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JCSW 45 (2004): 081–108, Quelle: www.jcsw.de MANFRED PRISCHING Gesellschaftsmodelle Konstruktionen der Ökonomen. des Wirtschaftens im globalen Zeitalter Es gibt, gerade wenn es um komplexere gesellschaftliche Sachverhalte geht, keinen naiven Zugang zur Wirklichkeit.! Auch das Gegenstück zu einem solchen Vulgärempirismus ist falsch: die Vorstellung, dass sozialwissenschaftliche Hypothesen freischwebende intellektuelle Konstruktionen sind.2 Die Wahrheit liegt - natürlich - in der Mitte: Sozialwissenschaftliehe Arbeiten sind von Gesellschaftsbildern, von Modellen der Wirklichkeit, abhängig, und diese befinden sich in einer mehr oder minder losen Beziehung zur äußeren Realität. Es gibt eine Wirklichkeit, die sich nicht beliebig >verbiegen<lässt; es gibt aber immer auch >konstruktive<Akte bei der Annäherung an sie oder bei den Versuchen zu ihrer Erkenntnis.3 Solche Modelle, welche die Beschaffenheit der Welt in ihren ökonomischen Konturen nachzeichnen, gibt es im spezialisierten Diskurs der Wirtschaftstheoretiker;4 darüber hinaus bestimmen sie in Form diffuser wirtschafts kultureller Orientierungen auch das Handeln aller Menschen. Und natürlich hängen die beiden Bereiche - zumindest lose - zusammen. joseph Schumpeter hat von voranalytischen Erkenntnisakten Von der Art: Die Aussagen der empirischen Forschung korrespondieren unmittelbar mit der Realität, und wenn man ein paar zusätzliche Projekte durchführen kann, dann erkundet man endlich die ganze Wahrheit - also eine Beziehung im Sinne einer naiven Korrespondenztheorie. 2 Von der Art: Die Wirklichkeit entsteht in den Köpfen, und es lässt sich zeigen, dass es keinerlei intersubjektive Standards der Adäquatheit oder der Wirklichkeitsentsprechung gibt - also eine Beziehung im Sinne postmodern-konstruktivistischer Vorstellungen. ] Vgl. Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt/M. 1980. 4 Nicht aus Nachlässigkeit, sondern aus Gründen der Sprachästhetik wird jenen Gepflogenheiten Rechnung getragen, die dem männlichen Geschlecht einen gewissen Vorzug bei sprachlichen Formulierungen einräumen; hier sind natürlich, Wirtschaftstheoretikerinnen und Wirtschaftstheoretiker< gemeint, ebenso an entsprechenden Stellen. I 83 gesprochen, die er >Visionen< nannte: »Es ist bemerkenswert, daß in jeder Wissenschaft eine derartige Vision nicht nur zeitlich dem Einsatz analytischer Arbeit vorangehen muß, sondern daß diese Vision auch in den Werdegang jeder bereits abgerundeten Wissenschaft immer wieder von neuem einbrechen kann, sobald irgendjemand uns lehrt, die Dinge in einem Lichte zu sehen, das seine Quelle weder in den Fakten noch in den Methoden und Ergebnissen des voraufgegangenen Standes der Wissenschaft hat.«5 Es geht um >Perspektiven< oder >Perspektivierungen<, um >Interpretationsrahmen< oder frameworks, um >Sichtfelddimensionierungen<6 oder stylized facts, um >Grundmodelle< oder >Paradigmen<, um >Relevanzstrukturen<, um >Denkstile< und >Weltsichten/ oder dergleichen. Max Weber würde sagen, es gehe darum, aus der Wirklichkeit In Gegenstände nach ihrer >Kulturbedeutsamkeit< herauszuschälen.8 diesen Vorgang gehen auch persönliche Erfahrungen und Eindrücke ein, die man nach Tunlichkeit >objektivieren< muss; Wertauffassungen, die man so gut wie möglich aus der wissenschaftlichen Arbeit zu verbannen sucht; biographische Besonderheiten, institutionelle Zugehörigkeiten und Sozialisierungsprozesse des Beobachters; auch ein wenig >Zeitgeist<. Wissenschaftliche Arbeit ist immer - durch individuelle und kollektive Einflüsse - kontaminiert von derlei Imponderabilien; aber erst auf der Grundlage einer solchen Vision, einer >Weltdeutung<, eines >Gesellschaftsbildes< ist in der Folge die analytische Arbeit möglich, und anders geht es nicht.9 In der Folge sollen einige >Gesellschaftsbilder<, die hinter den wirtschaftstheoretischen Lehren und hinter den wirtschaftspolitischen Entwicklungen des letzten halben Jahrhunderts verborgen sind, rekonstruiert werden. Zum einen: Welche Hintergrundannahmen stecken hinter ökonomischen Theorien, die als intellektuelle, sachliche, empirische, nüchterne Hypothesen oder Modelle daherkommen? Zum anderen: Wie greifen Theorien und reale Entwicklungen ineinander? Das ist ein breites Feld, und die Analyse muss ein wenig holzschnittartig verlaufen. Ich setze an beim Globalisierungsmodell, dem derzeit wohl aktuellsten Mo5 joseph A. Schumpeter, Geschichte der ökonomischen Analyse, 2 Bde., Göttingen 1965, I/77f. Vgl. Karl Acham, Philosophie der Sozialwissenschaften, Freiburg-München 1983. Vgl. Benjamin Ward, Die Idealwelten der Ökonomen. Liberale, Radikale, Konservative, Frankfurr/M.-New York 1986, XIX. 8 Vgl. Max Weber, Die "Objektivität« der sozialwissenschaftlichen und sozialpolitischen Erkenntnis (1904), in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988, 146-214. , Entgegen manchen weit verbreiteten Auffassungen ist die Forschungsarbeit der Naturwissenschaftler nicht wesentlich anders geartet. 6 7 84 dell, und greife anschließend zurück auf die unterschiedlichen wirtschaftstheoretischen, wirtschaftspolitischen und wirtschaftsideologischen Akzentsetzungen im letzten halben Jahrhundert: auf den interventionistischen Reformismus der Keynesschen Periode, auf die jakobinisch-utopischen Modelle, das heißt die sozialistischen Versionen, auf das apokalyptische Modell grün-alternativer Prägung (von den klassischen Club of Rome-Szenarien bis zu den neueren Antiglobalisierungsvarianten). Schließlich kommen wir zum libertären Modell (das seinen steten Aufstieg in den letzten Jahrzehnten vollzogen und eine hegemoniale Stellung gewonnen hat und das gewissermaßen den mainstream der Ökonomie ausmacht). Ein Seitenblick auf Varianten des Institutionalismus (neoinstitutionelle und klassische österreichische Schule) wird hinzugefügt. 1. DAS GLOBALISIERUNGSMODELL Globalität, Multikulturalität, die Welt als single place - das alles ist uns, den globalen Zusehern einer shrinking world, eines globalen Dorfes, längst vertraut. Die Welt flimmert jeden Abend ins Wohnzimmer. Globalität wird von der unverbindlichen Vision der Grenzenlosigkeit zur sich aufdrängenden, aber gleichwohl ambivalenten Tatsache: Barrierelosigkeit für Kapital, Güter, Menschen, Drogen, Wissen, Bilder, Kultur, Verbrechen, Moden, Glaubensströmungen, soziale Bewegungen10 transnationale Marktwirtschaft, globale Wertschöpfungsketten, das kapitalistische >Weltsystem<,d isorganized capitalism. Es handelt sich insofern um ein neues Gesellschaftsmodell, als ihm das Bild einer Weltgesellschaft zugrunde liegt.11Nachdem die >Deckungsgleichheit<der drei >Zugriffsbereiche<- wirtschaftlich steuerbare Einheit (Volkswirtschaft» politisch souveränes Gebilde (Staat) und kulturell homogene Gruppierung (Volk) - nicht mehr, wie zu Zeiten des Nationalstaates, gegeben ist,12ist im verflochtenen Ganzen - etwas übertrieben 10 11 Vgl. ]ohan Galtung, Die andere Globa!isierung, Münster 1998; Hermann Schwengel, Globa!isierung mit europäischem Gesicht. Der Kampf um die politische Zukunft, Ber!in 1998; Ulrich Beck, Politik der Globalisierung, Frankfurt/M. 1998. Vgl. Rudol[ Stichweh, Die Weltgesellschaft. Soziologische Analysen, Frankfurt/M. 2000. 12 Vgl. Samuel N. Eisenstadt, Tradition, Wandel und Modernität, Frankfurt/M. 1979; Stein Rokkan, Staat, Nation und Demokratie in Europa. Die Theorie Stein Rokkans aus seinen gesammelten Werken rekonstruiert und eingeleitet von Peter Flora, Frankfurt/M. 2000. 85 formuliert - nur noch die Weltgesellschaft zu denken, wenn man nicht fiktive Einheiten dort imaginieren will, wo in Wahrheit nur noch unselbständige Partikel einer größeren Einheit vorhanden sind. I} Es gibt keine Volkswirtschaft mehr. Es gibt nur noch Weltwirtschaft. Manche meinen: nur noch Weltgesellschaft. Die Weltgesellschaft ist eine vermarkdichte Gesellschaft; die Wirtschaft war der >Treiber< der Verflechtungen, die Politik wohl eher Erfüllungsgehilfe. Dieses Weltmodell ist der >Aufsteiger< der letzten Jahrzehnte, im Wechselspiel zwischen strukturellen und technologischen Entwicklungen, die es fördern, und weltanschaulichen Entwicklungen, die es legitimieren. Der Markt wird als vorzüglicher Mechanismus allen Ländern, die reich werden wollen, anempfohlen. Das ist die Botschaft: Die Weltgesellschaft ist ein großer, ungehinderter, wohlstandschaffender Markt - je besser und schneller sich die Länder in diesen Markt integrieren, desto besser für sie; und in Wahrheit haben sie ohnehin keine Alternative, ist doch das einzige ordnungspolitische Gegenmodell noch vor dem Ende des 20. Jahrhunderts zusammengebrochen. Die wirtschaftstheoretische Grundlage bietet das Modell der internationalen Arbeitsteilung und des Freihandels, das zu den klassischen Beständen der Ökonomie gehört.14 Im Grunde sollten alle beteiligten Länder 13 14 86 Vlrieh Beek, Was ist Globalisierung?, Frankfurt/M. 1998, 26f.: »Mit Globalismus bezeichne ich die Auffassung, daß der Weltmarkt politisches Handeln