Sonderdruck
JAHRGANG 81
2017
HERAUSGEBER:
A. PLASSMANN · M. ROHRSCHNEIDER · C. WICH-REIF
VERÖFFENTLICHUNG
DER ABTEILUNG FÜR GESCHICHTE DER FRÜHEN NEUZEIT
UND RHEINISCHE LANDESGESCHICHTE
DES INSTITUTS FÜR GESCHICHTSWISSENSCHAFT DER UNIVERSITÄT BONN
HABELT VERLAG
DAS HEILIGE RÖMISCHE REICH DEUTSCHER NATION UND SEINE TERRITORIEN,
1493–1806
Joachim Whaleys Geschichte des Reiches in landeshistorischer Perspektive*
Von A n d r e a s R u t z
Das Erscheinen einer zweibändigen Geschichte des Heiligen Römischen Reiches aus
der Feder des englischen Historikers Joachim Whaley war 2012 ein Ereignis, das weltweit
Beachtung fand1. Denn eine so umfangreiche und profunde Darstellung und Diskussion
unseres Wissens über das Alte Reich hatte es bis dahin im englischsprachigen Raum nicht
gegeben. Und auch die großen Synthesen deutschsprachiger Historiker zum Thema, etwa
von Karl Otmar von Aretin, Horst Rabe, Heinz Schilling, Georg Schmidt oder den Autoren des neuen Gebhardt, werden durch das neue Standardwerk inhaltlich und argumentativ ergänzt und aktualisiert2. Eine Übersetzung von Whaleys Geschichte des Reiches ins
Deutsche, die 2014 von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft besorgt wurde, wäre für
die interessierten Historikerinnen und Historiker hierzulande sicherlich nicht zwingend
notwendig gewesen, mag jedoch die Rezeption des im Original fast 1.500, in der Übersetzung knapp 1.700 Seiten umfassenden Werks erleichtern. Zentraler Fokus ist die Verfassungs- und Politikgeschichte des Reiches. Mit Blick auf dieses übergreifende Thema
widmet sich der Autor auch wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Fragen, der Ideengeschichte, der Universitäts- und Bildungsgeschichte sowie der Entwicklung von Kunst
und Kultur. Abgesehen von der immer wieder diskutierten Frage nach der Herausbildung einer nationalen Identität, werden Themen der jüngeren Kulturgeschichte kaum
berührt. Insbesondere hinsichtlich der Kulturgeschichte des Politischen ist dies problematisch, hat sich in diesem Zusammenhang doch längst ein neuer Blick auf viele alte Fragen
etabliert, der Whaleys Themenstellung unmittelbar betrifft3.
* Rezension von Joachim W h a l e y , Das Heilige Römische Reich deutscher Nation und seine
Territorien, Bd. 1: Von Maximilian I. bis zum Westfälischen Frieden 1493–1648, Bd. 2: Vom Westfälischen Frieden bis zur Auflösung des Reichs 1648–1806, Darmstadt 2014.
1
Joachim W h a l e y , Germany and the Holy Roman Empire, Bd. 1: Maximilian I to the Peace of
Westphalia 1493–1648; Bd. 2: The Peace of Westphalia to the Dissolution of the Reich 1648–1806
(Oxford History of Early Modern Europe), Oxford 2012.
2
Heinz S c h i l l i n g , Aufbruch und Krise. Deutschland 1517–1648 (Das Reich und die Deutschen), Berlin 1988; d e r s ., Höfe und Allianzen. Deutschland 1648–1763 (Das Reich und die Deutschen), Berlin 1989; Horst R a b e , Deutsche Geschichte 1500–1600. Das Jahrhundert der Glaubensspaltung, München 1991; Karl Otmar von A r e t i n , Das Alte Reich 1648–1806, 4 Bde., Stuttgart
1993–2000; Georg S c h m i d t , Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit
1495–1806, München 1999; Wolfgang R e i n h a r d (Hg.), Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 9–12, Stuttgart 102001–2006 (Wolfgang R e i n h a r d , Maximilian L a n z i n n e r , Gerhard
S c h o r m a n n , Johannes B u r k h a r d t , Walter D e m e l ). Weitere Synthesen und Überblickswerke
sowie die wichtigste Literatur zur Geschichte des Reiches sind leicht greifbar in der Einführung von
Axel G o t t h a r d , Das Alte Reich 1495–1806 (Geschichte kompakt), Darmstadt 52013.
3
Vgl. nur Barbara S t o l l b e r g - R i l i n g e r (Hg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?
(Zeitschrift für Historische Forschung. Beiheft 35), Berlin 2005; d i e s ., Verfassungsgeschichte als
Kulturgeschichte?, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Ab-
Das Heilige Römische Reich deutscher Nation und seine Territorien
233
Nachdem sich zahlreiche Rezensenten vor allem in reichsgeschichtlicher Perspektive
mit dem Werk auseinandergesetzt haben4, soll im Folgenden ein landeshistorischer Blick
auf Whaleys Buch geworfen werden. Denn immerhin lautet der deutsche Titel ‚Das Heilige Römische Reich deutscher Nation und seine Territorien‘, lässt also erwarten, dass hier
neben der Reichsgeschichte auch die vielgestaltige deutsche Landesgeschichte ausführlicher berücksichtigt wird. Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis zeigt, dass der Titel durchaus seine Berechtigung hat, denn die Geschichte der Territorien nimmt bei Whaley einen
prominenten Platz ein5. Leider sind die Titel der in 13 Kapiteln organisierten 125 Abschnitte nicht immer sonderlich aussagekräftig, so dass die Orientierung mitunter schwerfällt bzw. Themen in Abschnitten angesprochen werden, in denen man sie gar nicht erwartet. Das gilt etwa für die mehrseitigen Ausführungen zur Geschichte jüdischen Lebens
in den Territorien des Reiches, die in einem Abschnitt mit dem Titel ‚Umgang mit Krisen‘
(I/47) versteckt sind.
