personalentscheidungen und der Bewertung von Prüfungsleistungen.30 Unkelbach, Christian u. a. (2009): A shooter bias in Germany against people wearing Muslims headgear. In: International Review of Social Psychology 22 (3), S. 181–202. Phelps, Elizabeth (2000): Performance on indirect measures of race evaluation predicts amygdala activation. In: Journal of Cognitive Neuroscience 12 (5), S. 729–738. Vgl. McConnell, Allen/Leibold, Jill (2001): Relations among the Implicit Association Test, Discriminatory Behavior, and Explicit Measures of Racial Attitudes. In: Journal of Experimental Social Psychology 37, S. 435–442; vgl. Greenwald, Anthony/Hamilton Krieger, Linda (2006): Implicit bias: Scientific foundations. In: California Law Review 94, S. 945 (962). Gawronski, Bertram/Geschke, Daniel/Banse, Rainer (2003): Implicit bias in impression formation: Associations influence the construal of individuating information. In: European Journal of Social Psychology 33, S. 573 (576, 577). Levinson, Justin/Young, Danielle (2010): Different Shades of Bias: Skin Tone, Implicit Racial Bias, and Judgments of Ambiguous Evidence. In: West Virginia Law Review 112, S. 307 (331–338). Blair, Irene et al. (2004), Fn. 2, S. 674 (675); Eberhardt, Jennifer/Purdie-Vaughns, Valerie/Johnson, Sheri (2006): Looking Deathworthy: Perceived Stereotypicality of Black Defendants Predicts Capital-Sentencing Outcomes. In: Psychological Science 17, S. 383–386. Graham, Sandra/Lowery, Brian (2004): Priming unconscious racial stereotypes about adolescent offenders. In: Law & Human Behavior 28, S. 483 (485). Levinson, Justin/Huajian, Cai/Young, Danielle (2010): Guilty by implicit racial bias: The guilty/not guilty Implicit Association Test. In: Ohio State Journal of Criminal Law 415, S. 187 (207). Towfigh, Emanuel/Traxler, Christian/Glöckner, Andreas (2014): Zur Benotung in der Examensvorbereitung und im ersten Examen. In: Zeitschrift die Didaktik der Rechtswissenschaft, S. 8–20. UNBEW USSTE VORU RTE I LE I M G E R I CHTSSA A L 4 Ungünstige Entscheidungsumstände Bislang liegen kaum Studien zu unbewussten Vorurteilen mit Richter_innen als Versuchspersonen vor.31 Die Vermutung, dass Richter_innen keinesfalls gegen den Einfluss unbewusster Vorurteile immun sind, wird verstärkt durch Hinweise, dass einige wesentliche Charakteristika richterlichen Arbeitens den Einfluss unbewusster Vorurteile begünstigen können: die Überzeugung von der eigenen Objektivität, Ambiguität der zu beurteilenden Fakten und Rechtsfragen, Zeitdruck und begrenzte Begründungspflicht. „Ohne Ansehen der Person“ (vgl. § 38 Abs. 1 DRiG) zu urteilen, ist elementarer Teil des richterlichen Selbstverständnisses. Wer sich selbst für besonders objektiv hält, ist Studien zufolge aber eher anfällig für den Einfluss unbewusster Vorurteile.32 53 Rechenschaftspflicht entscheidet.35 Selbstverständlich begründen Richter_innen ihre Entscheidungen im Ganzen. Sie müssen aber nicht über jede Mikroentscheidung und -einschätzung Rechenschaft ablegen, die beispielsweise zum Gesamteindruck einer Zeugin als (un)glaubwürdig führen. Dies wäre auch nicht praktikabel, muss aber als Risikofaktor für den möglichen Einfluss unbewusster Vorurteile anerkannt werden. 5 Interventionen Die beschriebenen Risikofaktoren können den Anschein erwecken, als sei der Einfluss unbewusster Vorurteile vor Gericht fast unvermeidlich, ist doch an den grundsätzlichen Bedingungen richterlichen Arbeitens kaum etwas zu ändern. Es gibt aber eine Reihe von Maßnahmen, die die Justiz als Institution und einzelne Richter_innen ergreifen können.36 Weiterhin kann ein Arbeitsumfeld, das durch Zeitdruck, sehr hohes Arbeitsaufkommen, ein hohes Maß an Verantwortung und weitere potenzielle Stressfaktoren gekennzeichnet ist, den Einfluss unbewusster Vorurteile begünstigen.34 An erster Stelle muss die Informationsvermittlung stehen. Denn nur wer um die Existenz und Wirkungsweise unbewusster Vorurteile weiß, kann sich auch bemühen, ihren Einfluss zu verringern. Neben der Schaffung neuer Fortbildungsformate speziell zum Thema unbewusster Vorurteile, können Informationen dazu auch in bereits bestehende Fortbildungsangebote, beispielsweise zur Vernehmungslehre oder zu interkultureller Kompetenz, aufgenommen werden. Vor allem die Notwendigkeit von Fortbildungen zu interkultureller Kompetenz wird auch aus der Richterschaft betont.37 An den einzelnen Richter_innen liegt es, Fortbildungsangebote wahrzunehmen oder einzufordern und die vermittelten Inhalte zu vertiefen. Schließlich wirken sich unbewusste Vorurteile auch dann eher auf Entscheidungen aus, wenn eine Person allein und ohne unmittelbare Der individuelle Vorsatz, „gerecht zu sein“, ist zur Unterdrückung unbewusster Vorurteile nachweislich ungeeignet und scheint deren Einfluss eher zu Auch wenn die zu beurteilenden Fakten oder rechtlichen Fragen ambivalent sind, wenn Ermessensspielraum besteht, steigt das Risiko, dass sich unbewusste Vorurteile auswirken. Denn entscheidende Personen neigen in den beschriebenen Situationen dazu, fehlende Informationen unbewusst zu füllen, unter Zuhilfenahme von Stereotypen und Vorurteilen.33 31 32 33 34 35 36 37 Siehe aber Rachlinski, Jeffrey u. a. (2009): Does unconscious racial bias affect trial judges? In: Notre Dame Law Review 84, S. 1195–1246. Uhlmann, Eric/Cohen, Geoffrey (2007): “I think It, therefore it’s true”: Effects of self-perceived objectivity on hiring discrimination. In Organizational Behavior & Human Decision Processes 104, S. 207 (210-211). Casey (2012), Fn. 3, Appendix G, S. 3. Ebd., S. 4. Ebd. Ausführlich: Ebd., S. 5–13. Siehe zum Beispiel die Bad Boller Erklärung zur interkulturellen Kompetenz in der deutschen Justiz (2011). Abrufbar unter https://www. neuerichter.de/fileadmin/user_upload/fg_interkulturelle_kommunikation/FG-IK-2011-09-19_Bad_Boll.pdf (abgerufen am 01.12.2017) 54 U N B EW U S ST E VO RU RT EIL E IM G ER ICH TS SAAL begünstigen.38 Ähnliches gilt für Strategien, soziale Kategorien „auszublenden“, damit mit ihnen verbundene Stereotypen und Vorurteile keinen Einfluss zeigen. Das entgegengesetzte Vorgehen, also die bewusste Anerkennung der gesellschaftlichen Relevanz sozialer Kategorien und der mit ihnen verbundenen Ausschließungsmechanismen, verspricht mehr Erfolg. Auch hierfür sind Fortbildungsangebote, wie Diversity- und Anti-BiasTrainings, in denen Richter_innen sich mit den Funktionsweisen von Rassismus, Sexismus, Homophobie und weiteren Diskriminierungsformen auseinandersetzen, ein geeigneter Ansatzpunkt.39 Die Verbesserung belastender Arbeits- und Entscheidungsumstände ist eine weitere Intervention auf institutioneller Ebene. Einzelne Richter_innen können aktiv werden, indem sie sich selbst zu bewusstem, reflektiertem Entscheiden anhalten und in belastenden Situationen hinterfragen, ob unbewusste Vorurteile ihre Entscheidungen beeinflussen.40 Nur mit einer solchen Verpflichtung zu „Gewissenhaftigkeit“ (so die Formulierung einer Arbeitsgruppe zu Richterethik des Deutschen Richterbundes) kann verhindert werden, dass Erledigungsdruck zulasten der Verfahrensbeteiligten geht.41 Als weitere Intervention, die vornehmlich auf institutioneller Ebene anzusiedeln ist, wird die Erhebung von Daten vorgeschlagen. Ohne konkrete Daten können eventuelle Schieflagen zu Lasten von Verfahrensbeteiligten entlang sozialer Kategorien weder offengelegt noch ausgeschlossen werden. Einzelne Richter_innen könnten ihre Entscheidungen entlang sozialer Kategorien verfolgen. 38 39 40 41 42 43 44 Zum Beispiel: Wende ich bei Heranwachsenden mit Migrationshintergrund genauso häufig das Jugendstrafrecht an wie bei Heranwachsenden deutscher Herkunft? Werden vergleichbare Delikte für Täter_innen verschiedener Herkunft ähnlich bestraft? Eine einfache „Strichliste“ genügt, sie muss nicht statistischen Ansprüchen genügen, sondern soll eine objektive Feedback-Schleife schaffen, die ihnen erste Hinweise auf den möglichen Einfluss von Vorurteilen gibt.42 6 Fazit Unbewusste Vorurteile sind nur ein Faktor, der zu Diskriminierung bestimmter sozialer Gruppen im Gerichtssaal beträgt. In Bezug auf Rassismus kann beispielsweise die sehr geringe Zahl an Richter_innen mit Migrationshintergrund dazu führen, dass entsprechende Diskriminierungserfahrungen nicht nachvollzogen werden können und somit Rassismus als Tatmotiv übersehen oder geschilderte Ungleichbehandlung als Lappalie abgetan wird.43 Der hier angebotene knappe Überblick über die Funktionsweise unbewusster Vorurteile zeigt ihren möglichen Einfluss auf richterliche Tätigkeit. Die unbewussten Vorurteilen innewohnende Unabsichtlichkeit entbindet keineswegs von der Verantwortung, gegen ihren Einfluss vorzugehen und diese nicht nur als kognitives Phänomen, sondern als Faktor struktureller Diskriminierung zu sehen. In diesem Sinne ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, dass von Vorurteilen geprägte Entscheidungen gegen den Gleichheitsgrundsatz des Artikels 3 Grundgesetz ebenso wie gegen das Rechtsstaatsprinzip des Artikels 20 Absatz 3 Grundgesetz verstoßen.44 Ausführlich Casey (2012), Fn. 3, S. 8. Vgl. Kang (2012), Fn. 17, S. 1172. Casey (2012), Fn. 3, S. 8–9. Deutscher Richterbund (2012): Richterethik in Deutschland. Thesen zur Diskussion richterlicher und staatsanwaltlicher Berufsethik im Deutschen Richterbund. Abrufbar unter http://www.drb.de/fileadmin/docs/120121_DRB-Diskussionspapier_Richterethik_in_Deutschland.pdf ([abgerufen am 01.12.2017)]. Vgl. Kang (2012), Fn. 17, S. 1178. Payandeh, Mehrdad (2017): Die Sensibilität der Strafjustiz für Rassismus und Diskriminierung. In: Deutsche Richterzeitung (10), S. 14 (16). Vgl. Baer, Susanne (2017): Rechtssoziologie. 3. Auflage, Baden-Baden: Nomos, S. 241. I NTERKULT URELLE KOM P E TE NZ 55 Interkulturelle Kompetenz Voraussetzung für ein faires Verfahren und Zukunftsaufgabe der Justiz Marjam Samadzade 1 2 3 4 5 6 7 Einleitung Interkulturelle Kompetenz Interkulturelle Kommunikation Kollektivistische und individualistische Kulturformen Trauma und Aussageverhalten Einsatz von Dolmetscher_innen Ausblick 1 Einleitung Ein Angehöriger eines der Opfer der Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) schilderte im Rahmen einer Veranstaltung in Hamburg am 4. November 2016 seine Erfahrungen mit den Ermittlungsbehörden und der Justiz. Es war beschämend, wie unsensibel und diskriminierend mit den Betroffenen umgegangen worden war. Der Abschlussbericht des 2. Untersuchungsausschusses des Bundestages zur Terrorzelle NSU1 zeigt, dass es sich hierbei leider nicht um einen Einzelfall gehandelt hat. In dem Bericht findet sich ein Einzelvotum der SPD-Fraktion, in dem es unter anderem heißt: „Strukturelle rassistische Vorurteile waren eine wesentliche Ursache für die fehlende Offenheit der Ermittlungen zu den Morden und Sprengstoffattentaten des NSU“2 Diese eindimensionale – und in den Formulierungen fast schon offen rassistische – Ermittlungs- und Gedankenführung in Richtung „Ausländerkriminalität“, Rotlichtmilieu, Mafia und Rauschgifthandel mit einer unverständlichen Fixierung auf das – in der Regel türkische – „Opferumfeld“, in dem man mit aller Kraft den kriminellen Hintergrund der Taten finden wollte, dieses 1 2 Deutscher Bundestag, Drucksache 17/14600, 22.08.2013. Ebd., S. 877. 55 56 56 57 58 60 62 eindeutige „Versagen“ von Polizeien und Staatsanwaltschaften bei der Aufklärung der Mordserie, kann nicht mehr als bloßer „Zufall“ oder eine Massierung handwerklicher Fehler gewertet werden. Vielmehr ist im Ausschuss eindeutig erkennbar geworden, dass nicht in Frage gestellte Routinen des alltäglichen Betriebs eine wesentliche Ursache für den verengten Blickwinkel gewesen sind. Alle haben „funktioniert“, ohne die Motive ihres Handelns jemals zu reflektieren und zu hinterfragen. „Es geht dabei nicht etwa um eine ‚Blindheit auf dem rechten Auge‘ offen rassistisch veranlagter Polizist_innen, sondern um vorurteilsbehaftete Routinen in der Polizeiarbeit, die Delinquenz bestimmten Personengruppen, Milieus und Ethnien schematisch zuordnen. Es handelt sich um Routinen, die längst nicht mehr der Einwanderungsgesellschaft des 21. Jahrhunderts entsprechen. Bei diesen routinisierten Verdachts- und Vorurteilsstrukturen gegenüber Personen mit Migrationshintergrund wird deutlich, dass es sich nicht um das Fehlverhalten einzelner Beamter mit ‚rechtem Hintergrund‘ handelt, dass dieses Fehlverhalten also nicht intentional, sondern vielmehr strukturell bedingt ist. Selbstverständlich wollten 56 IN T ER K U LT U R EL L E KO MPE T E NZ die unzähligen Sicherheitskräfte, die mit der Mordserie befasst waren, die Fälle aufklären, die Mörder finden und die Mordserie stoppen. Sie waren nur nicht in der Lage, sich selbstreflexiv aus den bestehenden routinisierten, oftmals rassistisch geprägten, Verdachts- und Vorurteilsstrukturen zu befreien. Wo die Mittel zur Reflektion fehlen, greift man eben auf „verbreitete Wissensbestände“ zurück. Es handelt sich um unbewusste Prozesse institutioneller Diskriminierung, die sich in Routinen der Ungleichbehandlung von Minderheiten niederschlugen“.3 Die Erkenntnisse aus dem NSU-Verfahren verdeutlichen, wie wichtig interkulturelle Kompetenz sowohl bei den Ermittlungsbehörden als auch bei der Justiz ist. Die Justiz steht durch die Zuwanderung vor der immer größer werdenden Herausforderung, in gerichtlichen Verfahren Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen gerecht zu werden. In der juristischen Ausbildung wird interkulturelle Kompetenz nicht vermittelt. Kenntnisse in interkultureller Kommunikation sind jedoch für ein faires und effizientes Verfahren erforderlich. Es ist notwendig, unterschiedliche Kultur- und Kommunikationsmuster zu erkennen und zu verstehen, um kulturelle Barrieren zu überwinden. Interkulturelle Kompetenz fordert von Menschen die Bereitschaft, sich in fremde Lebenswelten „einzudenken“. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass das Verstehen von migrations- beziehungsweise kulturspezifischen Prozessen nicht bedeutet, dass man für kulturelle Besonderheiten in der Rechtsprechung Verständnis haben muss. 2 Interkulturelle Kompetenz Interkulturelle Kompetenz ist die Kompetenz, über kulturelle Grenzen hinweg kommunizieren zu können. Diese Kompetenz setzt sich zusammen aus Wissen, Fähigkeiten und Haltungen.4 Man benötigt Wissen etwa über die Herkunftsländer, das politische System, die Rollen von Frauen 3 4 5 und Männern, die Bedeutung der Religion etc. Allerdings kann Allgemeinwissen über ein Land nur erste Anhaltspunkte liefern, eine stereotype Übertragung auf alle Mitglieder verbietet sich. Die Fähigkeit zu Empathie und Selbstreflexion – das Bewusstsein, dass die eigenen Werte und Denkweisen keine Allgemeingültigkeit besitzen, sondern auch andere Deutungen möglich und berechtigt sind – erleichtert die interkulturelle Kommunikation. Auch eine offene, vorurteilsfreie Haltung dem Fremden gegenüber ist zentral. Das Andere gelten lassen, ohne es abzuwerten, aber auch ohne die eigenen Werte aufzugeben. Es geht darum, ein Gleichgewicht zu finden zwischen kultureller Offenheit, aber ohne Abwertung der eigenen Kultur, und kulturellem Selbstbewusstsein, aber ohne eigenkulturelle Überheblichkeit und ohne Vorurteile. Interkulturell kompetent ist eine Person somit dann, wenn sie beim Zusammentreffen mit Menschen aus ihr fremden Kulturen deren spezifische Konzepte der Wahrnehmung, des Denkens, Fühlens und Handelns erfasst und sich ihrer eigenen kulturellen Konzepte bewusst ist.5 Zu beachten ist stets, dass Menschen zwar kulturell geprägt sind, aber nicht darauf reduziert werden sollten. Die jeweiligen unterschiedlichen Aspekte der Persönlichkeit sind weiterhin zu beachten. Menschen sollten daher nicht allein aufgrund ihrer Herkunft generell als „anders“ betrachtet werden. 3 Interkulturelle Kommunikation Interkulturelle Kommunikation bezeichnet die Kommunikation zwischen zwei Personen, die unterschiedlichen Kulturen angehören, wodurch sie unterschiedliche Vorannahmen, Ebd., S. 878 f. Auernheimer, Georg (2005): Interkulturelle Kommunikation und Kompetenz. In: Migration und Soziale Arbeit, 2005 (1), S. 15–22. Barrios, Catarina (2014): Interkulturelle Mediation in Teams mit multinationaler Belegschaft aus Deutschland und Lateinamerika. In: Kumbier, Dagmar/Schulz von Thun, Friedemann (Hg.) (2014): Interkulturelle Kommunikation: Methoden, Modelle, Beispiele. