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Bredeney Beat
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eBook250 Seiten3 Stunden

Bredeney Beat

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Über dieses E-Book

Humorvoll und ohne Pathos erzählt Protagonistin Susanne von ihrer Familie, ihrer Kindheit und Jugend in den 70er- und 80er-Jahren.
Zunächst macht sie eine Zeitreise zum Beginn des 20. Jahrhunderts, der Leser lernt ihre Vorfahren kennen und erfährt, wie sich die Wege ihrer Eltern im Ruhrgebiet kreuzen.

Susanne erlebt das Erwachsenwerden mit all seinen Höhen und Tiefen im Essener Nobelviertel Bredeney. Sie macht Bekanntschaft mit den Tücken der Pubertät, mit Mobbing und mit erstem Liebeskummer. Sie findet ihren ganz eigenen Weg, damit fertig zu werden, indem sie eintaucht in eine Traumwelt aus Kitsch-Romanen und melancholischer Musik.

Letztendlich macht Susanne die bittere Erfahrung, dass auch das vom Wohlstand und vermeintlichem Idyll geprägte Bredeney vor Schicksalsschlägen nicht verschont bleibt, gleichzeitig lernt sie eine ganz andere, ihr bis dahin völlig fremde Welt kennen- und lieben.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum8. Juni 2021
ISBN9783753433912
Bredeney Beat
Autor

Sibylle Marks

Sibylle Marks wurde 1970 in Heidelberg geboren und lebt in Essen. Nach dem Abitur machte sie eine Ausbildung zur Schriftsetzerin, im Anschluss studierte sie u. a. Theaterwissenschaften und Anglistik in Bochum. Nach der Geburt von Zwillingsmädchen brach sie das Studium ab, um sich ganz ihren Töchtern zu widmen. Später schloss sie ein Studium der Malerei und Grafik an der HBK Essen ab und entdeckte zudem ihre Leidenschaft für das Schreiben. Bredeney Beat ist ihr erster Roman.

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    Buchvorschau

    Bredeney Beat - Sibylle Marks

    Über die Autorin:

    Sibylle Marks wurde 1970 in Heidelberg geboren und lebt in Essen. Nach dem Abitur machte sie eine Ausbildung zur Schriftsetzerin, im Anschluss studierte sie u. a. Theaterwissenschaften und Anglistik in Bochum. Nach der Geburt von Zwillingsmädchen brach sie das Studium ab, um sich ganz ihren Töchtern zu widmen. Später schloss sie ein Studium der Malerei und Grafik an der HBK Essen ab und entdeckte zudem ihre Leidenschaft für das Schreiben. „Bredeney Beat" ist ihr erster Roman.

    Für meine Eltern

    »Auf dem Wipfel eines Waldbaums

    saß meine Jugend und rief:

    Fang mich, fang mich!

    Und ich kletterte und strebte,

    sie zu erhaschen;

    doch lächelnd schwang sie sich

    höher und höher ...

    Von der rosenroten Zinne

    eines schwebenden Wölkleins

    winkte sie nieder:

    Fang mich, fang mich!

    Und ich stieg auf einen Berg,

    wo die Wolken wohnen,

    sie zu haschen.

    Doch höher und höher

    schwang sie sich.

    Aus dem tiefgoldnen Glanz

    des Morgensterns

    sah ich ihr Antlitz

    winkend sich neigen:

    Fang mich, fang mich!

    Auf denn,

    zu den Sternen!«

    Maria Janitschek

    Inhaltsverzeichnis

    Marlene ’69

    Elisabeth ’48

    Susanne ’70

    Susanne ’71

    Christiane ’77

    Plouescat ’78

    Anna ’80

    Herr Jablonski ’82

    Sue Ellen ’83

    Paul ’84

    Lore ’86

    Battle ’86

    Acid ’87

    Birthday ’88

    Old House ’88

    The Beasts ’88

    Berlin ’89

    Abi ’89

    Bredeney ’89

    Marlene ’69

    Wäre es nach meiner Großmutter gegangen, hätte ich das Licht dieser Welt gar nicht erblickt. Allerdings waren ihre Maßnahmen meiner Mutter gegenüber, meine Existenz zu verhindern, eher kontraproduktiv.