In Band I, der die Zeit von Maximilian I. bis zum Westfälischen Frieden (1493–1648)
behandelt, wird der ‚Flickenteppich der Territorien‘ bereits in einem eigenen Abschnitt
des Einführungskapitels zur Situation um 1500 behandelt (I/3)6. Die territoriale Struktur
des Reiches wird somit gleich eingangs als grundlegender Faktor der frühneuzeitlichen
Geschichte Mitteleuropas herausgestellt – neben der Verfassung des Reiches (I/2) und der
Frage nach dem Verhältnis von Reich und deutscher Nation (I/4). In dieser Hinsicht stellt
Whaleys Buch freilich keinen Einzelfall dar. Auch andere Synthesen zur Reichsgeschichte
verweisen eingangs mehr oder weniger ausführlich auf die Territorien, bilden sie als
‚Glieder‘ des Reiches doch einen unverzichtbaren Teil von dessen Verfassung. Die Perspektive ist aber eine andere, denn die gängige Reichshistoriographie behandelt die territoriale Ebene des Reiches immer mit Blick auf das Reich und seine Verfassung, beschränkt
also den Blick auf die Territorien in ihrer Qualität als Reichsstände7.
teilung 127 (2010), S. 1–32; sowie die auch von Whaley zitierte Monographie: d i e s . , Des Kaisers alte
Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches, München 22013.
4
Vgl. nur die Rezensionen von Robert v o n F r i e d e b u r g , in: H-Soz-Kult, 29.01.2013, URL:
www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-18016 (30.04.2017); Christoph K a m p m a n n ,
Einheit in der Vielfalt – Einheit für die Vielfalt. Eine neue Gesamtgeschichte des römisch-deutschen
Reichs 1493 bis 1806, in: Historische Zeitschrift 299 (2014), S. 696–707.
5
Der englische Originaltitel ‚Germany and the Holy Roman Empire’, vgl. W h a l e y , Germany,
Bd. I (wie Anm. 1), weist dagegen in eine völlig andere Richtung, nämlich auf einen Zusammenhang
zwischen dem Reich und Deutschland, der deutschen Nation bzw. einer deutschen Identität, was
tatsächlich einer Grundthese Whaleys entspricht.
6
Im englischen Original lautet der Titel des Abschnitts ‚Fragmented Territories‘, W h a l e y ,
Germany, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 40–49, was die territoriale Gliederung des Reiches erheblich neutraler kennzeichnet als der in der älteren Forschung gängige und abwertend gemeinte Begriff ‚
Flickenteppich‘.
7
Vgl. jetzt exemplarisch für einen führenden Vertreter der (mediävistischen) Reichs- und Verfassungsgeschichte Christine R e i n l e , Landesgeschichte und Reichsgeschichte als komplementäre
Perspektiven auf die deutsche Geschichte. Peter Moraws Verständnis von Landesgeschichte, in:
d i e s . (Hg.), Stand und Perspektiven der Sozial- und Verfassungsgeschichte zum römisch-deutschen
Reich. Der Forschungseinfluss Peter Moraws auf die deutsche Mediävistik (Studien und Texte zur
Geistes- und Sozialgeschichte des Mittelalters 10), Affalterbach 2016, S. 221–249.
234
Andreas Rutz
Bei Whaley werden die Territorien sehr viel ausführlicher gewürdigt und haben – wie
in der Landesgeschichtsforschung – ein größeres Eigenleben. Sie sind Teil des Reiches,
zugleich aber auch eigenständige und vielfach recht eigenwillige politische Entitäten von
kaum zu überschauender Diversität. Nimmt man noch die vielen, mit den Schlagworten
Kirche, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur allenfalls grob zu beschreibenden Phänomene
hinzu, steigert sich dieser Eindruck ins Unermessliche. Diese Vielfalt in erschöpfender
Weise zu systematisieren und zu beschreiben, ist nicht möglich, wie auch Whaley konstatiert: „Die außergewöhnliche Vielfalt unterschiedlicher Bedingungen und Konstellationen
in den deutschen Territorien macht selbst einen groben Überblick schwierig. Alles war in
konstanter Veränderung begriffen [...]. Ein genauer Blick würde zeigen, dass viele Gebiete
eher einer Masse von Amöben glichen, so sehr veränderten sie fortwährend ihre Gestalt
durch Erbschaft, Heirat, Landkauf oder die weit verbreitete Methode, Land oder Jurisdiktionsrechte zu verpfänden“8.
Whaley geht es freilich nicht darum, möglichst viele Territorialgeschichten additiv
nebeneinanderzustellen. Vielmehr entfaltet er seine übergreifende Darstellung zu den
Territorien des Reiches in drei großen, systematisch angelegten Kapiteln, die auf die
unterschiedlichsten Fallbeispiele zurückgreifen, ohne dass eine regionale Präferenz bzw.
Beschränkung erkennbar wäre. Deutlich ist vielmehr das Bestreben, neben den Kurfürsten und anderen Großen des Reiches immer auch die mittleren und kleineren Akteure –
Grafen, Ritter oder Reichsprälaten – vergleichend einzubeziehen, um so die Vielfalt, aber
auch die zahlreichen Gemeinsamkeiten deutlich zu machen. Die Register der Bände, die
vor allem Personen und Orte bzw. Territorien, aber auch diverse Sachbegriffe enthalten,
dokumentieren diese Vorgehensweise sehr eindringlich: Natürlich sind Bayern, Böhmen,
Brandenburg/Preußen, Braunschweig/Hannover, Hessen, Köln, Mainz, Österreich und
die habsburgischen Erblande, Trier, Pfalz, Sachsen oder Württemberg mit den zugehörigen Regenten und Residenzen sehr präsent. Aber es finden sich auch Dutzende Einträge
zu den verschiedenen Reichsstädten, den Reichsrittern, den Reichsgrafen, geistlichen
Territorien wie Bamberg, Ellwangen, Fulda, Halberstadt, Kempten, Minden, Münster,
Salzburg, Osnabrück oder Paderborn, weltlichen wie Baden, Brandenburg-Ansbach,
Jülich-Kleve-Berg, Lippe-Detmold, Mecklenburg, Nassau, Steiermark, Wied-Runkel oder
Ysenburg-Büdingen und auch zu Regionen wie Elsass, Franken, Friesland, Pommern,
Oberpfalz, Schwaben, Thüringen oder Westfalen. Bei der Behandlung der betreffenden
landesgeschichtlichen Zusammenhänge schöpft Whaley hinsichtlich der Literatur aus
dem Vollen – von größeren Überblicken und Handbüchern bis hin zu Aufsatzpublikationen in spezialisierten Sammelbänden und Zeitschriften. Dass es dabei nicht um Vollständigkeit gehen kann, ist selbstverständlich.