verdrängt oder ersetzt, d. h. die Ideologie der Weltmarktherrschaft, die Ideologie des Neoliberalismus. Sie verfährt monokausal, ökonomistisch, verkürzt die Vieldimensionalität der Globalisierung auf eine, die wirtschaftliche Dimension, die auch noch linear gedacht wird, und bringt alle anderen Dimensionen - ökologische, kulturelle, politische, zivilgesellschaftliche Globalisierung - wenn überhaupt, nur in der unterstellten Dominanz des Weltmarktsystems zur Sprache. Selbstverständlich soll damit nicht die zentrale Bedeutung wirtschaftlicher Globalisierung, auch als Option und Wahrnehmung betrieblicher Akteure, geleugnet oder geschmälert werden. Der ideologische Kern des Globalismus liegt vielmehr darin, daß hier eine Grunddifferenz der Ersten Moderne liquidiert wird, nämlich die zwischen Politik und Wirtschaft. Die zentrale Aufgabe der Politik, die rechtlichen, sozialen und ökologischen Rahmenbedingungen abzustecken, unter denen wirtschaftliches Handeln überhaupt erst gesellschaftlich möglich und legitim wird, gerät aus dem Blick oder wird unterschlagen. Der Globalismus unterstellt, daß ein so komplexes Gebäude wie Deutschland - also der Staat, die Gesellschaft, die Kultur, die Außenpolitik - wie ein Unternehmen zu führen sei. Es handelt sich in diesem Sinne um einen Imperialismus des Ökonomischen, unter dem die Unternehmen die Rahmenbedingungen einfordern, unter denen sie ihre Ziele optimieren können.« Die von David Rieardo entwickelte Theorie der komparativen Kosten ist meist Ausgangspunkt wirtschaftstheoretischer Überlegungen: Durch die Aufnahme von Handelsbeziehungen können Länder, die unterschiedliche Güter mit einem unterschiedlichen Kostenaufwand herstellen können, ihren Wohlstand verbessern. Selbst unter Beibehaltung der Zusammensetzung der Produktion der beiden Länder kann ein Konsumgewinn durch den Handel realisiert werden. Durch eine Spezialisierung der Länder im Sinne eines beide umfassenden Produktionsoptimums können Produktivitätsgewinne vom Freihandel profitieren; es sollten sich die Lebensumstände langfristig eher angleichen; es sollten sich die Menschen besser stehen.15 Das global-neoliberale Modell verdichtet die aktuellen Verflechtungsprozesse zu einer großen Vision, der Vision eines einheitlichen Weltmarktes, einer Schlüsselinstitution, die in der Folge alles Übrige, das Politische und Kulturelle, generiert; die Teilrationalität des Marktes gilt als Hebel für die Universalrationalität der Weltgesellschaft. Im Grunde handelt es sich um Marxismus von Rechts: Das Sein bestimmt das Bewusstsein; 15 erzielt werden. - Bei offenen Grenzen müssen die Preise für Güter und Dienste die Weltmarktpreise widerspiegeln. Da aufgrund unterschiedlicher Ressourcen, der Arbeitskräfte, des Klimas, der Kultur und anderer Faktoren die relativen Preise von inputs in einen Produktionsprozess jeweils unterschiedlich sind, ist es für manche Länder günstiger, das Gut A, für andere Länder günstiger, das Gut B herzustellen. Es wird sich also empfehlen, stärker jene Güter herzustellen, bei denen das Land einen komparativen Vorteil besitzt. Zu den wesentlichen theoretischen Elementen gehören drei weitere Theoreme. Das H eckscher-Ohlin- Theorem besagt: Bei identischen Produktionsfunktionen wird ein Land jenes Gut herstellen, bei dem der reichlich vorhandene Faktor besser genutzt werden kann. Ein Land, das viele überschüssige Arbeitskräfte (im Vergleich zum vorhandenen Kapital) aufweist, wird also eher arbeitsintensive Güter exportieren und kapitalintensive Güter importieren. Daraus lässt sich schließen, dass sich die Industrieländer mit ihrem hohen technologischen Standard und ihrem Qualifikationspotential auf kapitalintensive und know-how-intensive Produkte konzentrieren und die einfache Herstelltätigkeit den weniger entwickelten Ländern überlassen sollten. - Das Samuelson-Stolper-Theorem: Unter den genannten Voraussetzungen verändert sich die Einkommenssituation. Die Öffnung der Grenze wird das Einkommen der reichlich vorhandenen Faktoren, die nunmehr eher nachgefragt werden, steigern und das Einkommen der knappen Faktoren, deren Leistungen durch Importe substituiert werden, senken. Das würde unter den gegebenen Bedingungen dazu führen, dass Kapitaleigentümer und Arbeitskräfte mit High- Tech-Qualifikationen mit Einkommensvorteilen rechnen dürften, während das Einkommen weniger qualifizierter Arbeitnehmer fällt. Insgesamt wird das Einkommen des Landes jedenfalls wachsen, aber die Verteilung wird ungleich sein, ja vieles spricht dafür, dass es zu einer Polarisierung der Einkommensverhältnisse kommt. - Das Faktorpreisausgleichs- Theorem: Bei offenen Grenzen werden sich die Preise für Güter und Dienste (und die Einkommen für die entsprechenden Faktorenanbieter) weltweit annähern oder angleichen. Wenn in den Industrieländern beispielsweise weniger unqualifizierte Arbeitskräfte nachgefragt werden, weil die entsprechenden Produktionen in Länder mit billigen Arbeitskräften abwandern, werden die Einkommen unqualifizierter Arbeitnehmer in den Industrieländern sinken; in jenen Schwellenländern, wo diese Produktionen (beispielsweise) aufgenommen werden, werden die Löhne der entsprechenden Arbeitskräfte bei fortgesetzter Neuansiedlung von Unternehmen hingegen steigen. Darauf beruht auch die Befürchtung, dass sich zumindest Teile des wohlsituierten Arbeitspotenzials der Industriegesellschaften mit jenen Arbeitskräften in Konkurrenz begeben müssten, die in den Niedrigeinkommensländern am Existenzminimum bezahlt werden. Auch sonstige ,Belastungen< aus den Arbeitsverhältnissen müssten in dieser Konkurrenzsituation verringert werden, das heißt, man müsste auch Sozialleistungen kürzen. - In der wirklichen Welt freilich wird der Lohnkostendruck aus den Niedriglohnländern übertrieben; auch Unternehmen wandern nicht so rasch ab, zusätzliche Faktoren sind für eine Standortwahl wichtiger, angefangen bei der erzielbaren Arbeitsproduktivität. 87 und der ökonomische lichen Sphären. Unterbau ist determinierend für alle gesellschaft- Das Bild der Weltgesellschaft hat auch andere Bestandteile: Es ist eine vom amerikanischen Empire geprägte Globalität, und diese Prägung reicht bis in die letzten Täler der Alpen und Pyrenäen: amerikanische Musik, Filme, Sitten, Kleidung, Firmen. Die USA sind Hüter und Förderer des globalen Freihandels, wenn es nicht gerade um eigene Bananenplantagen geht; und sie wollen das internationale Recht durchsetzen, wenn die eigenen Interessen nicht gerade anderes gebieten. Sie hegen die missionarische Überzeugung, die ganze Welt sich selbst ähnlich machen zu sollen; doch die Amerikanisierung der Welt ist nicht selbstverständlich: Kulturen sind widerborstig, ihre Kerne widerständig, und die kulturelle Globalisierung kann leicht in Huntingtons Clash 0/ Civilizations16 enden oder in Barbers Konflikt von ]ihad versus McWorld,17 von möglichen clashes 0/ subcultures - allenfalls auch innerhalb der großen Kulturkreise - ganz abgesehen. Der souveräne Charakter des Staates tritt im Globalisierungsprozess zurück,18 was nicht gleich mit dem Untergang des Staates, wohl aber mit seiner Um- und Neugestaltung verbunden ist.19 Die wirtschaftspolitischen Theorien sind neu zu fassen, denn die herkömmlichen wirtschaftspolitischen Instrumente greifen jenseits des national staatlichen ,Containers< nicht mehr: Geldpolitik lässt sich bestenfalls noch im größeren Europa machen, und bei barrierefreien globalen Finanzmärkten ist auch das kaum möglich. Fiskalpolitik lässt sich für Volkswirtschaften mit großen Außenhandelsanteilen sinnvoll nicht mehr bewerkstelligen, zumal die Verschuldungsrestriktionen eng (und die ,Strafen< bei Verschlechterung der Standortqualität spürbar) sind. Das Verhalten der einzelnen Länder ist enger gekoppelt; kein Land ist eine Insel. Die Länder wachsen - in einem offenen Prozess - in eine neuartige globale gover- Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, NewYork 1996. 17 Benjamin Barber, Jihad vs. McWorld, New York 1995 (dt. Coca Cola und Heiliger Krieg, München 1998). Eine ähnliche Entgegensetzung beschreibt Thomas L. Friedman, The Lexus and the Olive Tree: Understanding Globalization, New York 1999 (dt. Globalisierung verstehen. Zwischen Marktplatz und Weltmarkt, Berlin 1999). >Lexus<steht im englischen Titel für das japanische High-Tech-Luxusauto, der Olivenbaum für die lokale Verwurzelung. 18 John W. Meyer u. a., World Society and the Nation State, in: AmericanJournal of Sociology 103 (1997) 1, 144-181. 19 Martin van Creveld, Aufstieg und Untergang des Staates, München 1999. 