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag, S. 248–310, 257. I NTERKULT URELLE KOM P E TE NZ Glaubensgrundsätze, Werte und Traditionen haben und sie daher anders denken, fühlen und sich verhalten. Jede Gesellschaft hat bestimmte Kulturstandards, die festlegen, wie wir miteinander umgehen, was wir für richtig erachten, was wir wahrnehmen und von anderen erwarten.6 Eigene Kulturstandards werden meist für selbstverständlich gehalten und oftmals nicht als solche erkannt oder reflektiert. Daher werden die Verhaltensweisen von Fremden vor dem Hintergrund der eigenen Kulturstandards und aufgrund von Vorurteilen leicht fehlinterpretiert.7 Kommunikation erfolgt verbal durch das gesprochene Wort, nonverbal durch alle Aspekte der Körpersprache und paraverbal durch die individuellen Stimmeigenschaften und das Sprechverhalten. Die paraverbale Kommunikation beinhaltet die Stimmlage, die Lautstärke, die Betonung einzelner Wörter oder Satzteile, das Sprechtempo und die Sprachmelodie. In der direkten Kommunikation machen non- und paraverbale Aspekte über 90 Prozent der gesamten Botschaft aus. Die jeweilige kulturelle Sozialisation entscheidet darüber, was ich sage, wie ich es sage, welche nonverbalen Signale ich aussende, wie ich das gesprochene Wort meines Gegenübers verstehe und paraverbale und nonverbale Signale deute, die er aussendet.8 Bei Verunsicherung über die richtige Deutung eines Verhaltens oder einer Aussage ist es sinnvoll, anzusprechen, was man wahrgenommen hat, zu beschreiben, wie es wirkt beziehungsweise wie man es verstanden hat, und nachzufragen, ob es so richtig verstanden wurde. Auf diese Weise 6 7 8 9 10 11 12 57 können Missverständnisse auf der Kommunikationsebene leichter ausgeräumt werden, da insbesondere paraverbale und nonverbale Aspekte der Kommunikation kulturell unterschiedlich sind. 4 Kollektivistische und individualistische Kulturformen Forschungen zur interkulturellen Kommunikation haben ergeben, dass sich Kulturen hinsichtlich bestimmter Fragestellungen deutlich unterscheiden.9 Eine dieser Fragestellungen betrifft die Rolle des Individuums in der Gesellschaft und unterscheidet zwischen „Kollektivismus“ und „Individualismus“.10 Viele Verfahrensbeteiligte mit Migrationshintergrund kommen aus sogenannten kollektivistischen Kulturen. Ein Angehöriger dieser Kultur definiert sich hauptsächlich und wesentlich in seiner Zugehörigkeit zu einer größeren Gemeinschaft und richtet sein ganzes Streben auf das Gelingen dieser Gemeinschaft aus.11 In diesen Kulturkreisen sind die Interessen des Individuums denen der Gemeinschaft untergeordnet. Es besteht ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl und eine Einbindung in eine Großfamilie. Eine freie, eigene Meinungsäußerung ist nicht besonders erwünscht. Es gilt, direkte Auseinandersetzungen zu vermeiden, um einen Gesichtsverlust zu verhindern. Die Harmonie innerhalb der Gemeinschaft steht im Vordergrund.12 In individualistischen Kulturen wird dagegen betont, dass der Einzelne in seiner Entfaltung und Selbstverwirklichung, in seinen Grundrechten und Kollermann, Nicole (2014): Spinn ich oder spinnen die? Über den konstruktiven Umgang mit interkulturellen Irritationen. In: Kumbier/ Schulz von Thun (Hg.) (2014), wie Fn. 5, S. 73 f.. Kumbier, Dagmar/Schulz von Thun, Friedemann (2014): Interkulturelle Kommunikation aus kommunikationspsychologischer Perspektive. In: Kumbier/Schulz von Thun (Hg.) (2014), wie Fn. 5, S. 9 f.. Yalcin, Ünal (2011): Interkulturelle Kommunikation im Gerichtssaal. In: Betrifft Justiz, 2011 (107), S. 112. Kumbier/Schulz von Thun (2014), Fn. 7, S. 14. Yalcin (2011), Fn. 8, S. 114 mit Verweis auf Hofstede, Geer/Hofstede, Gert Jan (2009): Lokales Denken, globales Handeln. Interkulturelle Zusammenarbeit und globales Management, 4. Auflage, München: dtv. Kumbier/Schulz von Thun (2014), Fn. 7, S. 14. Vgl. hierzu Menzel, Peter (2000): Zum Umgang mit dem Fremden im Gerichtssaal. In: Betrifft Justiz, 2000 (66), S. 247 ff. 58 IN T ER K U LT U R EL L E KO MPE T E NZ in seiner Würde einen hohen unverletzlichen Wert darstellt.13 Auch in der Kommunikation wirken sich die Unterschiede zwischen individualistischen und kollektivistischen Kulturen aus. Während in individualistischen Kulturen die verbale Kommunikation mit einem expliziten, direkten und rationalen Stil im Vordergrund steht und beim Gegenüber nur wenig gemeinsames Vorwissen vorausgesetzt wird (sogenannte low-context-cultures), kommunizieren Mitglieder kollektivistischer Kulturen eher indirekt, ausführlich und stets um Harmonie und Gesichtswahrung – der eigenen wie auch der des Gegenübers – bedacht und zwar auch auf Kosten der Verständlichkeit (sogenannte high-context-cultures).14 Ein Großteil der eigentlichen Kommunikation ergibt sich aus dem Kontext und dem impliziten Wissen der Beteiligten über kulturspezifische „Verschlüsselungscodes“.15 Kritik wird in Andeutungen verpackt. Es wird davon ausgegangen, dass der andere aus Tonfall, Mimik, Gestik oder Finessen in der Wortwahl schon heraushört, was gemeint ist.16 Jede Gesellschaft möchte, dass ihre Mitglieder die festgelegten Regeln von erlaubtem und unerlaubtem Verhalten einhalten.17 Es ist daher erforderlich, dass die Mitglieder das jeweilige Wertesystem der Gesellschaft verinnerlichen. Dies erfolgt in individualistischen und kollektivistischen Kulturen auf unterschiedliche Art. Individualistische Kulturen sind sogenannte Schuldkulturen. In einer Schuldkultur herrschen allgemeingültige, staatliche Rechtsnormen, die – unabhängig von der näheren sozialen Umgebung – ständige Wirkung haben. Werden sie vom 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 Einzelnen verletzt, so befürchtet dieser, bestraft zu werden, und fühlt bei der Übertretung der Normen „Schuld“.18 Kollektivistische Kulturen sind sogenannte Schamkulturen. Scham fühlt ein Mitglied einer kollektivistischen Gesellschaft dann, wenn sein Fehlverhalten innerhalb der eigenen Gruppe wahrgenommen und sanktioniert wird.19 Im Vordergrund steht die Angst vor einem sozialen Abstieg innerhalb der eigenen Gruppe durch die Normübertretung. Scham ist daher ein eher situativer Kontrollmechanismus, der nur im sozialen Kontext der eigenen Gruppe von Bedeutung ist.20 Die eigene Gruppe bemüht sich daher, die soziale Kontrolle durch Beobachtung ihrer Mitglieder aufrechtzuerhalten.21 5 Trauma und Aussageverhalten Eine weitere Schwierigkeit im interkulturellen Kontext kann sich durch die Auswirkungen traumatischer Erlebnisse auf das Aussageverhalten im Gerichtssaal ergeben, insbesondere in Asylverfahren.22 Die kriterienorientierte Aussageanalyse, die vom Bundesgerichtshof als Standard für die Glaubhaftigkeitsbegutachtung von Zeug_innen im Rahmen von Sexualstrafverfahren festgelegt wurde, ist nicht ohne Weiteres auf die Aussagen von Flüchtlingen in Asylverfahren anwendbar. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sowie Behörden und einige Verwaltungsgerichte haben lange Zeit mangels anderer Methoden zur Glaubhaftigkeitsprüfung einige dieser Kriterien übernommen, um mit ihrer Hilfe die Angaben der Asylantragsteller Kumbier/Schulz von Thun (2014), Fn. 7, S.14., vgl. hierzu auch Menzel (2010), Fn. 12. Vgl.Yalcin (2011), Fn. 8, S. 114 f. Barrios (2014), Fn. 5, S. 258. Ebd. Menzel (2000), Fn. 12, S. 247 ff. Ebd. Ebd. Ebd. Yalcin (2011), Fn. 8, S. 114. Vgl. hierzu Gierlichs, Hans Wolfgang (2010): Die Überprüfung der Glaubhaftigkeit in aufenthaltsrechtlichen Verfahren. In: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik (ZAR), 2010 (3), S. 102 ff. m. w.N.; Gierlichs, Hans Wolfgang u.a (2005): Grenzen und Möglichkeiten klinischer Gutachten im Ausländerrecht. In: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik (ZAR), 2005 (5), S. 158 ff. m. w.N. I NTERKULT URELLE KOM P E TE NZ zu überprüfen.23 Dabei wurde außer Acht gelassen, dass diese Methode voraussetzt, dass jemand einen Geschehensablauf zusammenhängend ungesteuert erzählt. Dies ist bei fehlenden Sprachkenntnissen und Einsatz von Dolmetscher_innen schwierig und führt unvermeidlich zu Verfälschungen des Mitteilungsstils und des Inhalts. In Strafverfahren liegt meist ein schriftliches Aussageprotokoll in der Muttersprache vor – oder sogar eine videodokumentierte Aussage der Zeug_innen. Zu beachten ist ferner, dass diese Kriterien für Personen aus dem hiesigen Kulturkreis entwickelt wurden. Daher lassen sie sich auf Aussagen von Menschen aus anderen Kulturkreisen mit einem anderen Mitteilungs-, Erlebens- und Beziehungsstil, deren Berichte nur übersetzt vorliegen, nicht Erfolg versprechend anwenden. Die methodisch unverzichtbare Inhaltsanalyse des wörtlichen Berichts über das fragliche Geschehen ist nicht mehr zuverlässig möglich. Das methodische Grundprinzip der Glaubhaftigkeitsbeurteilung ist aufgrund seiner konzeptionellen Verknüpfung mit der strafrechtlichen Unschuldsvermutung nicht ohne Weiteres auf andere Verfahren übertragbar. Die Methode ist nicht darauf fokussiert, eine unglaubhafte Aussage zu erkennen, was jedoch in der Regel Gegenstand von Asylverfahren ist.24 Bestandteile der aussagepsychologischen Methode isoliert zu verwenden führt keineswegs zu sachgerechten Ergebnissen und verkürzt den Rechtsschutz der Asylsuchenden in unzulässiger Weise. In Asylverfahren kommt hinzu, dass einige Asylsuchende unter Posttraumatischen Belastungsstörungen leiden. Sie können häufig krankheitsbedingt nicht „kontrolliert“ über ihr Verfolgungsschicksal berichten.25 Traumastörungen führen neben Gedächtnisstörungen zu weiteren 23 24 25 26 27 28 29 30 31 59 Aussagestörungen – durch Übererregtheit, Nachhallerinnerungen, Vermeiden und Versprachlichungsprobleme.26 Hinzu kommt bei erlebten sexuellen Übergriffen häufig eine so tiefe Scham, dass diese Taten oftmals nicht berichtet werden. Die Glaubhaftigkeit der Berichte dieser Menschen ist somit besonders schwierig zu beurteilen. Neben den dargestellten grundsätzlichen methodischen Problemen muss die aussagebeeinflussende Symptomatik der Traumastörungen berücksichtigt werden.27 Die Posttraumatische Belastungsstörung steht, anders als andere psychiatrische Störungen, in direktem Zusammenhang mit extremen Gewalterfahrungen – entweder als Opfer, als Augenzeuge oder als naher Verwandter von Opfern. Damit erlangt sie für das Asylverfahren eine herausragende Bedeutung.28 Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang, dass es Hinweise auf kulturspezifische Verarbeitungsprozesse für Traumata gibt, die auch andere Symptommuster und Folgeerscheinungen haben können und somit einer kultursensitiven Prüfung bedürfen.29 Die kultursensitive Prüfung der Anwendbarkeit standardisierter rechtspsychologischer Verfahren bei Personen aus fremden Kulturkreisen liegt noch in den Anfängen.30 Es ist daher notwendig, dass medizinische Sachverständige und Gerichte miteinander zusammenarbeiten, um eine Methode zu entwickeln, die die Glaubhaftigkeit der Berichte von geflüchteten Menschen methodisch besser untersucht. Eine Reihe von Erkenntnissen aus der Aussagepsychologie könnte in modifizierter Form als Grundlage für eine Untersuchungsmethode dienen, die aber von medizinischen Sachverständigen anzuwenden wäre.31 Kulturelle Einflüsse sind in den verschiedenen Phasen einer Aussage zu berücksichtigen, da es zahlreiche Hinweise auf kulturabhängige kognitive und emotionale Gierlichs (2010), Fn. 22, S.102. Ebd. Ebd., S. 103 m. w.N. Ebd. Ebd. Ebd. Bliesener, Dr. Thomas/Hänert, Dr. Petra (2018): Glaubhaftigkeitsanalyse bei Personen aus fremden Kulturkreisen. In: Schleswig-Holsteinische Anzeigen, 2018, S. 285, 287 m. w.N. Ebd., S. 287. Vgl. Gierlichs (2010), Fn. 22, S. 104. 60 IN T ER K U LT U R EL L E KO MPE T E NZ Begleitprozesse gibt, die sich beispielsweise bei der Wahrnehmungssteuerung, der Bedeutsamkeitszuschreibung von Ereignissen, der Vertrautheit mit Abläufen in der äußeren Welt oder den kulturellen Gepflogenheiten des interpersonalen Austauschs bemerkbar machen können.32 Diese kulturellen Besonderheiten sind daher im gesamten Begutachtungsprozess von der Gesprächsführung bei der Exploration bis zur Integration und Bewertung der Befunde zu berücksichtigen.33 Kulturspezifische Besonderheiten sind insbesondere bei der Analyse der Aussagekompetenz in der Bewertung der Aussagequalität zu beachten.34 Es ist trotz des „Erledigungsdruckes“ und der besonderen Belastungssituation der Verwaltungsgerichte notwendig, insbesondere die Fälle stark traumatisierter Asylsuchender frühzeitig durch medizinische Sachverständige begutachten zu lassen. Medizinische Gutachten sind somit wichtige Hilfsmittel für die juristische Klärung der Erlebnisfundierung des Vorgetragenen, auch wegen des breiten methodischen Ansatzes, der nonverbale Kommunikation und Verhalten berücksichtigt. Sie liefern eine Diagnose, die gegebenenfalls auf eine Verursachung hinweist, der im gerichtlichen Verfahren im Rahmen der Beweisaufnahme nachzugehen ist.35 6 Einsatz von Dolmetscher_innen Gerichtsdolmetscher_innen sind Teil des Rechtssystems und müssen berücksichtigen, dass jede Interaktion im Gerichtssaal die praktische Durchführung von Rechten und Pflichten beinhaltet. Sie müssen ihre Rolle als neutrale und verschwiegene interkulturelle Vermittler reflektieren und so den der Gerichtssprache nicht mächtigen Fremden in die Lage eines Einheimischen versetzen. Sie 32 33 34 35 36 37 sollten Kenntnis über die Rolle von Richter_innen, Staatsanwält_innen, Rechtsanwält_innen und anderen Verfahrensbeteiligten haben. Unverzichtbar ist ein umfassendes Wissen über das Rechtssystem sowie die Inhalte und Themen des jeweiligen Rechtsgebiets. Dolmetscher_innen müssen die Rechtsterminologie in Ausgangsund Zielsprache beherrschen und sollten mit den jeweiligen Dialekten und Sprachwendungen vertraut sein. Es ist wichtig, dass sie in der Lage sind, die richtige Kommunikationsebene zu finden. Kenntnis über und Verständnis für die kulturelle und intellektuelle Denkweise des Gegenübers sind notwendig für eine gelingende Kommunikation. In Verfahren, in denen auch die Glaubhaftigkeit einer Aussage zu beurteilen ist, sollten die Dolmetscher_innen mit den Grundzügen der Glaubhaftigkeitsanalyse vertraut gemacht werden.36 Es ist in Gerichtsverfahren gelegentlich zu beobachten, dass einige Dolmetscher_innen Diskussionen mit den Vernommenen führen, bevor sie die Verdolmetschung durchführen, wodurch sie ohne Absicht die Aussage beeinflussen. Dieses Phänomen trifft häufig dann auf, wenn spezielle Akzente oder Dialekte nicht bekannt sind, weil dann Missverständnisse entstehen, oder wenn etwa die Antwort des Vernommenen nicht verstanden wurde. Dolmetscher_innen sind vom Gericht darauf hinzuweisen, dass eine derartige Vorgehensweise nicht sachgerecht ist. Vielmehr müssen sie dem Gericht mitteilen, dass sie etwas nicht verstanden haben und diesbezüglich eine Frage an den Vernommenen stellen möchten. Übersetzungsprobleme tauchen immer dann auf, wenn Einheiten der Ausgangssprache nicht durch eine 1:1-Umkodierung in der Zielsprache wiedergegeben werden können, sondern durch lexikalische, grammatikalische und semantische Veränderungen übertragen werden müssen.37 In diesen Fällen müssen Dolmetscher_innen darauf Vgl. Bliesener/Hänert (2018), Fn. 29, S. 289. Ebd. Ebd. Gierlichs (2010), Fn. 22, S. 104. Vgl. Bliesener/Hänert (2018), Fn. 29, S. 290. Kautz, Ulrich (2000): Handbuch Didaktik des Übersetzens und Dolmetschens. München: Goethe Institut, S. 119. I NTERKULT URELLE KOM P E TE NZ hinweisen, dass eine wortgetreue Übersetzung nicht möglich ist.38 Umordnungen in der Reihenfolge des Gesagten, Strukturierungen, Abstraktionen oder Zusammenfassungen sind weitestgehend zu vermeiden.39 Eine Schwierigkeit bei Übersetzungen aus dem Arabischen besteht beispielsweise darin, dass es für ein arabisches Verb verschiedene deutsche Begriffe gibt, die sehr unterschiedliche Bedeutungen haben. Dadurch, dass der Dolmetscher den aus seiner Sicht passenden Begriff auswählt, liegt in der Übersetzung zugleich eine Interpretation. Dolmetscher_innen müssen sich daher ihrer eigenen fachlichen Grenzen bewusst sein, das heißt, sie müssen Sprach- und Kommunikationsschwierigkeiten offenbaren, was leider selten der Fall ist. Die Qualifikationen von Dolmetscher_innen müssen daher dringend verbessert werden. Die Grenze zwischen Übersetzen und Kulturvermittlung ist also fließend. Viele Gesten, Metaphern, Sprichwörter und Handlungen lassen sich nur mit Kenntnis des kulturellen Kontextes erklären.40 Liefert ein_e Dolmetscher_in die kulturelle Bedeutung beziehungsweise Erklärung mit, ist er/ sie als Kultursachverständige_r anzusehen und entsprechend zu vereidigen. Diese vielfältigen Anforderungen an Gerichtsdolmetscher_innen verdeutlichen, dass bundeseinheitliche Qualitätsstandards für die Ausbildung von Gerichtsdolmetscher_innen notwendig sind.41 In Verfahren mit Beteiligung von Dolmetscher_ innen ist es sinnvoll, ausreichend Zeit einzuplanen. Die kognitive Belastungssituation der Dolmetscher_innen ist extrem hoch, sie sind keine „Übersetzungsmaschinen“ und benötigen ausreichend 38 39 40 41 42 61 Pausen, um ihre Konzentrationsfähigkeit zu erhalten.42 Bei der Auswahl von Dolmetscher_innen ist nach Möglichkeit die politische, religiöse, sexuelle und ethnische Zugehörigkeit zu beachten. Störungen in der Kommunikation mit Dolmetscher_innen oder ein erhöhtes Misstrauen gegenüber Dolmetscher_ innen wirken sich auf die Aussage aus. Dolmetscher_innen sollten nach Möglichkeit wortgetreu übersetzen, worauf das Gericht hinweisen sollte. Bei bereits gerichtserfahrenen Dolmetscher_innen kommt es vor, dass diese die Angaben des Vernommenen bereits „protokollreif“ übersetzen und zusammenfassen, wodurch wichtige Informationen verloren gehen. Insbesondere paraverbale Aspekte sind enorm wichtig, das heißt wie etwas gesagt wird, zum Beispiel: Zeitsprünge in der Erzählung, Verwendung des Präsens, obwohl ein Ereignis aus der Vergangenheit geschildert wird, stockende Erzählweise, sprachliche Defizite, andere Ausdrucksweise, erhöhte Muskelspannung bei gewissen Schilderungen als Zeichen von Stress, Bewusstseinsveränderungen, Körpersprache oder Mimik. Diesen non- und paraverbalen Symptomen kommt insbesondere bei Menschen, die ihr Leiden und dessen Verursachung nicht gut versprachlichen können, eine wesentliche Bedeutung zu. Dolmetscher_innen sollten darauf hingewiesen werden, dass sie Verständigungsprobleme unverzüglich dem Gericht mitteilen müssen, da andernfalls ein faires Verfahren nicht gewährleistet werden kann. Die ausländischen Verfahrensbeteiligten werden selten in der Lage sein, die Dolmetscherleistung in der Zielsprache zu überprüfen und fehlerhafte Übersetzungen zu rügen. Vgl. ebd., S. 119. Bliesener/Hänert (2018), Fn. 29, S. 290. Vgl. Kaminski, Andrea/Wenning-Morgenthaler, Martin (2011): Arbeiten mit Dolmetschern – eine kleine Handreichung. In: Betrifft Justiz, 2011 (107), S. 118 f. Die Betrachtung der Dolmetschergesetze der Länder zeigt, dass es keine einheitlichen Ausbildungsstandards oder Prüfungsordnungen gibt. An der Universität Hamburg existiert ein berufsbegleitendes weiterbildendes Studium (Dolmetschen und Übersetzen an Gerichten und Behörden) für ausgebildete Dolmetscher_innen, um sie für die verantwortungsvolle Tätigkeit bei Gerichten und Behörden zu qualifizieren. Die Weiterbildung führt in rechtliche und behördliche Verfahren und Gebiete ein und vermittelt gerichts- und behördenrelevante Dolmetsch- und Übersetzungstechniken. An der Ausbildung sind Praktiker_innen wie beispielsweise Richter_innen sowie Mitarbeitende aus Behörden und der Polizei beteiligt. Vgl. hierzu Kaminski/Wenning-Morgenthaler (2011), Fn. 40, S.120. 