Die drei Kapitel zu den Territorien fokussieren chronologisch auf einzelne Epochen –
die Zeit nach der reformationsgeschichtlichen Zäsur des Augsburger Religionsfriedens
von 1555, das Jahrhundert vom Westfälischen Frieden von 1648 bis zum Einsetzen der
frühen Aufklärung in den Territorien nach der Mitte des 18. Jahrhunderts und schließlich
die Zeit bis zum Ende des Reiches 1806. Für die Reformationszeit findet sich dagegen kein
eigenes Territorien-Kapitel. Vielmehr wird aufgrund der engen Verflechtung von protestantischer Bewegung und fürstlicher Herrschaft die territoriale Perspektive in die allgemeine Geschichte der Reformation und des Reiches in dieser Zeit eingebunden, was bei
Abschnitten etwa zur Reichskirche (I/7), zum Bauernkrieg (I/18) oder zum Schmalkal8
W h a l e y , Reich, Bd. 1, S. 67f.
Das Heilige Römische Reich deutscher Nation und seine Territorien
235
dischen Bund und seinen katholischen Gegenstücken (I/24) naheliegt. Hinzu kommen
aber auch separate Unterkapitel zur wirtschaftlichen Situation (I/11), zur Reformation in
den Städten (I/19), zur Entstehung protestantischer Territorien (I/20) sowie zum Beharrungsvermögen des Katholizismus (I/21), die von der lokalen bzw. territorialen Ebene
ausgehen und die Vielfalt der Entwicklungen anhand zahlreicher systematisch geordneter Beispiele skizzieren. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass Whaley im
Einklang mit der jüngeren Forschung das Modernisierungspotenzial der katholischen
Fürstentümer betont: „Das katholische Deutschland war nicht zurückgeblieben, sondern
entwickelte sich vielfach auf ähnliche Weise wie zur gleichen Zeit das protestantische
Deutschland“9. Er tut dies, wie an vielen anderen Stellen seines Werks auch, indem er die
zugehörigen Forschungskontroversen in einem weiten Bogen seit dem 19. Jahrhundert
darlegt und dem Leser so immer auch eine kritische Historiographiegeschichte bietet. Der
heutige, im Großen und Ganzen doch recht positive Blick auf das frühneuzeitliche Reich
wäre ohne diese Tiefenschärfe kaum nachvollziehbar. Zugleich sind die historischen
Debatten ein Spiegel der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, was die
Geschichte des Reiches auch für Historikerinnen und Historiker jüngerer Epochen interessant macht10.
Das Kapitel ‚Die deutschen Territorien und Städte nach 1555‘ umfasst etwa 100 Seiten
und behandelt die zentralen Probleme der Territorialgeschichte bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges. Nach einer Einführung in die ‚Probleme der Interpretation‘ (I/39),
die insbesondere die methodologischen Debatten um die Konzepte der Sozialdisziplinierung und der Konfessionalisierung rekapituliert, erörtert Whaley zunächst die demographischen, ökonomischen und sozialen Bedingungen des Zeitalters. Es folgt ein grundsätzlicher Abschnitt zum Thema ‚Staatenbildung?‘ (I/40), dessen Titel Whaley bewusst mit
einem Fragezeichen versieht. Als Begründung für seine Skepsis verweist er auf die fehlende Souveränität der Territorien im Reichsverband und das Festhalten vieler Fürsten an
einer patrimonialen Herrschaftsstrategie: „Was bei den deutschen Territorien der damaligen Zeit häufig als Prozess der Staatsbildung wahrgenommen wurde, ist eher eine neue
und energischere Methode der Besitzverwaltung. Die meisten deutschen Fürsten verstanden ihre Territorien als Patrimonialgebilde und ihre Herrschaftsstrategie wurde durch
dynastische Erwägungen und nicht durch abstrakte Auffassungen von einem Staat mit
Verantwortung für Wirtschaft und Gesellschaft bestimmt“11. Als Kennzeichen hierfür
verweist er vor allem auf die verbreitete Praxis der Erbteilung. Auch wenn man im Falle
der frühneuzeitlichen Territorien nicht von Staatsbildung sprechen mag und der Hinweis
auf die Souveränitätsfrage seine Berechtigung hat, ist diese Interpretation doch etwas
holzschnittartig. Denn spätestens seit dem 15. Jahrhundert lassen sich in allen Territorien
Ansätze zum Ausbau und zur Verdichtung territorialer Herrschaft bzw. Staatlichkeit und
die allmähliche Entwicklung eines transpersonalen Herrschaftsverständnisses feststel9
W h a l e y , Reich, Bd. 1, S. 345.
10
Matthias S c h n e t t g e r (Hg.), Imperium Romanum – Irregulare Corpus – Teutscher ReichsStaat. Das Alte Reich im Verständnis der Zeitgenossen und der Historiographie (Veröffentlichungen
des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Beiheft 57), Mainz 2002; d e r s ., Von der „Kleinstaaterei“ zum „komplementären Reichs-Staat“. Die Reichsverfassungsgeschichtsschreibung seit
dem Zweiten Weltkrieg, in: Hans-Christoph K r a u s , Thomas N i c k l a s (Hg.), Geschichte der Politik. Alte und neue Wege (Historische Zeitschrift. Beiheft N.F. 44), München 2007, S. 129–154.
11
W h a l e y , Reich, Bd. 1, S. 596.