16 88 nance-Struktur hinein:20 in eine allseitige handlungs struktur< mit unterschiedlichen und unübersichtliche Ebenen und Arenen. >Ver- Die Globalisierung weckt auch Gegenkräfte, sie lässt die Wertschätzung für das Lokale kompensatorisch steigen - von der Glokalität reden manche, derzufolge die globale Konformisierung immer auch mit Pluralisierung verbunden ist, mit unterschiedlichen lokal-kulturellen Vermengungen und Durchmischungen.21 Spezialkulturen werden neu strukturiert und verpackt, um im Weltbasar verkauft zu werden. Lokale Wirtschaft wird globalisiert (Vorlieferanten, Produktionseinflüsse, Produktionsstätten, Absatzmärkte in der ganzen Welt); globale Wirtschaft wird lokalisiert (es muss jeweils lokal gearbeitet, allenfalls auch designerisch angepasst werden).22 Das suggerierte Gesellschaftsbild ist naheliegend: die ganze Welt als gut ausgestatteter Supermarkt. Arbeitskräfte sind generell zwar weniger mobil als das Kapital, aber verzweifelte Arbeitskräfte können sehr mobil sein. Migrationsströme werden sich in Zukunft nicht mehr kanalisieren lassen. Es geht in diesem Jahrhundert nicht mehr um konkrete Migrationsströme aus gequälten Territorien, sondern um Völkerwanderung. Europa wird am Ende dieses Jahrhunderts wohl (rassisch-ethnisch-kulturell) ein recht farbiger Kontinent sein. Der Arbeitsmarkt wird hierbei >unterschichtet< werden; ein Vorteil für die Einheimischen. Die Globalisierungseuphoriker sind der Überzeugung, für die >Nachzügler< der Modernisierung und die >Armenhäuser< dieser Welt sei nichts anderes erforderlich als ihr Einbezug in eine liberale Weltwirt- 20 21 22 Martin Albrow, Abschied vom Nationalstaat. Staat und Gesellschaft im Globalen Zeitalter, Frankfurt a.M. 1998; Rüdiger Altmann, Abschied vom Staat. Politische Essays, Frankfurt/M. 1998; Michael Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates. Globalisierung und Denationalisierung als Chance, Frankfurt/M. 1998. Eine andere Formulierung desselben Phänomens: Es gibt Homogenisierungs- und Heterogenisierungsprozesse. Homogenisierungsprozesse sind Fusionen, Konvergenzen, Konformisierungen, Nivellierungen: die Europäische Integration, die Globalisierung, die globale Kultur, weltweite Standardisierungen, die gleichen Hotelzimmer, dieselbe Popmusik, die gleichen elektronischen Produkte, die gleichen Ladenketten. Heterogenisierungsprozesse sind Polarisierungen, Fragmentierungen, Multikulturalismen, Multidimensionalität, ein Auseinanderdriften: Industrieländer versus Dritte Welt, Reiche versus Arme, Informationsbesitzer versus informationelle Habenichtse. Beide Strömungen werden miteinander existieren, und dies wird ein dynamisches, auch konfliktreiches soziales Gebilde ergeben. Regionale und lokale Spezialitäten werden also nicht durchwegs ausgelöscht, sondern sie werden neu arrangiert, ,kosmopolitisiert< und vermarktet: ,vietnamesische Küche<, ,Buddhismus für Manager<, das Möbeldesign religiöser Sekten, Sushi in jedem Dorf und allenfalls bald geröstete Ameisen als Delikatesse. 89 schaft. Die Weltsystemanalyse Immanuel Wallersteins23 hingegen verneint, dass man von fragmentierten Einheiten ausgehen kann: Keine Einheit kann einen Entwicklungsprozess so vollziehen, als gäbe es die anderen Einheiten im Rahmen der Weltgesellschaft nicht. Staatliche Strukturen fördern und behindern den >freien< Markt je nach dem Interesse bestimmter Gruppen, und die reichen Länder wissen dabei ihre Interessen zu wahren. Es gibt deshalb ein globales Schichtungssystem, das den Ländern als Subsystemeinheiten einen bestimmten Platz in der internationalen Wohlstands hierarchie zuweist - den Ländern der Dritten Welt freilich einen schlechteren. Tatsächlich ist die Globalisierung nicht nur ein eigendynamisches Ergebnis unbeherrschbarer Technik- und Marktprozesse, sie wird auch von politischen Einflussnahmen und wirtschaftlichen Ideologien geformt; dies hat]oseph Stiglitz24 jüngst in der Darlegung seiner Erfahrungen mit internationalen Organisationen gezeigt. Und es gibt Ungleichheiten in der Behandlung von Staaten, die das >Marktgerede< als vordergründig erweisen: Forderungen zur Beseitigung der Atomwaffen, mit Ausnahme der enormen Vorräte der dominierenden Länder, die erhalten bleiben; Forderungen nach Abbau der Handelsschranken, mit Ausnahme der enormen Protektion für die Bauern in Europa oder die Baumwoll- und Textilindustrie in den USA; Forderungen nach Reduzierung giftiger Emissionen, welche die Atmosphäre schädigen, mit Ausnahme der Bestimmung, dass nach den Interessen derer maßgeschneidert werden muss, die den größten Anteil an Emissionen in die Atmosphäre haben.25 Tatsächlich steht die Möglichkeit im Raum, dass die Weltgesellschaft asymmetrisch und somit recht unvollkommen bleibt: nämlich aus globalisierten Reichen und lokalisierten Armen besteht. 2. DAS INTERVENTIONISTISCH-REFORMISTISCHE Der Globalisierungsprozess namisch voranzuschreiten; 23 24 25 MODELL scheint an der Jahrhundertwende eigendyund der Umstand, dass sich Konzerne, Poli- Immanuel M. Wallerstein, The Modern World System, Capitalist Agriculture and the Origins of the European World Economy in the Sixteenth Century, New York 1974. joseph E. Stiglitz, Globalization and its Discontents, New York 2002. Erste Konferenz über Weltethos und traditionell indische Ethik, New Delhi, 1997, in: Helmut Schmidt (Hg.), Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten. Ein Vorschlag, München 1998, 11; zit. nach Anil Bhatti, Ethik und Globalisierung. Eine Anmerkung zum Unbehagen, in: Karl Acham (Hg.): Moral und Kunst im Zeitalter der Globalisierung (Zeitdiagnosen 2), Wien 2001,99-121. 90 tiker und internationale Organisationen selbst als >Zuseher< darstellen, kontrastiert auffallend mit jenen ehrgeizigen planerischen und gestalterischen Modellen, die das abgeschlossene 20. Jahrhundert geprägt haben. Spätestens seit den Zeiten der Aufklärung haben sich die Menschen einiges an Kompetenz beigemessen, um die Dinge dieser Welt zu gestalten. Machbarkeits- und Gestaltungsideen hoben ihr Selbstbewusstsein, und sie trauten sich zu, mit den Mitteln der Vernunft eine immer bessere Welt zu schaffen. Das 20. Jahrhundert, das hinterdrein als >Jahrhundert der Obszönität<26 oder als >Jahrhundert der Extreme<27 bezeichnet worden ist, hat zwar bewiesen, dass die ungeheuerliche Dynamik wirtschaftlichen Wachstums und technischer Errungenschaften keineswegs eine entsprechende Versittlichung menschlichen Handelns bewirkt; aber die Idee, dass man die Turbulenzen dieser Welt zum Wohle aller einem rational gesteuerten Zugriff aussetzen müsste, ist wirtschaftsordnungspolitisch erst in dieser Epoche zur Reife gelangt - und hat sich als Flop erwiesen. Aber auch Sozialwissenschaftler wie Max Webe~8 und ]oseph Schumpete~9 sagten - mit durchaus ambivalenten Gefühlen - die umfassende >Rationalisierung< der Welt voraus, und sie meinten damit nicht nur Automatisierung und Technisierung, sondern auch eine größere Rechenhaftigkeit des wirtschaftlichen wie des allgemein gesellschaftlichen Handelns und eine Verwissenschaftlichung der gesellschaftlichen Entwicklung. Die großen wirtschaftstheoretischen Debatten der Zwischenkriegszeit gingen um die Kriterien, Methoden und Instrumente der Wirtschaftsablaufssteuerung: die Wirtschaftsrechnungsdebatte (Barone, Mises, Hayek, Lange) oder die Debatte um die Steuerungskompetenz des Staates, nicht zuletzt in der Diskussion über die Weltwirtschaftskrise (mit dem Niedergang der liberal-klassischen und dem Aufstieg der wurde interventionistischen Keynesschen Lehre3D). Planungskompetenz von zwei Seiten behauptet und gefordert: Es ist zum einen die nüchterne Idee einer modernen technokratischen Klasse, die mit immer ausgefeilteren Methoden Abläufe simulieren und ge-stalten kann; zum anderen die heils geschichtliche Idee eines sozialistischen Modells, das gleichfalls beansprucht hat, die gesellschaftliche Entwicklung aus der naturwüchsiVgl. Eckard HenscheidlGerhard Henschel, Das Jahrhundert der Obszönität. Eine Bilanz, Berlin 2000. 17 Vgl. Eric Hobsbawm, The Age of Extremes. A History of the World, 1914-1991, New York 1996. 28 Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. Tübingen 1976. 29 Vgl. ]oseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (1950), Tübingen u. a. 1993. Ja lohn Maynard Keynes, The General Theory of Employment, Interest and Money (1936), Bd. 7 der Collected Works ofJohn Maynard Keynes, London-Basingstoke 1973. 