62 IN T ER K U LT U R EL L E KO MPE T E NZ 7 Ausblick Der Erwerb interkultureller Kompetenz ist eine wesentliche Zukunftsaufgabe der Justiz. Interkulturelle Kompetenz ist nicht angeboren, auch nicht bei Menschen, die selbst einen Migrationshintergrund haben. Vielmehr kann und sollte sie erworben werden. Die Integration von Menschen, die aus kulturell und religiös anders geprägten Ländern nach Deutschland kommen, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Sie kann nicht einseitig erfolgen, sondern erfordert Respekt und Veränderungsbereitschaft auch auf Seiten der einheimischen Bevölkerung und ihrer Institutionen. Wir können nicht von den zu uns gekommenen Menschen erwarten, dass sie die deutsche Sprache erlernen, die rechtsstaatlichen Regeln beachten und sich integrieren, wenn wir nicht unseren Anteil leisten und in der Lage sind, mit ihnen im Rahmen von gerichtlichen Verfahren angemessen zu kommunizieren und ihnen gerichtliche Entscheidungen verständlich zu machen. Migrationsund kulturspezifische Prozesse verständlich zu machen heißt in erster Linie, Orientierungshilfe zu leisten und die Beteiligten zu sensibilisieren, mit dem Ziel, kulturelle Barrieren zu erkennen und zu überwinden. Eine „Gebrauchsanweisung für fremde Kulturen“ gibt es nicht und eine „globale interkulturelle Kompetenz“ ist nicht möglich. Interkulturelle Kompetenz sollte im Rahmen der juristischen Aus- und Fortbildung vermittelt werden, da sie eine unverzichtbare Schlüsselqualifikation ist. Richter_innen und Staatsanwält_innen sollten kulturspezifische Wahrnehmungs-, Interaktions- und Interpretationsmuster erkennen und deuten können, damit sie angemessene Entscheidungen treffen können. Sie sollten diskriminierende Kommunikationsformen vermeiden und Menschen mit anderer 43 44 45 46 kultureller Prägung aufgeschlossen und respektvoll entgegentreten. Grundkenntnisse des islamischen Rechts und seiner Bedeutung für die Rechtspraxis sind ebenfalls hilfreich zum besseren Verständnis, da viele Verfahrensbeteiligte aus muslimisch geprägten Ländern stammen.43 Die öffentlichen Diskussionen insbesondere über „den Islam“ und „die Muslime“ entwickeln sich zunehmend in eine islamfeindliche Richtung und sind geprägt von Vorurteilen und Stereotypen. Parteien wie die Alternative für Deutschland (AfD) machen bewusst mit einem islamfeindlichen Parteiprogramm Wahlkampf. Fremdenfeindliche Straftaten, aber auch die Alltagsdiskriminierungen nehmen zu. „Der Islam“ hat sich mittlerweile in der öffentlichen Wahrnehmung als Angstfaktor verselbständigt. Selbstverständlich darf aber nicht verschwiegen werden, dass es in einigen muslimischen Kreisen auch ein recht eindimensionales und vorurteilsbeladenes Bild von Deutschland und seiner Gesellschaft gibt. Berechtigte Kritik an einigen Erscheinungsformen des Islam wird mit dem Vorwurf der „Islamophobie“ und des Rassismus diskreditiert.44 Wir müssen auch lernen, damit im Gerichtssaal professionell umzugehen. Wichtig ist eine klare Grenzziehung zwischen zulässiger und notwendiger Kritik an manchen Erscheinungsformen des Islam und pauschaler Abwertung und Ausgrenzung aufgrund von Stereotypen.45 Abwertung durch die Mehrheitsgesellschaft wirkt als Desintegrationsfaktor und führt zur Überhöhung der eigenen Religion und Kultur und Abwertung anderer.46 Zur Entwicklung von interkultureller Kompetenz gehört es, eine Sensibilität dafür zu entwickeln, wann Stereotypen und Vorurteile den Blick auf das Individuum verschleiern. Unbewusste Vorurteile Vgl. hierzu Rohe, Mathias (2014): Scharia und deutsches Recht. In: Rohe, Mathias u.a (Hg.): Handbuch Christentum und Islam in Deutschland: Grundlagen, Erfahrungen und Perspektiven des Zusammenlebens. Freiburg u. a.: Herder, S. 272 ff. Rohe, Mathias (2016): Der Islam in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme, München: C. H. Beck , S. 264. Ebd., S. 265. Ebd., S. 264. I NTERKULT URELLE KOM P E TE NZ sind ein Faktor, der zur Diskriminierung bestimmter sozialer Gruppen im Gerichtssaal beiträgt.47 Gerade Richter_innen und Staatsanwält_innen müssen sich darüber bewusst sein, dass die in ihrem Arbeitsalltag gemachten Erfahrungen leicht zu Vorurteilen führen können.48 Es ist nicht nur eine Frage der professionellen Berufsausübung, ein Bewusstsein für die in der Gesellschaft vorhandenen Ausgrenzungsmechanismen und Chancenungleichheiten zu besitzen 47 48 63 und kompetent mit unterschiedlichen Menschen umzugehen. Als Organe der Rechtspflege haben Richter_innen, Staatsanwält_innen und Rechtsanwält_innen eine besondere Verantwortung, den diskriminierungsfreien Zugang zum Recht zu gewährleisten und für ein faires Verfahren zu sorgen. Diese Verantwortung können sie nur wahrnehmen, wenn sie aufgrund von interkultureller Kompetenz mit den Verfahrensbeteiligten interkulturell kommunizieren können. Jäger, Kathleen (2018): Unbewusste Vorurteile und ihre Bedeutung für den Richter. In: Deutsche Richterzeitung (DRiZ), 2018 (1), S. 24, 27. Vgl. Payandeh, Mehrdad (2017): Die Sensibilität der Strafjustiz für Rassismus und Diskriminierung. In: DRiZ 2017 (10), S. 322, 325. 64 ER FAH RU N G EN VO N O PF ER N R AS S IST IS CH ER TAT EN MIT DER J UST I Z Erfahrungen von Opfern rassistischer Taten mit der Justiz Eben Louw 1 2 3 4 4.1 4.2 4.3 5 5.1 5.2 5.3 6 7 Einleitung Farbenblinder Rassismus in der Justiz Rassismus ist weitverbreitet in unserer Gesellschaft Vorbelastungen der von Rassismus Betroffenen Schutz- und Bewältigungsstrategien Vertrauensverlust und „Cultural Mistrust“ Rassismus als Stressor Rassistische Phänomene im Gericht Kriminalisierung der Opfer von Straftaten Glaubwürdigkeits-Bias Sekundäre Viktimisierung Bausteine einer rassismussensiblen Justiz Fazit 1 Einleitung Bereits im Jahr 1966 unterzeichnete Deutschland das Internationale Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung. Darin bekannte sich die Bundesrepublik dazu, „dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind und ein Recht auf gleichen Schutz des Gesetzes gegen jede Diskriminierung“ haben.1 Und Deutschland verpflichtete sich, all seinen Einwohner_innen das Recht auf Gleichbehandlung durch die Gerichte und alle sonstigen Organe der Rechtspflege zu gewährleisten und dieses Recht zu schützen (Artikel 5). Doch werden Menschen mit Rassismus-Erfahrung im Sinne dieses Übereinkommens sowie der EU-Vorgaben zu rassistischer Hasskriminalität und Opferrechten wirklich von der Justiz wahrgenommen, angemessen geschützt und respektvoll 1 64 65 65 67 67 67 68 68 68 69 69 70 70 behandelt? Welche psychischen Konsequenzen haben rassistische Erfahrungen für Menschen? Wie können sich Gerichte als menschenwürdige und sichere Orte für Betroffene erweisen und sie vor weiterer Diskriminierung, Demütigung und Ungerechtigkeit schützen? Die Opferberatungsstellen Reach Out und OPRA setzen sich seit über 15 Jahren mit diesen Fragen auseinander. Der vorliegende Beitrag resümiert die Erfahrungen von Opfern rassistisch motivierter Straftaten bei den Begegnungen mit dem Justizapparat. Dabei wird einleitend der Begriff Rassismus erläutert, um dann die psychischen Folgen von Rassismus-Erfahrungen darzustellen. Anschließend geht es um die Auswirkungen rassistischer Erscheinungen im Gerichtsaal. Schließlich wird aus Sicht der Opferberatung umrissen, wie eine UN, General Assembly (1965): International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination (CERD). Resolution. Deutsche Übersetzung siehe https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Dateien/Pakte_Konventionen/ ICERD/icerd_de.pdf (abgerufen am 13.11.2018). E RFAHRUNGEN VON OP F E R N R A SSI STI SCH E R TATEN MIT DER J U ST IZ rassismussensible Justiz arbeiten sollte (Bausteine einer rassismussensiblen Justiz). 2 Farbenblinder Rassismus in der Justiz Nach dem Grundgesetz und den internationalen Menschenrechtsverträgen sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich. Dieses Postulat ist ein Ausdruck des menschenrechtlichen Gleichheitsgebots. Es darf von der Justiz aber nicht als Aussage über den tatsächlichen Zustand missverstanden werden. Denn tatsächlich sind in unserer Gesellschaft eben nicht alle Menschen gleich. „People of Color“2 und Schwarze3 Menschen werden aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer zugeschriebenen ethnischen Herkunft, Kultur, Religion oder „Rasse“4 in der Gesellschaft anders behandelt als weiße5 Menschen. Strukturelle sowie institutionelle Diskriminierung und Rassismus bestimmen die Realität dieser Menschen. Um dem menschenrechtlichen Gleichheitsprinzip gerecht zu werden, muss die Justiz diese Diskriminierungsrealität im Umgang mit von Rassismus betroffenen Menschen gerade berücksichtigen. Das Nicht-Sehen von Hautfarbe und der durch Unterdrückung geprägten Lebensrealitäten dieser Menschen würde nämlich de facto einen „farbenblinden“ Rassismus bedeuten. Im Folgenden wird aus psychologischer Sicht erläutert, welche Konsequenzen die Justiz im Umgang mit betroffenen Menschen berücksichtigen muss. 2 3 4 5 6 7 65 3 Rassismus ist weitverbreitet in unserer Gesellschaft Die Ergebnisse der Studie „Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellungen in Deutschland“ der Heinrich-Böll-Stiftung zeigen, dass weite Teile der Bevölkerung bereit sind, abzuwerten und zu verfolgen, was sie als abweichend und fremd wahrnehmen. Zum Beispiel hält ein Drittel der Deutschen das Land für gefährlich überfremdet.“6 Richter_innen, Staatsanwält_innen, Anwält_innen, Schöff_innen und andere Akteur_innen innerhalb des Justizsystems sind als Bürger_innen Teil der Gesellschaft. Allgemein verbreitete Einstellungen sind deshalb logischerweise auch in diesen Berufsgruppen zu erwarten. Für die Entwicklung einer rassismussensiblen Justiz ist es wichtig, zu erkennen, wie unser Denken und Handeln unterschwellig und oft unbewusst durch rassistische Vorurteile beeinflusst werden kann.7 Häufig wird der Begriff „ausländerfeindlich“ zur Beschreibung aktueller rassistischer Erscheinungen in der deutschen Gesellschaft benutzt. Denn während die überwiegende Mehrheit von Menschen in Deutschland sich nicht als rassistisch wahrnimmt, sind viele von ihnen eher bereit einzuräumen, dass in manchen Regionen die Ausländerfeindlichkeit zunimmt. Die gilt offenbar als weniger People of Color ist die Selbstbezeichnung von Menschen, die Rassismuserfahrungen machen. Die Bezeichnung ist in der Bürgerrechtsbewegung in den USA entstanden und zielt darauf ab, die unterschiedlichen Gruppen, die Rassismus erfahren, zu vereinen, um so Kräfte zu bündeln und gemeinsam gegen Rassismus zu kämpfen. i-päd (2018): http://www.i-paed-berlin.de/de/Glossar/ (abgerufen am 12.02.2018). Schwarz ist die Selbstbezeichnung für Schwarze Menschen, die afrikanische beziehungsweise afrodiasporale Bezüge haben. Afrodiasporal bedeutet, dass Menschen in ihrer Geschichte verwandtschaftliche Bezüge zum afrikanischen Kontinent haben. Um den Widerstandscharakter dieses Wortes zu betonen, wird das „S“ großgeschrieben. Im Deutschen Kontext existiert auch die Bezeichnung Afrodeutsche_r. i-päd (2018): http://www.i-paed-berlin.de/de/Glossar/ (abgerufen am 12.02.2018.) Bei dem Begriff „Rasse“/„Menschenrasse“ handelt es sich um ein soziales Konstrukt, das mit der Ausdehnung der Herrschaftsmacht europäischer Länder auf außereuropäische Gebiete, mit dem vorrangigen Ziel der wirtschaftlichen Ausbeutung entstand. Es wurde als ein vermeintlich relevantes Differenzierungsmerkmal konstruiert. Die vermeintlichen biologischen „Rassen“ wurden mit Bewertungen ausgestattet. Wissenschaftlich ist es mittlerweile unumstritten, dass es keine biologischen Rassen gibt. Weiß beschreibt die durch Rassismus privilegierte sozialhistorische Position. Im Gegensatz zur politischen – im Sinne von widerständiger Selbstbezeichnung – Kategorie Schwarz wird „weiß“ als Adjektiv klein geschrieben. Um den Konstruktionscharakter der Kategorie weiß hervorzuheben, wird diese manchmal kursiv geschrieben. Decker/Oliver, Kiess/Johannes, Brähler/Elmar (2016): Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland, Gießen: Psychosozial-Verlag, S. 21. Die Studie entstand in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung, der Otto-Brenner-Stiftung und der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Vgl. hierzu den Beitrag von Kathleen Jäger in dieser Publikation. 66 ER FAH RU N G EN VO N O PF ER N R AS S IST IS CH ER TAT EN MIT DER J UST I Z gravierend oder verbreitet. Aber nach übereinstimmender Ansicht der Rassismusforschung ist auch „Ausländerfeindlichkeit“ bereits als rassistisch zu werten,8 denn sie diskriminiert Menschen aus der Position der Macht heraus wegen bestimmter genetisch und/oder kulturell bedingter Merkmale und Eigenarten. „In Übereinstimmung mit einer Fülle von Umfragen und auch auf der Grundlage unserer eigenen empirischen Untersuchungen zum ‚Alltäglichen Rassismus‘ läßt sich sagen, dass die überwältigende Mehrheit aller Deutschen mehr oder minder stark in rassistische Diskurse verstrickt ist.“9 Hier In diesem Beitrag wird folgendes, in den Sozialwissenschaften weit verbreitetes und auch von Menschenrechtsgremien angewandtes Begriffsverständnis zugrunde gelegt: Rassismus umfasst „jene Einstellung und Verhaltensweisen, die Abwertungen auf der Grundlage einer konstruierten ‚natürlichen“ Höherwertigkeit der Eigengruppen vornehmen“.10 Rassismus ist eine Ideologie von Herrschaft und Dominanz. Die Ungleichverteilung von Macht, Privilegien und Ressourcen zwischen weißen und nicht weißen Menschen wird somit in einer Gesellschaft, in der „Weißsein“ als unsichtbare Norm und Normalität in allen Lebensbereichen regiert, legitimiert und verfestigt. Rassismus äußert sich im Alltag vor allem in zwei Formen: in individuellem Rassismus und in institutionellem Rassismus. Letzterer ist dadurch gekennzeichnet, „dass eine oder mehrere Organisationen systematisch Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, Kultur oder ethnischen Herkunft geeignete und professionelle Leistungen implizit oder explizit verweigern. Es lässt sich in Prozessen, Einstellungen und Verhaltensweisen festmachen, welche auf eine Diskriminierung hinauslaufen und durch unbewusste Vorurteile, Ignoranz, 8 9 10 11 12 Gedankenlosigkeit und rassistische Stereotypen, ethnische Minderheiten benachteiligen.“11 Individueller Rassismus hingegen beschreibt das Verhalten einer einzelnen Person gegenüber einer anderen Person oder Gruppe, denen eine untergeordnete „Rasse“ aufgrund von Merkmalen wie Hautfarbe, Herkunft oder Ähnliches zugeschrieben wird. Befindet sich eine von Rassismus betroffene Person im Strafgericht als Zeug_in, handelt es sich meistens um eine Straftat, die auf individuellem Rassismus beruht. So etwa die Anklage, Herr X habe Frau Y rassistisch beschimpft, beleidigt, geschubst und getreten. Doch die Auswirkungen von institutionellem Rassismus können vor Gericht ähnlich schwer wiegen wie individuelle, rassistisch motivierte Straftaten. Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen, dass institutioneller Rassismus jederzeit Betroffenen auf allen Ebenen des Justizsystems in Deutschland begegnen kann. Neben den Beobachtungen, die OPRA (kurz für „Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt“) und Reach Out tagtäglich machen, sprechen auch die gesammelten Berichte von Untersuchungsausschüssen und Medien über den Fall des terroristischen „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) eine deutliche Sprache in Bezug auf institutionellen Rassismus. So wurde überwiegend im Bereich der Ausländerkriminalität ermittelt; alle Aussagen von Zeug_innen, die in eine ganz andere Richtung wiesen, wurden nicht ernst genommen oder weiterverfolgt. Die Täterprofile der zuständigen Polizeibehörden basierten auf einem rassistischen Weltkonstrukt. Diese Art von Ermittlungen war ohne Mitwissen der zuständigen Staatsanwaltschaften nicht möglich. Zusätzlich wird „die Institutionalisierung von Rassismus an der Unterrepräsentation von People of Color im Rechtssystem deutlich.“12 Vgl. Auernheimer, Georg (1990): Einführung in die interkulturelle Erziehung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Jäger, Siegfried (1993): Rassismus und Rechtsextremismus – Gefahr für die Demokratie. In: Forschungsinstitut der FES (Hg.) (1993): Entstehung von Fremdenfeindlichkeit. Die Verantwortung von Politik und Medien, Bonn. Electronic ed.: Bonn: FES, 2002, http://library. fes.de/fulltext/asfo/01014001.htm (abgerufen am 13.11.2017). Heitmeyer, Wilhelm (2005): Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. In: Deutsche Zustände. Frankfurt a.M: Suhrkamp, S. 15 Home Office U.K (Hg.) (1999): The Stephen Lawrence Inquiry. Report of an inquiry by Sir William Macpherson of Cluny, S. 46. Bartel, Daniel/Liebscher, Doris/Remus, Juana (2017): Rassismus vor Gericht: weiße Norm und Schwarzes Wissen im deutschen Recht. In: Fereidooni, Karim/ El, Meral (Hg.): Rassismuskritik und Widerstandsformen, Heidelberg: Springer, S. 366. E RFAHRUNGEN VON OP F E R N R A SSI STI SCH E R TATEN MIT DER J U ST IZ In vielen Fällen ungehört und unerfüllt bleibt darum der Ruf der Opfer nach einer gründlichen polizeilichen Ermittlung, nach einer vorurteilsfreien Behandlung oder einer Anerkennung des Leids und der Schäden, die von rassistisch motivierten Täter_innen verursacht werden. 