236
Andreas Rutz
len12. Genannt seien als Schlagworte nur Ämterverfassung, Landeskirchenregiment,
Landstände, Steuern und Policey sowie nicht zuletzt die Einführung des PrimogeniturRechts und die institutionelle Ausdifferenzierung und Professionalisierung des landesherrlichen Regierungs- und Verwaltungsapparats. Die beiden letzten Punkte spricht
Whaley auf den folgenden Seiten selbst an. Die übrigen Aspekte der territorialen Herrschaftsbildung werden in eigenen Abschnitten zu ‚Innenpolitik und Verteidigung‘ (I/42)
und ‚Finanzen, Steuern und Stände [n]‘ (I/44) thematisiert. Ein weiterer Abschnitt widmet sich der ,Konfessionalisierung?‘ (I/43). Das Fragezeichen verweist hier auf die Forschungsdiskussion zum tatsächlichen Erfolg der obrigkeitlichen Maßnahmen hinsichtlich
der konfessionellen Identitätsbildung in der Bevölkerung. Intensiv beschäftigt sich
Whaley sodann mit der Struktur sowie der politischen und kulturellen Ausstrahlung der
Fürstenhöfe (I/45). Die Reichsstädte werden in einem eigenen Kapitel gewürdigt, wobei
der Autor insbesondere ihre Position im Reich, die vielfach durch Konflikt und Koexistenz geprägte konfessionelle Situation sowie wirtschaftliche Fragen erörtert (I/46). Der
letzte Abschnitt zum ‚Umgang mit Krisen‘ bildet die Coda des Kapitels, werden hier doch
diverse Probleme des späten 16. Jahrhunderts (Klima, Missernten, Migration, Hexen, Kriminalität) und die diesbezüglichen landesherrlichen Maßnahmen diskutiert, was vielleicht nicht die ‚Staatlichkeit‘ der Territorien des 16. Jahrhunderts unter Beweis stellt, aber
doch ihre Handlungsfähigkeit und die Suche nach Ordnungsmodellen im territorialen
Rahmen aufzeigt (I/47).
Das Kapitel ‚Die deutschen Territorien um 1648–1760‘ ist mit gut 200 Seiten das umfangreichste der drei Territorienkapitel. Der einführende Abschnitt ‚Ein deutscher Absolutismus?‘ setzt wiederum mit einer Reflexion des Forschungsstands (Absolutismusdebatte) ein, um sodann die grundlegenden Fakten zu Größe, Bevölkerungsentwicklung
und rechtlicher Situation zu rekapitulieren (II/22). Der folgende Abschnitt bietet eine gelungene Übersicht zur zeitgenössischen Staatstheorie, wobei unter anderem Lipsius, von
Seckendorff, Pufendorf, Thomasius und Wolff, aber auch ein katholischer Denker wie der
Jesuit Contzen gewürdigt werden (II/23). Anstatt bei der genaueren Behandlung der Territorien mit den beiden Mächten zu beginnen, deren Aufstieg und zunehmender Antagonismus die Historiographie des 19. und 20. Jahrhunderts umgetrieben hat, wendet sich
Whaley zunächst den ‚kleineren Territorien‘ zu (II/24). Das ist darstellerisch geschickt,
lenkt es den Blick des Lesers doch zunächst auf die Masse der Territorien und damit den
Normalfall anstatt auf die scheinbar übermächtigen Akteure des späten 17. und des 18.
Jahrhunderts, Österreich und Brandenburg-Preußen (II/25). Bei aller Vielfalt erkennt
Whaley „ab dem 15. Jahrhundert gemeinsame Grundzüge, die man fast so etwas wie eine
Norm nennen könnte. Die meisten Territorien entwickelten ähnliche Institutionen und
reagierten mit ähnlichen Reformversuchen auf die Herausforderung einer Abfolge von
religiösen und politischen Unruhen“. Bei einigen Territorien festzustellende Abweichungen von der allgemeinen Tendenz würden „die Gemeinsamkeiten der Masse“ umso deutlicher machen13. Die folgenden Abschnitte sind strukturgeschichtlich orientiert. Zunächst
werden die Verwaltung und ihre Institutionen behandelt (II/26), sodann die neuen, nach
12
Vgl. als Überblick Andreas R u t z , Möglichkeiten und Grenzen fürstlicher Herrschaft im spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Reich, in: Ralf-Peter F u c h s , Georg M ö l i c h , Bert T h i s s e n ,
Guido v o n B ü r e n (Hg.), Herrschaft, Hof und Humanismus. Wilhelm V. von Jülich-Kleve (1516–
1592) und seine Zeit (Schriftenreihe der Heresbach-Stiftung), Bielefeld 2017 [im Druck].
13
W h a l e y , Reich, Bd. 2, S. 236.
Das Heilige Römische Reich deutscher Nation und seine Territorien
237
1648 erbauten Residenzen und die Blüte der Hofkultur (II/27), das Militär (II/28) und die
Stände (II/29). Hieran schließt sich ein sozialgeschichtlicher Abschnitt zur Situation der
bäuerlichen Bevölkerung und der zunehmenden Verrechtlichung der Konflikte mit den
Grundherren an (II/30). Die folgenden Abschnitte befassen sich mit den landesherrlichen
Maßnahmen in unterschiedlichen Politikfeldern. Zunächst geht es um die Reichweite und
Wirksamkeit der territorialen Gesetzgebung und hier insbesondere um den Umgang mit
Armen und die Kontrolle von Migranten und Vaganten sowie die landesherrliche Peuplierungspolitik (II/31). Zwei weitere Abschnitte behandeln den Beitrag der Obrigkeiten
zur wirtschaftlichen Entwicklung, wobei unter anderem öffentliche Investitionen, Industrieförderung, staatliche Subventionen, das Problem der Verschuldung und das – wenig
erfolgreiche – koloniale Engagement der Territorien in Afrika und Übersee thematisiert
werden (II/32–33). Für die katholischen Territorien werden sodann die konfessionspolitischen Maßnahmen im Rahmen der Rekatholisierung sowie die Charakteristika des barocken Katholizismus aufgezeigt (II/34). Ergänzend dazu behandelt der folgende Abschnitt die Spezifika der Entwicklung in den geistlichen Territorien (II/35). Ein weiterer
Abschnitt gibt einen Überblick über die protestantische Konfessionskultur der Zeit (Orthodoxie, Pietismus) und ihre Verankerung in den Territorien (II/36). Nach dieser separaten Behandlung von Katholizismus und Protestantismus wendet sich Whaley im Abschnitt ‚Von der Koexistenz zur Toleranz?‘ noch einmal den Konfessionskonflikten und
der konfessionellen Koexistenz in vielen Gemeinwesen und Territorien zu und konstatiert
– trotz des Fragezeichens im Titel – das allmähliche Aufkommen der Vorstellung religiöser Toleranz und eines überkonfessionellen Staates (II/37). Den Abschluss des Kapitels
bildet schließlich ein Abschnitt zu ‚Aufklärung und Patriotismus‘ (II/38). Wie an anderen
Stellen seines Werks verweist Whaley zwar auf die Entstehung lokaler und territorialer
Patriotismen, interessiert sich aber letztlich doch vor allem für die reichspatriotischen
bzw. nationalen Diskurse14. Dass diese im 18. Jahrhundert durch eine neue soziale Reichweite geprägt gewesen seien und auch bürgerliche Kreise erreichten, ist sicher richtig.
