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Sonderdruck JAHRGANG 81 2017 HERAUSGEBER: A. PLASSMANN · M. ROHRSCHNEIDER · C. WICH-REIF VERÖFFENTLICHUNG DER ABTEILUNG FÜR GESCHICHTE DER FRÜHEN NEUZEIT UND RHEINISCHE LANDESGESCHICHTE DES INSTITUTS FÜR GESCHICHTSWISSENSCHAFT DER UNIVERSITÄT BONN HABELT VERLAG DAS HEILIGE RÖMISCHE REICH DEUTSCHER NATION UND SEINE TERRITORIEN, 1493–1806 Joachim Whaleys Geschichte des Reiches in landeshistorischer Perspektive* Von A n d r e a s R u t z Das Erscheinen einer zweibändigen Geschichte des Heiligen Römischen Reiches aus der Feder des englischen Historikers Joachim Whaley war 2012 ein Ereignis, das weltweit Beachtung fand1. Denn eine so umfangreiche und profunde Darstellung und Diskussion unseres Wissens über das Alte Reich hatte es bis dahin im englischsprachigen Raum nicht gegeben. Und auch die großen Synthesen deutschsprachiger Historiker zum Thema, etwa von Karl Otmar von Aretin, Horst Rabe, Heinz Schilling, Georg Schmidt oder den Autoren des neuen Gebhardt, werden durch das neue Standardwerk inhaltlich und argumentativ ergänzt und aktualisiert2. Eine Übersetzung von Whaleys Geschichte des Reiches ins Deutsche, die 2014 von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft besorgt wurde, wäre für die interessierten Historikerinnen und Historiker hierzulande sicherlich nicht zwingend notwendig gewesen, mag jedoch die Rezeption des im Original fast 1.500, in der Übersetzung knapp 1.700 Seiten umfassenden Werks erleichtern. Zentraler Fokus ist die Verfassungs- und Politikgeschichte des Reiches. Mit Blick auf dieses übergreifende Thema widmet sich der Autor auch wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Fragen, der Ideengeschichte, der Universitäts- und Bildungsgeschichte sowie der Entwicklung von Kunst und Kultur. Abgesehen von der immer wieder diskutierten Frage nach der Herausbildung einer nationalen Identität, werden Themen der jüngeren Kulturgeschichte kaum berührt. Insbesondere hinsichtlich der Kulturgeschichte des Politischen ist dies problematisch, hat sich in diesem Zusammenhang doch längst ein neuer Blick auf viele alte Fragen etabliert, der Whaleys Themenstellung unmittelbar betrifft3. * Rezension von Joachim W h a l e y , Das Heilige Römische Reich deutscher Nation und seine Territorien, Bd. 1: Von Maximilian I. bis zum Westfälischen Frieden 1493–1648, Bd. 2: Vom Westfälischen Frieden bis zur Auflösung des Reichs 1648–1806, Darmstadt 2014. 1 Joachim W h a l e y , Germany and the Holy Roman Empire, Bd. 1: Maximilian I to the Peace of Westphalia 1493–1648; Bd. 2: The Peace of Westphalia to the Dissolution of the Reich 1648–1806 (Oxford History of Early Modern Europe), Oxford 2012. 2 Heinz S c h i l l i n g , Aufbruch und Krise. Deutschland 1517–1648 (Das Reich und die Deutschen), Berlin 1988; d e r s ., Höfe und Allianzen. Deutschland 1648–1763 (Das Reich und die Deutschen), Berlin 1989; Horst R a b e , Deutsche Geschichte 1500–1600. Das Jahrhundert der Glaubensspaltung, München 1991; Karl Otmar von A r e t i n , Das Alte Reich 1648–1806, 4 Bde., Stuttgart 1993–2000; Georg S c h m i d t , Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495–1806, München 1999; Wolfgang R e i n h a r d (Hg.), Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 9–12, Stuttgart 102001–2006 (Wolfgang R e i n h a r d , Maximilian L a n z i n n e r , Gerhard S c h o r m a n n , Johannes B u r k h a r d t , Walter D e m e l ). Weitere Synthesen und Überblickswerke sowie die wichtigste Literatur zur Geschichte des Reiches sind leicht greifbar in der Einführung von Axel G o t t h a r d , Das Alte Reich 1495–1806 (Geschichte kompakt), Darmstadt 52013. 3 Vgl. nur Barbara S t o l l b e r g - R i l i n g e r (Hg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? (Zeitschrift für Historische Forschung. Beiheft 35), Berlin 2005; d i e s ., Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte?, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Ab- Das Heilige Römische Reich deutscher Nation und seine Territorien 233 Nachdem sich zahlreiche Rezensenten vor allem in reichsgeschichtlicher Perspektive mit dem Werk auseinandergesetzt haben4, soll im Folgenden ein landeshistorischer Blick auf Whaleys Buch geworfen werden. Denn immerhin lautet der deutsche Titel ‚Das Heilige Römische Reich deutscher Nation und seine Territorien‘, lässt also erwarten, dass hier neben der Reichsgeschichte auch die vielgestaltige deutsche Landesgeschichte ausführlicher berücksichtigt wird. Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis zeigt, dass der Titel durchaus seine Berechtigung hat, denn die Geschichte der Territorien nimmt bei Whaley einen prominenten Platz ein5. Leider sind die Titel der in 13 Kapiteln organisierten 125 Abschnitte nicht immer sonderlich aussagekräftig, so dass die Orientierung mitunter schwerfällt bzw. Themen in Abschnitten angesprochen werden, in denen man sie gar nicht erwartet. Das gilt etwa für die mehrseitigen Ausführungen zur Geschichte jüdischen Lebens in den Territorien des Reiches, die in einem Abschnitt mit dem Titel ‚Umgang mit Krisen‘ (I/47) versteckt sind. In Band I, der die Zeit von Maximilian I. bis zum Westfälischen Frieden (1493–1648) behandelt, wird der ‚Flickenteppich der Territorien‘ bereits in einem eigenen Abschnitt des Einführungskapitels zur Situation um 1500 behandelt (I/3)6. Die territoriale Struktur des Reiches wird somit gleich