    Als Lore, meine Großmutter, eines Tages im Zimmer ihrer Tochter Marlene, genannt Lene, die Anti-Baby-Pille fand, war sie völlig entsetzt. Geradezu angeekelt nahm Lore das kleine Pillenpäckchen an sich und versteckte es an einem sicheren Ort.

    Lene, die gerade die Semesterferien bei ihren Eltern im Ruhrgebiet verbrachte, kam am Abend nach Hause, und sofort gab es von ihrer Mutter eine Gardinenpredigt, die sich gewaschen hatte.

    »Marlene! Wo hast du die denn her?«, schrie sie und fuchtelte wild mit der Pillenschachtel vor Lenes Nase herum. »Das ist wirklich das Letzte! Du bist schließlich nicht einmal verheiratet!«

    Da spielte es für meine Großmutter überhaupt keine Rolle, dass meine Eltern schon seit über einem Jahr ein Paar waren. Alles, was über ein Händchenhalten hinausging, befand sich jenseits von Lores Toleranzgrenze und Vorstellungskraft. Zumal mein Vater in Lores Augen sowieso nicht »der Richtige« war für ihr einziges Kind.

    »Wenn ich dich noch einmal dabei erwische, dass du so einen Schweinkram zu dir nimmst, verbiete ich dir den Umgang mit diesem Versager. Warte ab, bis dein Vater nach Hause kommt, er wird bestimmt begeistert sein!«

    Der Inhalt des Pillenpäckchens landete daraufhin in der Essener Kanalisation. Wir schreiben das Jahr 1969, die Zeit von Woodstock und freier Liebe, wenn Sie verstehen. Kurz, meine Mama pfiff offenbar auf die Vorschriften ihrer Eltern und meine Existenz war trotz des – oder besser gesagt – wegen des Einschreitens meiner Oma nicht mehr aufzuhalten.

    Meine Mutter Marlene Mertens wurde an einem schwülheißen Tag im Juli 1947 in Mannheim geboren. Es glich zu dieser Zeit fast einem Wunder, denn meine Großmutter war 41 Jahre alt, als sie endlich schwanger wurde. Meine Großeltern hatten die Hoffnung auf ein Kind schon längst aufgegeben. Es schien zunächst so, als würden der Zweite Weltkrieg und die sich daraus ergebenden schweren Zeiten das Gründen einer Familie verhindern.

    Mein Großvater Carl Mertens hatte das Glück, während des Zweiten Weltkrieges nicht zur Wehrmacht zu müssen. Er war aufgrund seiner Tätigkeit als promovierter Physiker bei der BASF damals viel im ganzen Deutschen Reich unterwegs und leistete mit seinen Physikerkollegen Forschungsarbeit. So blieb ihm die Front erspart, er musste stattdessen sein Wissen zur Entwicklung der Kernspaltung beitragen. Carl war eigentlich absoluter Pazifist und hat später nicht gerne über die dunklen Jahre des Nationalsozialismus gesprochen. Wenn jemand in seiner Gegenwart über den Zweiten Weltkrieg und den Abwurf der Atombomben über Hiroshima sprach, machte sich bei meinem Großvater sofort unendliche Traurigkeit breit. Auch wenn seine Arbeit natürlich nicht in direktem Zusammenhang stand, fühlte er sich irgendwie mitverantwortlich.

    »Es war ja Krieg. Wenn ich mich der Forschung widersetzt hätte, säßen wir jetzt bestimmt nicht hier, Susannchen!« Susannchen. Das bin übrigens ich.

    Lore blieb damals zurück im Hessischen und versorgte als Krankenschwester heimgekehrte, meist schwer verwundete und traumatisierte Soldaten, die ihr wie die Fliegen wegstarben. Die Grausamkeit, die Entbehrungen des Krieges und die Tatsache, dass sie so lange von meinem Großvater getrennt sein musste, machten sie schließlich sehr krank. Als 1945 endlich alles vorbei war, wog sie nur noch 45 Kilo und ihre Lebensfreude war erloschen. Carl kehrte heim und nun begann für das Paar – wie für so viele andere – der Wiederaufbau.