Breitere Teile der Bevölkerung dürften aber auch in dieser Zeit mit dem Reich wenig anzufangen gewusst haben15.
Das abschließende Territorien-Kapitel ‚Die deutschen Territorien nach 1760‘ ist etwa
120 Seiten lang. Der Aufbau entspricht der Komposition der beiden anderen Kapitel zu
den Territorien des Reiches: Zunächst werden zentrale Forschungsdebatten pointiert zusammengefasst, unter anderem die Frage nach der Gültigkeit von Labeln wie ‚aufgeklärter Absolutismus‘ oder ‚Reformabsolutismus‘, die nach der langfristigen Bedeutung der
Reformen des 18. Jahrhunderts für die jüngere deutsche Geschichte oder auch die nach
der Abgrenzung einer deutschen von der französischen und englischen Aufklärung
(II/49). Es folgen zwei strukturgeschichtlich orientierte Abschnitte, die sich zum einen mit
der ökonomischen Situation der Territorien nach dem Siebenjährigen Krieg (II/50) und
zum anderen mit der Entstehung einer selbstbewussten Öffentlichkeit in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts befassen (II/51). Sodann wird in drei Abschnitten die ideengeschichtliche Physiognomie des Zeitalters vermessen. Der erste bietet ein Panorama der
14
So etwa auch in dem einleitenden Abschnitt ‚Das Reich und die deutsche Nation‘ (I/4).
15
So auch v o n F r i e d e b u r g , Rezension (wie Anm. 4), mit Verweis auf seine Arbeiten zu Hessen, insbesondere d e r s ., Ländliche Gesellschaft und Obrigkeit. Gemeindeprotest und politische
Mobilisierung im 18. und 19. Jahrhundert (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 117), Göttingen 1997.
238
Andreas Rutz
Vordenker der protestantischen, katholischen und jüdischen Aufklärung mit Blick auf
religiöse bzw. konfessionelle Fragen (II/52). Während die protestantische Ideengeschichte
auf acht Seiten und die jüdische auf immerhin fünf Seiten vorgestellt werden, handelt
Whaley die katholische Aufklärung auf nur drei Seiten ab, was den weiteren Forschungsbedarf in diesem Feld unterstreicht. Ein zweiter Abschnitt befasst sich mit Staatstheorie
und Regierungslehre in der Aufklärung, wobei auch die Rolle einer kritischen Öffentlichkeit als Mittel der Herrschaftskontrolle diskutiert wird (II/53). Schließlich wird das ökonomische Denken der Zeit in einem eigenen Abschnitt skizziert (II/54). In diesem Zusammenhang geht Whaley auch auf das konkrete Regierungshandeln im Bereich der Agrarreformen ein. Diese Perspektive dominiert dann die folgenden Abschnitte: Zunächst geht
es um wirtschaftspolitische Maßnahmen im Bereich des Manufakturwesens und des
Handwerks, außerdem um die öffentliche Wohlfahrt (Armenwesen) und – ganz knapp –
um Steuerpolitik (II/55). Sodann werden die Reformen im Bereich der Verwaltung, des
Rechts und der Justiz (II/56) sowie im Bildungswesen (II/57) und die jeweiligen Probleme der Umsetzung in den Blick genommen. Wie in anderen Teilen des Werks arbeitet
Whaley in diesen Abschnitten erfreulicherweise vergleichend, indem er weltliche und
geistliche sowie große und kleine Territorien gegenüberstellt. Mit der Hofkultur greift der
Autor schließlich ein Thema auf, das er auch in den vorhergehenden Territorien-Kapiteln
ausführlich thematisiert hat (II/58). Dezidiert betont er die bleibende Bedeutung der Fürstenhöfe. Eine Emanzipation der bürgerlichen Kultur von den Höfen habe es nicht gegeben, da „zwischen den Territorialregierungen der Fürsten und der bürgerlichen Kultur“
kein „Zwiespalt“ bestand16. Der letzte Abschnitt des Kapitels hat wiederum die Funktion
einer Coda. Resümierend werden die Folgen der Reformen reflektiert und es wird gefragt,
ob die Reformen die Territorien bzw. das Reich nicht immun gegen eine Revolution
gemacht hätten (II/59). Zugleich geht es um Fragen, die retrospektiv den gesamten behandelten Zeitraum bzw. prospektiv die Zeit nach Ende des Reiches umgreifen: „Unterschieden sich die Reformen des späten 18. Jahrhunderts qualitativ von denen irgendeiner
früheren Reformphase? Trugen Reformen zur Modernisierung der deutschen Territorien
bei, und wenn ja: Wie sind sie im Verhältnis zu dem einzuschätzen, was die deutsche
Überlieferung stets als die ‚großen Reformen‘ der napoleonischen Epoche betrachtet hat?“
Schließlich fragt Whaley, ob „territorialer Reformpatriotismus mit einer loyalen Einstellung zum Reich unvereinbar“ war17. Whaleys Antworten auf diese Fragen spiegeln die
Grundannahmen, die auch die im engeren Sinne reichsgeschichtlichen Teile seines Werks
bestimmen: Er verweist auf die Kontinuität der Reformen im Reich und in den Territorien
vom 15. bis 18. Jahrhundert und betont mit der jüngeren Forschung die Leistungsfähigkeit
und Dynamik des Systems. Damit wird auch die modernisierende Bedeutung der Reformen der napoleonischen Zeit relativiert, denn Whaley geht davon aus, dass das Reich am
Ende des 18. Jahrhunderts durchaus noch lebensfähig war und seine Auflösung weniger
von endogenen als von exogenen Faktoren bestimmt war. Die „erneute erfolgreiche Anpassung an veränderte Umstände vor 1806 legte die Grundlage für die Reformepoche, die
der Auflösung des Reichs folgte“18. Schließlich bekräftigt er mit Blick auf die Loyalitätsfrage seine Überzeugung, dass sich territoriales Zugehörigkeitsgefühl und Reichspatriotismus nicht ausschlossen, sondern dass sie vielmehr unauflöslich zusammengehörten:
16
W h a l e y , Reich, Bd. 2, S. 607.