26 91 gen Krisenhaftigkeit einer kapitalistischen hielten liberale Theoretiker entgegen, dass nicht steuern ließen beziehungsweise dass unweigerlich weitere Eingriffe nach sich sches System münden müssten. Ordnung zu befreien. Dem sich moderne Gesellschaften einzelne Eingriffe in Märkte ziehen und in ein sozialisti- Wir wenden uns zunächst dem reformistischen Modell zu, dem Versuch einer Grobsteuerung und Domestizierung des Kapitalismus, und setzen gleich in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg an. In den 1960er Jahren konnte man in den europäischen Ländern - unerwartet - wieder ein befriedigendes Lebensniveau erzielen und begann, den neugewonnenen Wohlstand zu genießen. Die Politik der westlichen Industrieländer empfahl sich als Garant des sicheren Weges in eine von Wohlstand und Frieden gekennzeichnete Zukunft, als Alternative zu den kommunistischen Avancen. So betrachteten es auch die Bürger der westlichen Marktgesellschaften als zunehmend selbstverständlich werdende Aufgabe des Staates, die Beschäftigung zu gewährleisten und die Standards der sozialen Sicherheit höher zu schrauben. Die Wirtschaftspolitiker stützten sich auf ökonomische Gesamtmodelle keynesianischer Prägung und meinten, damit den golden-age-Wachstumspfad zuverlässig anpeilen zu können. Über die antizyklische Fiskalpolitik hinaus wollten sie zum fine-tuning eines langfristigen Wachstumspfades vorstoßen, der allen Individuen und Ländern Reichtum gewähren sollte. Man wagte im Überschwang des Selbstbewusstseins gar zu fragen, ob Konjunkturzyklen bereits obsolet geworden seien.3! Keynesianismus war der gangbare Kompromiss zwischen unterschiedlichen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Modellen: Er erlaubte die Makroregulierung der Wirtschaft (die Steuerung der wirtschaftlichen Aggregate), ohne die Mikrostrukturen (die unternehmerische Entscheidungsfreiheit) anzutasten. Die staatliche Stabilisierungsleistung musste in dieser Weise nicht notwendig in ein Planungssystem münden, dessen Leistungsfähigkeit man mit Recht anzweifelte, auch wenn man sich von den sowjetischen Vorhersagen, die USA überholen zu wollen, beeindruckt zeigte.32 11 32 Vg!. Martin Bronfenbrenner, Is the Business Cyde Obsolete?, New York 1969. Von der liberalen Seite her wurde das Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus etwa in den beiden berühmten Büchern von Hayek und Friedman behandelt. Friedrich von Hayek, Der Weg zur Knechtschaft, 3. Auf!. (The Road to Serfdom, 1944), München 1952; Milton Friedman, Kapitalismus und Freiheit (Capitalism and Freedom, Chicago 1962), München 1976. In dieser Tradition steht auch das neuere Buch von Peter L. Berger, Die kapitalistische Revolution. Fünfzig Leitsätze über Wohlstand, Gleichheit und Freiheit, Wien 1992. 92 Aus wissenschaftlicher Sicht wies der Keynesianismus den Vorteil auf, sich nicht - wie spätere Varianten - nur als an gewandte Mathematik auf der Grundlage von a-priori-Annahmen darzustellen, sondern eher auf soziologischen Überlegungen zu fußen.33 Unmittelbar nach der Publikation der >General Theory< 1936 hatte freilich auch schon in der Wirtschaftstheorie die Umdeutung jener Elemente der Theorie begonnen, die in das Weltbild der Ökonomie nicht passten - lohn R. Hieks in seinem Aufsatz >Mr. Keynes and the Classics<3\ Paul A. Samuelson mit seinen Lehrbüchern35; Roy Harrod mit seinem gleichgewichtigen Wachstumsmodell.36 Das Ergebnis war Bastard-Keynesianismus/7 ein gefügig gemachter Keynesianismus. Natürlich waren auch die Wirtschaftspolitiker mit der Lehre nicht sonderlich kompetent umgegangen. Der Keynesianismus wurde als Botschaft missverstanden, dass die Regierung in jedem Fall die Vollbeschäftigung zu sichern habe, auch durch explodierende Budgetdefizite, was in der Praxis zur bequemen Maxime führte, dass man beliebig Schulden machen könne.38 Dazu fügte man einen expandierenden Wohlfahrtsstaat, und die Mischung von antizyklisch-interventionistischer Wirtschaftspolitik und umgreifender Allgemeinversorgung verstand man als Keynes hat nicht bei der Nutzenfunktion und damit bei den traditionellen Rationalkonzepten angesetzt, sondern bei soziologischen Verhaltensweisen: bei Konsumneigung, Investitionsneigung, unterschiedlichen Zinssatzreaktionen, Multiplikatorprozessen, Erwartungen, Liquiditätspräferenzen und dergleichen. Das bedeutet den Übergang von einer individuenzentrierten zu einer gruppenzentrierten Verhaltenskonzeption. Soziale Normen kommen ins Spiel anstelle abstrakter Maximierungs-Robinsone. Im Weiteren kommt bei Keynes der Unsicherheit eine essentielle Bedeutung zu: Wahlhandlungen werden weniger unter dem Aspekt der Knappheit als unter dem Aspekt der Unsicherheit analysiert. Auch die Zukunft wird unsicher, und damit eröffnet sich der Weg für eine außersystemische Intervention als unverzichtbares Element der Wirtschaftspolitik: Die Regierung wird zu einem Akteur im Wirtschaftsgeschehen. Bei Keynes kommt auch die Zeit ins Spiel: Während Marshall einen summativen Ansatz zur Gesamtwirtschaft vorgelegt hat, bei dem sich das Ganze aus der Summe der Teile ergibt, hat Keynes einen aggregativen Ansatz dargelegt: Zum Sozialprodukt gelangt man nicht, indem man die outputs einzelner Märkte addiert. Die keynesianischen Probleme von Unterbeschäftigung, Liquiditätsfallen und Multiplikatoren werden in einer marshallianischen oder walrasianischen Welt nicht einfach übersehen, sie können vielmehr in ihr einfach nicht behandelt werden; bei einer summativen Analyse gibt es nur zeitlose Anpassungsprozesse. J4 lohn R. Hieks, Mr. Keynes and the ,Classics<: A Suggested Interpretation, in: Econometrica 5 (1937), 147-159. 35 Paul A. Samuelson, Economics, New York 1948; ders., Foundations of Economic Analysis, Cambridge/MassLondon 1947. 36 Roy F.Harrod, An Essay in Dynamic Theory, in: Economic Journal 49 (1939), 24-33. 37 ]oan Robinson, Economic Heresies, New York 1971. 35 ]ames M. BuehananlRiehard E. Wagner, Democracy in Deficit: The Political Legacy of Lord Keynes, New York 1977. 33 93 >realisierten Sozialismus<. Das Gesellschaftsbild, in dem sich Theoretiker und Politiker fanden, war ein paternalistisch-reformistisches: Die Welt ist gestaltbar, wir wissen, wie sie funktioniert, und entschlossene Reformen können eine humane Gesellschaft im Rahmen einer marktwirtschaftlichen Ordnung schaffen. Dieses Bild begann in den 1970er Jahren deutlich zu bröckeln: durch das Steuerungsversagen der Staaten, die nicht wussten, wie sie auf die Ölkrise (mit nachfolgender Stagflation) reagieren sollten; durch den demographisch bedingten Finanzierungsdruck auf die öffentlichen Budgets, der sich in den 1980er Jahren verschärfte; durch die Öffnung der nationalen Wirtschaften und durch die Globalisierung, die ihnen die Instrumente aus der Hand nahm - bis sich die europäischen Regierungen, beginnend in den 1990er Jahren, zu radikalen Sanierungs-, Entstaatlichungs- und Deregulierungsmaßnahmen entschließen mussten. Seit den 1970er Jahren setzte die gänzliche Auflösung des Keynesschen Modells ein.39 Dies war nicht zuletzt Ergebnis von Veränderungen bestehender sozioökonomischer Bedingungen: durch die Schwäche des Keynesianismus, keine kohärente Theorie der Inflation liefern zu können (die Entwicklung ging von der >Phillips-Kurve< zur >non-accelerating inflation rate of unemployment< (NAIRU)); durch das Problem, den Zustand der Stagflation nicht befriedigend erklären zu können; durch Schwierigkeiten mit der Geldtheorie. Das Keynessche Modell wurde zunächst noch stärker als Modell der Stimmungslagen, der Erwartungsschwankungen und der animal spirits reinterpretiert; auch daraus ergab sich, dass die Steuerung des Wirtschaftsprozesses im Grunde unmöglich ist, aber bald legte man es ohnehin ganz beiseite.40 Allerdings hätte die Theorie sich durchaus adaptieren lassen; in Wahrheit waren für die Peripherisierung der Theorie weltanschauliche Veränderungen maßgebend, die in eine liberale und libertäre Richtung drängten, einschließlich der Verstärkung der individualistischen Komponente der Theorie und des von ihr suggerierten Gesellschaftsbildes. Der Keynesianismus ist zu seinen besten Zeiten kein weltanschaulich einseitiges Programm gewesen, vielmehr wurde die Rezeptur in allen 39 Vgl. lohn R. Hicks, The Crisis of Keynesian Economics, New York 1975; Alan S. Blinder, The Fall and Rise of Keynesian Economics, in: The Economic Record 64 (1988), 278-294. 40 94 G. Bombach u.a., Der Keynesianismus, 3 Bde., Berlin 1981; Sidney Weintraub, Keynes, Keynesians and Monetarists, Philadelphia 1978; Stephan Böhm, Die Keynes'sche Renaissance, in: Wirtschaftspolitische Blätter 29 (1982), 65-77; Gunther Tichy, AustroKeynesianismus - Gibt's den? Angewandte Psychologie als Konjunkturpolitik, in: Wirtschaftspolitische Blätter 29 (1982), 50-64. politischen Lagern als Selbstverständlichkeit angesehen. Aber jenseits der wirtschaftspolitischen Gesamtsteuerung trieb man die technokratischen Visionen so weit, dass man damit rechnete, politische Auseinandersetzungen in Zukunft als fruchtlose Streitigkeiten angesichts überzeugender Optimierungsberechnungen und Modellprojektionen der zuständigen Fachleute überflüssig zu machen.41 Und natürlich konnten sich im gemeinsamen Wachstumsziel alle politischen Gruppen und gesellschaftlichen Gegensätze aufgehoben finden. Daniel Bell sah »the end of ideology« voraus.42 Experten sind solchen Visionen zufolge der beste Schutz gegen die Irrationalitäten des öffentlichen Diskurses. Das Bild, in dem die Welt gesehen wurde, entsprach dem einer Maschine, die von fähigen und weisen Technokraten mit steigender Präzision und Verlässlichkeit gesteuert wurde. Dieses Selbstvertrauen erstarb erst in den wirtschaftlichen Störungen der 1970er Jahre, als der Glücksfall starker Wachstumsraten erschöpft war. Die technokratische Vision hat die Krisenjahre nicht gut überstanden, aber sie ist nicht gänzlich dahingeschieden. Sie scheint sich seitdem eher in den Mikrobereich verkrochen zu haben; dort allerdings leben überzogene Planungsvorstellungen fort, die neuerdings unter dem Titel des »Managements« abgehandelt werden.43 Ingesamt hat man sich Friedrich von Hayeks Diktum zu Herzen genommen: Die Begründung, dass die moderne Wirtschaft so komplex geworden sei, dass man ohne Planung nicht auskomme, sei exakt falsch; genau andersherum sei es richtig: Die moderne Wirtschaft ist so komplex geworden, dass man nicht mehr planen kann, sondern auf Selbstorganisationsprozesse - eben auf Märkte 41 42 4l ]ean Fourastie, Le Grand Espoir du xx Siede, Paris 1950; Alain Touraine, The PostIndustrial Society, London 1974 (dt. Die postindustrielle Gesellschaft, Frankfurt 1972). »Der >technische Staat<<<, so meinte etwa Helmut Schelsky voraussagen zu können, »entzieht, ohne antidemokratisch zu sein, der Demokratie ihre Substanz. Technisch-wissenschaftliche Entscheidungen können keiner demokratischen Willens bildung unterliegen, sie werden auf diese Weise nur uneffektiv. Wenn die politischen Entscheidungen der Staatsführungen nach wissenschaftlich kontrollierten Sachgesetzlichkeiten fallen, dann ist die Regierung ein Organ der Verwaltung von Sachnotwendigkeiten, das Parlament ein Kontrollorgan für sachliche Richtigkeit geworden.