eingangs als grundlegender Faktor der frühneuzeitlichen Geschichte Mitteleuropas herausgestellt – neben der Verfassung des Reiches (I/2) und der Frage nach dem Verhältnis von Reich und deutscher Nation (I/4). In dieser Hinsicht stellt Whaleys Buch freilich keinen Einzelfall dar. Auch andere Synthesen zur Reichsgeschichte verweisen eingangs mehr oder weniger ausführlich auf die Territorien, bilden sie als ‚Glieder‘ des Reiches doch einen unverzichtbaren Teil von dessen Verfassung. Die Perspektive ist aber eine andere, denn die gängige Reichshistoriographie behandelt die territoriale Ebene des Reiches immer mit Blick auf das Reich und seine Verfassung, beschränkt also den Blick auf die Territorien in ihrer Qualität als Reichsstände7. teilung 127 (2010), S. 1–32; sowie die auch von Whaley zitierte Monographie: d i e s . , Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches, München 22013. 4 Vgl. nur die Rezensionen von Robert v o n F r i e d e b u r g , in: H-Soz-Kult, 29.01.2013, URL: www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-18016 (30.04.2017); Christoph K a m p m a n n , Einheit in der Vielfalt – Einheit für die Vielfalt. Eine neue Gesamtgeschichte des römisch-deutschen Reichs 1493 bis 1806, in: Historische Zeitschrift 299 (2014), S. 696–707. 5 Der englische Originaltitel ‚Germany and the Holy Roman Empire’, vgl. W h a l e y , Germany, Bd. I (wie Anm. 1), weist dagegen in eine völlig andere Richtung, nämlich auf einen Zusammenhang zwischen dem Reich und Deutschland, der deutschen Nation bzw. einer deutschen Identität, was tatsächlich einer Grundthese Whaleys entspricht. 6 Im englischen Original lautet der Titel des Abschnitts ‚Fragmented Territories‘, W h a l e y , Germany, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 40–49, was die territoriale Gliederung des Reiches erheblich neutraler kennzeichnet als der in der älteren Forschung gängige und abwertend gemeinte Begriff ‚ Flickenteppich‘. 7 Vgl. jetzt exemplarisch für einen führenden Vertreter der (mediävistischen) Reichs- und Verfassungsgeschichte Christine R e i n l e , Landesgeschichte und Reichsgeschichte als komplementäre Perspektiven auf die deutsche Geschichte. Peter Moraws Verständnis von Landesgeschichte, in: d i e s . (Hg.), Stand und Perspektiven der Sozial- und Verfassungsgeschichte zum römisch-deutschen Reich. Der Forschungseinfluss Peter Moraws auf die deutsche Mediävistik (Studien und Texte zur Geistes- und Sozialgeschichte des Mittelalters 10), Affalterbach 2016, S. 221–249. 234 Andreas Rutz Bei Whaley werden die Territorien sehr viel ausführlicher gewürdigt und haben – wie in der Landesgeschichtsforschung – ein größeres Eigenleben. Sie sind Teil des Reiches, zugleich aber auch eigenständige und vielfach recht eigenwillige politische Entitäten von kaum zu überschauender Diversität. Nimmt man noch die vielen, mit den Schlagworten Kirche, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur allenfalls grob zu beschreibenden Phänomene hinzu, steigert sich dieser Eindruck ins Unermessliche. Diese Vielfalt in erschöpfender Weise zu systematisieren und zu beschreiben, ist nicht möglich, wie auch Whaley konstatiert: „Die außergewöhnliche Vielfalt unterschiedlicher Bedingungen und Konstellationen in den deutschen Territorien macht selbst einen groben Überblick schwierig. Alles war in konstanter Veränderung begriffen [...]. Ein genauer Blick würde zeigen, dass viele Gebiete eher einer Masse von Amöben glichen, so sehr veränderten sie fortwährend ihre Gestalt durch Erbschaft, Heirat, Landkauf oder die weit verbreitete Methode, Land oder Jurisdiktionsrechte zu verpfänden“8. Whaley geht es freilich nicht darum, möglichst viele Territorialgeschichten additiv nebeneinanderzustellen. Vielmehr entfaltet er seine übergreifende Darstellung zu den Territorien des Reiches in drei großen, systematisch angelegten Kapiteln, die auf die unterschiedlichsten Fallbeispiele zurückgreifen, ohne dass eine regionale Präferenz bzw. Beschränkung erkennbar wäre. Deutlich ist vielmehr das Bestreben, neben den Kurfürsten und anderen Großen des Reiches immer auch die mittleren und kleineren Akteure – Grafen, Ritter oder Reichsprälaten – vergleichend einzubeziehen, um so die Vielfalt, aber auch die zahlreichen Gemeinsamkeiten deutlich zu machen. Die Register der Bände, die vor allem Personen und Orte bzw. Territorien, aber auch diverse Sachbegriffe enthalten, dokumentieren diese Vorgehensweise sehr eindringlich: Natürlich sind Bayern, Böhmen, Brandenburg/Preußen, Braunschweig/Hannover, Hessen, Köln, Mainz, Österreich und die habsburgischen Erblande, Trier, Pfalz, Sachsen oder Württemberg mit den zugehörigen Regenten und Residenzen sehr präsent. Aber es finden sich auch Dutzende Einträge zu den verschiedenen Reichsstädten, den Reichsrittern, den Reichsgrafen, geistlichen Territorien wie Bamberg, Ellwangen, Fulda, Halberstadt, Kempten, Minden, Münster, Salzburg, Osnabrück oder Paderborn, weltlichen wie Baden, Brandenburg-Ansbach, Jülich-Kleve-Berg, Lippe-Detmold, Mecklenburg, Nassau, Steiermark, Wied-Runkel oder Ysenburg-Büdingen und auch zu Regionen wie Elsass, Franken, Friesland, Pommern, Oberpfalz, Schwaben, Thüringen oder Westfalen. Bei der Behandlung der betreffenden landesgeschichtlichen Zusammenhänge schöpft Whaley hinsichtlich der Literatur aus dem Vollen – von größeren Überblicken und Handbüchern bis hin zu Aufsatzpublikationen in spezialisierten