17
W h a l e y , Reich, Bd. 2, S. 623.
18
W h a l e y , Reich, Bd. 2, S. 634.
Das Heilige Römische Reich deutscher Nation und seine Territorien
239
„Im Reich insgesamt gab es sicherlich genug Belege für Reformtätigkeiten, um die positive Sicht vieler deutscher Beobachter auf die Welt, die sie bewohnten, zu rechtfertigen.
Die Verteidigung des Reichs als Garant der Freiheit und die Behauptung, die deutschen
Herrscher hätten die Reformen, die die Franzosen 1789 zu verlangen begannen, bereits in
Angriff genommen, waren keine unrealistischen Antworten auf die Situation in den frühen 1790er Jahren“19.
Eine vergleichbare Geschichte der deutschen Territorien in der Frühen Neuzeit, wie
Whaley sie in den gut 420 Seiten umfassenden Territorien-Kapiteln seines Werkes, aber
auch in vielen weiteren Abschnitten entfaltet, ist von der deutschen landesgeschichtlichen
Forschung bislang noch nicht realisiert worden. Diese ist vielmehr, so möchte man ironisch bemerken, von ‚territorialer Zersplitterung‘ geprägt und gleicht einem ‚Flickenteppich‘: Systematisierungen in Form von Handbüchern erfolgen in der Regel auf regionaler,
territorialer oder diözesaner Ebene20. Verschiedene lexikalische Werke versammeln zudem Einzeldarstellungen zu ausgewählten Regionen und Territorien21. Überblicke, die
die strukturellen Merkmale der Territorien und übergreifende Entwicklungslinien skizzieren, sind dagegen äußerst rar. Zu verweisen ist auf die schmalen, aber höchst informativen Bände von Ernst Schubert und Joachim Bahlcke sowie die ältere, auf das Mittelalter
konzentrierte Synthese von Alois Gerlich22. Eine wichtige, häufig übersehene Ausnahme
bildet auch die Deutsche Verwaltungsgeschichte, deren erster Band mehrere große, synthetisierende Querschnittskapitel zur Geschichte der Territorien des Reiches in der Vormoderne enthält. Im Mittelpunkt stehen dabei territoriale Staatsbildung und Verwaltung,
es finden sich aber auch Abschnitte zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung23.
Einen neuartigen Ansatz, der Vielfalt gerecht zu werden und gleichzeitig vergleichend zu
19
W h a l e y , Reich, Bd. 2, S. 633.
20
Vgl. etwa für das Rheinland Eduard H e g e l , Norbert T r i p p e n (Hg.), Geschichte des Erzbistums Köln, 5 Bde., Köln 1964–2008; Franz P e t r i , Georg D r o e g e (Hg.), Rheinische Geschichte in
drei Bänden, Düsseldorf 1976–1983; Wilhelm J a n s s e n , Kleine Rheinische Geschichte, Düsseldorf
1997; Harm K l u e t i n g (Hg.), Das Herzogtum Westfalen, 2 Bde., Münster 2009/12; Stefan G o r i ß e n ,
Horst S a s s i n , Kurt W e s o l y (Hg.), Geschichte des Bergischen Landes, 2 Bde. (Bergische Forschungen. Quellen und Forschungen zur bergischen Geschichte, Kunst und Literatur 31–32), Bielefeld
2014/16.
21
Vgl. den Klassiker von Georg Wilhelm S a n t e (Hg.), Geschichte der deutschen Länder – Territorien-Ploetz, Bd. 1: Die Territorien bis zum Ende des alten Reiches, Würzburg 1964; außerdem
Gerhard K ö b l e r , Historisches Lexikon der deutschen Länder. Die deutschen Territorien vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 72007, sowie mit epochaler Fokussierung Anton S c h i n d l i n g ,
Walter Z i e g l e r (Hg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650, 7 Bde. (Katholisches Leben und Kirchenreform 49–53,
56–57), Münster 1989–1997; und jüngst Stephan L a u x , Die Reformationen in den Territorien, Städten
und Regionen des Alten Reichs, in: Helga S c h n a b e l - S c h ü l e (Hg.), Reformation. Historisch-kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart 2017 [im Druck].
22
Alois G e r l i c h , Geschichtliche Landeskunde des Mittelalters. Genese und Probleme, Darmstadt 1986; Ernst S c h u b e r t , Fürstliche Herrschaft und Territorium im späten Mittelalter (Enzyklopädie deutscher Geschichte 35), München 22006; Joachim B a h l c k e , Landesherrschaft, Territorien und Staat in der frühen Neuzeit (Enzyklopädie deutscher Geschichte 91), München 2012.
23
Kurt G.A. J e s e r i c h , Hans P o h l , Georg-Christoph U n r u h (Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches, Stuttgart 1983.
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Andreas Rutz
systematisieren, bietet künftig das Handbuch Landesgeschichte. Ausgewählte Themen
der deutschen Landesgeschichte, die auch Whaley behandelt, wie etwa territoriale Herrschaftsbildung, Region und Reich bzw. Nation oder Konstruktionen von Heimat, werden
von jeweils zwei Bearbeitern in einer vergleichenden Einführung skizziert und dann an
zwei unterschiedlichen Territorien oder Landschaften exemplifiziert24.