« (Helmut Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, in: ders. (Hg.), Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, München, 1979, 459) Daniel Bell, The End of Ideology, New York 1960. So glaubt man, verschiedene Politikbereiche, neuerdings in der>Wissensgesellschaft<besonders den Forschungsbereich, durch Projektplanungen, Total Quality Management, Wissensmanagement, Reengineering, Evaluationen und so weiter steuern zu können, wie dies nur zu den blühenden Zeiten der Planwirtschaft vorgeschlagen wurde. Aber im Hinblick auf die Gesamtwirtschaft sind die großen Planungen auf jeden Fall abgesagt, und der Keynesianismus gilt als diskreditiert: In den USA spricht man nicht mehr darüber, in Europa bestenfalls in einigen Gewerkschaftszirkeln. 95 als wissens effiziente Institutionen - vertrauen muss.44 Das ist ein völlig neues Gesellschaftsbild: Die Gesellschaft ähnelt hierbei nicht mehr einer Maschine, sondern eher einer biologischen Entität. Nicht das cartesianische Modell, sondern das evolutionäre Modell wird als realistisch angesehen; und die Technokraten greifen - mangels ausreichenden Wissens nicht mehr ein, sondern gestalten (bestenfalls) Rahmenbedingungen für selbstorganisierende Prozesse. 3. DAS JAKOBINISCH-UTOPISCHE MODELL Schon in den 1960er Jahren hatten die protestierenden Studenten an den Eigenschaften des Wirtschaftssystems kein gutes Haar gelassen, und sie fanden eine Grundlage für ihre Weltdeutung in der marxistischen Theorie.45 Freilich war es - ordnungspolitisch gesprochen - nicht das Modell der planwirtschaftlichen Länder, das den revoltierenden Studenten und ihren Mentoren attraktiv erschien, denn der ökonomische Entwicklungsrückstand und der politisch-totalitäre Charakter dieser Länder waren für die meisten von ihnen offensichtlich.46 Die Reform im Westen sollte aber auch mehr sein als ein verwaschener Sozialdemokratismus, dem im Rahmen des kapitalistischen Systems nur >eindimensionale 44 45 46 96 Vgl. Friedrich August von Hayek, Economics and Knowledge, in: Individualism and Economic Order, Chicago 1948; ders., Law, Legislation and Liberty, 3 Bde., Chicago 1973 ff. Zu dieser Zeit genoss man bereits die Früchte des Wiederaufbaus. Die Erfolge der Elterngeneration wurden Selbstverständlichkeiten, während die Versäumnisse spürbarer wurden: das Unbehagen in einer anonymen Welt, geprägt von Ungleichheit, gelähmt von Mitbestimmungsdefiziten. Die Planungskraft der Technokraten schien den Studierenden alles andere als attraktiv; sie erfuhren sie als Verlust individueller Entscheidungsräume. Ihre Kritik entzündete sich an der Rassentrennung in Amerika, am Vietnamkrieg und an universitären Unzulänglichkeiten. Eine Revolte der privilegierten Kinder schwappte über die europäischen Länder. Die marxistische Theorie wurde ihren Erfahrungen durch die intellektuellen Führer der Studentenbewegung angepasst, durch Denker wie Ernst Bloch, Max Horkheimer, Theodor Adorno und Herbert Marcuse (vgl. Max HorkheimerlTheodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947). Die Studentenschaft wurde zum >Ersatz-Proletariat< ernannt - und sie dachte, sie sei in eine revolutionäre Situation geraten; vgl. zu Theorie und gesellschaftlichem Hintergrund Clemens AlbrechtlGünther C. BehrmannlMichael Bockl Harald HomannlFriedrich H. Tenbruck, Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt-New York 2000. Viele betrachteten die Ostblockstaaten freilich gewissermaßen als >entartete Brüder<, als eine fortbestehende, doch zeitweilig sistierte Option auf eine bessere Zukunft, verzerrt durch den Belagerungszustand kapitalistischer Aggressoren; oder sie glaubten, zumindest einen Unterschied machen zu müssen zwischen stalinistischen >Verirrungen< und der akzeptablen kommunistischen Lehre. Menschen<47 entspringen könnten. Anzustreben war - >basisdemokratisch< - eine Gesellschaft des Friedens und der Gerechtigkeit, der Selbstentfaltung und des Wohlstands, in der alle Widersprüche aufgehoben wären, und dies nicht zuletzt durch einen Umsturz der Wirtschaftsordnung. Man wollte mehr als die bloß formale Demokratie. Modelle eines >Dritten Weges< wurden kolportiert, ein >Sozialismus mit menschlichem Antlitz< beschworen, das Gespenst des >Eurokommunismus< ging in Europa um.48 Das neue Gesellschaftsmodell, das die Perspektive prägte, war: die moderne, kapitalistische Welt als repressive und ausbeuterische Struktur, die Menschheit und Kultur verdürbe im Interesse einer herrschenden Kapitalistenklasse. Diese Modelle - ökonomisch formuliert in Modellen des >Spätkapitalismus< und des >staatsmonopolistischen Kapitalismus<49 - waren weder verallgemeinerungsfähig noch dauerhaft. 50 Die radikaleren Varianten gesellschaftlicher Reform blieben auf Intellektuellenzirkel beschränkt; dort hortete man die neomarxistische Literatur, einschließlich der entsprechenden wirtschaftstheoretischen Publikationen.51 Manche linken Gruppen glitten in den Terrorismus ab, andere starteten wenig später ihre bürgerliche Karriere, die sie durch die Notwendigkeit eines >Marsches durch die Institutionen< rechtfertigten. Die Bewegung schwand dahin. 47 •8 49 50 51 Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Neuwied 1967 . Vgl. etwa Santiago Carillo, Eurocommunism and the State, London 1977. Vgl. Paul Baran/Paul M. Sweezy, Monopolkapital. Ein Essay über die amerikanische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, Frankfurt/M. 1973; fames O'Connor, Die Finanzkrise des Staates, Frankfurt/M. 1974. Die alte, wirtschaftstheoretisch hochinteressante Auseinandersetzung der Zwischenkriegszeit wurde nicht noch einmal aufgenommen. Die Wirtschaftsrechnungsdebatte kann nämlich als Indiz dafür genommen werden, dass eine bestimmte Methodologie zu gänzlich unterschiedlichen Ergebnissen führen kann: Marktfetischisten müssen nicht unbedingt bei extremliberalen Vorschlägen landen, sondern können ebenso gut für ein planwirtschaftliches System votieren (und daraus ließe sich schließen, dass beide Modelle möglicherweise ihre Schwierigkeiten mit der Realität aufweisen). Denn Oskar Lange hat bewiesen, dass unter den üblichen Annahmen der neoklassischen Markttheoretiker (insbesondere unter der Annahme vollständigen Wissens der Akteure) ein Plansystem genau so machbar wäre wie ein Marktsystem: die Marktergebnisse würden von vollständig informierten Planem einfach nachgerechnet werden. Der ideale Marktsozialismus deckt sich mit dem idealen Kapitalismus. Eine wirklich ,andere< Theorie, die nicht zu derart absurden Ergebnissen führte, bot nur die österreichische Schule. Vg!. Oskar Lange, On the Economic Theory of Socalism (1939), in: Benjamin Lippincott (E d.), On the Economic Theory of Socialism, N ew York 1970. Siehe dazu auch die schöne Darstellung von Peter j. Boettke, Where Did Economics Go Wrong? Equilibrium as a Flightfrom Reality, in: Critical Review 11 (1997) 1, 11-64. Beispielsweise Ernest Mandel, Marxistische Wirtschaftstheorien, 2 Bde., 2. Auf!., Frankfurt 1972. 