Sammelbänden und Zeitschriften. Dass es dabei nicht um Vollständigkeit gehen kann, ist selbstverständlich. Die drei Kapitel zu den Territorien fokussieren chronologisch auf einzelne Epochen – die Zeit nach der reformationsgeschichtlichen Zäsur des Augsburger Religionsfriedens von 1555, das Jahrhundert vom Westfälischen Frieden von 1648 bis zum Einsetzen der frühen Aufklärung in den Territorien nach der Mitte des 18. Jahrhunderts und schließlich die Zeit bis zum Ende des Reiches 1806. Für die Reformationszeit findet sich dagegen kein eigenes Territorien-Kapitel. Vielmehr wird aufgrund der engen Verflechtung von protestantischer Bewegung und fürstlicher Herrschaft die territoriale Perspektive in die allgemeine Geschichte der Reformation und des Reiches in dieser Zeit eingebunden, was bei Abschnitten etwa zur Reichskirche (I/7), zum Bauernkrieg (I/18) oder zum Schmalkal8 W h a l e y , Reich, Bd. 1, S. 67f. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation und seine Territorien 235 dischen Bund und seinen katholischen Gegenstücken (I/24) naheliegt. Hinzu kommen aber auch separate Unterkapitel zur wirtschaftlichen Situation (I/11), zur Reformation in den Städten (I/19), zur Entstehung protestantischer Territorien (I/20) sowie zum Beharrungsvermögen des Katholizismus (I/21), die von der lokalen bzw. territorialen Ebene ausgehen und die Vielfalt der Entwicklungen anhand zahlreicher systematisch geordneter Beispiele skizzieren. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass Whaley im Einklang mit der jüngeren Forschung das Modernisierungspotenzial der katholischen Fürstentümer betont: „Das katholische Deutschland war nicht zurückgeblieben, sondern entwickelte sich vielfach auf ähnliche Weise wie zur gleichen Zeit das protestantische Deutschland“9. Er tut dies, wie an vielen anderen Stellen seines Werks auch, indem er die zugehörigen Forschungskontroversen in einem weiten Bogen seit dem 19. Jahrhundert darlegt und dem Leser so immer auch eine kritische Historiographiegeschichte bietet. Der heutige, im Großen und Ganzen doch recht positive Blick auf das frühneuzeitliche Reich wäre ohne diese Tiefenschärfe kaum nachvollziehbar. Zugleich sind die historischen Debatten ein Spiegel der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, was die Geschichte des Reiches auch für Historikerinnen und Historiker jüngerer Epochen interessant macht10. Das Kapitel ‚Die deutschen Territorien und Städte nach 1555‘ umfasst etwa 100 Seiten und behandelt die zentralen Probleme der Territorialgeschichte bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges. Nach einer Einführung in die ‚Probleme der Interpretation‘ (I/39), die insbesondere die methodologischen Debatten um die Konzepte der Sozialdisziplinierung und der Konfessionalisierung rekapituliert, erörtert Whaley zunächst die demographischen, ökonomischen und sozialen Bedingungen des Zeitalters. Es folgt ein grundsätzlicher Abschnitt zum Thema ‚Staatenbildung?‘ (I/40), dessen Titel Whaley bewusst mit einem Fragezeichen versieht. Als Begründung für seine Skepsis verweist er auf die fehlende Souveränität der Territorien im Reichsverband und das Festhalten vieler Fürsten an einer patrimonialen Herrschaftsstrategie: „Was bei den deutschen Territorien der damaligen Zeit häufig als Prozess der Staatsbildung wahrgenommen wurde, ist eher eine neue und energischere Methode der Besitzverwaltung. Die meisten deutschen Fürsten verstanden ihre Territorien als Patrimonialgebilde und ihre Herrschaftsstrategie wurde durch dynastische Erwägungen und nicht durch abstrakte Auffassungen von einem Staat mit Verantwortung für Wirtschaft und Gesellschaft bestimmt“11. Als Kennzeichen hierfür verweist er vor allem auf die verbreitete Praxis der Erbteilung. Auch wenn man im Falle der frühneuzeitlichen Territorien nicht von Staatsbildung sprechen mag und der Hinweis auf die Souveränitätsfrage seine Berechtigung hat, ist diese Interpretation doch etwas holzschnittartig. Denn spätestens seit dem 15. Jahrhundert lassen sich in allen Territorien Ansätze zum Ausbau und zur Verdichtung territorialer Herrschaft bzw. Staatlichkeit und die allmähliche Entwicklung eines transpersonalen Herrschaftsverständnisses feststel9 W h a l e y , Reich, Bd. 1, S. 345. 10 Matthias S c h n e t t g e r (Hg.), Imperium Romanum – Irregulare Corpus – Teutscher ReichsStaat. Das Alte Reich im Verständnis der Zeitgenossen und der Historiographie (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Beiheft 57), Mainz 2002; d e r s ., Von der „Kleinstaaterei“ zum „komplementären Reichs-Staat“. Die Reichsverfassungsgeschichtsschreibung seit dem Zweiten Weltkrieg, in: Hans-Christoph K r a u s , Thomas N i c k l a s (Hg.), Geschichte der Politik. Alte und neue Wege (Historische Zeitschrift. Beiheft N.F. 44), München 2007, S. 129–154. 11 W h a l e y , Reich, Bd. 1, S. 596. 236 Andreas Rutz len12. Genannt seien als Schlagworte nur Ämterverfassung, Landeskirchenregiment, Landstände, Steuern und Policey sowie nicht zuletzt die Einführung des PrimogeniturRechts und die institutionelle Ausdifferenzierung und Professionalisierung des landesherrlichen Regierungs- und Verwaltungsapparats. Die beiden letzten Punkte spricht Whaley auf den folgenden Seiten selbst an. Die übrigen Aspekte der territorialen Herrschaftsbildung werden in eigenen Abschnitten zu ‚Innenpolitik und Verteidigung‘ (I/42) und ‚Finanzen, Steuern und Stände [n]‘ (I/44) thematisiert. Ein weiterer Abschnitt widmet sich der ,Konfessionalisierung?