Vor dem Hintergrund einer noch kaum unternommenen vergleichenden Analyse und
Systematisierung der unterschiedlichen regionalen Befunde ist Whaleys Werk äußerst
willkommen und sollte unbedingt auch von Landeshistorikern als Handbuch und Referenz herangezogen werden. Zugleich lohnt sich eine kritische Auseinandersetzung mit
den übergreifenden Thesen des Buches. Der Autor will, wie er in der Einleitung zum
ersten Band genauer ausführt, zeigen, „wie das Reich als politisches Gemeinwesen funktionierte und welche geistigen, religiösen und kulturellen Kräfte seine Entwicklung zum
nationalen Gerüst für die deutschen Territorien formten“. Zum anderen geht es ihm um
„kollektive historische Erfahrung und Identität“ und damit um die Frage, inwieweit sich
die ‚Deutschen‘ im Laufe der Frühen Neuzeit mit dem Reich identifizierten, das Reich also
ein ‚Vaterland‘ bzw. eine ‚Nation‘ darstellte25. Dass Whaley diese Frage affirmativ beantwortet, hat Konsequenzen für seine Sicht auf das Verhältnis von Reich und Territorien in
der Frühen Neuzeit. Denn auch wenn der Autor immer wieder auf die territoriale Vielfalt
des Reiches verweist, betont er doch stets dessen Einheit. Whaley bemüht für dieses
scheinbare Paradoxon wiederholt die zeitgenössische Formel Einheit in Vielfalt und interpretiert die „Bewahrung von Individualität und Differenz“ sogar als „die wesentliche
Eigenschaft des Reichs“26. Überwölbt wurden die Differenzen laut Whaley zum einen
durch das dynamische Verfassungsgefüge und die Institutionen des Reiches und zum
anderen durch die „Herausbildung eines deutschen Nationalgefühls parallel zu oder im
Widerstreit mit territorialen Patriotismen“27.
Während Ersteres in der Forschung weitgehend Konsens ist, dürfte letzteres vielfältigen Widerspruch herausfordern und die Debatte um die Staatlichkeit des Reiches aus den
Jahren um die Jahrtausendwende noch einmal aufleben lassen28. Aber unabhängig davon,
24
Werner F r e i t a g , Michael K i ß e n e r , Christine R e i n l e , Sabine U l l m a n n (Hg.), Handbuch
Landesgeschichte, München 2017 [im Druck].
25
W h a l e y , Reich, Bd. 1, S. 32. Eine der wichtigsten Referenzen für Whaley ist in diesem Zusammenhang Georg S c h m i d t , von dem er in den Literaturverzeichnissen der beiden Bände 26 bzw. 16
Titel zitiert; vgl. nur d e r s . , Geschichte (wie Anm. 2).
26
W h a l e y , Reich, Bd. 1, S. 34. Vgl. hierzu ausführlich K a m p m a n n , Einheit (wie Anm. 4).
27
W h a l e y , Reich, Bd. 2, S. 12.
28
Ausgangspunkt war Georg S c h m i d t , Geschichte (wie Anm. 2), und die darin entwickelte
These vom „komplementären Reichs-Staat“ sowie einem damit einhergehenden deutschen Nationalgefühl. Vgl. in diesem Zusammenhang insb. die heftige Kritik von Heinz S c h i l l i n g , Reichs-Staat
und frühneuzeitliche Nation der Deutschen oder teilmodernisiertes Reichssystem. Überlegungen zu
Charakter und Aktualität des Alten Reiches, in: Historische Zeitschrift 272 (2001), S. 377–395, und die
Replik von Georg S c h m i d t , Das frühneuzeitliche Reich – komplementärer Staat und föderative
Nation, in: Historische Zeitschrift 273 (2001), S. 371–399; außerdem die betreffenden Beiträge in
S c h n e t t g e r , Imperium (wie Anm. 10), sowie jüngst mit starkem Fokus auf die ‚Staatlichkeit‘ der
Reichsterritorien Robert v o n F r i e d e b u r g , Luther’s Legacy: The Thirty Years War, and the Modern Notion of ‚State‘ in the Empire, 1530s to 1790s, Cambridge 2016.
Das Heilige Römische Reich deutscher Nation und seine Territorien
241
ob man Whaleys Thesen im Detail folgen will, bieten sich hier vielfältige Ansatzpunkte
für eine engere Verschränkung von Landes- und Reichsgeschichte, wie sie immer wieder
gefordert, aber viel zu selten eingelöst wird29. So ist etwa die Inanspruchnahme der
Reichsinstitutionen durch lokale und regionale Akteure und umgekehrt der Einfluss des
Reiches in der Region mit Blick auf Recht, Gerichtsbarkeit, Verwaltungspraxis usw. erst
ansatzweise erforscht30. Gleiches gilt für die von Whaley angesprochenen ‚Patriotismen‘,
die freilich nicht nur in ihren nationalen und territorialen, sondern auch in ihren lokalen
und regionalen Ausformungen zu untersuchen wären, um so im Einzelfall gleichsam
Hierarchien von Vaterländern oder Heimaten zu eruieren31.
29
Vgl. programmatisch Dietmar S c h i e r s n e r , Überblick von unten – oder: ein kleines Reich.
Was hat die Regionalgeschichte der Reichsgeschichte zu sagen?, in: Johannes B u r k h a r d t , Thomas
Max S a f l e y , Sabine U l l m a n n (Hg.), Geschichte in Räumen. Festschrift für Rolf Kießling zum
65. Geburtstag, Konstanz 2006, S. 295–322, insb. S. 319–322; Tobias S c h e n k , Reichsgeschichte als
Landesgeschichte. Eine Einführung in die Akten des kaiserlichen Reichshofrats, in: Westfalen. Hefte
für Geschichte, Kunst und Volkskunde 90 (2012), S. 107–161, hier S. 107–114; Michael H e c h t ,
Landesgeschichte und die Kulturgeschichte des Politischen, in: Sigrid H i r b o d i a n , Christian J ö r g ,
Sabine K l a p p (Hg.), Methoden und Wege der Landesgeschichte (Landesgeschichte 1), Ostfildern
2015, S. 165–190, hier S. 177f.; außerdem die Fallbeispiele bei Rolf K i e ß l i n g , Sabine U l l m a n n
(Hg.), Das Reich in der Region während des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Forum Suevicum.
Beiträge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen 6), Konstanz 2005; Manfred
G r o t e n (Hg.), Die Rheinlande und das Reich (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde. Vorträge 34), Düsseldorf 2007.