97 Immerhin durchdrang ein diffuses sozialdemokratisches Lebensgefühl die Gesellschaft, mit modernisierenden und liberalisierenden Wirkungen in vielen Lebensbereichen - Recht, Familie, Kunst, Frauen, Wissenschaft. Es verhalf sozialdemokratischen Parteien zu manchen wahlerfolgen. Der Zeitgeist >stand links<. Die Ausweitung der Staatsaktivitäten und des Staatsanteils am Sozialprodukt wurde für wünschenswert gehalten. Freilich wurde es immer fraglicher, ob von der sozialistischen Vision noch mehr übrig war als verwaschene humanistische Gefühle mit etatistischer Akzentuierung. Der westlich-demokratische Sozialismus rutschte zunehmend in die Attitüde sklerotischer Besitzstandwahrung ohne visionäre Kraft. Und der >real existierende Sozialismus< hat 1989 nach einer Periode des Verblühens - seinen überraschenden Abschied gefeiert. Damit sind die jakobinisch-utopischen Ideenmuster fürs Erste einmal archiviert. Der Kapitalismus ist der >Sieger<, der Linken bleibt vorderhand nur die Melancholie - vielleicht auch das Abwarten auf die Selbstzerstörung des kapitalistischen Systems, ein Habitus, der nicht ganz ungewohnt ist. 4. DAS APOKALYPTISCHE MODELL Dem Staat wurde in den 1960er und den beginnenden 1970er Jahren ein großes Maß an Vertrauen entgegengebracht, es wurde ihm nicht nur Allkompetenz, sondern beinahe (nicht zuletzt: wirtschaftspolitische) Allmacht zugeschrieben.52 Aber diese Machbarkeitsvorstellungen sind in der Mitte der 1970er Jahre zerbrochen. Angesichts der durch den ÖIschock ausgelösten Wirtschaftskrise waren die Menschen mit der Hilflosigkeit der wirtschaftspolitischen Instanzen konfrontiert, und diese Ratlosigkeit stand in krassem Gegensatz zu den überhöhten Kompetenzbehauptungen der Jahre davor. Die Club of Rome-Wamungen über die >Grenzen des Wachstums<53 schienen durch die Ölkrise belegt; die Serie der Umweltskandale begann in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre in Schwung zu kommen; und die Ökologie wurde zu einem aktuellen politischen Thema: Energie, Ressourcen, Emissionen, Landschaft, Nah- 52 Kurt Eichenberger, Der geforderte Staat. Zur Problematik der Staatsaufgaben, in: Wilhelm HennislPeter Graf KielmansegglUlrich Matz (Hg.), Regierbarkeit. Studien zu ihrer Problematisierung, 53 Limits to Growth, 98 Stuttgart 1977/79. Donnella H. MeadowslDennis L. Meadowsljürgen RanderslWilliam W. Behrens, The New York 1972. rungsmittel, Verkehr, Technik.54 Ein neues Gesellschaftsbild wuchs im Bewusstsein: Die Geschichte der Moderne wurde zu einer Verlustbilanz, zu einer Geschichte der Verwüstungen und Vernichtungen. Der Untergang der Welt drohte, man konnte sich allenfalls noch aussuchen, an welcher Art von Desaster die Welt im Verlaufe des kommenden Jahrhunderts ihr Ende finden müsste. Dazu wurde man auf soziale Grenzen aufmerksam. 55Romantische Traditionen der Kritik an der Moderne und an der Industriegesellschaft, die aus dem frühen 19. Jahrhundert stammten und an der Wende zum 20. Jahrhundert neue Resonanz gewannen, wurden wieder aufgenommen.56 Ihre Stichworte sind: Selbstverwaltung, small is beautiful, Vernetzung, Einordnen statt Machen, Kreisläufe statt Beherrschung, Natürlichkeit statt Künstlichkeit, Harmonie statt Durchsetzungskraft, Spontaneität statt Formalismus, Emotionalität statt entfremdeter Vernunft, Kommunikation statt Anonymität - einfach: Widerstand gegen die Tendenzen einer »Kolonialisierung der Lebenswelt«.57 Experten machen die Menschen unmündig, verkündete Ivan Illich.58 Viele beteiligten sich an dem Vorhaben, eine >Gegenkultur< zu entwerfen59 und neue (postmaterialistische) Werte60 zu propagieren. Harte Wirtschafts theorie war in dieser Szene freilich nicht viel zu finden,61 ein wenig Diskussion über Nullwachstum62 und die neu sich entwickelnde Karl- Werner Brand, Neue soziale Bewegungen in Westeuropa und den USA. Ein internationaler Vergleich, Frankfurt-New York 1985; Karl- Werner Brand, Neue soziale Bewegungen. Entstehung, Funktion und Perspektive neuer Protestpotentiale. Eine Zwischenbilanz, Opladen 1982; Wilhelm P. Bürklin, Grüne Politik. Ideologische Zyklen, Wähler und Parteiensystem, Opladen 1984. 55 Fred Hirsch, Die sozialen Grenzen des Wachstums. Eine ökonomische Analyse der Wachstumskrise (Social Limits to Growth, 1976), Frankfurt/M. 1980. 56 Rolf Peter Sieferle, Fortschrittsfeinde? Opposition gegen Technik und Industrie von der Romantik bis zur Gegenwart, München 1984. 57 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen HandeIns, 2 Bde., Frankfurt/M. 1981. 58 Ivan Illich, Fortschrittsmythen, Reinbek 1983. 59 Theodore Roszak, The Making of a Counter Culture. Reflections on the Technocratic Society and its Youthful Opposition, Berkeley 1968 (dt. Gegenkultur. Gedanken über die technokratische Gesellschaft und die Opposition der Jugend, Düsseldorf-Wien 1971). 60 Ronald Inglehart, Die stille Revolution, Frankfurt/M. 1977; ders., Modernisierung und Postmodernisierung. Kultureller, wirtschaftlicher und politischer Wandel in 43 Gesellschaften, Frankfurt/M. 1998; ders., Kultureller Umbruch. Wertewandel in der westlichen Welt, Frankfurt-New York 1989. 61 Eckhard Stratmann-MertenslRudolf HickellJan Priewe, Wachstum. Abschied vom Dogma. Kontroverse über eine ökologisch-soziale Wirtschaftspolitik, Frankfurt/M. 1991. 62 Lester C. Thurow, Die Null-Summen-Gesellschaft. Einkommensverteilung und Möglichkeiten wirtschaftlichen Wandels, München 1981 (The Zero-Sum Society. Distribution and the Possibilities for Economic Change, New York 1980). 54 99 Nische der Ressourcenökonomie. Aber es gab auch technokratisch orientierte >Gegenexperten<, die sich dem technology assessment widmeten, und seriöse Studien internationaler Organisationen unterstrichen die Bedeutung der Probleme: der Interfutures-Bericht der OECD, der Global 2000-Bericht, der Tinbergen-Bericht und andere.63 Aus den Theorien, Essays, Studien und Streitschriften lässt sich ein Bild destillieren: die Welt als durch Phänomene der Moderne bedrohte, vergiftete und gefährdete Welt, geführt von unverantwortlichen Eliten.64 Das grün-alternative Paradigma hat sich freilich nicht recht weiter entwickeln können. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts begann allerdings die Globalisierung einen neuen Fokus der Kritik für ein buntes Spektrum von Protesten abzugeben: Alles, was man an den Lebensbedingungen auszusetzen hatte, vom sozialstaatlichen Abbau über das umweltpolitische Versagen bis zu entwicklungspolitischen Defiziten, wird in den letzten Jahren mit dem Globalisierungstrend in Zusammenhang gebracht - manches zu Recht, manches zu Unrecht. Die >Versagenstatbestände< des wirtschaftlich-politischen Systems sind in den letzten drei Jahrzehnten tatsächlich kaum weniger geworden. Einer Reihe von Schwellenländern geht es besser, aber die Hälfte der Bewohner dieser Erde kämpft weiterhin gegen die bitterste Armut, und die Disparitäten zwischen Ländern nehmen zu. Einige Flüsse wurden gesäubert, aber der ökologische Ruin des Planeten - vom Ressourcenmangel über die Bodenerosion bis zu Wasserknappheiten - schreitet voran. Der Migrationsdruck aus den Armutsregionen wird zunehmen. In den Industrieländern gehen Errungenschaften einer gesicherten Arbeitswelt im Flexibilisierungsprozess verloren, Einkommen und Vermögen klaffen auch auf nationaler Ebene immer weiter auseinander. Im Standortwettbewerb werden wohlfahrts staatliche Programme abgebaut. Die internationalen Finanzmärkte destabilisieren die Weltwirtschaft. GATS kann unabsehbare Folgen haben. Letztlich könnten die Industrieländer zu befestigten Inseln werden, die gegen die Verelendeten dicht machen, die von außen die luxuriöse Burg erstürmen wollen. Die etablierten Ökonomen haben dafür nur einen Ratschlag: Märkte einrichten, Budgetpolitik disziplinieren, Hemmnisse beseitigen, in die Weltwirtschaft integrieren. Am Rande 63 64 OECD, Facing the Future. Mastering the Probable and Managing the Unpredictable, Paris 1979; Reinhard Kaiser, Global 2000. Der Bericht an den Präsidenten. 14. Auf!, Frankfurt/M. 1981;]an Tinbergen, Der RIO-Bericht an den Club of Rome. Wir haben nur eine Zukunft. Reform der internationalen Ordnung, Opladen 1977. Vlrieh Beek, Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit, Frankfurt/M. 1988; ders., Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/M. 1986. 100 gibt es Vorschläge über einen >Weltvertrag<65, einen >Weltstaat<66 oder eine >WeltethikP, die allerdings oft eines gewissen Realitätsbezuges entbehren. 5. DAS LIBERTÄRE MODELL In den 1970er Jahren wurde der Staat als Papiertiger entlarvt. Die Unfähigkeit der Experten wurde aufgezeigt. Verschwendung, Ineffizienz und Korruption wurden einem aufgeblähten Staatsapparat nachgesagt. Die skandinavischen Staaten näherten sich einem Staatsanteil von zwei Dritteln des Sozialprodukts, die Mehrzahl der europäischen Staaten einem Anteil von fünfzig Prozent, und nur >Ausreißer< wie die USA, die Schweiz und Japan verharrten bei einem Drittel. Der Staat, so vermerkten nun liberale Kritiker, habe seine Aktivitäten in Bereiche ausgeweitet, in denen er nichts zu suchen habe, sondern wo er bloß die individuelle Entscheidungsfreiheit bedrohe. Er behindere dadurch den Wirtschaftsprozess und schwäche die wirtschaftliche Dynamik. Er sei daher zurückzudrängen, sein Budget sei zu kürzen, seine Programme seien zurechtzustutzen: eine Entzauberung des Staates. 68 Ein neues Gesellschaftsbild war im Aufstieg: Der Staat wird darin nicht mehr als pflegende und betreuende Institution gesehen, sondern als gefräßiger Leviathan, dem es seine Beute zu entreißen gilt. Nicht seine Expansion ist erwünscht, sondern über Mittel zu seiner Eindämmung wird nachgedacht. Wirtschaftstheoretiker wie]ames M. Buehanan 69 propagierten Vertragsmodelle, die verfassungsrechtliche Einschränkungen wirtschaftspolitischer Aktivitäten des Staates sicherstellen sollen. Friedrieh von HayeFO plädierte für einen Minimalstaat klassischer Prägung, um Dynamik und Innovativität sicherzustellen. Robert Noziek71 radikaDie Gruppe von Lissabon, Grenzen des Wettbewerbs. Die Globalisierung der Wirtschaft und die Zukunft der Menschheit, München 1997. 