‘ (I/43). Das Fragezeichen verweist hier auf die Forschungsdiskussion zum tatsächlichen Erfolg der obrigkeitlichen Maßnahmen hinsichtlich der konfessionellen Identitätsbildung in der Bevölkerung. Intensiv beschäftigt sich Whaley sodann mit der Struktur sowie der politischen und kulturellen Ausstrahlung der Fürstenhöfe (I/45). Die Reichsstädte werden in einem eigenen Kapitel gewürdigt, wobei der Autor insbesondere ihre Position im Reich, die vielfach durch Konflikt und Koexistenz geprägte konfessionelle Situation sowie wirtschaftliche Fragen erörtert (I/46). Der letzte Abschnitt zum ‚Umgang mit Krisen‘ bildet die Coda des Kapitels, werden hier doch diverse Probleme des späten 16. Jahrhunderts (Klima, Missernten, Migration, Hexen, Kriminalität) und die diesbezüglichen landesherrlichen Maßnahmen diskutiert, was vielleicht nicht die ‚Staatlichkeit‘ der Territorien des 16. Jahrhunderts unter Beweis stellt, aber doch ihre Handlungsfähigkeit und die Suche nach Ordnungsmodellen im territorialen Rahmen aufzeigt (I/47). Das Kapitel ‚Die deutschen Territorien um 1648–1760‘ ist mit gut 200 Seiten das umfangreichste der drei Territorienkapitel. Der einführende Abschnitt ‚Ein deutscher Absolutismus?‘ setzt wiederum mit einer Reflexion des Forschungsstands (Absolutismusdebatte) ein, um sodann die grundlegenden Fakten zu Größe, Bevölkerungsentwicklung und rechtlicher Situation zu rekapitulieren (II/22). Der folgende Abschnitt bietet eine gelungene Übersicht zur zeitgenössischen Staatstheorie, wobei unter anderem Lipsius, von Seckendorff, Pufendorf, Thomasius und Wolff, aber auch ein katholischer Denker wie der Jesuit Contzen gewürdigt werden (II/23). Anstatt bei der genaueren Behandlung der Territorien mit den beiden Mächten zu beginnen, deren Aufstieg und zunehmender Antagonismus die Historiographie des 19. und 20. Jahrhunderts umgetrieben hat, wendet sich Whaley zunächst den ‚kleineren Territorien‘ zu (II/24). Das ist darstellerisch geschickt, lenkt es den Blick des Lesers doch zunächst auf die Masse der Territorien und damit den Normalfall anstatt auf die scheinbar übermächtigen Akteure des späten 17. und des 18. Jahrhunderts, Österreich und Brandenburg-Preußen (II/25). Bei aller Vielfalt erkennt Whaley „ab dem 15. Jahrhundert gemeinsame Grundzüge, die man fast so etwas wie eine Norm nennen könnte. Die meisten Territorien entwickelten ähnliche Institutionen und reagierten mit ähnlichen Reformversuchen auf die Herausforderung einer Abfolge von religiösen und politischen Unruhen“. Bei einigen Territorien festzustellende Abweichungen von der allgemeinen Tendenz würden „die Gemeinsamkeiten der Masse“ umso deutlicher machen13. Die folgenden Abschnitte sind strukturgeschichtlich orientiert. Zunächst werden die Verwaltung und ihre Institutionen behandelt (II/26), sodann die neuen, nach 12 Vgl. als Überblick Andreas R u t z , Möglichkeiten und Grenzen fürstlicher Herrschaft im spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Reich, in: Ralf-Peter F u c h s , Georg M ö l i c h , Bert T h i s s e n , Guido v o n B ü r e n (Hg.), Herrschaft, Hof und Humanismus. Wilhelm V. von Jülich-Kleve (1516– 1592) und seine Zeit (Schriftenreihe der Heresbach-Stiftung), Bielefeld 2017 [im Druck]. 13 W h a l e y , Reich, Bd. 2, S. 236. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation und seine Territorien 237 1648 erbauten Residenzen und die Blüte der Hofkultur (II/27), das Militär (II/28) und die Stände (II/29). Hieran schließt sich ein sozialgeschichtlicher Abschnitt zur Situation der bäuerlichen Bevölkerung und der zunehmenden Verrechtlichung der Konflikte mit den Grundherren an (II/30). Die folgenden Abschnitte befassen sich mit den landesherrlichen Maßnahmen in unterschiedlichen Politikfeldern. Zunächst geht es um die Reichweite und Wirksamkeit der territorialen Gesetzgebung und hier insbesondere um den Umgang mit Armen und die Kontrolle von Migranten und Vaganten sowie die landesherrliche Peuplierungspolitik (II/31). Zwei weitere Abschnitte behandeln den Beitrag der Obrigkeiten zur wirtschaftlichen Entwicklung, wobei unter anderem öffentliche Investitionen, Industrieförderung, staatliche Subventionen, das Problem der Verschuldung und das – wenig erfolgreiche – koloniale Engagement der Territorien in Afrika und Übersee thematisiert werden (II/32–33). Für die katholischen Territorien werden sodann die konfessionspolitischen Maßnahmen im Rahmen der Rekatholisierung sowie die Charakteristika des barocken Katholizismus aufgezeigt (II/34). Ergänzend dazu behandelt der folgende Abschnitt die Spezifika der Entwicklung in den geistlichen Territorien (II/35). Ein weiterer Abschnitt gibt einen Überblick über die protestantische Konfessionskultur der Zeit (Orthodoxie, Pietismus) und ihre Verankerung in den Territorien (II/36). Nach dieser separaten Behandlung von Katholizismus und Protestantismus wendet sich Whaley im Abschnitt ‚Von der Koexistenz zur Toleranz?