4 Vorbelastungen der von Rassismus Betroffenen Aus psychologischer Sicht können sich bei wiederholten Rassismuserfahrungen zahlreiche (problematische) Schutz- und Bewältigungsstrategien und psychische Belastungen bis hin zu chronischen psychischen Störungen entwickeln.13 Es ist nicht nur empfehlenswert, sondern dringend geboten, etwaige Vorbelastungen und die besondere Verletzlichkeit der Betroffenen bei Gerichtsverfahren zu berücksichtigen. Dies kann dazu beitragen, zum einen die Aussagen von Zeug_innen im Interesse der Wahrheitsfindung angemessen zu bewerten und zum anderen deren sekundäre Viktimisierung zu vermeiden. Im Folgenden werden einige dieser psychologischen Mechanismen und Reaktionen exemplarisch dargestellt. 4.1 Schutz- und Bewältigungsstrategien Wiederholte rassistische Erfahrungen führen zu dem Gefühl, von anderen Menschen und der Gesellschaft nicht als ganze Person (mit individuellen Talenten, Charaktereigenschaften usw.) wahrgenommen zu werden.14 Dies bezieht sich auf negative wie auf positive Zuschreibungen und Pauschalurteile. So werden zum Beispiel häufig nur solche Qualitäten angesprochen, die bestimmten Stereotypen und rassistischen Bildern von zum Beispiel Schwarzen Menschen entsprechen. Werden im Rahmen von polizeilichen Ermittlungen und Gerichtsprozessen in unverhältnismäßiger Weise solche Bilder aufgerufen, kann dies gravierende 13 14 15 67 negative Folgen für von Rassismus Betroffene haben. Manche Betroffene nehmen zudem zum Selbstschutz Verhaltensweisen an, von denen sie glauben, sie verliehen ihnen im Alltag eine Art „Unsichtbarkeit“ gegenüber rassistischen Kränkungen. Das kann bedeuten, dass Rassismus „übersehen“ und nicht angesprochen wird und/ oder dass die Person alles dafür tut, als „gut integriert“, ungefährlich und als äußerst höflich wahrgenommen zu werden. Problematisch an dieser Bewältigungsstrategie ist, dass diese Menschen ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse nicht äußern, sondern sich ständig dem Konsens der weißen Mehrheitsgesellschaft unterwerfen. Dieses Verhalten zeigen Betroffene dann auch gegenüber Mitarbeiter_innen des Justizsystems. Nicht selten gelten sie deshalb als „Musteropfer“, weil sie für die Justizangestellten keinen „Aufwand“ bedeuten. Im Gegensatz dazu gelten Personen, die keine Überanpassung zeigen, eine Gleichbehandlung fordern, ihre Wünsche und Bedürfnisse zum Ausdruck bringen, als „störend“ und als „zusätzliche Arbeit“. Diese unterschiedlichen Bewältigungsstrategien müssen von Justizmitarbeitenden reflektiert werden. 4.2 Vertrauensverlust und „Cultural Mistrust“ Forscher_innen aus den USA stellten Ähnlichkeiten zwischen traumatischen Rassismuserfahrungen und anderen Formen von Traumata (zum Beispiel Vergewaltigung) fest: „Survivors of racist incidents may have difficulty trusting and connecting with those who are similar to their perpetrators, as do survivors of rape.“15 Ähnlich wie bei Vergewaltigungsopfern können Opfer von rassistischer Gewalt Schwierigkeiten entwickeln, Menschen zu vertrauen, die dem_der Täter_in ähneln. Diese Form von „Cultural Wallace, Stephanie/Nazroo, James/Bécares, Laia (2016): Cumulative Effect of Racial Discrimination on the Mental Health of Ethnic Minorities in the United Kingdom. In: American Journal of Public Health (AJPH), Vol. 106 (No. 7), S. 1294. Franklin, Anderson J./Boyd-Franklin N. (2000): Invisibility Syndrome: A Clinical Model of the Effects of Racism on African-American Males. In: American journal of Orthopsychiatry, 70(1), S. 33. Bryant-Davis, Thema/Ocampo, Carlota (2005): Racist Incident – Based Trauma. In: The Counseling Psychologist, Vol. 33 (No. 4), S. 479–500. 68 ER FAH RU N G EN VO N O PF ER N R AS S IST IS CH ER TAT EN MIT DER J UST I Z Mistrust“16 führt unvermeidlich auch zu einem Misstrauen in die Justiz. Das ist damit zu erklären, dass in der deutschen Justiz überwiegend weiße Menschen beruflich tätig sind. Von Rassismus Betroffene nehmen daher den Gerichtsaal häufig als „weißen Raum“ wahr, in dem sie sich als nichtweiße Person allein und nicht verstanden fühlen. Viele Betroffene berichten, dass sie bereits bei der Ermittlung einer Straftat durch die Art und Weise der Befragung kriminalisiert werden. Die Polizei stellt ihnen vorurteilsbeladene Fragen, wie zum Beispiel: „Warum sprechen Sie so gut Deutsch?“ Sie haben außerdem das Gefühl, die Überprüfung ihrer Nationalität und ihres Aufenthaltsstatus seien wichtiger als die straftatrelevante Ermittlung. Zudem berichten sie, dass Hinweise auf mögliche rassistische Motive einer Straftat, die sie selber geben, nicht ausreichend beachtet werden – genauer gesagt, dass sehr selten darauf eingegangen wird. Am Ende entsteht dadurch ein allgemeiner Vertrauensverlust in die Justiz und ihre Institutionen, der nachvollziehbar ist. 4.3 Rassismus als Stressor Rassismusforscher_innen zufolge kann Alltagsrassismus, individueller Rassismus und/oder institutioneller Rassismus bei den Betroffenen eine Vielzahl von psychischen Folgen auslösen. Studien deuten darauf hin, dass Rassismuserfahrungen zu erhöhtem Stress führen – mit physiologischen und psychischen Konsequenzen für die Betroffenen.17 Es gehört zu den Aufgaben einer rassismussensiblen Justiz, von diesen Belastungen und Folgen Notiz zu nehmen und darauf zu reagieren. Phänomene, mit denen Opfer von Rassismus täglich zu kämpfen haben und die sie bis in den Gerichtsaal begleiten, sind sogenannte Mikroaggressionen. Darunter verstehen die Fachleute flüchtige und alltägliche verbale, im Verhalten begründete oder in der Umwelt platzierte Demütigungen, die feindselige und/oder negative 16 17 18 rassistische Abwertungen gegenüber People of Color oder Schwarzen Menschen vermitteln. Unabhängig davon, ob solche Verletzungen absichtlich oder unabsichtlich geschehen, lösen sie die oben erwähnten Stressreaktionen bei den Betroffenen aus.18 Die meisten Betroffenen sind aufgrund alltäglicher Erfahrungen besonders sensibel für das Auftreten dieser subtilen Formen von Rassismus und erkennen diese daher sofort. Im Gerichtssaal kommen in der Praxis zum Beispiel folgende Mikroaggressionen vor: – die Reduzierung von People of Color oder Schwarzen Menschen auf ihren/ihre vermeintlichen ethnischen, kulturellen und/oder religiösen Hintergrund beziehungsweise Gruppenzugehörigkeit, auch wenn diese/dieser für den Prozess nicht relevant ist – die Aberkennung von Leid und Betroffenheit – bewusstes oder unbewusstes, explizit oder implizit rassistisches, herabwürdigendes und aggressives verbales und nonverbales Verhalten von Verfahrensbeteiligten 5 Rassistische Phänomene im Gericht 5.1 Kriminalisierung der Opfer von Straftaten In unserer christlich geprägten, westeuropäischen Gesellschaft, wo weiße Dominanz nicht hinterfragt wird, werden Kriminalität und Hautfarbe sowie Kriminalität und ethnischer, kultureller und/oder religiöser Hintergrund immer wieder miteinander verknüpft. Dies ist seit Jahrzehnten Gegenstand kriminologischer Forschung: Menschen wird auf Grund phänotypischer und demographischer Merkmale eine natürliche Nähe oder Neigung zur Kriminalität unterstellt. In Deutschland trifft diese Whaley, Arthur L. (2001): Cultural Mistrust: An Important Psychological Construct for Diagnosis and Treatment of African Americans,. In: Professional Psychology: Research and Practice, Vol. 32 (No. 6), S. 555–562. Crocker, John (2007): The Effects of Racism related stress on the psychological and physiological well being of non-whites. In: Rivier Academic Journal 3 (1), S. 1–3. Wing Sue, Derald u. a. (2007): Racial Microaggressions in Everyday Life: Implications for Clinical Practice. In: American Psychologist, 62 (4), S. 271–286. E RFAHRUNGEN VON OP F E R N R A SSI STI SCH E R TATEN MIT DER J U ST IZ Unterstellung insbesondere Schwarze Menschen, People of Color, Geflüchtete und tatsächliche oder vermeintliche Anhänger_innen der Weltreligion Islam. Konsistent erhalten die Strafverfolgungsbehörde und die Medien ein „Verständnis von Straffälligkeit aufrecht, in dem Hautfarbe, Nationalität, Herkunft, Religion und Sprache rassialisiert sind und als Zeichen für eine Sicherheitsbedrohung gelten“.19 Mit anderen Worten: Es trifft diejenigen, die als „anders“ konstruiert und rassifiziert werden. Wie bereits erwähnt, haben auch Richter_innen, Staatsanwält_innen und andere im juristischen System tätige Menschen dieses Weltbild erlernt und sind durch diese Sozialisation geprägt worden. Die kognitiven Prozesse dabei laufen teilweise unbewusst ab. Nichtsdestotrotz laufen sie konsequent ab und haben weitreichende Folgen für nicht-weiße Menschen. Zur Verdeutlichung ein Beispiel, das sich so in einem deutschen Gericht abgespielt hat: Ein junger Schwarzer Mann berichtet, er sei von einem Sicherheitsmann eines Geschäftes fälschlich des Ladendiebstahls beschuldigt und anschließend rassistisch beleidigt und körperlich angegriffen worden. Das Verfahren habe zwar einen erfreulichen Ausgang für ihn gehabt, da es zur Verurteilung des wirklichen Täters kam. Aber obwohl bei dem zu Unrecht Beschuldigten keinerlei Anhaltspunkte für einen Ladendiebstahl vorlagen, habe der Richter in seinem Abschlusskommentar rassistische Vorurteile zum Ausdruck gebracht, indem er den jungen Schwarzen mit den Worten „und Sie, junger Mann, lassen Sie das mal mit dem Klauen“ belehrt habe. Das Verhalten des Richters macht deutlich, wie mechanisch er die rassistischen Vorstellungen, Schwarze Menschen seien generell kriminell, reproduzierte und damit erneut zu ihrer Kriminalisierung beitrug. 19 20 69 5.2 Glaubwürdigkeits-Bias Bezüglich des Umgangs mit Zeug_innen ist kritisch anzumerken, dass weiße Personen aufgrund weißer Privilegien auch vor dem Gericht einen Glaubwürdigkeitsvorschuss genießen. Da diese Privilegien, insbesondere von weißen Menschen, meist nicht als solche erkannt werden, bleibt auch die Reflexion über diese bestehende Ungerechtigkeit aus. Umso wichtiger ist es für Jurist_innen, sich mit dieser subtilen Form des institutionellen Rassismus auseinanderzusetzen und ihren Blick dafür zu schärfen. 5.3 Sekundäre Viktimisierung Der Begriff sekundäre Viktimisierung beschreibt einen Prozess, in dem das Opfer einer Straftat erneut zum Opfer wird. Gemeint ist eine „Verschärfung des primären Opferwerdens durch Fehlreaktionen des sozialen Nahraums des Opfers und der Instanzen der formellen Sozialkontrolle“.20 Die negativen Folgen resultieren also nicht unmittelbar aus der Straftat selbst, sondern aus den Reaktionen der sozialen Umwelt und aus der Art und Weise der Behandlung durch Personen oder Institutionen, mit denen das Opfer nach der Straftat zu tun hat. Die Vermeidung sekundärer Viktimisierung wurde bislang in Deutschland vor allem mit Blick auf die Opfer von Sexualstraftaten thematisiert. Angesichts der oben beschriebenen Ähnlichkeiten in der traumatisierenden Wirkung rassistischer Taten muss sie in diesen Fällen ebenfalls stärker berücksichtigt werden. Auch im Gerichtsaal kommt es zu bewussten und unbewussten, zu beabsichtigten und teilweise auch zu unbeabsichtigten, jedenfalls aber unangemessenen Reaktionen und Bemerkungen bei rassistischen Taten. Dazu gehören etwa Bagatellisierungen des rassistischen Tatmotivs, das Gelangweilt- oder Genervtsein, wenn Betroffene über Rassismuserfahrungen berichten und das Unterstellen einer Mitschuld. Selbstverständlich ist auch die Reproduktion rassistischer Stereotype und Vorurteile gegenüber Schwarzen Menschen Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (Hg.) (2016). Alltäglicher Ausnahmezustand. Institutioneller Rassismus in deutschen Strafverfolgungsbehörden. Münster: edition assemblage, S. 13. Schneider, Hans Joachim (1979): Das Opfer und sein Täter – Partner im Verbrechen. München: Kindler, S. 16. 70 ER FAH RU N G EN VO N O PF ER N R AS S IST IS CH ER TAT EN MIT DER J UST I Z und People of Color im eigenen Sprachgebrauch unangebracht. 6 Bausteine einer rassismussensiblen Justiz Die Berliner Beratungsstellen Reach Out und OPRA haben Kernpunkte für diejenigen herausgearbeitet, die sich im Gerichtssaal gegen Rassismus verteidigen. Von besonderer Wichtigkeit sind: – die Anerkennung und die Benennung von Rassismus (insbesondere in Urteilsverkündungen) – Beschwerdemöglichkeiten und Sanktionen im Fall von rassistischem Verhalten im Gerichtssaal – eine respektvolle Behandlung, die sich durch das Wahrnehmen und das Ernstnehmen der betroffenen Personen äußert – Thematisierung jedes Vorfalles, bei dem im Gerichtsaal Rassismus reproduziert wird und das energische Unterbinden solcher Reproduktion. Als bedeutendste Auswirkung von institutionellem Rassismus erscheint in den deutschen Gerichten die Existenz einer als objektiv gesetzten, aber unsichtbaren weißen Norm. Ihre unausgesprochene Wirkung kann zum Beispiel dazu führen, dass das Gerichtspersonal, möglicherweise unbeabsichtigt, nicht-weiße Opferzeug_innen fälschlicherweise wiederholt als „Angeklagte“ anspricht. Nicht-weißen Menschen unterstellt die Institution damit de facto eine „angeborene Neigung“ zur Kriminalität. So werden rassistische Bilder zementiert und reproduziert. 7 Fazit Das Gericht kann ein menschenwürdiger und sicherer Ort für Rassismusbetroffene werden, wenn mehr Justizmitarbeiter_innen den Mut 21 22 haben, Rassismus im Gericht anzusprechen, wenn Beschwerdemöglichkeiten geschaffen werden und wenn alle Akteur_innen (inklusive Richter_innen) mit spürbaren Konsequenzen für rassistische Äußerungen und für rassistisches Handeln zu rechnen haben. Im folgenden Fall aus Großbritannien setzte sich eine Justizmitarbeiterin gegen Rassismus im Gericht ein: Der vorsitzende Richter Richard Hollingworth habe sich in einem Prozess im Preston Magistrates Court rassistisch über die Opferzeugin Frau Patel geäußert. Dies sei geschehen, als die Staatsanwältin, Rachel Parker, ihm berichtet habe, die Zeugin könne nicht im Gericht erscheinen, da sie arbeiten müsse. Der Richter habe daraufhin behauptet, dass eine Person mit einem solchem Namen keinen „wichtigen“ Beruf ausübe und es daher auch kein Problem für sie sei, einen so kurzfristigen Termin wahrzunehmen. Er habe weiter ausgeführt, dass eine Person mit einem Namen wie „Patel“21 wahrscheinlich in einem Einkaufsladen oder einem „Spätkaufladen“ arbeite und daher kein Problem habe, vom Arbeitgeber kurzfristig freigestellt zu werden. Frau Patel habe sich zum Zeitpunkt der rassistischen Äußerungen nicht im Gerichtsaal befunden. Die Staatsanwältin Rachel Parker habe Richter Hollingworth gegenüber jedoch bemerkt, dass seine Äußerungen beschämend seien. Es sei Beschwerde eingereicht worden und der Richter habe noch am selben Tag personelle Konsequenzen gezogen und seine Kündigung eingereicht. Der Fall sei weiter durch die offizielle Beschwerde- und Untersuchungsstelle der Justiz (Judicial Conduct Investigation Office) untersucht worden.22 Im Interesse einer diskriminierungsfreien und rassismussensiblen Justiz in Deutschland sind Staatsanwält_innen, Richter_innen und Angehörige anderer juristischer Berufsgruppen aufgefordert, dieselbe Art von Courage zu zeigen wie die britische Staatsanwältin. Name pakistanisch/indischer Herkunft. Bunyan, Nigel (2014): Judge resigns after making racist remark about victim. In: The Guardian, 07.12.2014: https://www.theguardian. com/law/2014/dec/07/judge-resigns-racist-remark-about-victim-richard-hollingworth (abgerufen am 12.02.18). E RFAHRUNGEN VON OP F E R N R A SSI STI SCH E R TATEN MIT DER J U ST IZ 71 Über die Autor_innen Chandra-Milena Danielzik ist Politikwissenschaftlerin und arbeitet seit 2017 am Deutschen Institut für Menschenrechte in der Abteilung Menschenrechtspolitik Inland/Europa. Sie hat in Deutschland und Südafrika studiert, lehrt im universitären Bereich und ist als Trainerin in der politischen Erwachsenenbildung tätig. Ihre Schwerpunkte sind Internationale Beziehungen, Rassismus und Ernährungspolitik. Kathleen Jäger, LL.M. arbeitet als Juristin und Diversity-Trainerin in Berlin. Sie forscht unter anderem zum Einfluss unbewusster Vorurteile auf richterliche Entscheidungsfindung und gibt Diversity-Trainings für Jura Studierende, Rechtsreferendar_innen und Richter_innen. Doris Liebscher, LL.M. ist Juristin mit den Schwerpunkten Antidiskriminierungsrecht, Recht und Rassismus sowie interdisziplinäre Rechtsforschung. Sie arbeitet an der Humboldt Law Clinic Grund- und Menschenrechte am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Geschlechterstudien an der Humboldt Universität zu Berlin und im Büro für Recht und Wissenschaft Berlin. Sie ist Mitbegründerin und Vorständin des Antidiskriminierungsbüro Sachsen. Eben Louw ist Psychologe, Fachberater für Psychotraumatologie, Systematischer Psychotherapeut und Berater mit dem Schwerpunkt der Beratung und Betreuung von Opfern rassistischer, rechtsextremer und antisemitischer Gewalt. Er leitet das Projekt „Psychologische Beratung für Opfer rechtsextremer, rassistischer & antisemitischer Gewalt“ (OPRA) bei ARIBA e.V., Berlin. OPRA bietet Betroffenen, Zeug_innen und Angehörigen von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt psychologische und therapeutische Unterstützung. Marjam Samadzade ist seit 2013 Richterin am Amtsgericht in Ratzeburg, war zuvor Staatsanwältin in Kiel und Rechtsanwältin in Hamburg. Daneben ist sie als Referentin für Fortbildungen zum Thema „Interkulturelle Kompetenz und Kommunikation“ tätig. Sie ist außerdem Beiratsmitglied und Referentin in dem Projekt „Rassismus und Menschenrechte – Stärkung der Strafjustiz“. ANHANG 74 L EIT F R AG EN Z U M ER K EN N EN R AS S IST IS CH MOT IV IERT ER D E L I K T E Leitfragen zum Erkennen rassistisch motivierter Delikte Im Zuge der Änderung des § 46 Abs. 2 StGB wurden auch die Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren ergänzt. „Soweit Anhaltspunkte für rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende Beweggründe bestehen, sind