66 Ot/ried Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 1999. 67 Hans Küng, Weltpolitik und Weltethos. Status quo und Perspektiven, Wien 2002. 68 Helmut Willke, Entzauberung des Staates. Überlegungen zu einer sozietalen Steuerungstheorie, Königstein 1983. 69 fames M. Buchanan, The Limits of Liberty. Between Anarchy and Leviathan, Chicago 1975. 70 Friedrich von Hayek, Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, 2. Auf!., Zürich 1952 (Individualism and Economic Order, 1948); ders., Die Verfassung der Freiheit, 2. Auf!. Tübingen 1983; ders., Law, Legislation and Liberty. A New Statement of the Liberal Principles of Justice and Political Economy (One Volume-Edition), LondonMelbourne- Henley 1982. 71 Robert Nozick, Anarchy, State and Utopia, New York 1974. 65 101 lisierte klassisch-liberale Forderungen, um den Staat an die Peripherie abzudrängen. Politikwissenschaftler prognostizierten die Selbstüberforderung des allseitig engagierten Staates und zweifelten an seiner >Regierbarkeit<.72 Auch in der Ecke der Theoretiker gab es Veränderungen. Man verlegte den Akzent von den sozialen Gruppen (wie bei den Klassikern oder bei Keynes) zu den Individuen. Man setzte statt bei der Makroökonomie bei der Mikroökonomie an - und begann, die Makroebene auf geschickte Weise aus dem Mikroverhalten zu erklären.73 Der Monetarismus blieb ein Zwischenspiel, weil er im Grunde wie der Keynesianismus makroökonomisch ansetztet aber die Theorie der rationalen Erwartungen begann ihren Aufstieg.75 Die Rational Expectations hatten zwar nicht mehr empirischen Gehalt als das Modell der herkömmlichen Nutzenmaximierung, aber sie machten das ökonomische Verhaltensmodell für die Gesamtwirtschaft nutzbar. Rationale Erwartungen beziehen sich auf die Zukunft: Menschen sind nicht völlig naiv, sie nutzen Informationen, um sich ein Bild erwartbarer wirtschaftlicher Entwicklungen zu machen, und sie handeln entsprechend; alle Akteure zusammen kommen zu einer weitgehend korrekten Einschätzung künftiger Entwicklungen - was schon deswegen der Fall sein muss, weil die Handlungen dieser Akteure zusammen als self-fulfilling prophecies die Zukunftsmärkte bestimmen. Damit kann kein repräsentatives Individuum den Markt >ausnutzen<, und vor allem: Auch kein Nichtmarktteilnehmer auch nicht der Staat - vermag den Markt zu überlisten, denn auch dieser verfügt über keine bessere Voraussicht als irgendein repräsentativer Akteur. Damit ist die Regierung als Steuerungsinstanz aus dem Rennen, und die policy ineffectiveness proposition, derzufolge weder Fiskalpolitik noch Geldpolitik langfristige reale Wirkungen zeitigen können, wird zu einem mächtigen liberalen Argument. Der Staat ist draußen. Wenn er 72 Michel j. CrozierlSamuel P. HuntingtonlJoji Watanuki, The Crisis of Demoeraey. ReCommission, New York 1975; Wilhelm HennislPeter Graf KielmansegglUlrich Matz (Hg.), Regierbarkeit. Studien zu ihrer Problematisierung, Stuttgart, 1977179. Vgl. zum Problem Thomas C. Schelling, Mieromotives and Maerobehavior, New YorkLondon 1978. Charles P. Kindleberger, Keynesianism vs. Monetarism and Other Essays in Finaneial History, Boston-Sydney 1986; Sidney Weintraub, Keynes, Keynesians and Monetarists, Philadelphia 1978. Robert Fischer, Rational Expeetations and Eeonomie Poliey, Chieago 1980; Roger Guesnerie, Assessing Rational Expeetations: Sunspot Multiplieity and Eeonomie Fluetuations, Boston 2001. port on the Governability 73 74 75 102 of Demoeraeies to the Trilateral eingreift, stört er nur. Der Markt wird zu emem unbeeinflussbaren, Gebilde.76 Die Wirtschaftspolitik war seit den 1970er Jahren mit steigenden Arbeitslosenraten konfrontiert, und dennoch gelang es, das Thema aus den Schlagzeilen zu verdrängen. Da kamen ökonomische Theorien gerade recht, denen zufolge es gar keine >echten< Arbeitslosen gäbe; vielmehr sei die Unterbeschäftigung nur auf überhöhte Lohnerwartungen und 77 Suchstrategien zurückzuführen. Auch die >langen Wellen< wurden bemüht, um die Schicksalhaftigkeit des Geschehens zu verdeutlichen.78 Bleibt nur noch der Markt. Die liberalen Vorschläge wurden rasch in politikpraktische Empfehlungen umgemünzt: weniger Steuern, weniger gleichsam naturwüchsigen Auch die Neoklassiker und selbst die Neokeynesianer dachten auf dieser Linie weiter. Ein weiteres Angebot folgte mit der neoklassischen Theorie. Ihre Vertreter akzeptierten die Rationalerwartungshypothese und gründeten die Makroökonomie in mathematisch rigoroser Weise auf Mikroprozesse mit gegebenen Präferenzen und gegebener Technologie. Die Annahme großer Fluktuationen in der Rate technischen Wandels mit entsprechenden Wirkungen für die relativen Preise von Gütern und weiteren Anpassungsprozessen wurde aber nicht generell als plausibel angesehen, zumal die Neoklassik mit ihren Exogenitätsannahmen auf der Ablehnung der Gesellschaftlichkeit ökonomischer Akteure und Märkte beharrte. Auch die keynesianischen Verhaltenselemente - animal spirits, liquidity preference, uncertainty - wurden wieder eliminiert. Selbst die neokeynesianische Ökonomie konnte sich dem Druck der Rationalverhaltenstheorie, die offenbar eine Art von ,Hintergrund-Paradigma< für alle Paradigmen darstellen sollte, nicht mehr entziehen. Ihre Theoretiker erbrachten den Nachweis, dass die keynesianischen Dysfunktionen auch in einer Wirtschaft bestehen können, in der die walrasianischen und neoklassischen Annahmen gelten. Sie verwiesen auf institutionelle Rigiditäten und auf Marktunvollkommenheiten verschiedenster Art und konnten tatsächlich viele Inkonsistenzen ausbügeln. Aber die Sache bekam langsam den Anschein eines insiderSpiels: Der Neokeynesianismus wurde ein Spiel, das gegen andere Ökonomen gespielt wird, ein Puzzle-Unternehmen, das sich so weit von Keynes entfernt hat, dass es nicht mehr über eine Vision der wirklichen Welt verfügt; vgl. dazu Robert Heilbroner, Kapitalismus im 21. Jahrhundert, München 1994. " Die Theorie hatte zwei Aspekte. Der erste Aspekt war, dass zur Kenntnis genommen wurde, dass es auf dem Arbeitsmarkt keine vollständige Information gebe. Arbeitslosigkeit bestand also deshalb, weil Arbeitslose mit überhöhten Erwartungen zu lange nach attraktiven Jobs suchten, die sie im Laufe der Zeit zu finden hofften. Einen Schritt weiter ging man mit dem zweiten Aspekt: Die Informationsbeschaffung wurde gleichfalls in das Rationalkalkül einbezogen. Intelligente Arbeitslose suchten so lange, bis die Kosten ihrer Suche die erwarteten Erträge überstiegen. Es gab also nicht nur Informationsdefizite, sondern so etwas wie ein Optimal niveau des Nichtwissens. Und es konnte keine unfreiwillige Arbeitslosigkeit mehr geben. Die Optimalität der jeweils herrschenden Arbeitslosenrate war damit gesichert; vgl. George Stigler, The Economics of Information, in: Journal of Political Economy 69 (1961), 213-225. " Walt W. Rostow, The World Economy. History and Prospect, London-Basingstoke 1978; ders., Getting From here To There. A Policy for the Post-Keynesian Age, London- Basingstoke 1978; Dieter PetzinalG. van Roon, Konjunktur, Krise, Gesellschaft. Wirtschaftliche Wechsellagen und soziale Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1981; Christopher Freeman, Long Waves in the World Economy, London 1983. 76 103 Sozialausgaben, weniger Eingriffe. Der Aufstieg individualorientierter der Sozialwissenschaften79 machte die Betrachtungsweise plausibel, dass man in erster Linie die autonomen Entscheidungen der Menschen ins Auge zu fassen und im Sinne ihrer größtmöglichen Freiheit zu fördern hätte; schließlich ließ sich bereits seit geraumer Zeit mit mathematischer Präzision beweisen, dass marktförmige Prozesse zu den besten Ergebnissen für alle Akteure führen.80 Deregulierung, Privatisierung, Ausgliederung und Entbürokratisierung waren jene Schlagworte, die ab dem Ende der 1970er Jahre an Plausibilität stetig gewannen. Für die politische Elite war die Privatisierung eine Strategie mit spezifischen Vorteilen: Erstens war sie ein neues, innovatives Programm, geeignet, das Vertrauen in die Tatkraft der Politiker wiederherzustellen. Zweitens erlaubte sie der Regierung, sich von Eingriffswünschen zu befreien, die nicht mehr erfüllt werden konnten. Drittens gestattete sie es, zusätzliche Einnahmen in einer Situation flüssig zu machen, in der die Staatskassen rapide austrockneten.sl Rational- Choice- Theorien in allen Bereichen Die Öffentlichkeit begann, die Welt in einem liberalen Gesellschaftsbild zu sehen: als ein im Grunde selbststabilisierendes und dynamisches System, dessen entscheidender Vorzug in seiner Selbstorganisation bestand, mit nur marginalen Aufgaben für eine Regierung. Der neoliberale mainstream hat zwei Aspekte, einen wirtschaftstheoretischen