‘ noch einmal den Konfessionskonflikten und der konfessionellen Koexistenz in vielen Gemeinwesen und Territorien zu und konstatiert – trotz des Fragezeichens im Titel – das allmähliche Aufkommen der Vorstellung religiöser Toleranz und eines überkonfessionellen Staates (II/37). Den Abschluss des Kapitels bildet schließlich ein Abschnitt zu ‚Aufklärung und Patriotismus‘ (II/38). Wie an anderen Stellen seines Werks verweist Whaley zwar auf die Entstehung lokaler und territorialer Patriotismen, interessiert sich aber letztlich doch vor allem für die reichspatriotischen bzw. nationalen Diskurse14. Dass diese im 18. Jahrhundert durch eine neue soziale Reichweite geprägt gewesen seien und auch bürgerliche Kreise erreichten, ist sicher richtig. Breitere Teile der Bevölkerung dürften aber auch in dieser Zeit mit dem Reich wenig anzufangen gewusst haben15. Das abschließende Territorien-Kapitel ‚Die deutschen Territorien nach 1760‘ ist etwa 120 Seiten lang. Der Aufbau entspricht der Komposition der beiden anderen Kapitel zu den Territorien des Reiches: Zunächst werden zentrale Forschungsdebatten pointiert zusammengefasst, unter anderem die Frage nach der Gültigkeit von Labeln wie ‚aufgeklärter Absolutismus‘ oder ‚Reformabsolutismus‘, die nach der langfristigen Bedeutung der Reformen des 18. Jahrhunderts für die jüngere deutsche Geschichte oder auch die nach der Abgrenzung einer deutschen von der französischen und englischen Aufklärung (II/49). Es folgen zwei strukturgeschichtlich orientierte Abschnitte, die sich zum einen mit der ökonomischen Situation der Territorien nach dem Siebenjährigen Krieg (II/50) und zum anderen mit der Entstehung einer selbstbewussten Öffentlichkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts befassen (II/51). Sodann wird in drei Abschnitten die ideengeschichtliche Physiognomie des Zeitalters vermessen. Der erste bietet ein Panorama der 14 So etwa auch in dem einleitenden Abschnitt ‚Das Reich und die deutsche Nation‘ (I/4). 15 So auch v o n F r i e d e b u r g , Rezension (wie Anm. 4), mit Verweis auf seine Arbeiten zu Hessen, insbesondere d e r s ., Ländliche Gesellschaft und Obrigkeit. Gemeindeprotest und politische Mobilisierung im 18. und 19. Jahrhundert (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 117), Göttingen 1997. 238 Andreas Rutz Vordenker der protestantischen, katholischen und jüdischen Aufklärung mit Blick auf religiöse bzw. konfessionelle Fragen (II/52). Während die protestantische Ideengeschichte auf acht Seiten und die jüdische auf immerhin fünf Seiten vorgestellt werden, handelt Whaley die katholische Aufklärung auf nur drei Seiten ab, was den weiteren Forschungsbedarf in diesem Feld unterstreicht. Ein zweiter Abschnitt befasst sich mit Staatstheorie und Regierungslehre in der Aufklärung, wobei auch die Rolle einer kritischen Öffentlichkeit als Mittel der Herrschaftskontrolle diskutiert wird (II/53). Schließlich wird das ökonomische Denken der Zeit in einem eigenen Abschnitt skizziert (II/54). In diesem Zusammenhang geht Whaley auch auf das konkrete Regierungshandeln im Bereich der Agrarreformen ein. Diese Perspektive dominiert dann die folgenden Abschnitte: Zunächst geht es um wirtschaftspolitische Maßnahmen im Bereich des Manufakturwesens und des Handwerks, außerdem um die öffentliche Wohlfahrt (Armenwesen) und – ganz knapp – um Steuerpolitik (II/55). Sodann werden die Reformen im Bereich der Verwaltung, des Rechts und der Justiz (II/56) sowie im Bildungswesen (II/57) und die jeweiligen Probleme der Umsetzung in den Blick genommen. Wie in anderen Teilen des Werks arbeitet Whaley in diesen Abschnitten erfreulicherweise vergleichend, indem er weltliche und geistliche sowie große und kleine Territorien gegenüberstellt. Mit der Hofkultur greift der Autor schließlich ein Thema auf, das er auch in den vorhergehenden Territorien-Kapiteln ausführlich thematisiert hat (II/58). Dezidiert betont er die bleibende Bedeutung der Fürstenhöfe. Eine Emanzipation der bürgerlichen Kultur von den Höfen habe es nicht gegeben, da „zwischen den Territorialregierungen der Fürsten und der bürgerlichen Kultur“ kein „Zwiespalt“ bestand16. Der letzte Abschnitt des Kapitels hat wiederum die Funktion einer Coda. Resümierend werden die Folgen der Reformen reflektiert und es wird gefragt, ob die Reformen die Territorien bzw. das Reich nicht immun gegen eine Revolution gemacht hätten (II/59). Zugleich geht es um Fragen, die retrospektiv den gesamten behandelten Zeitraum bzw. prospektiv die Zeit nach Ende des Reiches umgreifen: „Unterschieden sich die Reformen des späten 18. Jahrhunderts qualitativ von denen irgendeiner früheren Reformphase? Trugen Reformen zur Modernisierung der deutschen Territorien bei, und wenn ja: Wie sind sie im Verhältnis zu dem einzuschätzen, was die deutsche Überlieferung stets als die ‚großen Reformen‘ der napoleonischen Epoche betrachtet hat?“ Schließlich fragt Whaley, ob „territorialer Reformpatriotismus mit einer loyalen Einstellung zum Reich unvereinbar“ war17. Whaleys Antworten auf diese Fragen spiegeln die Grundannahmen, die auch die im engeren Sinne reichsgeschichtlichen Teile seines Werks bestimmen: Er verweist auf die Kontinuität der Reformen im Reich und in den Territorien vom 15. bis 18. Jahrhundert und betont mit der jüngeren Forschung die Leistungsfähigkeit und Dynamik des Systems. Damit wird auch die modernisierende Bedeutung der Reformen der napoleonischen Zeit relativiert, denn Whaley geht davon aus, dass das Reich am Ende des 18. Jahrhunderts durchaus noch lebensfähig war und seine Auflösung weniger von endogenen als von exogenen Faktoren bestimmt war. Die „erneute erfolgreiche Anpassung an veränderte Umstände vor 1806 legte die Grundlage für die Reformepoche, die der Auflösung des Reichs folgte“18. Schließlich bekräftigt er mit Blick auf die Loyalitätsfrage seine Überzeugung, dass sich territoriales Zugehörigkeitsgefühl und Reichspatriotismus nicht ausschlossen, sondern dass sie vielmehr unauflöslich zusammengehörten: 16 W h a l e y , Reich, Bd. 2, S. 607. 