30
Vielfältige Erkenntnismöglichkeiten bieten in diesem Zusammenhang die Akten von Reichskammergericht und Reichshofrat, vgl. u.a. Helmut G a b e l , Beobachtungen zur territorialen Inanspruchnahme des Reichskammergerichts im Bereich des Niederrheinisch-Westfälischen Kreises, in:
Bernhard D i e s t e l k a m p (Hg.), Das Reichskammergericht in der deutschen Geschichte. Stand der
Forschung – Forschungsperspektiven (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im
Alten Reich 21), Köln, Wien 1990, S. 143–172; Siegrid W e s t p h a l , Stabilisierung durch Recht. Reichsgerichte als Schiedsstelle territorialer Konflikte, in: Ronald G. A s c h , Dagmar F r e i s t (Hg.), Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen
Neuzeit, Köln, Weimar, Wien 2005, S. 235–253; Sabine U l l m a n n , Schiedlichkeit und gute Nachbarschaft. Die Verfahrenspraxis der Kommissionen des Reichshofrats in den territorialen Hoheitskonflikten des 16. Jahrhunderts, in: Barbara S t o l l b e r g - R i l i n g e r , André K r i s c h e r (Hg.),
Herstellung und Darstellung von Entscheidungen. Verfahren, Verwalten und Verhandeln in der
Vormoderne (Zeitschrift für Historische Forschung. Beiheft 44), Berlin 2010, S. 129–155; S c h e n k ,
Reichsgeschichte (wie Anm. 29).
31
Vgl. etwa die einschlägigen Arbeiten von Klaus G r a f zu Schwaben und zum Kraichgau, die
Whaley nicht zitiert, u.a. d e r s . , Aspekte zum Regionalismus in Schwaben und am Oberrhein im
Spätmittelalter, in: Kurt A n d e r m a n n (Hg.), Historiographie am Oberrhein im späten Mittelalter
und in der frühen Neuzeit (Oberrheinische Studien 7), Sigmaringen 1988, S. 165–192; d e r s ., Der
Kraichgau. Bemerkungen zur historischen Identität einer Region, in: Stefan R h e i n (Hg.), Die Kraichgauer Ritterschaft in der frühen Neuzeit (Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten 3), Sigmaringen
1993, S. 9–46; d e r s ., Die „schwäbische Nation“ in der frühen Neuzeit. Eine Skizze, in: Zeitschrift für
Württembergische Landesgeschichte 59 (2000), S. 57–69; außerdem Rainer B a b e l , Jean-Marie
M o e g l i n (Hg.), Identité régionale et conscience nationale en France et en Allemagne du moyen âge
à l‘époque moderne (Beihefte der Francia 39), Sigmaringen 1997; Dieter L a n g e w i e s c h e , Georg
S c h m i d t (Hg.), Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten
Weltkrieg, München 2000; sowie jüngst v o n F r i e d e b u r g , Luther’s Legacy (wie Anm. 28), passim.
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Andreas Rutz
Whaleys These von der ‚Einheit in Vielfalt‘ ermöglicht dem Autor, zwischen dem Reich
als übergreifender Struktur und dem Eigenleben der zahlreichen Territorien zu vermitteln, ohne das Reich anachronistisch als Bundesstaat zu überhöhen oder als Flickenteppich zu brandmarken. Die landeshistorische Forschung der letzten Jahrzehnte wird
dabei in großer Breite einbezogen, und es ist sicherlich nicht das geringste Verdienst
Whaleys, dass er versucht, die Vielheit der diesbezüglichen Befunde aus der Perspektive
des Reiches tatsächlich als Einheit zu präsentieren. Aus landeshistorischer Sicht stellt sich
abschließend allerdings die Frage, ob das Reich als Referenzpunkt für eine Geschichte der
Territorien ausreicht oder ob diese nicht weitere Bezüge aufweist, die über den Rahmen
des Reiches hinausweisen32. Whaley weist selbst implizit darauf hin, wenn er eingangs
des ersten Bandes über die Grenzen des Reiches reflektiert und am Beispiel verschiedener
Territorien darlegt, dass der Grad der Bindung der Territorien an das Reich und ihrer
Integration in den Reichsverband um 1500 durchaus unterschiedlich war und in den folgenden Jahrhunderten zahlreiche Desintegrationsprozesse an der Peripherie erfolgten
(I/1). Am bekanntesten ist sicherlich die Lösung der Schweiz und der Niederlande aus
dem Reichsverband. In anderen Territorien bestanden seit dem Mittelalter durch Mehrfachvasallität multiple Loyalitäten und Abhängigkeiten. Aber auch Heiraten, Erbschaften,
Verpfändungen, Eroberungen usw. konnten komplexe reichs- und territorialrechtliche
Konsequenzen nach sich ziehen. In der Geschichte dieser Territorien treten im Laufe der
Zeit andere Bezugsgrößen, wie etwa Frankreich oder Spanien, auf den Plan, die für die
weitere Entwicklung von entscheidender Bedeutung waren und dementsprechend in eine
Landesgeschichte der betreffenden Gebiete zu integrieren sind. Eine solche europäisch
und grenzüberschreitend angelegte landesgeschichtliche Perspektive betrifft freilich nicht
nur die Frage der Zugehörigkeit zum Reichsverband, sondern die politischen Beziehungen und Verflechtungen der Reichsterritorien mit benachbarten Staaten insgesamt. Hier
eröffnet sich ein weites Feld europäischer (Regional-)Geschichte, das von dynastischen
Heiraten über unterschiedliche Formen quasi-souveräner Außenpolitik der Territorien
bis hin zur Reichsstandschaft auswärtiger Mächte reicht. Die Einheit des Reiches in Vielfalt, wie sie Whaley beschreibt, ist damit nicht obsolet. Es zeichnet sich aber ab, dass es
lohnend wäre, die Geschichte der Territorien auch einmal aus europäischer Perspektive
zu vermessen. Das gilt umso mehr, wenn man die Verflechtungen auf anderen Feldern als
dem der Politik mit einbezieht. Man denke etwa an die europäischen Netzwerke des
Adels, die Internationalität der katholischen Orden und Klöster, die interterritoriale Verflechtung von Handel und Wirtschaft oder auch die grenzüberschreitenden Lebensbezüge vieler im Grenzraum lebender Menschen. Neben der Landesgeschichte und der
europäischen Geschichte profitiert von einer solchen Betrachtungsweise auch die Reichsgeschichte, bewahrt sie doch davor, das Heilige Römische Reich deutscher Nation in eine
nationalgeschichtliche Kontinuität einzuspannen.
32
Vgl. in methodischer Perspektive Andreas R u t z , Deutsche Landesgeschichte europäisch.
Grenzen – Herausforderungen – Chancen, in: RhVjbll 79 (2015), S. 1–19; d e r s ., Landesgeschichte in
Europa. Traditionen – Institutionen – Perspektiven, in: F r e i t a g u.a., Handbuch (wie Anm. 24).