    »Lorchen, es wird schon alles wieder. Nu’ iss mal was!«

    Mein Großvater liebte seine Lore von Herzen und er setzte alles daran, sie wieder aufzupäppeln. Er nahm seine geregelte Arbeit wieder auf und es gelang ihm nach längerer Suche, eine kleine Wohnung in einem weniger zerbombten Teil von Mannheim zu finden. Ihre vorherige Wohnung in Ludwigshafen lag in Schutt und Asche. Lore und Carl standen vor dem Nichts.

    Und obwohl sich liebestechnisch zwischen meinen Großeltern in diesem Chaos und bedingt durch den Umstand, dass für Lore der reine Akt ja sowieso »Schweinkram« war, nicht viel abgespielt haben kann, muss zumindest ein Mal doch etwas passiert sein, denn am 20. Juli 1947 kam meine Mutter zur Welt. Lore lag 26 Stunden in den Wehen und ging bei der Geburt von Lene fast selber drauf.

    Somit hatte sich das Thema Kinderkriegen für sie ab sofort erledigt. »Sei froh, dass du überhaupt auf die Welt gekommen bist, Marlene. Bei deiner Geburt, das war knapp für uns beide, das kann ich dir sagen!« bemerkte sie bei vielen Gelegenheiten. Jaja, Lore konnte mitunter äußerst charmant sein.

    Die kleine Marlene erlebte zunächst eine ziemlich eintönige Nachkriegskindheit, ihre Mutter führte ein recht strenges Regiment, und der liebevolle Vater war leider viel zu selten zu Hause. Aber seine berufliche Karriere ging voran und Carl bekam im Jahre 1952 die Einladung zu einem sehr gut dotierten Forschungsauftrag in Colomiers in Frankreich. Da er dieses Angebot auf keinen Fall ablehnen konnte, packte die kleine Familie ihre wenigen Habseligkeiten und siedelte um nach Toulouse. Es folgten zehn glückliche Jahre, geprägt vom französischen Savoir-vivre, welches dann auch Lore geradezu aufblühen ließ.

    Während Carl sich in seiner neuen beruflichen Situation schnell zurechtfand, unternahm Lore mit Klein-Lene Streifzüge durch die Einkaufsstraßen von Toulouse und erfreute sich an der Haute Couture, den zahllosen Restaurants und Cafés.

    »Schau doch nur, Marlene, das ist der Dernier cri!«, rief sie aufgeregt, wenn sie in einem Schaufenster ein todschickes geblümtes Kostüm entdeckte, das sie einfach nicht im Laden lassen konnte und gleich am nächsten Morgen stolz der Nachbarschaft präsentierte.

    Meine Großmutter entwickelte nicht nur größten Eifer, die Landessprache zu erlernen, sondern hatte auch mächtig Spaß daran, einen Haufen Geld für teure Kleidung auszugeben. Carl ließ sie gewähren. Er war ja unendlich froh, sein »Lorchen« wieder glücklich zu sehen.

    Von der französischen Küche ließ Lore sich weniger inspirieren. Kuchen und Plätzchen backen, das konnte sie, aber Kochen war einfach nicht ihr Ding, das übernahm mein Großvater. Bis heute befinden sich einige von Carls original französischen Kochbüchern in meinem Besitz, oft versehen mit seinen handschriftlichen Kommentaren.

    Die Zeit in Frankreich machte aus ihm einen Meisterkoch, von seinem Talent durften wir viele Jahre profitieren. Er kredenzte uns regelmäßig die erlesensten Speisen: Hummersuppe, Hechtklößchen, Filet Wellington, Soufflé Glacé au Grand Marnier, um nur einige Leckerbissen zu nennen. Diese Völlerei hatte nicht unerhebliche Auswirkungen beim Gang auf die Waage, denn Carl »veredelte« die meisten seiner Gerichte mit Unmengen von Butter und Sahne. »Sonst schmeckt das doch nach nichts!«, war er der Meinung.

    Die Leidenschaft für das Kochen übertrug sich später auf meine Mutter. Sie stand Carl in Sachen Kochkunst in nichts nach. Meine Großmutter hingegen bekam höchstens einen lätschigen Pfannkuchen zustande. Aber gut essen, das konnte sie wieder.