17 W h a l e y , Reich, Bd. 2, S. 623. 18 W h a l e y , Reich, Bd. 2, S. 634. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation und seine Territorien 239 „Im Reich insgesamt gab es sicherlich genug Belege für Reformtätigkeiten, um die positive Sicht vieler deutscher Beobachter auf die Welt, die sie bewohnten, zu rechtfertigen. Die Verteidigung des Reichs als Garant der Freiheit und die Behauptung, die deutschen Herrscher hätten die Reformen, die die Franzosen 1789 zu verlangen begannen, bereits in Angriff genommen, waren keine unrealistischen Antworten auf die Situation in den frühen 1790er Jahren“19. Eine vergleichbare Geschichte der deutschen Territorien in der Frühen Neuzeit, wie Whaley sie in den gut 420 Seiten umfassenden Territorien-Kapiteln seines Werkes, aber auch in vielen weiteren Abschnitten entfaltet, ist von der deutschen landesgeschichtlichen Forschung bislang noch nicht realisiert worden. Diese ist vielmehr, so möchte man ironisch bemerken, von ‚territorialer Zersplitterung‘ geprägt und gleicht einem ‚Flickenteppich‘: Systematisierungen in Form von Handbüchern erfolgen in der Regel auf regionaler, territorialer oder diözesaner Ebene20. Verschiedene lexikalische Werke versammeln zudem Einzeldarstellungen zu ausgewählten Regionen und Territorien21. Überblicke, die die strukturellen Merkmale der Territorien und übergreifende Entwicklungslinien skizzieren, sind dagegen äußerst rar. Zu verweisen ist auf die schmalen, aber höchst informativen Bände von Ernst Schubert und Joachim Bahlcke sowie die ältere, auf das Mittelalter konzentrierte Synthese von Alois Gerlich22. Eine wichtige, häufig übersehene Ausnahme bildet auch die Deutsche Verwaltungsgeschichte, deren erster Band mehrere große, synthetisierende Querschnittskapitel zur Geschichte der Territorien des Reiches in der Vormoderne enthält. Im Mittelpunkt stehen dabei territoriale Staatsbildung und Verwaltung, es finden sich aber auch Abschnitte zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung23. Einen neuartigen Ansatz, der Vielfalt gerecht zu werden und gleichzeitig vergleichend zu 19 W h a l e y , Reich, Bd. 2, S. 633. 20 Vgl. etwa für das Rheinland Eduard H e g e l , Norbert T r i p p e n (Hg.), Geschichte des Erzbistums Köln, 5 Bde., Köln 1964–2008; Franz P e t r i , Georg D r o e g e (Hg.), Rheinische Geschichte in drei Bänden, Düsseldorf 1976–1983; Wilhelm J a n s s e n , Kleine Rheinische Geschichte, Düsseldorf 1997; Harm K l u e t i n g (Hg.), Das Herzogtum Westfalen, 2 Bde., Münster 2009/12; Stefan G o r i ß e n , Horst S a s s i n , Kurt W e s o l y (Hg.), Geschichte des Bergischen Landes, 2 Bde. (Bergische Forschungen. Quellen und Forschungen zur bergischen Geschichte, Kunst und Literatur 31–32), Bielefeld 2014/16. 21 Vgl. den Klassiker von Georg Wilhelm S a n t e (Hg.), Geschichte der deutschen Länder – Territorien-Ploetz, Bd. 1: Die Territorien bis zum Ende des alten Reiches, Würzburg 1964; außerdem Gerhard K ö b l e r , Historisches Lexikon der deutschen Länder. Die deutschen Territorien vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 72007, sowie mit epochaler Fokussierung Anton S c h i n d l i n g , Walter Z i e g l e r (Hg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650, 7 Bde. (Katholisches Leben und Kirchenreform 49–53, 56–57), Münster 1989–1997; und jüngst Stephan L a u x , Die Reformationen in den Territorien, Städten und Regionen des Alten Reichs, in: Helga S c h n a b e l - S c h ü l e (Hg.), Reformation. Historisch-kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart 2017 [im Druck]. 22 Alois G e r l i c h , Geschichtliche Landeskunde des Mittelalters. Genese und Probleme, Darmstadt 1986; Ernst S c h u b e r t , Fürstliche Herrschaft und Territorium im späten Mittelalter (Enzyklopädie deutscher Geschichte 35), München 22006; Joachim B a h l c k e , Landesherrschaft, Territorien und Staat in der frühen Neuzeit (Enzyklopädie deutscher Geschichte 91), München 2012. 23 Kurt G.A. J e s e r i c h , Hans P o h l , Georg-Christoph U n r u h (Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches, Stuttgart 1983. 240 Andreas Rutz systematisieren, bietet künftig das Handbuch Landesgeschichte. Ausgewählte Themen der deutschen Landesgeschichte, die auch Whaley behandelt, wie etwa territoriale Herrschaftsbildung, Region und Reich bzw. Nation oder Konstruktionen von Heimat, werden von jeweils zwei Bearbeitern in einer vergleichenden Einführung skizziert und dann an zwei unterschiedlichen Territorien oder Landschaften exemplifiziert24. Vor dem Hintergrund einer noch kaum unternommenen vergleichenden Analyse und Systematisierung der unterschiedlichen regionalen Befunde ist Whaleys Werk äußerst willkommen und sollte unbedingt auch von Landeshistorikern als Handbuch und Referenz herangezogen werden. Zugleich lohnt sich eine kritische Auseinandersetzung mit den übergreifenden Thesen des Buches. Der Autor will, wie er in der Einleitung zum ersten Band genauer ausführt, zeigen, „wie das Reich als politisches Gemeinwesen funktionierte und welche geistigen, religiösen und kulturellen Kräfte seine Entwicklung zum nationalen Gerüst für die deutschen Territorien formten“. Zum anderen geht es ihm um „kollektive historische