die Ermittlungen auch auf solche Tatumstände zu erstrecken“, heißt es nun in Nr. 15 RiStBV. Wann aber liegen solche Anhaltspunkte vor, auf welche Aspekte beispielweise in Bezug auf die Wahrnehmung von Zeug_innen, das Verhältnis von Täter_innen und Opfer, Tatmodalitäten, Tatort und -zeit, Muster und Häufigkeit früherer Vorfälle ist zu achten? Mit der folgenden Leitfragenliste soll das Bewusstsein für solche Anhaltspunkte (Indikatoren) geschärft werden. Indikatorenlisten dienen als nützliches Instrument für Ermittlungsbehörden und Gerichte, um zu analysieren, ob eine gemeldete Straftat vorurteilsmotiviert sein könnte.1 Im Justizalltag soll die unten folgende Liste insbesondere für Richter_innen und Staatsanwält_innen, die sich in ihrem Arbeitsalltag hauptsächlich mit Fällen aus dem Bereich der allgemeinen Kriminalität beschäftigen, eine Hilfestellung darstellen. Als Reflexionsgrundlage tragen die darin enthaltenen Fragen zum Erkennen von rassistisch motivierten Taten bei. Auch wenn damit womöglich nicht bewiesen werden kann, dass eine Tat tatsächlich durch rassistische Beweggründe motiviert ist, können die Leitfragen die Entscheidung unterstützen, ob ein Motiv weiter untersucht werden sollte. Die in den Fußnoten genannten Urteile und Beschlüsse enthalten Beispiele, wo der jeweilige 1 Aspekt im Sachverhalt relevant beziehungsweise im Urteil berücksichtigt wurde. Bitte beachten Sie: Die Leitfragenliste eignet sich insbesondere zum Ermitteln von Anhaltspunkten für rassistische Gewaltdelikte: Die Fragen selbst sind nicht geeignet, in dieser Form direkt an die Tatbeteiligten gestellt zu werden, zum Beispiel im Rahmen der Zeugenvernehmung. Die Leitfragenliste ist nicht abgeschlossen und kann ergänzt und abgeändert werden. Wahrnehmung der Beweggründe der Tat seitens der Opferzeugin/des Opferzeugen oder anderer Zeugen/Zeuginnen – Hat die Opferzeugin/der Opferzeuge die Handlung des Täters/der Täterin als rassistisch motiviert wahrgenommen? Wenn ja, warum? – Hat eine Zeugin/ein Zeuge die Handlung des Täters/der Täterin als rassistisch motiviert wahrgenommen? Wenn ja, warum? Unterschiede zwischen Täter_innen und von der Tat betroffenen Personen – Wird die betroffene Person einer bestimmten Gruppe zugeordnet, die von vorurteilsgeleiteten Straftaten betroffen ist? – Hatte der oder die Täter_in eine andere (zugeschriebene) Religionszugehörigkeit, Nationalität, Herkunft und/oder Sprache als die betroffene Person? Wurde dies von dem oder Wie zum Beispiel das vom Generalbundesanwalt erstellte Merkblatt mit Indikatoren zum Erkennen rechtsterroristischer Zusammenhänge aus dem Jahr 2015. LEITFRAGEN ZUM E R K E NNE N R A SSI STI SCH M OTI V IERT ER DEL IK T E der Täter_in wahrgenommen und gegebenenfalls verbalisiert?2 – Hätte der Vorfall so stattgefunden, wenn die betroffene Person und der oder die Täter_in sich in Bezug auf (zugeschriebene) Religionszugehörigkeit und/oder (zugeschriebene) Nationalität, Herkunft und/oder Sprache nicht unterschieden hätten?3 – Wurde die Person vor, während oder nach der Tat in irgendeiner Form rassialisiert?4 Ermittlungsrichtungen und diskriminierungsfreie Durchführung des (polizeilichen) Ermittlungsverfahrens – Wurde im Ermittlungsverfahren durch die Polizeibehörden in Richtung eines rassistischen Tatmotivs ermittelt?5 – Wenn nein, gibt es Anhaltspunkte dafür, dass im Ermittlungsverfahren durch die Polizeibehörden ein rassistisches Motiv nicht ausreichend ausermittelt wurde? – Hat die betroffene Person genug Zeit und Raum bekommen, die Tat aus ihrer Sicht zu schildern? Wurde sie ggf. entmutigt, ein rassistisches Moment im Tathergang zu benennen, oder ist sie eingeschüchtert? – Werden in den Ermittlungsakten rassistische Zuschreibungen und Begriffe verharmlost oder als irrelevant bewertet? – Werden Personen in den Ermittlungsakten mit stereotypen Darstellungsweisen oder diskriminierenden Begriffen belegt? – Ist bei der Bewertung von Rechtfertigungsgründen und anderem die Situation des/der 2 3 4 5 6 7 8 75 Betroffenen als potenzielles Opfer eines rassistischen Übergriffs sowie das Zahlenverhältnis zwischen den Parteien berücksichtigt worden (insbesondere bei angeblicher Tatprovokation durch das Opfer oder wechselseitigen Taten)? Tatmodalitäten, Muster und Häufigkeit früherer Vorfälle – Ähnelt der Tathergang anderen bekannten und dokumentierten Fällen von rassistischer, antisemitischer und/oder rechtsextremer Gewalt? – Gab oder gibt es immer wieder ähnliche Übergriffe auf eine bestimmte Gruppe von Menschen in dieser Gegend oder an diesem Ort? – Hat der Vorfall an einem Gedenktag oder einem anderen Tag stattgefunden, der Bedeutung für die Gruppe der betroffenen Person oder des Täters/der Täterin hat? – Zeichnete sich die Tat durch besondere Brutalität beziehungsweise enthemmte Gewalt seitens des Täters/der Täterin aus (zum Beispiel hohe Intensität der Gewaltausübung, Quälen des Opfers, Dauer der Gewalteinwirkung)?6 Einzeltatgesinnung, Motiv und Ziel – Fand ein scheinbar grundloser/unvermittelter Angriff auf Rechtsgüter7 oder die körperliche Unversehrtheit der betroffenen Person statt?8 – Gab es Kommentare oder Aussagen des Täters/der Täterin, die auf Voreingenommenheit in Bezug auf die (zugeschriebene) Nationalität, Herkunft, Sprache und/oder Landgericht Neuruppin (2010): Urteil vom 09.01.2010 – Az. 344Js24 212. Landgericht Leipzig (2011): Urteil vom 08.07.2011 – Az. 1 Ks 306 Js 51 333/10. Rassialisierung beschreibt den Prozess, in welchem Menschen – in Bezug auf ihre vermeintliche Ethnie/Nationalität/Herkunft – zu „den Anderen“ gemacht werden. Menschen, die von Rassismus negativ betroffen sind, werden auf unterschiedliche Weise rassialisiert. Während zum Beispiel „asiatische“ Männer als feminin, asexuell, schwach, quasi unsichtbar wahrgenommen werden, werden „afrikanische“ Männer als hypersexuell, aggressiv und frauenfeindlich dargestellt. Die Art und Weise, wie Menschen als „die Anderen“ markiert werden, variiert. So kann beispielsweise das Tragen eines Kopftuches zur Rassialisierung durch die Mehrheitsgesellschaft führen, indem die Person aus dem Kollektiv der deutschen Bevölkerung herausgegriffen und einer anderen Kultur, Gesellschaft sowie anderen Werten zugewiesen wird. Damit wird sie zu einer „Rasse“ gemacht, also einer homogenen anderen Gruppe zugewiesen, die der eigenen Gruppe direkt oder indirekt untergeordnet wird. Landgericht Hannover (2016): Urteil vom 17.03.2016 – Az. 39 Ks 20/15. Landgericht Neuruppin (2004): Urteil vom 19.08.2004 – Az. 12 Kls 326 Js 32 674/02. Durch die Rechtsordnung geschützte Güter oder Interessen. Amtsgericht Gummersbach (2009): Urteil vom 14.09.2009 – Az. 82 Ls-121 Js 539/08-1/09. 76 L EIT F R AG EN Z U M ER K EN N EN R AS S IST IS CH MOT IV IERT ER D E L I K T E Religionszugehörigkeit der betroffenen Person schließen lassen könnten?9 – Wurden Bemerkungen zur (zugeschriebenen) Nationalität, Herkunft, Sprache und/oder Religionszugehörigkeit der betroffenen Person gemacht, die sich der oder die Täter_in zumindest zu eigen gemacht hat?10 – Wurden eine oder mehrere betroffene Personen anders behandelt als anwesende potenzielle Opfer, die als weiß/deutsch wahrgenommen wurden?11 Bei spontanen oder ungeplanten Taten – Zeigte der oder die Täter_in, obwohl kein offensichtliches Motiv vorliegt, eine hohe Gewaltbereitschaft gegenüber der betroffenen Person und ihrer (zugeschriebenen) Gruppenzugehörigkeit?12 – Hat der Täter/die Täterin im Vorfeld der Tat rassistische, rechtsextremistische Parolen und Aussagen getätigt?13 Kleidungsstücke, Literatur, Musik, Bilder, Sammlerstücke?14 – Hat der Täter/die Täterin rassistische Aussagen verschriftlicht (in Social Media und Ähnlichem)?15 Bezug zu rechter/rechtsextremistischer Szene – War der Täter/die Täterin zuvor an einer ähnlichen oder vergleichbaren Tat beteiligt?16 – Ist oder war der Täter/die Täterin Mitglied einer (bekannten) rechten, rassistischen, antisemitischen oder neonazistischen Organisation oder Gruppe oder fühlt sich der rechten Szene zugehörig?17 – Finden regelmäßige Besuche von rechtsextremen Musikveranstaltungen, Bars oder anderen einschlägigen Veranstaltungen und Orten statt?18 Verschuldete Auswirkungen der Tat19 Kommentare, Symbole, schriftliche Statements – Liegt während oder nach der Tatausübung ein aggressiver, rassistischer Sprachgebrauch des Täters/der Täterin vor? – Lassen Symbole, Worte, Handlungen oder andere Hinweise auf ein rassistisch motiviertes Delikt schließen, wie zum Beispiel Tattoos, 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 – Sind schwerwiegende psychische Folgen oder posttraumatische Belastungsstörungen für das Opfer entstanden? – Befürchtet die betroffene Person weitere, ähnliche Angriffe? Hat die betroffene Person Angst vor weiteren, ähnlichen Angriffen? – Ist von einem negativen Einfluss der Tat auf das Sicherheitsempfinden der betroffenen Person und der Gruppe, die die betroffene Person repräsentiert, auszugehen?20 Bundesgerichtshof (1998): Urteil vom 09.12.1998 – Az. 5 StR 569/98; Landgericht Neuruppin (2003): Urteil vom 14.03.2003 – Az. 13 NS 326 Js 14 869/01 (20/02). Bundesgerichtshof (1993): Beschluss vom 07.07.1993 – Az. 5 StR 359/93. Landgericht Leipzig (2011): Urteil vom 08.07.2011 – Az. 1 Ks 306 Js 51 333/10. Landgericht Neuruppin (2004): Urteil vom 19.08.2004 – Az. 12 Kls 326 Js 32 674/02; Bundesgerichtshof (1998): Urteil vom 09.12.1998 – Az. 5 StR 569/98. Landgericht Neuruppin (2010): Urteil vom 09.01.2010 – Az. 344Js24 212. Amtsgericht Gummersbach (2009): Urteil vom 14.09.2009 – Az. 82 Ls-121 Js 539/08-1/09.; Landgericht Neuruppin (2002): Urteil vom 10.05.2002 – Az. 82 LS 326 Js 14 869/01 (28/01). Amtsgericht Duisburg (2016): Urteil vom 10.06.2016 – Az. 81 Ds 78/16. Amtsgericht Neuruppin (2001): Urteil vom 22.11.2001 – Az. 81 Ls 326 Js 14 869/01 (38/01). Bundesgerichtshof (2015): Urteil vom 02.07.2015 – Az. 4 StR 509/14. Amtsgericht Gummersbach (2009): Urteil vom 14.09.2009 – Az. 82 Ls-121 Js 539/08-1/09. Als weiterer zu berücksichtigender Faktor nach § 46 II 2, 4. Alt. Amtsgericht Duisburg (2016): Urteil vom 10.06.2016 – Az. 81 Ds 78/16; Bundesgerichtshof (2010): Beschluss vom 12.01.2000 – Az. StB 15/99. G LOSSAR 77 Glossar: Diskriminierungssensible Sprache im Strafverfahren Justizpraktiker_innen haben in der Bedarfsanalyse des Projekts und in den Fortbildungen den Wunsch geäußert, bei einem diskriminierungssensiblen Sprachgebrauch in Strafakten und Urteilen unterstützt zu werden. Gerade wenn es um die Beschreibung der Umstände geht, die die rassistische Tatmotivation begründen, bestehen häufig Unsicherheiten, welche Begriffe und Formulierungen angemessen sind. Hier hilft auch der Rückgriff auf Lexika und Wörterbücher wenig, da diese selbst häufig noch diskriminierende und rassistische Inhalte enthalten. Um die Reproduktion rassistischer Zuschreibungen in einem Strafverfahren über eine mutmaßlich rassistische Tat zu vermeiden, spielt die Sprache im Gerichtssaal tatsächlich eine wichtige Rolle. Dabei geht es sowohl um den eigenen Sprachgebrauch von Gericht und Staatsanwaltschaft, aber auch darum, dass diese intervenieren, wenn andere Verfahrensbeteiligte sich rassistisch äußern. Für einen diskriminierungssensiblen Sprachgebrauch der Justiz ist zunächst die Erkenntnis wichtig, dass es ganz einfache Lösungen im Sinne einer „Positivliste“ von Begriffen nicht geben kann. Denn die mit Begriffen transportierten Bedeutungsräume sind kontextabhängig und wandelbar. So kann dasselbe Wort je nach der Person des/ der Sprechenden ein diskriminierendes Schimpfwort oder eine emanzipatorisch verwendete Selbstbezeichnung sein (vgl. unten „Kanacke“ oder „schwul“). Ein zunächst neutraler Begriff, der einen als diskriminierend erkannten Begriff ersetzen soll, kann mit der Zeit mit den gleichen negativen Zuschreibungen aufgeladen werden wie 1 https://glossar.neuemedienmacher.de/glossar/filter:a/ der Ursprungsbegriff (vgl. unten „Menschen mit Migrationshintergrund“). Eine erste Leitschnur kann deshalb sein, für die Beschreibung von Personen auf möglichst individuelle Bezeichnungen, statt auf gruppenbezogene Adjektive und Nomen zu setzen. So könnte etwa ein Betroffener einer rassistischen Tat in einem Urteil beschrieben werden als „A, dessen Vater vor seiner Geburt aus Eritrea nach Deutschland migriert ist“. Vor diesem Hintergrund ist auch das folgende Glossar zu verstehen. Es reflektiert die Bedeutungsräume von Begriffen und spricht Empfehlungen aus. Es ist mit freundlicher Genehmigung auszugsweise dem Glossar der Neuen Deutschen Medienmacher1 entnommen. Antimuslimischer Rassismus bezeichnet die Diskriminierung von Menschen, die aufgrund ihrer tatsächlichen oder auch bloß zugeschriebenen Religionszugehörigkeit als Muslim*innen wahrgenommen werden. Im Vergleich zu den Begriffen Islamophobie oder Islamfeindlichkeit verweist die Bezeichnung antimuslimischer Rassismus auf die Vorstellung von Muslimen als homogener Gruppe, der bestimmte (zumeist negative) Eigenschaften zugewiesen werden und die als nicht zugehörig eingeordnet wird. Antisemitismus ist eine weit verbreitete Bezeichnung für Judenfeindschaft. Weit gefasst werden damit sämtliche Formen von Hass, feindlichen Einstellungen, Äußerungen, Handlungen und Vorurteilen beschrieben, 78 die sich gegen Jüdinnen und Juden und alle richten, die mutmaßlich als jüdisch wahrgenommen werden. Der Begriff wurde erstmalig im 19. Jhd. öffentlich verwendet und löste mit rassistischen Motiven den religiös begründeten Antijudaismus ab; diese Rassentheorien waren eine Grundlage der Nazi-Ideologie. Öffentliche antisemitische Hetze ist heute in Deutschland strafbar, dazu gehört auch die Leugnung des Holocausts. Antiziganismus bezeichnet einen spezifischen Rassismus gegen Sinti und Roma und umfasst verschiedene Ebenen, die ein Ergebnis jahrhundertealter Vorurteile sind: Zum einen werden Sinti*ze und Rom*nja, mit dem Stigma „Zigeuner“ oder verwandter Bezeichnungen belegt. Darauf aufbauend, werden den Angehörigen der Roma-Minderheiten vermeintlich von der Norm abweichende, widersprüchliche Eigenschaften (teils romantisierend, oft kriminalisierend) zugeschrieben. Zuletzt beschreibt Antiziganismus die strukturelle und institutionalisierte Diskriminierung von Sinti*ze und Rom*nja. Ein erschwerter Zugang zu Bildungseinrichtungen sowie die andauernde Belegung mit Klischees gehören für viele Rom*nja zur Lebensrealität. Sie sind als Ausprägungen des Phänomens Antiziganismus zu verstehen, nicht als das Phänomen selbst. Antizionismus richtet sich gegen die Ideologie des Zionismus und kann daher implizit als Ablehnung des Existenzrechts des Staates Israel verstanden werden. In diesem Fall kann man auch von antizionistischem Antisemitismus sprechen/schreiben. Gleichzeitig sind nicht alle, die die unterschiedlichen Ideen zionistischer Strömungen kritisieren, automatisch gegen die Existenz Israels. So gibt es im innerisraelischen Diskurs jüdischen Antizionismus, der nicht antisemitisch ist. Ausländer bezeichnet Einwohner*innen ohne deutsche Staatsbürgerschaft. Als Synonym für Einwanderer ist er dagegen falsch, da die meisten Migranten und ihre Nachkommen keine Ausländer*innen mehr sind, sondern Deutsche. Grundsätzlich verortet „Ausländer“ Menschen im Ausland und klingt G LOS SAR nicht nach jemandem, der*die den Lebensmittelpunkt in Deutschland hat. Ausländerhass, Fremdenfeindlichkeit sind als Synonyme für Rassismus und rassistische Tatmotive sind ungenau, da es selten um tatsächliche Fremde wie etwa Tourist*innen geht. Von der vermeintlichen „Ausländerfeindlichkeit“ sind oft deutsche Staatsangehörige betroffen. Werden Ausländerhass oder Fremdenfeindlichkeit als Motive genannt, gibt das die Perspektive der Täter*innen wieder. Präziser ist es, die Motive, Straftaten oder Gesinnungen als rassistisch, rassistisch motiviert, rechtsextrem oder neonazistisch zu bezeichnen. Aussiedler/Spätaussiedler sind deutsche „Volkszugehörige“ und mit etwa 4,5 Millionen Menschen die größte Einwanderergruppe in der Bundesrepublik. Laut Definition des Innenministeriums handelt es sich bei ihnen um „Personen deutscher Herkunft, die in Ost- und Südosteuropa sowie in der Sowjetunion unter den Folgen des Zweiten Weltkrieges gelitten haben (und die) noch Jahrzehnte nach Kriegsende aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit massiv verfolgt“ wurden. In der Bundesrepublik können sie die „Statusdeutscheneigenschaft“ bekommen, werden damit deutschen Staatsangehörigen gleichgestellt und sind keine Ausländer (siehe auch Vertriebene). Biodeutsche wurde vor einigen Jahren von „Migrationshintergründler*innen“ als Gegenentwurf mit scherzhaft-provokantem Unterton in die Debatte gebracht und wird inzwischen aus Mangel an Alternativen mitunter ernsthaft verwendet. Viele so Bezeichnete lehnen ihn ab, weil in ihm die Vorstellung von Genetik mitschwingt. Das Gegenteil wären Synthetik-Deutsche – also wieder eine Zuordnung in echte und nicht echte Deutsche. Allerdings: als Kürzel für Biografisch-Deutsche möglich, wenn einmal die ausgeschriebene Form verwendet wird. Deutsche Sinti und Roma sind eine nationale Minderheit. Sprachforscher verorten die ursprüngliche Herkunft der Sinti und Roma in Indien und dem heutigen Pakistan. G LOSSAR Derzeit leben zwischen 70.000 und 150.000 Sinti und Roma in Deutschland. Genaue Zahlen sind nicht bekannt, da seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Deutschland generell keine bevölkerungsstatistischen und sozioökonomischen Daten auf ethnischer Basis erhoben werden. Neben Deutsch sprechen sie als zweite Muttersprache häufig die Minderheitensprache Romanes. Oft werden in der aktuellen Diskussion Einwanderer aus Rumänien, Bulgarien oder Serbien irrtümlicherweise als „Sinti und Roma“ bezeichnet. Auf sie würde gegebenenfalls nur die Bezeichnung Rom*nja