    Lore Emilie Schwabe wurde 1906 in Eisenach geboren. Sie stammte aus einer gut situierten, teilweise sogar adeligen Akademikerfamilie, und da legte sie auch Zeit ihres Lebens großen Wert drauf. Ständig bekamen wir die Geschichte ihrer Vorfahren aufgetischt. »Susannchen, dein Ur-Ur-Urgroßvater war der Oberbürgermeister von Weimar, und seine Frau stammte von einem alten Adelsgeschlecht ab! Freiherrin Friederike Christiane zu Weimar-Orlamünde. Ganz feine Leute waren das!«

    Über die Familie ihres Mannes wurde im Übrigen nicht viel gesprochen, sie war in Lores Augen anscheinend nicht besonders erwähnenswert. Ich weiß nur, dass Carl am 29. Mai 1903 geboren wurde, eine Schwester hatte und Carls Vater, also mein Urgroßvater, einen Friseursalon irgendwo im Schwarzwald führte. Einmal erwähnte Lore, dass sie eine Cousine Carls in Triberg besucht hätten. Aber sie rümpfte diesbezüglich die Nase: »Was für ein ordinäres Weibsbild, diese alte Spinatwachtel! Kein Umgang für uns, pas du tout!«

    Lediglich eine Schwarz-Weiß-Aufnahme des Friseursalons meines Urgroßvaters dokumentiert die Existenz dieses Familienzweiges. Bedauerlich, denn gerne hätte ich mehr darüber erfahren, und ich frage mich bis heute, warum Carl nie Anekdoten aus seiner Jugend erzählt hat.

    Lores Vater, Dr. cand. Rudolf Schwabe, führte als Geschäftsführer die Hofapotheke in Eisenach, ihre Mutter Marie lernte er durch regen Kontakt zu den ortsansässigen Ärzten kennen, sie arbeitete nämlich als Arzthelferin. Mein Urgroßvater war eine sehr imposante Erscheinung und die hübsche Marie sofort hin und weg von ihm. Sie heirateten im August 1903 und zogen in die Theaterstraße in ein Stadthaus, das sich im Schwabschen Familienbesitz befand.

    Bei der opulenten »Hochzeits-Feyer« in der Loge »Carl zur Wartburg« wurde unter dem Motto »Ein froher Gast – Ist Niemands Last« ein großes Festessen zelebriert.

    Man startete mit einer »gar schmackhafft Vorspeyß, so man esset im Lande der Schweden«, gefolgt von »Rebhühnern mit gut teutsch Sauerkraut« und endete mit »Sodann annoch Frücht, Mandeln aus Italia samt allerley Ergötzlichkeiten«.

    Zunächst kam neun Monate später Lores Schwester Käthe zur Welt und mit der Geburt meiner Großmutter zwei Jahre darauf war die Familie komplett.

    Die Kindheit der beiden Mädchen verlief sehr glücklich und unbeschwert. Rudolf war zwar ein ziemlich strenger Vater, aber diese Strenge glich Mutter Marie durch ihre herzliche, liebevolle Art aus.

    Mein Urgroßvater, ein umtriebiger Mann, reiste leidenschaftlich gern und ließ sich zudem von sämtlichen Verwandten und Freunden Ansichtskarten aus aller Welt schicken. In meinem Besitz befinden sich mehrere Schuhkartons voller alter Fotos und Postkarten aus dieser Zeit, die ich hin und wieder hervorhole und mit Begeisterung betrachte. Darunter sind unter anderem Grüße aus Australien, Thailand, Indochina, Texas und Brasilien. Die Karten haben wunderbare nachträglich kolorierte Motive, wurden alle in Sütterlin beschrieben, und dies teilweise so winzig klein, dass man sie ohne Lupe kaum entziffern kann.

    Eine Postkarte stammt zum Beispiel aus Manchester in England, geschrieben am 13.1.1901, und ist an meine Urgroßmutter gerichtet, offenbar von einem früheren Verehrer:

    »Sehr geehrtes gnädiges Fräulein,

    zu Ihrem Geburtstag am 20.1. gestatte ich mir Ihnen die besten Glückwünsche zu Füssen zu legen. Hoffentlich verleben Sie den Tag recht gesund und fröhlich und haben ein angenehmes freudenreiches Jahr vor sich. Zudem ich die Dreistigkeit zu verzeihen bitte, dass ich überhaupt ein Lebenszeichen von mir gebe, verbleibe ich mit bester Empfehlung und mit freundlichen Grüßen an Ihre Angehörigen und die mir bekannten Damen,

    Ihr ergebener Eberhard« (Nachname unleserlich)

    Und es schrieb Karl – ein Freund der Familie – am 09.12.1909 aus Sao Paulo:

    »Lieber Rudolf, liebe Marie!