Erfahrung und Identität“ und damit um die Frage, inwieweit sich die ‚Deutschen‘ im Laufe der Frühen Neuzeit mit dem Reich identifizierten, das Reich also ein ‚Vaterland‘ bzw. eine ‚Nation‘ darstellte25. Dass Whaley diese Frage affirmativ beantwortet, hat Konsequenzen für seine Sicht auf das Verhältnis von Reich und Territorien in der Frühen Neuzeit. Denn auch wenn der Autor immer wieder auf die territoriale Vielfalt des Reiches verweist, betont er doch stets dessen Einheit. Whaley bemüht für dieses scheinbare Paradoxon wiederholt die zeitgenössische Formel Einheit in Vielfalt und interpretiert die „Bewahrung von Individualität und Differenz“ sogar als „die wesentliche Eigenschaft des Reichs“26. Überwölbt wurden die Differenzen laut Whaley zum einen durch das dynamische Verfassungsgefüge und die Institutionen des Reiches und zum anderen durch die „Herausbildung eines deutschen Nationalgefühls parallel zu oder im Widerstreit mit territorialen Patriotismen“27. Während Ersteres in der Forschung weitgehend Konsens ist, dürfte letzteres vielfältigen Widerspruch herausfordern und die Debatte um die Staatlichkeit des Reiches aus den Jahren um die Jahrtausendwende noch einmal aufleben lassen28. Aber unabhängig davon, 24 Werner F r e i t a g , Michael K i ß e n e r , Christine R e i n l e , Sabine U l l m a n n (Hg.), Handbuch Landesgeschichte, München 2017 [im Druck]. 25 W h a l e y , Reich, Bd. 1, S. 32. Eine der wichtigsten Referenzen für Whaley ist in diesem Zusammenhang Georg S c h m i d t , von dem er in den Literaturverzeichnissen der beiden Bände 26 bzw. 16 Titel zitiert; vgl. nur d e r s . , Geschichte (wie Anm. 2). 26 W h a l e y , Reich, Bd. 1, S. 34. Vgl. hierzu ausführlich K a m p m a n n , Einheit (wie Anm. 4). 27 W h a l e y , Reich, Bd. 2, S. 12. 28 Ausgangspunkt war Georg S c h m i d t , Geschichte (wie Anm. 2), und die darin entwickelte These vom „komplementären Reichs-Staat“ sowie einem damit einhergehenden deutschen Nationalgefühl. Vgl. in diesem Zusammenhang insb. die heftige Kritik von Heinz S c h i l l i n g , Reichs-Staat und frühneuzeitliche Nation der Deutschen oder teilmodernisiertes Reichssystem. Überlegungen zu Charakter und Aktualität des Alten Reiches, in: Historische Zeitschrift 272 (2001), S. 377–395, und die Replik von Georg S c h m i d t , Das frühneuzeitliche Reich – komplementärer Staat und föderative Nation, in: Historische Zeitschrift 273 (2001), S. 371–399; außerdem die betreffenden Beiträge in S c h n e t t g e r , Imperium (wie Anm. 10), sowie jüngst mit starkem Fokus auf die ‚Staatlichkeit‘ der Reichsterritorien Robert v o n F r i e d e b u r g , Luther’s Legacy: The Thirty Years War, and the Modern Notion of ‚State‘ in the Empire, 1530s to 1790s, Cambridge 2016. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation und seine Territorien 241 ob man Whaleys Thesen im Detail folgen will, bieten sich hier vielfältige Ansatzpunkte für eine engere Verschränkung von Landes- und Reichsgeschichte, wie sie immer wieder gefordert, aber viel zu selten eingelöst wird29. So ist etwa die Inanspruchnahme der Reichsinstitutionen durch lokale und regionale Akteure und umgekehrt der Einfluss des Reiches in der Region mit Blick auf Recht, Gerichtsbarkeit, Verwaltungspraxis usw. erst ansatzweise erforscht30. Gleiches gilt für die von Whaley angesprochenen ‚Patriotismen‘, die freilich nicht nur in ihren nationalen und territorialen, sondern auch in ihren lokalen und regionalen Ausformungen zu untersuchen wären, um so im Einzelfall gleichsam Hierarchien von Vaterländern oder Heimaten zu eruieren31. 29 Vgl. programmatisch Dietmar S c h i e r s n e r , Überblick von unten – oder: ein kleines Reich. Was hat die Regionalgeschichte der Reichsgeschichte zu sagen?, in: Johannes B u r k h a r d t , Thomas Max S a f l e y , Sabine U l l m a n n (Hg.), Geschichte in Räumen. Festschrift für Rolf Kießling zum 65. Geburtstag, Konstanz 2006, S. 295–322, insb. S. 319–322; Tobias S c h e n k , Reichsgeschichte als Landesgeschichte. Eine Einführung in die Akten des kaiserlichen Reichshofrats, in: Westfalen. Hefte für Geschichte, Kunst und Volkskunde 90 (2012), S. 107–161, hier S. 107–114; Michael H e c h t , Landesgeschichte und die Kulturgeschichte des Politischen, in: Sigrid H i r b o d i a n , Christian J ö r g , Sabine K l a p p (Hg.), Methoden und Wege der Landesgeschichte (Landesgeschichte 1), Ostfildern 2015, S. 165–190, hier S. 177f.; außerdem die Fallbeispiele bei Rolf K i e ß l i n g , Sabine U l l m a n n (Hg.), Das Reich in der Region während des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Forum Suevicum. Beiträge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen 6), Konstanz 2005; Manfred G r o t e n (Hg.), Die Rheinlande und das Reich (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde. Vorträge 34), Düsseldorf 2007. 