zutreffen. Bei Zuwanderern wird jedoch nur die Staatsangehörigkeit erfasst – es ist also nicht bekannt, welche Eingewanderten Angehörige der Minderheit sind. Extremismus bezeichnet in Anlehnung an die Extremismustheorie vor allem eine radikale, gewaltsam durchgesetzte politische Haltung. Nach Definition von Polizei und Verfassungsschutz gelten Bestrebungen als extremistisch, wenn sie gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung gerichtet sind. Ebenso wie die Bezeichnung „Radikalismus“ ist der Begriff „Extremismus“ umstritten, weil beide voraussetzen, dass es eine unpolitische Mitte der Gesellschaft gibt und vermeintlich abgegrenzt davon einen linken und rechten Rand, denen undemokratische, verfassungsfeindliche und totalitäre Gruppen oder Personen angehören. Ideologien der Ungleichwertigkeit und die Ablehnung der Demokratie können jedoch in der gesamten Bevölkerung vertreten sein. Deshalb empfiehlt es sich, in der Berichterstattung z. B. nicht von extremistischen, sondern eher von extremen Motiven zu sprechen/schreiben oder sie besser konkret zu benennen. Hasskriminalität, Hassverbrechen deutsch für Hate-Crime, bezeichnet Gewalt- und Straftaten, die durch Rassismus (siehe Ausländerhass), religiöse Intoleranz, Trans- oder Homophobie und ähnlichem motiviert sind. Hasskriminalität ist sinnvoll zur Benennung von Straftaten, wenn die Betroffenen von den Täter*innen als Zugehörige einer Gruppe angesehen werden, die als ungleichwertig beurteilt wird. In der Fachsprache ist als Motiv für Hasskriminalität von 79 Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit die Rede. Holocaust (griech. vollständig verbrannt) bezeichnet die systematische massenhafte Ermordung von Jüdinnen und Juden und anderen Minderheiten durch die Nationalsozialist*innen. Eingeführt wurde der Begriff 1979 als Titel der amerikanischen Fernsehserie „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiß“, die auch in Deutschland sehr populär war. Manche Jüdinnen und Juden lehnen das Wort allerdings ab, weil das Brandopfer in der Thora die Obhut Gottes verspricht, und bevorzugen deswegen den hebräischen Begriff Shoa (auch Shoah, Schoa oder Schoah), der für „große Katastrophe“ steht. Bis heute gibt es keinen eigenen deutschen Begriff für diesen historischen Massenmord. Islamfeindlichkeit bezeichnet eine generell ablehnende Haltung gegenüber dem Islam und seinen Glaubensrichtungen, sowie gegenüber Menschen muslimischen Glaubens und ihren religiösen Praktiken. Islamfeindlichkeit kann in der Praxis auch mit Islamophobie einhergehen. Expert*innen empfehlen, anstatt Islamfeindlichkeit den Begriff antimuslimischer Rassismus zu verwenden, weil er verdeutlicht, dass es bei dieser Art der Ablehnung weniger um Religionsfragen geht, sondern vielmehr um Ausgrenzung. Islamisierung bezeichnet im historischen Sinn (analog zum Begriff Christianisierung) die territoriale Ausbreitung von islamischen Religionsgemeinschaften ab dem Jahr 632 (nach dem Tod des Propheten Mohammed) bis ins 10. Jahrhundert. Re-Islamisierung ist der Fachbegriff für die wachsende Bedeutung islamischer Religionen in der heutigen Zeit. Als politisches Schlagwort verwendet wird „Islamisierung“ mit einer Art von Radikalisierung assoziiert. Dabei wird Muslimen häufig unterstellt, den Islam generell fundamentalistisch auszulegen oder extremistisch zu agieren. Nicht nur in rechtspopulistischen Kreisen ist der Begriff verbreitet, um vor einer Überfremdung durch den Islam und seinen (mutmaßlichen) Anhängern zu warnen. 80 Juden sind Angehörige der jüdischen Religion und dem rabbinischen Religionsgesetz nach alle, deren Mutter Jüdin ist. Weil es immer mehr gemischtkonfessionelle Ehen gibt, gilt z. B. bei progressiven Strömungen in den USA auch als jüdisch, wer einen jüdischen Vater hat und jüdisch erzogen wird. Ebenso ist es möglich, zum jüdischen Glauben zu konvertieren. Wer von Geburt an jüdisch ist, ist nicht automatisch religiös; viele Jüdinnen und Juden sind nicht gläubig, sehen sich aber als Teil der jüdischen Gemeinschaft – teilweise benennen sie das Judentum als ihre kulturelle Identität statt als ihre Religion. Einige gläubige Jüdinnen und Juden bezeichnen sich als Volk Israel. Es ist aber ein Irrtum, Jüdinnen und Juden, die in vielen Teilen der Welt leben, mit Israelinnen/Israelis, also den Bürger*innen des multiethnischen Staates Israel, gleichzusetzen. Kanaken (polynesisch „Kanaka“ = Mensch) ist ein Schimpfwort, wird jedoch manchmal (mit sarkastischem Unterton) als Selbstzuschreibung verwendet. Wenn Protagonist*innen sie für sich selbst verwenden, kann die Selbstbezeichnung in Medienberichten übernommen werden, sollte aber als solche erkennbar sein. Kopftuch kann im Gegensatz zum eher eng anliegenden Hijab auch ein locker um den Kopf geschlungenes Tuch sein. Je nach Auslegung des Korans, politischer Lage und persönlicher Einstellung ist es Musliminnen freigestellt, sich zu verhüllen, oder es gibt eine Pflicht, die Haare zu verdecken. Laut einer Umfrage unter Musliminnen in Deutschland trägt von den stark Gläubigen unter ihnen jede Zweite nie ein Kopftuch. In Ländern wie Iran, Saudi-Arabien oder den Vereinigten Arabischen Emiraten sind Frauen gesetzlich verpflichtet, sich zu bedecken, wenn sie von nicht verwandten Männern gesehen werden könnten. Kopftuchträgerin wird oft synonym für praktizierende Musliminnen verwendet. Grundsätzlich ist die Reduzierung einer Person auf ein äußeres Merkmal problematisch, G LOS SAR vor allem bei den mitunter abfällig gemeinten Begriffen „Kopftuchfrau“ oder „Kopftuchmädchen“. Was sagt diese Zuschreibung über die vielfältigen Gründe, Weltanschauungen, Auslegungen und Glaubenspraktiken aus, die dahinterstecken können? Leitkultur wurde als Begriff von dem Göttinger Politologen Bassam Tibi geprägt, dessen Vorstellung zufolge sich Migranten in heterogenen Einwanderungsgesellschaften den herrschenden kulturellen Normen anzupassen hätten, ohne die eigene Kultur aufgeben zu müssen. Tibis Bezeichnung wurde 2000 vom damaligen CDU-Generalsekretär Friedrich Merz übernommen, der bemängelte, es gebe keine deutsche Leitkultur mehr. In der folgenden Diskussion ging es allerdings weniger um gemeinsame Werte als vielmehr um einen Katalog dessen, was Einwanderer respektieren sollten, wollten sie in Deutschland leben. Der Begriff kursiert teils in rechtsextremen Kreisen, ist jedoch im Zuge der aktuellen Asyldebatte als Schlagwort auch wieder häufiger in der bürgerlichen Mitte anzutreffen. Mehrheitsgesellschaft ist ein gängiger Begriff, der missverständlich ist. Eigentlich müsste es heißen: Mehrheitsbevölkerung, also die von 64 Millionen Deutschen ohne Migrationshintergrund. In einem faktischen Einwanderungsland funktionieren Bezeichnungen wie „die deutsche Gesellschaft“ oder „die Gesellschaft in Deutschland“ nicht als Synonym für Deutsche ohne Einwanderungskontext. Menschen mit Migrationshintergrund (MH) sind nach statistischer Definition – in Deutschland lebende Ausländer_innen – eingebürgerte Deutsche, die nach 1949 in die Bundesrepublik eingewandert sind – sowie in Deutschland geborene Kinder mit deutschem Pass, bei denen sich der Migrationshintergrund von mindestens einem Elternteil ableitet. Zunächst wurde „Personen mit Migrationshintergrund“ in der Verwaltungs- und Wissenschaftssprache verwendet. Doch als durch G LOSSAR Einbürgerungen und das neue Staatsangehörigkeitsrecht von 2000 der Begriff Ausländer nicht mehr funktionierte, um Einwanderer und ihre Nachkommen zu beschreiben, ging die Formulierung auch in die Umgangssprache ein (siehe auch Einbürgerung und Doppelte Staatsangehörigkeit). Inzwischen wird der Begriff von manchen als stigmatisierend empfunden, weil damit mittlerweile vor allem (muslimische) „Problemgruppen“ assoziiert werden. Eine gute Alternative: Menschen aus Einwandererfamilien. Migranten werden vom Statistischen Bundesamt als Menschen definiert, die nicht auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik, sondern im Ausland geboren sind. Rund die Hälfte davon sind Deutsche, die andere Hälfte hat eine ausländische Staatsangehörigkeit. Im Diskurs wird dieser Begriff häufig irrtümlich als Synonym für Menschen mit Migrationshintergrund verwendet. 81 typischen Symbolen der 1990er Jahre zu erkennen (Glatze, Stiefel, Bomberjacke). Rassistische oder rechtsextreme Ideologien können in allen Spektren der Gesellschaft herrschen, z. B. bei selbsternannten Asylgegnern. Rasse ist eigentlich seit dem Nationalsozialismus („Rassengesetze“) ein Unwort in Deutschland, das im Sprachgebrauch nicht mehr üblich ist. Dennoch existiert es noch in zahlreichen Gesetzestexten wie dem Grundgesetz („Niemand darf wegen … seiner Rasse … benachteiligt oder bevorzugt werden.“). In der Berichterstattung taucht es zudem auf, wenn zum Beispiel Rassismus-Debatten aus den USA wiedergegeben werden. Doch Begriffe wie „Rassenunruhen“ (race oder ethnic riots) oder „Rassenbeziehungen“ (race relations) sollten nicht unreflektiert wortwörtlich übersetzt werden, da der Begriff „race“ in den USA anders als im Deutschen „Ethnizität“ oder „Herkunft“ meint. Alternativen wären, neben Rassismus-Debatten, auch Unruhen wegen Rassismus-Vorwurf etc. Muslime bezeichnet Angehörige der islamischen Religionsgemeinschaft. Grundsätzlich gilt es zu hinterfragen, ob die Zuschreibung einer Religion relevant und zutreffend ist. Beispiel: Warum wurde die Religionszugehörigkeit bei der „ersten muslimischen CDU-Bundestagsabgeordneten“ 2013 so stark thematisiert? Häufig wird Muslim*innen auch als Synonym für Einwanderer und ihre Nachkommen verwendet, was sachlich falsch ist: Nur ein Fünftel aller Menschen aus Einwandererfamilien in Deutschland sind Muslim*innen und es gibt deutsche Muslim*innen ohne Migrationshintergrund. Rassismus ist der Prozess, in dem Menschen aufgrund tatsächlicher oder vermeintlicher körperlicher oder kultureller Merkmale (z. B. Hautfarbe, Herkunft, Sprache, Religion) als homogene Gruppen konstruiert, negativ bewertet und ausgegrenzt werden. Der klassische Rassismus behauptet eine Ungleichheit und Ungleichwertigkeit von Menschengruppen auf Grundlage angeblicher biologischer Unterschiede. Im Kulturrassismus wird die Ungleichheit und Ungleichwertigkeit mit angeblichen Unterschieden zwischen den „Kulturen“ zu begründen versucht. Neonazi Kurzform von Neo-Nationalsozialist. Neonazis beziehen sich geistig, politisch sowie in der Symbolik und den Aktionsformen auf den Nationalsozialismus. Die neonazistische Szene pflegt das NS-Erbe sowie Traditionen von SA- und SS-Verbänden. Neonazismus ist die radikalste und aggressivste Variante des heutigen Rechtsextremismus. Jeder Neonazi ist rechtsextrem, aber nicht jeder Rechtsextreme ist Neonazi. Viele Rechtsextreme beziehen sich heutzutage nicht mehr auf den Nationalsozialismus und sind auch nicht mehr an den Rechtsextremismus basiert auf Ideologien der Ungleichwertigkeit mit dem Ziel, diese gewaltsam durchzusetzen. Der Rechtsextremismus lehnt die Freiheit und Gleichwertigkeit aller Menschen grundsätzlich ab. Weitere wesentliche Bestandteile sind Nationalismus sowie die Ablehnung von Demokratie. Als Oberbegriff, der keine einheitliche Ideologie beschreibt, ist die Bezeichnung Rechtsextremismus wissenschaftlich umstritten, weil sie sehr undifferenziert 82 ist. Meist wird damit das veraltete Bild typischer Neonazis der 1990er Jahre verbunden, mit Glatze, Stiefeln, Bomberjacke – Erkennungszeichen, die in modernen Formen des Rechtsextremismus von subtileren Codes und Symbolen abgelöst wurden. Zudem gibt es in der Mitte der Gesellschaft Menschen mit rechtsextremer und/oder neonazistischer Gesinnung, die längst ohne stereotype Zeichen auskommen. Ebenso können mit dem verallgemeinernden Begriff Rechtsextreme z. B. auch Asylgegner gemeint sein. Rechtspopulist hat sich als Beschreibung für Vertreter*innen rassistischer Protestparteien durchgesetzt. In der Forschung ist umstritten, ob es sich bei Rechtspopulismus um eine Ideologie handelt oder um einen Politikstil von Parteien der radikalen Rechten. Fest steht: Rechtspopulist*innen arbeiten mit Gegensätzen, die von einem „reinen Volk“ und einer „korrupten (politischen) Elite“ ausgehen und mit einem Nationalismus, bei dem Ausländer, People of Color und Geflüchtete als Eindringlinge und Bedrohung dargestellt werden. Im Gegensatz zu Rechtsextremisten treten Vertreter*innen des Rechtspopulismus zuweilen als vermeintliche Hüter der demokratischen Ordnung auf. Roma ist sowohl Selbstbeschreibung als auch allgemeiner Sammelbegriff für eine heterogene Gruppe von Menschen, die im 13. und 14. Jahrhundert von Indien und dem heutigen Pakistan nach Mittel-, West- und Nordeuropa gekommen sind. Sie bilden die größte ethnische Minderheit in Europa. Expert*innen sprechen häufig von Roma-Gruppen oder Angehörigen der Roma-Minderheiten, da es zahlreiche verschiedene Untergruppen gibt, die sich in Sprachen, Religionen und Gewohnheiten voneinander unterscheiden, bspw. Kalderasch/ Kaldera/Kalderara, Kalé/Kale/Cale oder Lovara/ Lowara. Im weiblichen Singular spricht man von Romni (Plural: Romnja), im männlichen von Rom (Plural: Roma). G LOS SAR Schwarze „Wenn es um Rassismus, unterschiedliche Erfahrungen und Sozialisationen geht, ist der politisch korrekte Begriff Schwarze. In allen anderen Fällen gibt es aber meistens gar keinen Grund, dazu zu sagen, ob eine Person Schwarz oder Weiß ist.“ (zitiert von www.derbraunemob.info). Farbige/farbig ist ein kolonialistischer Begriff und negativ konnotiert. Eine Alternative ist die Selbstbezeichnung People of Color (PoC, Singular: Person of Color). Schwarze Deutsche In Deutschland leben mehrere hunderttausend Schwarze Deutsche. Dabei handelt es sich nicht um die Beschreibung einer Hautfarbe, sondern um eine politische Selbstbezeichnung (die allerdings nichts mit der CDU zu tun hat). Begriffe wie „Farbige“ oder „Dunkelhäutige“ lehnen viele ab. Die Initiative „der braune mob e. V.“ schreibt: „Es geht nicht um ‚biologische‘ Eigenschaften, sondern gesellschaftspolitische Zugehörigkeiten.“ Um das deutlich zu machen, plädieren sie und andere dafür, die Zuschreibungen Schwarz und Weiß groß zu schreiben. Sinti ist die Bezeichnung für Nachfahren der Roma-Gruppen, die bereits im 14. und 15. Jahrhundert in den deutschsprachigen Raum eingewandert sind. Sinti*ze sind die in West- und Mitteleuropa beheimateten Angehörigen der Minderheit. Die Bezeichnung wird jedoch nur in Deutschland, Österreich und Teilen Norditaliens verwendet. Außerhalb des deutschen Sprachraums wird Roma als Name für die gesamte Minderheit genutzt. Der weibliche Singular ist Sintiza (Plural: Sintize), der männliche Singular ist Sinto (Plural: Sinti). Eine Untergruppe der Sinti*ze sind die Manouche, die vorwiegend in Frankreich leben. Südländer ist ein aus der Mode gekommener Begriff, aber in der Beschreibung „südländisches Aussehen“ häufig noch zu finden. Hier stellt sich die Frage: Was genau ist gemeint? Geografisch ist der Begriff unspezifisch und verortet Menschen außerhalb von Deutschland, obwohl sie hier geboren und G LOSSAR aufgewachsen sein könnten. Der Begriff „Südländer“ wird vor allem noch in rechtsextremen Medien verwendet. Weiße Deutsche Der Begriff erscheint oft in Debatten um Rassismus und wird häufig mit dem Argument kritisiert, er rufe einen unpassenden Hautfarbendiskurs hervor. Das ist jedoch ein Missverständnis: Tatsächlich wird der Begriff weiß in der internationalen Rassismusdebatte als Gegensatz zu People of Color (PoC) verwendet und nicht für die Beschreibung der Hautfarbe genutzt. Der Begriff soll eine gesellschaftspolitische (Macht-) Position und Norm hervorheben. Dabei müssen sich weiße Menschen nicht selbst als weiß oder privilegiert fühlen. Allerdings ist die Formulierung nicht selbsterklärend. In der Wissenschaft wird Weiß oft kursiv und/oder großgeschrieben, um zu verdeutlichen, dass es sich nicht um eine Beschreibung von Äußerlichkeiten handelt. Xenophobie (griech. xeno, fremd) bezeichnet die ablehnende Haltung gegenüber einer Gruppe, die als fremd wahrgenommen wird, aber nicht automatisch fremd sein muss, wie zum Beispiel Schwarze Deutsche oder deutsche Muslime. Xenophobie ist eine Form der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. 83 Zigeuner ist eine Fremdbezeichnung und wird von Angehörigen der Roma-Minderheiten abgelehnt. Die verunglimpfende Bezeichnung hat ihren Ursprung im Mittelalter, hält sich allerdings bis heute hartnäckig im öffentlichen Sprachgebrauch. Der Begriff ist ein historisch gewachsenes Konstrukt, der negative oder romantisierende Stereotype zuschreibt und nichts über das Selbstverständnis der so Bezeichneten aussagt. Zionismus (von Zion, dem Namen des Tempelbergs in Jerusalem) bezeichnet zum einen die historische jüdisch nationalistische Bewegung, die einen jüdischen Staat gründen wollte, und zum anderen gegenwärtige politische Strömungen. Entstanden ist der Zionismus als Teil des europäischen Nationalismus des 19. Jhd.s. Er war gleichzeitig die Gegenbewegung zum Antisemitismus, der sich damals immer weiter verbreitete. Mit der Gründung Israels 1948 wurde das zionistische Ziel erreicht. Heute wird Zionismus als Ideologie in Israel sehr unterschiedlich ausgelegt, so gibt es z. B. liberal-sozialdemokratischen Zionismus, rechtsnationalen oder nationalreligiösen Zionismus. Zionismus wird teils undifferenziert als Kampfbegriff gegen Israels Haltung im Nahost-Konflikt benutzt. 