    Viele Herzliche Weihnachtsgrüße! Daß es mir so sehr weihnachtlich zumute wäre, könnte ich gerade nicht behaupten: 35 Grad im Schatten! Aber man gewöhnt sich dran! Was machen Frl. Käthe und Frl. Lore? Hoffentlich seid ihr alle wohl und munter. Ich werde täglich fetter! Herzlichen Gruß von Eurem Karl«

    Am 28.3.1929 wurde eine Ansichtskarte aus Sundsvall in Schweden an meine Urgroßmutter verschickt:

    »Herzlichsten Dank für Ihre gute Hilfe bei meiner Flucht von Eisenach! Ich bin froh, daß wir hier in ruhigeren Verhältnissen leben, wünsche nur, daß es auch bald in Deutschland besser wird. Grüßen Sie bitte die Herrschaften, die mich kennen!

    Ihre Henny Boström«

    Hier spielt die Autorin wahrscheinlich auf die Inflation an, die Deutschland 1929 in eine schlimme Wirtschaftskrise stürzte und ein Vorbote der politischen Veränderungen in den 30er-Jahren war.

    Neben der Reiselust hatte Rudolf noch ein weiteres Steckenpferd: die Fotografie. Da konnte er sich auf seinen Reisen natürlich gänzlich austoben. Aber auch zu Hause in Eisenach suchte er immer wieder nach ausgefallenen Motiven. Nicht selten musste sich die gesamte Großfamilie am Sonntagnachmittag in festlicher Kleidung im Garten oder bei schlechtem Wetter im Wohnzimmer versammeln. Die Mädchen und Frauen hatten aufwendige Frisuren mit riesigen Schleifen im Haar; sie trugen gestärkte weiße Blusen mit Spitze und lange Röcke sowie den echten Goldschmuck, der nur zu ganz besonderen Anlässen aus der Schatulle geholt wurde. Den Jungen wurden meist Matrosenanzüge verpasst, die Herren trugen selbstverständlich Fliege und Frack.

    Bis Rudolf das perfekte Foto inszeniert hatte, vergingen manchmal Stunden.

    »Erwin, nu’ halt doch mal still! Lorchen, guck nicht so bescheiden!«, schimpfte er. Offenbar war eine ständige Regieanweisung, möglichst ernst dreinzublicken. Auf den meisten Fotografien, die ich von damals noch besitze, schauen die Protagonisten ausnahmslos »wie die Kuh, wenn’s donnert«. Und nach der Prozedur klagten nicht wenige kurzfristig über eingeschlafene Gliedmaßen und Rückenleiden.

    Herrlich sind die Aufnahmen, bei denen mein Urgroßvater, inspiriert von seinen Reisen, ein Motto für den Fototermin vorgab. Dann bedurfte es besonderer Vorbereitung. Einmal mussten alle Mädchen für ein japanisches Motiv einen Kimono tragen und sich mit Stäbchen die Haare verzieren. Marie hatte zuvor Stunden damit verbracht, die Kleider aus asiatischen Stoffen zu nähen. Was hatten Lore und Käthe für einen Spaß! Das Leben war einfach wunderbar! Aber meiner Urgroßmutter wurde es manchmal zu bunt.

    »Heiliger Bimbam! Woher soll ich denn jetzt Indianerkostüme kriegen?«, klagte sie, als Rudolf eine dramatische Szene in einem Wigwam darstellen wollte. Natürlich musste dafür im Garten auch ein großes Tipi errichtet werden. Man erkennt auf dem Foto ziemlich schnell, dass hierfür sämtliche Teppiche aus dem Fundus der Familie ins Freie gebracht worden waren.