30 Vielfältige Erkenntnismöglichkeiten bieten in diesem Zusammenhang die Akten von Reichskammergericht und Reichshofrat, vgl. u.a. Helmut G a b e l , Beobachtungen zur territorialen Inanspruchnahme des Reichskammergerichts im Bereich des Niederrheinisch-Westfälischen Kreises, in: Bernhard D i e s t e l k a m p (Hg.), Das Reichskammergericht in der deutschen Geschichte. Stand der Forschung – Forschungsperspektiven (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 21), Köln, Wien 1990, S. 143–172; Siegrid W e s t p h a l , Stabilisierung durch Recht. Reichsgerichte als Schiedsstelle territorialer Konflikte, in: Ronald G. A s c h , Dagmar F r e i s t (Hg.), Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, Köln, Weimar, Wien 2005, S. 235–253; Sabine U l l m a n n , Schiedlichkeit und gute Nachbarschaft. Die Verfahrenspraxis der Kommissionen des Reichshofrats in den territorialen Hoheitskonflikten des 16. Jahrhunderts, in: Barbara S t o l l b e r g - R i l i n g e r , André K r i s c h e r (Hg.), Herstellung und Darstellung von Entscheidungen. Verfahren, Verwalten und Verhandeln in der Vormoderne (Zeitschrift für Historische Forschung. Beiheft 44), Berlin 2010, S. 129–155; S c h e n k , Reichsgeschichte (wie Anm. 29). 31 Vgl. etwa die einschlägigen Arbeiten von Klaus G r a f zu Schwaben und zum Kraichgau, die Whaley nicht zitiert, u.a. d e r s . , Aspekte zum Regionalismus in Schwaben und am Oberrhein im Spätmittelalter, in: Kurt A n d e r m a n n (Hg.), Historiographie am Oberrhein im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit (Oberrheinische Studien 7), Sigmaringen 1988, S. 165–192; d e r s ., Der Kraichgau. Bemerkungen zur historischen Identität einer Region, in: Stefan R h e i n (Hg.), Die Kraichgauer Ritterschaft in der frühen Neuzeit (Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten 3), Sigmaringen 1993, S. 9–46; d e r s ., Die „schwäbische Nation“ in der frühen Neuzeit. Eine Skizze, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 59 (2000), S. 57–69; außerdem Rainer B a b e l , Jean-Marie M o e g l i n (Hg.), Identité régionale et conscience nationale en France et en Allemagne du moyen âge à l‘époque moderne (Beihefte der Francia 39), Sigmaringen 1997; Dieter L a n g e w i e s c h e , Georg S c h m i d t (Hg.), Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, München 2000; sowie jüngst v o n F r i e d e b u r g , Luther’s Legacy (wie Anm. 28), passim. 242 Andreas Rutz Whaleys These von der ‚Einheit in Vielfalt‘ ermöglicht dem Autor, zwischen dem Reich als übergreifender Struktur und dem Eigenleben der zahlreichen Territorien zu vermitteln, ohne das Reich anachronistisch als Bundesstaat zu überhöhen oder als Flickenteppich zu brandmarken. Die landeshistorische Forschung der letzten Jahrzehnte wird dabei in großer Breite einbezogen, und es ist sicherlich nicht das geringste Verdienst Whaleys, dass er versucht, die Vielheit der diesbezüglichen Befunde aus der Perspektive des Reiches tatsächlich als Einheit zu präsentieren. Aus landeshistorischer Sicht stellt sich abschließend allerdings die Frage, ob das Reich als Referenzpunkt für eine Geschichte der Territorien ausreicht oder ob diese nicht weitere Bezüge aufweist, die über den Rahmen des Reiches hinausweisen32. Whaley weist selbst implizit darauf hin, wenn er eingangs des ersten Bandes über die Grenzen des Reiches reflektiert und am Beispiel verschiedener Territorien darlegt, dass der Grad der Bindung der Territorien an das Reich und ihrer Integration in den Reichsverband um 1500 durchaus unterschiedlich war und in den folgenden Jahrhunderten zahlreiche Desintegrationsprozesse an der Peripherie erfolgten (I/1). Am bekanntesten ist sicherlich die Lösung der Schweiz und der Niederlande aus dem Reichsverband. In anderen Territorien bestanden seit dem Mittelalter durch Mehrfachvasallität multiple Loyalitäten und Abhängigkeiten. Aber auch Heiraten, Erbschaften, Verpfändungen, Eroberungen usw. konnten komplexe reichs- und territorialrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. In der Geschichte dieser Territorien treten im Laufe der Zeit andere Bezugsgrößen, wie etwa Frankreich oder Spanien, auf den Plan, die für die weitere Entwicklung von entscheidender Bedeutung waren und dementsprechend in eine Landesgeschichte der betreffenden Gebiete zu integrieren sind. Eine solche europäisch und grenzüberschreitend angelegte landesgeschichtliche Perspektive betrifft freilich nicht nur die Frage der Zugehörigkeit zum Reichsverband, sondern die politischen Beziehungen und Verflechtungen der Reichsterritorien mit benachbarten Staaten insgesamt. Hier eröffnet sich ein weites Feld europäischer (Regional-)Geschichte, das von dynastischen Heiraten über unterschiedliche Formen quasi-souveräner Außenpolitik der Territorien bis hin zur Reichsstandschaft auswärtiger Mächte reicht. Die Einheit des Reiches in Vielfalt, wie sie Whaley beschreibt, ist damit nicht obsolet. Es zeichnet sich aber ab, dass es lohnend wäre, die Geschichte der Territorien auch einmal aus europäischer Perspektive zu vermessen. Das gilt umso mehr, wenn man die Verflechtungen auf anderen Feldern als dem der Politik mit einbezieht. Man denke etwa an die europäischen Netzwerke des Adels, die Internationalität der katholischen Orden und Klöster, die interterritoriale Verflechtung von Handel und Wirtschaft oder auch die grenzüberschreitenden Lebensbezüge vieler im Grenzraum lebender Menschen. Neben der Landesgeschichte und der europäischen Geschichte profitiert von einer solchen Betrachtungsweise auch die Reichsgeschichte, bewahrt sie doch davor, das Heilige Römische Reich deutscher Nation in eine nationalgeschichtliche Kontinuität einzuspannen. 32 Vgl. in methodischer Perspektive Andreas R u t z , Deutsche Landesgeschichte europäisch. Grenzen – Herausforderungen – Chancen, in: RhVjbll 79 (2015), S. 1–19; d e r s ., Landesgeschichte in Europa. Traditionen – Institutionen – Perspektiven, in: F r e i t a g u.a., Handbuch (wie Anm. 24).