84 AL LG EMEIN E EMPF EH LUNG Allgemeine Empfehlung XXXI über die Verhütung von rassistischer Diskriminierung in der Strafrechtspflege Nichtamtliche Übersetzung aus dem Englischen* Der Ausschuss für die Beseitigung rassistischer Diskriminierung, unter Hinweis auf die in Artikel 1 des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von rassistischer Diskriminierung enthaltene Definition der rassistischen Diskriminierung, unter Hinweis auf die Bestimmungen des Artikels 5 Buchstabe a des Übereinkommens, wonach die Vertragsstaaten die Pflicht haben, das Recht jedes einzelnen, ohne Unterschied der Hautfarbe, des nationalen Ursprungs oder des Volkstums, auf Gleichheit vor dem Gesetz zu gewährleisten, namentlich bei der Wahrnehmung des Rechts auf Gleichbehandlung vor den Gerichten und allen sonstigen Organen der Rechtspflege, unter Hinweis darauf, dass die Vertragsstaaten nach Artikel 6 des Übereinkommens gehalten sind, jeder Person in ihrem Hoheitsbereich einen wirksamen Schutz und wirksame Rechtsbehelfe durch die zuständigen nationalen Gerichte und sonstigen staatlichen Einrichtungen gegen alle rassistisch diskriminierenden Handlungen zu gewährleisten, ebenso wie auch das Recht, bei diesen Gerichten eine gerechte und angemessene Entschädigung oder Genugtuung für jeden infolge von rassistischer Diskriminierung erlittenen Schaden zu verlangen, verweisend auf Ziffer 25 der Erklärung, die von der Weltkonferenz gegen Rassismus, rassistische Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und damit zusammenhängender Intoleranz, die 2001 in Durban (Südafrika) stattfand, verabschiedet wurde und in der „tiefe Ablehnung gegenüber dem Rassismus, der rassistischen Diskriminierung, der Fremdenfeindlichkeit und der damit zusammenhängenden Intoleranz [bekundet wird], die in einigen Staaten in der Arbeitsweise der Strafvollzugssysteme und bei der Anwendung der Gesetze sowie in den Handlungen und Einstellungen der für die Rechtsdurchsetzung verantwortlichen Institutionen und Personen fortbestehen, insbesondere dort, wo dies dazu beigetragen hat, dass bestimmte Gruppen unter Inhaftierten oder Gefängnisinsassen überrepräsentiert sind“, verweisend auf die Arbeit der Menschenrechtskommission und der Unterkommission für die Förderung und den Schutz der Menschenrechte (siehe E/CN.4/Sub.2/2005/7) über Diskriminierung im Strafjustizsystem, * Dieser Text basiert auf der nichtamtlichen Übersetzung der Allgemeinen Empfehlung 31 durch das BMJV und das Auswärtige Amt, siehe https://www.bmjv.de/SharedDocs/Publikationen/DE/ICERD. pdf;jsessionid=13BB8D5C464454A77737C9609BAC593D.2_cid334?__blob=publicationFile&v=4 (abgerufen am 28.11.2018). In Absprache mit dem BMJV wurde der Text durch das Deutsche Institut für Menschenrechte für diese Publikation rassismussensibel überarbeitet. A LLGEMEINE EMPF E HLU NG eingedenk der Berichte des Sonderberichterstatters für zeitgenössische Formen des Rassismus, der rassistischen Diskriminierung, der Fremdenfeindlichkeit und damit zusammenhängender Intoleranz, verweisend auf das 1951 geschlossene Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, insbesondere dessen Artikel 16, der bestimmt, dass „Flüchtlinge … auf dem Gebiete der vertragschließenden Staaten freien Zutritt zu den Gerichten [haben],“ eingedenk der Bemerkungen zur Arbeitsweise des Justizsystems in den Schlussfolgerungen des Ausschusses zu den von den Vertragsstaaten vorgelegten Berichten und in den Allgemeinen Empfehlungen XXVII (2000) über die Diskriminierung der Roma, XXIX (2002) über Diskriminierung aufgrund der Abstammung und XXX (2004) über die Diskriminierung von Nichtstaatsangehörigen, davon überzeugt, dass das Justizsystem zwar als unparteiisch und von Rassismus, rassistischer Diskriminierung oder Fremdenfeindlichkeit unberührt gelten kann, dass es jedoch einen besonders schwerwiegenden Verstoß gegen die Rechtsstaatlichkeit, den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz, den Grundsatz der Verfahrensfairness und das Recht auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht darstellt, wenn es bei der Rechtspflege und im Justizsystem dennoch zu rassistischer Diskriminierung kommt, da diese sich auf Angehörige einer Gruppe, die zu schützen doch gerade die Aufgabe der Justiz ist, unmittelbar auswirkt, in der Auffassung, dass kein Land frei von rassistischer Diskriminierung bei der Strafrechtspflege und im Strafjustizsystem ist, ungeachtet des angewandten Rechts oder des bestehenden Rechtssystems, sei es akkusatorisch, inquisitorisch oder gemischt, in der Auffassung, dass die Gefahr der Diskriminierung bei der Strafrechtspflege und im Strafjustizsystem in den letzten Jahren zugenommen hat, teilweise als Folge zunehmender Einwanderungs- und Bevölkerungsbewegungen, die bei manchen Teilen der Bevölkerung und manchen Strafverfolgungsbeamten Vorurteile und Gefühle der Fremdenfeindlichkeit oder Intoleranz hervorgerufen haben, und teilweise als Folge der von vielen Staaten beschlossenen sicherheitspolitischen Maßnahmen und Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung, die in einer Reihe von Ländern unter anderem das Aufkommen antiarabischer oder antimuslimischer Gefühle oder – als Reaktion darauf – antisemitischer Gefühle, begünstigt haben, entschlossen, alle Formen der rassistischen Diskriminierung bei der Strafrechtspflege und im Strafjustizsystem zu bekämpfen, die insbesondere Nichtstaatsangehörige – einschließlich Einwanderern, Flüchtlingen, Asylsuchenden und Staatenlosen – Roma/, indigene Völker, vertriebene Bevölkerungsgruppen, Menschen, die wegen ihrer Herkunft diskriminiert werden, sowie andere gefährdeten Gruppen, die in besonderem Maße der Ausgrenzung, Marginalisierung und Nicht-Integration in die Gesellschaft ausgesetzt sind, erleiden können, wobei die Situation der Frauen und Kinder aus den genannten Gruppen, die aus rassistischen Gründen und wegen ihres Geschlechts oder Alters der Mehrfachdiskriminierung unterliegen können, besonders zu berücksichtigen ist, richtet die folgenden Empfehlungen an alle Vertragsstaaten: I. Allgemeine Schritte A. Schritte zur besseren Abschätzung des Bestehens und des Ausmaßes rassistischer Diskriminierung in der Strafrechtspflege; Suche nach Indikatoren für eine solche Diskriminierung 1. Sachbezogene Indikatoren 1. Die Vertragsstaaten sollen den folgenden möglichen Indikatoren für rassistische Diskriminierung die größte Aufmerksamkeit zuwenden: 85 86 (a) Anzahl und Prozentsatz der Personen, die einer der im letzten Präambelabsatz genannten Gruppen angehören und Opfer von Aggression oder sonstigen Straftaten werden, insbesondere wenn diese von Polizeibeamten oder sonstigen Staatsbediensteten verübt werden; (b) keine oder nur wenige Anzeigen, Strafverfolgungen und Verurteilungen im Zusammenhang mit rassistisch diskriminierenden Handlungen im Land. Entgegen der Überzeugung mancher Staaten ist eine solche Statistik nicht unbedingt als positiv zu werten. Genauso gut kann sie entweder zeigen, dass die Opfer nicht ausreichend über ihre Rechte informiert sind oder die Missbilligung oder Vergeltung der Gesellschaft fürchten, oder dass Opfer mit begrenzten Mitteln die Kosten und Komplexität eines Gerichtsverfahrens scheuen, oder dass mangelndes Vertrauen in die Polizei und die Justizbehörden besteht oder die Behörden in Bezug auf Straftaten mit rassistischem Hintergrund nicht hinlänglich wachsam oder sensibilisiert sind; (c) unzulängliche oder fehlende Informationen über das Verhalten der Mitarbeitenden der Strafverfolgungsbehörden gegenüber Angehörigen einer der in dem letzten Präambelabsatz genannten Gruppen; (d) den Angehörigen dieser Gruppen zugeschriebene überproportionale Delinquenz, insbesondere was Kleinkriminalität auf der Straße und drogen- und prostitutionsbezogene Straftaten angeht, als Indikatoren für die Ausgrenzung oder Nicht-Integration dieser die Menschen in die Gesellschaft; (e) Anzahl und Prozentsatz der Angehörigen dieser Gruppen, die sich im Gefängnis oder in Sicherungsverwahrung befinden, einschließlich Internierungszentren, Strafanstalten, psychiatrischen Einrichtungen oder Gewahrsamsräumen an Flughäfen; (f) Die Verhängung strengerer oder unangemessener Strafen gegen Angehörige dieser Gruppen durch die Gerichte; (g) die unzulängliche Vertretung von Angehörigen dieser Gruppen in der Polizei, im Justizsystem, einschließlich Richtern und Richterinnen sowie Geschworenen, und in anderen Bereichen der Rechtspflege. 2. Im Interesse der Bekanntheit und Verwendung dieser faktischen Indikatoren sollen die Vertragsstaaten von der Polizei, von Gerichts-, Strafvollzugs- und Zuwanderungsbehörden regelmäßig und öffentlich Informationen einholen, unter Achtung von Vertraulichkeits-, Anonymitäts- und Datenschutzstandards. 3. Vor allem sollen die Vertragsstaaten Zugang zu umfassenden statistischen oder sonstigen Informationen über Anzeigen, Strafverfolgungen und Verurteilungen im Zusammenhang mit rassistischen und fremdenfeindlichen Handlungen sowie über Entschädigungen an die Opfer solcher Handlungen haben, gleichviel, ob diese Entschädigung von den Straftätern oder im Rahmen staatlicher, aus öffentlichen Mitteln finanzierter Entschädigungsprogramme gezahlt wird. 2. Rechtsbezogene Indikatoren 4. Nachstehendes soll als Indikator für mögliche Ursachen von rassistischer Diskriminierung angesehen werden: (a) etwaige Lücken in den innerstaatlichen Rechtsvorschriften über rassistische Diskriminierung. In dieser Hinsicht sollen die Vertragsstaaten den Forderungen des Übereinkommensartikels 4 uneingeschränkt nachkommen und alle in diesem Artikel genannten rassistischen Handlungen unter Strafe stellen, insbesondere die Verbreitung von Ideen, die rassistischen Ideologien gründen, das Aufreizen zur rassistischen Diskriminierung und die Gewalttätigkeit oder Aufreizung zu rassistischen Gewalttätigkeit, aber auch rassistische Propagandatätigkeiten und die Beteiligung an rassistischen Organisationen. Es wird den Vertragsstaaten außerdem nahegelegt, in ihrem Strafrecht eine Bestimmung einzuführen, wonach die Begehung einer Straftat aus rassistischen Beweggründen in der Regel einen strafschärfenden Umstand darstellt. AL LG EMEIN E EMPF EH LUNG A LLGEMEINE EMPF E HLU NG (b) Die potenzielle mittelbar diskriminierende Wirkung bestimmter innerstaatlicher Rechtsvorschriften, insbesondere von Rechtsvorschriften über Terrorismus, Einwanderung, Staatsangehörigkeit, Einreiseverbote oder Ausweisungen von Nichtstaatsangehörigen sowie von Rechtsvorschriften, die zur Folge haben, dass bestimmte Gruppen oder die Zugehörigkeit zu bestimmten Gemeinschaften ohne rechtmäßige Begründung bestraft werden. Die Staaten sollen bemüht sein, die diskriminierende Wirkung dieser Rechtsvorschriften zu beseitigen und bei ihrer Anwendung auf Angehörige der im letzten Präambelabsatz genannten Gruppen in jedem Fall den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu achten. B. Zur Verhütung von rassistischer Diskriminierung in der Strafrechtspflege und im Strafjustizsystem zu entwickelnde Strategien 5. Die Staaten sollen nationale Strategien, unter anderem mit folgenden Zielsetzungen, verfolgen: (a) Gesetze abzuschaffen, die rassistische Wirkung haben, insbesondere solche, die mittelbar auf bestimmte Gruppen abzielen, indem sie Handlungen unter Strafe stellen, die nur von Angehörigen dieser Gruppen verübt werden können, oder solche, die ohne rechtmäßige Begründung nur auf Nichtstaatsangehörige Anwendung finden oder den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht achten; (b) Mitarbeitenden der Strafverfolgungsbehörden – Polizeibedienstete sowie im Strafjustizsystem, in Strafanstalten, in psychiatrischen Einrichtungen und in sozialen und medizinischen Diensten tätige Personen usw. – durch geeignete Bildungsprogramme in Bezug auf die Achtung der Menschenrechte und Toleranz fortzubilden und für interkulturelle Beziehungen zu sensibilisieren; (c) zur Bekämpfung von Vorurteilen und zur Schaffung eines Vertrauensverhältnisses den Dialog und die Zusammenarbeit zwischen den Polizei- und Justizbehörden und den Vertretern der verschiedenen im letzten Präambelabsatz genannten Gruppen zu fördern; (d) die angemessene Vertretung von Angehörigen rassismusbetroffener Gruppen in der Polizei und im Justizsystem zu fördern; (e) in Übereinstimmung mit den internationalen Menschenrechtsnormen die Achtung und Anerkennung der traditionellen Justizsysteme indigener Völker zu gewährleisten; (f) bei Gefangenen, die den im letzten Präambelabsatz genannten Gruppen angehören, die notwendigen Änderungen im Vollzugsregime vorzunehmen, um ihren kulturellen und religiösen Gebräuchen Rechnung zu tragen; (g) in Situationen, in denen massenhafte Bevölkerungsbewegungen stattfinden, die notwendigen vorläufigen Maßnahmen und Vorkehrungen zur Funktionsfähigkeit des Justizsystems einzuführen, um der besonders prekären Situation von Vertriebenen Rechnung zu tragen, insbesondere, indem sie an den Aufenthaltsorten der Vertriebenen dezentralisierte Gerichte aufbauen oder mobile Gerichte einrichten; (h) in Postkonfliktsituationen Pläne für den Wiederaufbau des Justizsystems und die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit im gesamten Hoheitsgebiet der betreffenden Länder aufzustellen, insbesondere unter Inanspruchnahme der von den entsprechenden Stellen der Vereinten Nationen gewährten internationalen technischen Hilfe; (i) nationale Strategien oder Aktionspläne zur Beseitigung von struktureller rassistischer Diskriminierung umzusetzen. Diese langfristigen Strategien sollen spezifische Zielsetzungen und Maßnahmen sowie Indikatoren zur Messung der Fortschritte enthalten. Vor allem sollen sie auch Leitlinien für die Verhütung, Erfassung, Untersuchung und Strafverfolgung rassistischer oder fremdenfeindlicher Vorfälle, für die Beurteilung des Grads der Zufriedenheit aller Gemeinschaften mit ihren Beziehungen zur Polizei und zum Justizsystem und für die Einstellung und Beförderung von Angehörigen rassialisierter Gruppen/rassismusbetroffener Gruppen im Justizsystem enthalten; 87 88 (j) eine unabhängige nationale Institution mit der Aufgabe zu betrauen, die im Rahmen der nationalen Aktionspläne und Leitlinien gegen rassistische Diskriminierung erzielten Fortschritte zu verfolgen, zu überwachen und zu messen und dabei unerkannte Erscheinungsformen der rassistischen Diskriminierung aufzuzeigen und Verbesserungsempfehlungen und -vorschläge vorzulegen. II. Schritte zur Verhütung von rassistischer Diskriminierung in Bezug auf Betroffene von Rassismus A. Zugang zu Gesetz und Justiz 6. Nach Artikel 6 des Übereinkommens sind die Vertragsstaaten verpflichtet, allen Personen in ihrem Hoheitsgebiet das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen diejenigen, die rassistisch diskriminierende Handlungen verüben, ohne jedwede Diskriminierung und gleichviel, ob diese Handlungen von Privatpersonen oder Staatsbediensteten begangen werden, sowie das Recht zu gewährleisten, eine gerechte und angemessene Entschädigung oder Genugtuung für den erlittenen Schaden zu verlangen. 7. Um Betroffene von rassistischer Diskriminierung und Gewalt den Zugang zur Justiz zu erleichtern, sollen die Vertragsstaaten bestrebt sein, Angehörigen der schwächsten sozialen Gruppen, die sich oftmals ihrer Rechte nicht bewusst sind, die notwendigen rechtlichen Informationen zukommen zu lassen. 8. In dieser Hinsicht sollen die Vertragsstaaten in den Wohngebieten dieser Personen Einrichtungen wie Zentren für kostenlose rechtliche Hilfe und Beratung, Zentren für Rechtsinformationen und Schlichtungs- und Vermittlungszentren fördern. 9. Außerdem sollen die Vertragsstaaten ihre Zusammenarbeit mit Anwaltsverbänden, universitären Stellen, Zentren für Rechtsberatung und nichtstaatlichen Organisationen, die auf den Schutz der Rechte marginalisierter Gemeinschaften und der Diskriminierungsverhütung spezialisiert sind, erweitern. B. Meldung von Vorfällen bei den für die Entgegennahme von Anzeigen zuständigen Behörden 10. Die Vertragsstaaten sollen die notwendigen Schritte unternehmen, um sicherzustellen, dass die Polizeidienste in den Nachbarschaften, Regionen, kollektiven Einrichtungen, Lagern oder Zentren, in denen die Angehörigen der im letzten Präambelabsatz genannten Gruppen wohnen, ausreichend präsent und zugänglich sind, damit Anzeigen dieser Personen zügig entgegengenommen werden können. 11. Die zuständigen Dienste sollen angewiesen werden, die Opfer rassistischer Diskriminierung und Gewalt in Polizeidienststellen auf zufriedenstellende Weise zu empfangen, damit Anzeigen sofort aufgenommen, Ermittlungen unverzüglich, wirksam, unabhängig und unparteiisch durchgeführt und Unterlagen zu rassistischen oder fremdenfeindlichen Vorfällen aufbewahrt und in Datenbanken aufgenommen werden. 12. Weigert sich ein Polizeibeamter, eine Anzeige wegen einer rassistischen Handlung entgegenzunehmen, soll dies zu disziplinarischen oder strafrechtlichen Sanktionen führen, die verschärft werden sollen, wenn Korruption im Spiel ist. 13. Umgekehrt sollen alle Polizeibeamten und Staatsbediensteten das Recht und die Pflicht haben, die Befolgung von Befehlen oder Weisungen zu verweigern, die von ihnen die Begehung von Menschenrechtsverletzungen verlangen, insbesondere solchen, denen eine rassistische Diskriminierung zugrunde liegt. Die Vertragsstaaten sollen garantieren, dass jeder Amtsträger die Freiheit hat, sich ohne Furcht vor Strafe auf dieses Recht zu berufen. 14. Die Ermittlungen zu Vorwürfen über Folter, Misshandlung oder Hinrichtung sollen im Einklang mit den Grundsätzen für die wirksame Verhütung und Untersuchung von AL LG EMEIN E EMPF EH LUNG A LLGEMEINE EMPF E HLU NG 89 1 außergesetzlichen, willkürlichen und summarischen Hinrichtungen und den Grundsätzen für die wirksame Untersuchung und Dokumentation von Folter und anderer grausamer, 2 unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe durchgeführt werden. C. Einleitung von Gerichtsverfahren 15. Die Vertragsstaaten sollen öffentliche Ankläger und Angehörige der Staatsanwaltschaft daran erinnern, dass es von allgemeiner Wichtigkeit ist, rassistische Handlungen, einschließlich geringfügiger Verstöße aus rassistischen Motiven, strafrechtlich zu verfolgen, da jede rassistisch motivierte Straftat den sozialen Zusammenhalt und die Gesellschaft als Ganzes untergräbt. 