    Meine Urgroßeltern waren leidenschaftliche Gastgeber. Eine Eigenschaft, die sich übrigens bis heute in der Familie weitervererbt hat. Jeden Sommer erging an einem Wochenende eine Einladung an die gesamte Nachbarschaft der Theaterstraße, etliche Torten und Salate wurden zubereitet, der Garten festlich dekoriert, und auf dem Grill brutzelte ein saftiges Spanferkel. Der Schaumwein floss in Strömen. Es wurde gesungen, getanzt, und auf den eilig arrangierten Gruppenfotos sieht man sehr deutlich, dass der ein oder andere Gast schon recht tief ins Glas geschaut hatte. Ernst gucken konnte da jedenfalls niemand mehr.

    Von den schlimmen Folgen des Ersten Weltkriegs wurde die Familie in Eisenach glücklicherweise weitgehend verschont. Rudolf durfte als Apotheker vor Ort bleiben und musste nicht beim Militär dienen. Zum Kriegsende 1918 bekam er das Angebot, als Chemiker bei der IG Farben in Höchst eine Abteilung zu leiten. Also siedelte man nach Hessen über, sehr zum Leidwesen von Marie und den Mädchen, denn sie hingen an ihrer Heimat, aber da gab es natürlich keine Widerrede, das Familienoberhaupt hatte entschieden.

    Die Familie bezog ein schönes Haus am Stadtrand und lebte sich schnell ein, nur der hessische Dialekt bereitete zunächst Probleme.

    »Mama, die sprechen hier alle so komisch. Ich verstehe in der Schule kein Wort. ›Eihorrschemaa!‹«, klagte Käthe. »Was soll denn das heißen?«

    Aber sehr schnell war auch diese Barriere überwunden, und die Schwabschen Töchter fühlten sich pudelwohl in ihrer neuen Umgebung.

    Lore entdeckte den Sport für sich und entwickelte sich zu einem richtigen Tennis-As. Sie gewann mehrmals die hessischen Jugend-Meisterschaften und brachte einen Pokal nach dem anderen nach Hause. Noch mit 89 Jahren, bis kurz vor ihrem Tod, schwang sie mit viel Elan den Tennisschläger.

    Auf einen weiteren Titel war sie zeitlebens besonders stolz: Lore wurde zur »Höchster Kloßkönigin« gekürt, weil sie auf einem Stadtfest in kürzester Zeit sieben riesige Kartoffelklöße verputzte.

    Nach einer eher mittelmäßigen Schullaufbahn begann sie eine Ausbildung zur Krankenschwester und einige Herren der Schöpfung begannen, reges Interesse an meiner quirligen und hübschen Großmutter zu zeigen. Als mein Großvater, zu dieser Zeit Student in Frankfurt, sie an einem lauen Sommerabend des Jahres 1928 auf einem Weinfest an der Waterkant kennenlernte, war es sofort um ihn geschehen. Lore ließ ihn allerdings zunächst abblitzen.

    Erst nach drei Jahren unermüdlichen Werbens um ihre Gunst hatte sie ein Einsehen. Carl, mittlerweile in einer respektablen und recht gut bezahlten Stellung, mit der er auch eine Familie würde ernähren können, hielt bei den Schwabes um Lores Hand an und im Sommer 1931 wurde Hochzeit gefeiert.

    Nach der Zeit in Frankreich verschlug es Familie Mertens 1962 ins Ruhrgebiet: Carl wechselte zur Bergbauforschung nach Essen. Lore freute sich besonders über den erneuten Umzug, denn auch ihre Schwester Käthe lebte mit ihrem Mann und zwei Kindern im Essener Stadtwald. Und an deren Gartenzaun grenzte das Grundstück des Vaters meines Vaters.

    Während eines sommerlichen Kaffeekränzchens anlässlich der fröhlichen Familienzusammenführung flog ein von meinem Vater etwas unsauber geschossener Fußball über den Zaun in Nachbars Garten und landete »mit Schmackes« direkt in Tante Käthes Schwarzwälder Kirschtorte.

    »Na wartet! Euch werde ich es zeigen, ihr Bengel!«, fluchte Tante Käthes Gatte Egon, während er sich die Sahnespritzer aus dem rot angelaufenen Gesicht wischte. Meine Mutter kicherte verlegen und schaute meinem eilig türmenden Vater und dessen zwei Brüdern interessiert hinterher. So kam es zur ersten flüchtigen Begegnung meiner Eltern.

    Elisabeth

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