16. Vor der Einleitung eines Verfahrens könnten die Vertragsstaaten im Interesse der Achtung der Opferrechte auch zur Verwendung gerichtsähnlicher Konfliktbeilegungsverfahren anregen, darunter auch mit den Menschenrechten vereinbare gewohnheitsrechtliche Verfahren, Mediation oder Schlichtung, die den Opfern rassistischer Diskriminierung oder Gewalt als nützliche Alternative dienen können und denen ein geringeres Stigma anhaftet. 17. Um den Opfern rassistischer Diskriminierung oder Gewalt den Rechtsweg zu erleichtern, sollen unter anderem folgende Schritte unternommen werden: (a) Den Opfern von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sowie den Verbänden zum Schutz der Rechte dieser Opfer soll eine verfahrensrechtliche Stellung angeboten werden, etwa die Möglichkeit, sich dem Strafverfahren anzuschließen, oder ähnliche Verfahren, die es ihnen ermöglichen würden, ihre Rechte in dem Strafverfahren geltend zu machen, ohne dass ihnen dabei Kosten entstehen. (b) Den Opfern soll effektive justizielle Unterstützung und Prozesskostenhilfe gewährt werden, einschließlich der Hilfe eines Rechtsbeistands und eines unentgeltlich beigestellten Dolmetschers; (c) Es soll gewährleistet werden, dass die Opfer über den Verfahrensfortgang informiert werden; (d) Es soll gewährleistet werden, dass die Opfer oder Angehörigen des Opfers jeder Form der Einschüchterung oder Vergeltung geschützt werden; (e) Es soll die Möglichkeit geschaffen werden, dass Staatsbedienstete, gegen die Anzeige erstattet wurde, für die Dauer der Ermittlungen suspendiert werden. 18. In Ländern, in denen es Unterstützungs- und Entschädigungsprogramme für Opfer gibt, sollen die Vertragsstaaten sicherstellen, dass diese allen Opfern ohne Diskriminierung und ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit und ihres Aufenthaltsstatus zur Verfügung stehen. D. Tätigkeit des Justizsystems 19. Die Vertragsstaaten sollen sicherstellen, dass das Justizsystem (a) Opfern und ihren Angehörigen sowie Zeugen während des gesamten Verfahrens einen entsprechenden Platz einräumt, indem es den Anzeigeerstattern ermöglicht wird, während des Ermittlungsverfahrens und der Gerichtsverhandlung von den Richtern gehört werden, Zugang zu Informationen zu haben, Zeugen der Gegenseite gegenüberzutreten, Beweise anzufechten und über den Fortgang des Verfahrens unterrichtet zu werden; (b) die Opfer rassistischer Diskriminierung unter Achtung ihrer Würde diskriminierungsund vorurteilsfrei behandelt, indem insbesondere sichergestellt wird, dass mündliche 1 2 Empfehlung des Wirtschafts- und Sozialrats in seiner Resolution 1989/65 vom 24. Mai 1989. Empfehlung der Generalversammlung in ihrer Resolution 55/89 vom 4. Dezember 2000. 90 AL LG EMEIN E EMPF EH LUNG Verhandlungen, Befragungen oder Gegenüberstellungen mit der – was Rassismus angeht – gebotenen Sensibilität durchgeführt werden; (c) dem Opfer eine gerichtliche Entscheidung innerhalb einer angemessenen Frist garantiert; (d) den Opfern gerechte und angemessene Entschädigung für jeden infolge von rassistischer Diskriminierung erlittenen materiellen und immateriellen Schaden garantiert. III. Schritte zur Verhütung rassistischer Diskriminierung in Bezug auf Personen, gegen die ein Strafverfahren anhängig ist A. Vernehmung, Verhör und Festnahme 20. Die Vertragsstaaten sollen die notwendigen Schritte unternehmen, um Vernehmungen, Verhaftungen und Durchsuchungen, die in Wirklichkeit lediglich auf der physischen Erscheinung einer Person, ihrer Hautfarbe oder Gesichtszügen oder auf rassistischer Voreingenommenheit basieren, und jede Profilerstellung, welche die Person verdächtiger erscheinen lässt, zu verhindern. 21. Die Vertragsstaaten sollen Gewalt und Folter und grausame, unmenschliche oder entwürdigende Behandlung und alle Menschenrechtsverletzungen verhüten und auf das Strengste bestrafen, die gegen Angehörige der im letzten Präambelabsatz genannten Gruppen gerichtet sind und von Staatsbediensteten begangen werden, insbesondere von Polizei- und Armeepersonal, den Zollbehörden und Personen, die an Flughäfen sowie in Strafanstalten und sozialen, medizinischen und psychiatrischen Diensten tätig sind. 22. Die Vertragsstaaten sollen die Einhaltung des allgemeinen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und strikten Notwendigkeit beim Einsatz von Gewalt gegen Angehörige der im letzten Präambelabsatz genannten Gruppen sicherstellen, im Einklang mit den Grundprinzipien für die Anwendung von Gewalt und den Gebrauch von Schusswaffen durch Beamte mit 3 Polizeibefugnissen. 23. Die Vertragsstaaten sollen außerdem ausnahmslos allen Verhafteten garantieren, dass sie die in den einschlägigen internationalen Menschenrechtsinstrumenten (insbesondere der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte) verankerten grundlegenden Verteidigungsrechte wahrnehmen können, vor allem das Recht, nicht willkürlich festgenommen oder in Haft gehalten zu werden, das Recht, über die Gründe für die Festnahme unterrichtet zu werden, das Recht auf den Beistand eines Dolmetschers, das Recht auf Unterstützung durch einen Rechtsbeistand, das Recht, unverzüglich einem Richter oder einer gesetzlich zur Wahrnehmung gerichtlicher Aufgaben ermächtigten Stelle vorgeführt zu werden, das in Artikel 36 des Wiener Übereinkommens über konsularische Beziehungen garantierte Recht auf konsularischen Schutz und, bei Flüchtlingen, das Recht, mit dem Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge in Verbindung zu treten. 24. Die Vertragsstaaten sollen sicherstellen, dass in Einrichtungen für Verwaltungsgewahrsam oder in Gewahrsamsräumen an Flughäfen untergebrachte Personen über hinlänglich menschenwürdige Lebensbedingungen verfügen. 25. Abschließend sollen die Vertragsstaaten, was die Vernehmung oder Verhaftung von Angehörigen der im letzten Präambelabsatz genannten Gruppen angeht, beim Umgang mit Frauen oder Minderjährigen beachten, dass in Anbetracht ihrer besonderen Vulnerabilität besondere Vorsichtsmaßnahmen zu treffen sind. 3 Verabschiedet vom Achten Kongress der Vereinten Nationen für Verbrechensverhütung und die Behandlung Straffälliger, Havanna, 27. August-7. September 1990. A LLGEMEINE EMPF E HLU NG 91 B. Untersuchungshaft 26. Da sich anhand von Statistiken belegen lässt, dass unter Untersuchungshäftlingen eine übermäßige Zahl von Nichtstaatsangehörigen und Angehörigen der im letzten Präambelabsatz genannten Gruppen vertreten ist, sollen die Vertragsstaaten sicherstellen, 4 (a) dass allein die Zugehörigkeit zu einer rassialisierten oder ethnisierten Gruppe oder einer der oben genannten Gruppen de iure und de facto kein hinlänglicher Grund ist, eine Person in Untersuchungshaft zu nehmen. Die Untersuchungshaft ist nur mit aus sachlichen, gesetzlich vorgesehenen Gründen gerechtfertigt, so etwa wegen Fluchtgefahr, der Gefahr, dass die Person Beweismittel vernichten oder auf Zeugen einwirken werde, oder der Gefahr einer schweren Störung der öffentlichen Ordnung; (b) dass das Erfordernis, eine Kaution oder finanzielle Sicherheitsleistung zu hinterlegen, um bis zum Hauptverfahren auf freiem Fuß bleiben zu können, auf eine der Situation von Angehörigen solcher Gruppen, die sich oft in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen befinden, angepasste Weise angewandt wird, damit es nicht die Diskriminierung dieser Personen zur Folge hat; (c) dass die Garantien, die Beschuldigte häufig als Vorbedingung dafür erbringen müssen, dass sie bis zur Hauptverhandlung auf freiem Fuß bleiben können (fester Wohnsitz, gemeldete Beschäftigung, stabile Familienbindungen) unter Berücksichtigung der unsicheren Situation, die sich insbesondere für Frauen und Minderjährige aus der Zugehörigkeit zu solchen Gruppen ergeben kann, gewichtet werden; (d) dass Angehörige solcher Gruppen, die in Untersuchungshaft gehalten werden, alle Reche wahrnehmen können, auf die Häftlinge nach den einschlägigen internationalen Normen Anspruch haben, insbesondere die auf ihre Situation besonders zutreffenden Rechte: das Recht auf Achtung ihrer Traditionen im Hinblick auf Religion, Kultur und Ernährung, das Recht auf Beziehungen zu ihren Familien, das Recht auf den Beistand eines Dolmetschers und gegebenenfalls das Recht auf konsularische Unterstützung. C. Die Hauptverhandlung und die Gerichtsentscheidung 27. Vor Beginn des Hauptverfahrens können die Vertragsstaaten gegebenenfalls nicht-gerichtlichen oder gerichtsähnlichen Verfahren zur Behandlung der Straftat den Vorzug geben, unter Berücksichtigung des kulturellen Hintergrunds oder der Traditionen des Straftäters, insbesondere bei Personen, die indigenen Völkern angehören. 28. Im Allgemeinen müssen die Vertragsstaaten sicherstellen, dass Angehörige der im letzten Präambelabsatz genannten Gruppen, wie alle anderen Personen, in den Genuss der in den einschlägigen internationalen Menschenrechtsinstrumenten verankerten Garantien eines fairen Verfahrens und der Gleichheit vor dem Gesetz gelangen, und zwar namentlich 1. Die Unschuldsvermutung 29. Dieses Recht bedeutet, dass es den Polizei-, Gerichts- und sonstigen staatlichen Behörden untersagt sein muss, vor der gerichtlichen Entscheidung öffentlich ihre Meinung über die Schuld des Beschuldigten zu äußern. Erst recht muss es ihnen untersagt sein, die Angehörigen von rassialisierten Gruppen vorab zu verdächtigen. Diese Behörden haben die Pflicht, sicherzustellen, dass die Massenmedien keine Informationen verbreiten, die bestimmte Kategorien von Personen, insbesondere soweit sie den im letzten Präambelabsatz genannten Gruppen angehören, stigmatisieren könnten. 4 Im englischen Originaltext wird hier der Begriff „racial or ethnic group“ verwendet. Rassialisierung oder auch Ethnisierung bedeutet, dass Menschen zu einer Rasse beziehungsweise einer Rasse oder Ethnie zugehörig gemacht werden. Sie werden dabei entlang unterschiedlicher Markierungen und durch unterschiedliche Zuschreibungen von Eigenschaften rassialisiert, vgl. den Beitrag von Danielzik in diesem Band. 92 AL LG EMEIN E EMPF EH LUNG 2. Das Recht auf einen Rechtsbeistand und das Recht auf einen Dolmetscher 30. Die effektive Gewährleistung dieser Rechte setzt voraus, dass Vertragsstaaten ein System für die unentgeltliche Beiordnung von Rechtsbeiständen und Dolmetschern einrichten und für rechtliche Hilfe oder Beratung und Dolmetschdienste für Angehörige der im letzten Präambelabsatz genannten Personen sorgen müssen. 3. Das Recht auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht 31. Die Vertragsstaaten sollen sich entschlossen darum bemühen, dass bei Richtern, Geschworenen und sonstigem Gerichtspersonal keinerlei rassistische oder fremdenfeindliche Voreingenommenheit besteht. 32. Sie sollen jede direkte Einflussnahme durch Interessengruppen, Ideologien, Religionen und Kirchen auf die Tätigkeit des Justizsystems und auf richterliche Entscheidungen verhindern, die sich auf bestimmte Gruppen diskriminierend auswirken kann. 33. In diesem Zusammenhang können die Vertragsstaaten die 2002 verabschiedeten Grundsätze von Bangalore betreffend den Verhaltensstandard von Richtern (E/CN.4/2003/65, Anlage) berücksichtigen, die insbesondere empfehlen, dass – die Richter sich der gesellschaftlichen und kulturellen Vielfaltbewusst sein sollen; – dass sie weder durch Worte noch durch ihr Verhalten rassistische Voreingenommenheit gegenüber Personen oder Gruppen zum Ausdruck bringen sollen. – dass sie bei Ausübung ihrer Pflichten auf alle Personen, wie etwa die Parteien, Zeugen, Anwälte, Gerichtsbediensteten und ihre Kollegen, ohne ungerechtfertigte Unterscheidung gebührend Rücksicht nehmen sollen; – dass sie der Äußerung von Vorurteilen durch ihrer Weisung unterstehende Personen und durch Anwälte oder deren diskriminierendem Verhalten gegenüber einer Person oder Gruppe auf Grund ihrer Hautfarbe, ihrer nationalen, religiösen oder sexuellen Herkunft, aus rassistischen oder aus anderen sachfremden Gründen entgegentreten sollen. D. Garantie der fairen Bestrafung 34. In dieser Hinsicht sollen die Staaten sicherstellen, dass die Gerichte nicht allein wegen der Zugehörigkeit eines Angeklagten zu einer rassialisierten Gruppe härtere Strafen verhängen. 35. Besondere Aufmerksamkeit soll in dieser Hinsicht dem System der Mindeststrafen und zwingenden Haftstrafen bei bestimmten Straftaten sowie der Todesstrafe in Ländern gelten, die sie nicht abgeschafft haben, da aus Berichten hervorgeht, dass diese Strafe häufiger gegen Angehörige rassialisierter Gruppen verhängt wird. 36. Bei Personen, die indigenen Völkern angehören, sollen die Vertragsstaaten Alternativen zur Freiheitsstrafe und anderen, dem Rechtssystem dieser Völker besser angepassten Formen der Strafe den Vorzug geben, insbesondere eingedenk des Übereinkommens der Internationalen Arbeitsorganisation Nr. 169 über indigene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern. 37. Ausschließlich auf Nichtstaatsangehörige abzielende, zusätzlich zu Strafen nach den allgemeinen Rechtsvorschriften verhängte Strafen, wie etwa Abschiebungen, Ausweisungen oder Wiedereinreiseverbote, sollen nur unter außergewöhnlichen Umständen und unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit aus gesetzlich festgelegten, schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung verhängt werden; dabei ist das Privat- und Familienleben der Betroffenen sowie der ihnen zustehende völkerrechtliche Schutz zu achten. E. Strafvollstreckung 38. Verbüßen Angehörige der im letzten Präambelabsatz genannten Gruppen eine Haftstrafe, soll der Vertragsstaat A LLGEMEINE EMPF E HLU NG (a) garantieren, dass diese Personen in den Genuss aller Rechte gelangen, auf die Häftlinge nach den einschlägigen internationalen Normen Anspruch haben, insbesondere die auf ihre Situation besonders zutreffenden Rechte: das Recht auf Achtung ihrer religiösen und kulturellen Gepflogenheiten, das Recht auf Achtung ihrer Bräuche im Hinblick auf die Ernährung, das Recht auf Beziehungen zu ihren Familien, das Recht auf den Beistand eines Dolmetschers, das Recht auf grundlegende Sozialleistungen und gegebenenfalls das Recht auf konsularische Unterstützung. Die medizinischen, psychologischen oder sozialen Dienstleistungen, die den Häftlingen geboten werden, sollen deren kulturellen Hintergrund berücksichtigen. (b) garantieren, dass alle Gefangenen, deren Rechte verletzt wurden, das Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer unabhängigen und unparteiischen Behörde haben. (c) in dieser Hinsicht die diesbezüglichen Normen der Vereinten Nationen einhalten, insbeson5 dere die Mindestgrundsätze für die Behandlung von Gefangenen , die Grundprinzipien für die 6 Behandlung der Gefangenen und den Grundsatzkatalog für den Schutz aller irgendeiner Form 7 von Haft oder Strafgefangenschaft unterworfenen Personen ; (d) solche Personen gegebenenfalls von den Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts und internationaler oder bilateraler Übereinkünfte zur Überstellung ausländischer Strafgefangener profitieren zu lassen und ihnen die Möglichkeit bieten, ihre Haftstrafe in ihrem Herkunftsland zu verbüßen. 39. Ferner sollen den für die Aufsicht über Haftanstalten verantwortlichen unabhängigen Behörden in den Vertragsstaaten Personen mit Sachkenntnissen auf dem Gebiet der rassistischen Diskriminierung und fundiertem Wissen über die Probleme rassismusbetroffener Gruppen und der sonstigen in dem letzten Präambelabsatz genannten vulnerablen Gruppen angehören; erforderlichenfalls sollen diese Aufsichtsbehörden über wirksame Besuchs- und Beschwerdemechanismen verfügen. 40. Werden Nichtstaatsangehörige zur Abschiebung oder Ausweisung oder zu einem Verbot der Wiedereinreise in das Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats verurteilt, soll der betreffende Vertragsstaat uneingeschränkt der aus den flüchtlingsrechtlichen und menschenrechtlichen Normen des Völkerrechts erwachsenden Pflicht der Nichtzurückweisung nachkommen und sicherstellen, dass diese Personen nicht in ein Land oder Hoheitsgebiet zurückgeschickt werden, in dem sie der Gefahr schwerer Verletzungen ihrer Menschenrechte ausgesetzt wären. 41. Abschließend sollen die Vertragsstaaten mit größtmöglicher Aufmerksamkeit darauf achten, im Hinblick auf Frauen und Kinder, die den im letzten Präambelabsatz genannten Gruppen angehören, sicherzustellen, dass diese in den Genuss der Sondervorkehrungen gelangen, auf die sie in Bezug auf die Strafvollstreckung Anspruch haben, eingedenk der besonderen Schwierigkeiten, denen sich Mütter und Frauen gegenübersehen, die bestimmten Gemeinschaften, insbesondere indigenen Gemeinschaften, angehören. 5 6 7 Verabschiedet vom Ersten Kongress der Vereinten Nationen für Verbrechensverhütung und die Behandlung Straffälliger, Genf, 22. August-3. September 1955, und gebilligt durch den Wirtschaftsund Sozialrat in seinen Resolutionen 663 C (XXIV) vom 31. Juli 1957 und 2076 (LXII) vom 13. Mai 1977. Verabschiedet und verkündet von der Generalversammlung in ihrer Resolution 45/111 vom 14. Dezember 1990. Verabschiedet von der Generalversammlung in ihrer Resolution 43/173 vom 9. Dezember 1988. 93 Impressum HERAUSGEBER Deutsches Institut für Menschenrechte Zimmerstraße 26/27 |10969 Berlin Tel.: 030 259 359–0 | Fax: 030 259 359–59 info@institut-fuer-menschenrechte.de www.institut-fuer-menschenrechte.de Praxis I Dezember 2018 ISBN 978–3–946499–06–0 (PDF) SATZ Da-TeX Gerd Blumenstein, Leipzig TITELBILD shutterstock Foto S. 5: Thomas Köhler/photothek © Deutsches Institut für Menschenrechte, 2018 Alle Rechte vorbehalten Deutsches Institut für Menschenrechte Zimmerstraße 26/27 10969 Berlin www.institut-fuer-menschenrechte.de