und einen gesellschaftlich-ordnungspolitischen. Erstens: der wirtschaftstheoretische Aspekt. Indem man dem wissenschaftlichen Modell der Naturwissenschaften nacheiferte, wurde die Ökonomie formalisiert; insofern blieb der mathematische Zweig Sieger im Kampf gegen (1) die >Historische Schule<, (2) die sozialistischen Strömungen, (3) die >Österreichische Schule<. Das Problem, dass die Formalisierung bestimmte Annahmen erzwingen musste, Annahmen, die das Marktmodell selbst inkonsistent machten, hat dabei keine Rolle gespielt. Denn in einer Welt mit vollständiger Information, einer großen Zahl von Akteuren, keinen Transaktionskosten, voller Mobilität, blitzschnellen Anpassungsreaktionen sind tatsächlich alle Preise gegeben und entsprechen den Grenzkosten der Produktion; aber alle interessanten Fragen sind wegdefiniert: Es gibt 79 80 81 fames S. Coleman, Foundations of Social Theory, Cambridge/Mass. 1990. feffrey Friedman, The Rational Choice Theory: Economic Models of Politics Reconsidered, 1996; Robin M. Hogarth, Rational Choice: The Contrast Between Economics and Psychology, Chicago 1987. Die radikalste Politik - Thatcherism - wurde in Großbritannien betrieben, wo die ,Eiserne Lady< es schaffte, die Macht der Gewerkschaften zu brechen und kühne Privatisierungsvorhaben zu realisieren. Die Reaganomics waren demgegenüber eher eine rhetorische Angelegenheit, immerhin mit der Wirkung, Sozialausgaben weiter zu kürzen. 104 keine Firmen, keine Gewinne, kein Ungleichgewicht, keine >Entscheidungen<, kein unternehmerisches Handeln. Das Modell des vollständigen Marktes ist nicht eine Idealisierung, sondern verzichtet auf die Analyse aller Vorgänge, die gerade für eine Marktwirtschaft von Belang sind. Konsequente Methodiker haben es demnach auch als >Entscheidungslogik< bezeichnet (und als solche für durchaus sinnvoll gehalten). Aber im Alltag ging es doch immer wieder als hinreichende Annäherung an die Realität durch.82 Bemerkungen, die auf die Absonderlichkeit solcher Annahmen hinwiesen, wurden immer wieder rasch eingemeindet.83 Zweitens: der gesellschaJtlich-ordnungspolitische Aspekt. Die Welt ist in diesem Modell bevölkert von autonomen, freien, ihrer selbst gewissen Individuen. Sie sind aufgeklärt, unmetaphysisch; sie haben die Suche nach dem guten Leben, nach Tugenden, nach Gewissheiten aufgegeben, sie sind tolerant. Märkte verkörpern für sie Flexibilität und Unverbindlichkeit. Sie sind für die Chancengleichheit, aber gegen die Ergebnisgleichheit. Jeder ist seines Glückes Schmied. Sie sind gegen Privilegien und Pfründe, sie sind für Leistung, sie sind gegen ausgeprägte Sozialstaatlichkeit.84 Die extremen Libertären treiben es noch weiter: »For the libertarian the state is but a criminal gang.«85 Auf Grund einer hundertjährigen Propagandakampagne erkannten nur die meisten Leute den 82 83 84 85 Unterstützt wurde diese Vorgangsweise durch Milton Friedmans wissenschaftstheoretische Begleitmusik, derzufolge es kein Problem darstellt, wenn Annahmen eines Modells unrealistisch sind; sie können, ja sie müssen unrealistisch sein, das Kriterium einer guten Theorie ist nur ihre Vorhersagequalität. Vgl. Milton Friedman, Essays in Positive Economics, Chicago 1953. Ein typischer Fall sind die Coaseschen Transaktionskosten. Coase formulierte im Grunde nur die alte Einsicht, dass es auf einem Markt ohne Transaktionskosten keine Unternehmen geben könne und dass die anfängliche Zuordnung von Eigentumsrechten irrelevant sei, weil alle Güter zu ihren höchstwertigen Verwendungen streben würden. Das Modell kann durchaus so verstanden werden, dass es die Absurdität solcher Annahmen dartut; de facto wurde es als neuerliche Bestätigung der Richtigkeit des Modells vollkommener Märkte verstanden; vgl. Ronald Coase, The Firm, the Market and the Law (1938), Chicago 1988. Vgl. Manfred Prisching, Die liberale Konzeption von Gesellschaft und Politik, in: Emil BrixlPeter Kampits (Hg.), Zivilgesellschaft zwischen Liberalismus und Kommunitarismus, Wien 2003, 37-48. Hier als aktuelles Beispiel: Walter Block, Decentralization, Subsidiarity, Rodney King and State Deification: A Libertarian Appr.oach, in: European Journal of Law and Econo mies 16 (2003) 2, 139-147, hier 139. Vgl. auch Murray Rothbard, Power and Market, Government and the Economy, Menloe Parl, CA 1970; ders., For a New Liberty, New York 1973; ders., The Ethic of Liberty, Atlantic Highlands, NJ 1982; Hans-Hermann Hoppe, The Private Production of Defense, in: The Journal of Libertarian Studies 14 (1998-99) 1, 27-52; ders., Democracy, the God That Failed: The Economics and Politics of Monarchy, Democracy and Natural Order, New Brunswick, NJ 2001; Walter Block, Defending the Undefendable, New York 1991; David Boaz (Ed.), The Crisis in Drug Prohibition, Washington, DC 1990 und viele andere. 105 Sachverhalt nicht: »[T]hey refuse to recognize taxation as the theft it is; the inflation of the central bank and Federal Reserve system for the counterfeiting it is; and the military draft for the kidnapping it is.«86Es ist ganz offensichtlich nicht die Zeit der Etatisten, sondern eher jene der >Anarchisten<, auch wenn sie sich als libertäre Wirtschaftstheoretiker verkleiden. 6. DAS INSTITUTIONALISTISCH-SOZIOÖKONOMISCHE MODELL Einen »liberalen Realismus« - im Gegensatz zum skizzierten VulgärNeoliberalismus - gibt es zuweilen auch.87 Er nimmt Grenzen wahr, die der libertäre Fundamentalismus oder der fundamentalistische Libertarianismus (diese Begriffe sind eigentlich Paradoxa) nicht sieht: Er nimmt zur Kenntnis, dass Märkte ein embedding brauchen, ein passendes kulturelles Rahmenwerk,88 das möglicherweise durch einen ungehemmten Marktmechanismus gefährdet wird, und dass auch sozialpolitische Absicherungen ihren wirtschaftlichen Wert haben. Gerade in Transformationszeiten ist sichtbar, dass der Spätkapitalismus verschiedentlich wieder in seine frühkapitalistische Phase zurückfällt. In vielen Teilen der Welt blüht ein Sippen- und Familienkapitalismus, ein Staatskapitalismus und ein Abenteurerkapitalismus, ein Eroberer- und Militärkapitalismus, zum Teil unter Verhältnissen, die Korruption, Erpressung, Gewalt und Krieg einschließen.89 Es genügt offenbar nicht, Privateigentum zu etablieren, um selbsttätig funktionierende Märkte ins Leben zu rufen. Märkte sind eine Sache der Wirtschaftskultur. Das ist nicht neu; die Kritiker des neoklassischen mainstreams berufen sich nicht zu Unrecht auf ökonomische Leitfiguren wie Adam Smith,90 86 87 SR 89 90 Block, Dezentralization (Anm. 85), 139. Peter]. Boettke (1997, 13) hat für den übertriebenen Formalismus eine schöne Formulierung gefunden: "Too much realism may kill analysis, but too little realism is unscientific. If theoretical coherence alone were all that mattered, then the only constraint on theoretical exercises would be the human imagination.« (ders., What Went Wrong, 1997,13). Kar! Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Wien 1977; Mark Granovetter, Economic Action and Social Structure. The Problem of Embeddedness, in: American Journal of Sociology 93 (1985),481-510. Günther Roth, Max Weber und der globale Kapitalismus damals und heute, in: Gert SchmidtlRainer Trinczek (Hg.), Globalisierung. Ökonomische und soziale Herausforderungen am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, Baden-Baden 1999, 29-39. Franz-Xaver KaufmannlHans-Georg Krüsselberg, Markt, Staat und Solidarität bei Adam Smith, Frankfurt-New York 1984. 106 Gustav Sch mo ller9 I oder Werner Sombart. 92 Die institutionalistische Schule reiht sich nur ein in eine lange Tradition, schaftstheorie zugrunde liegende Menschenbild wenn sie das der Wirtanzweifelt: das Individuum als allwissende, rationale Figur, autonom in seinen Entscheidungen und frei in der Anwendung seiner Mitte1.93 Stattdessen wird die Vielseitigkeit menschlicher Handlungsmotivationen betont, die Einbettung in Sitten, Gewohnheiten, Gesetze, Macht, die Ambivalenz von Altruismus und Egoismus; das Handeln unter Neid und Statusgesichtspunkten; die Unsicherheit, unter der jede Entscheidung zu fällen ist; die Existenz sozialer Konflikte und Ungleichgewichte; Märkte in ihren Prägungen durch das Rechtssystem oder die vorherrschenden Sitten und Gebräuche. Methodisch vereint der Institutionalismus historische, pragmatistische und evolutorische Elemente. Er ist beeinflusst von der >Historischen Schule<, wehrt sich mit deren Vertretern gegen überzeitliche Gesetzmäßigkeiten, betont die Notwendigkeit historischer und soziologischer Untersuchungen94 im Gegensatz zur bloßen mathematischen Modellbildung.95 Das Gesellschaftsbild, das von Vertretern dieser Richtung verwendet wird, ist komplexer, weist aber keine deutlichen Konturen auf, die allen Repräsentanten gemeinsam sind oder die auch nur ein >Hauptmodell< konstituieren; es handelt sich um eine breite Strömung, die keine einheitliche theoretische Entwicklung zu verzeichnen hat. Die österreichische Schule hat ihren >klassischen Zweig<. Neuerdings berufen sich aber viele, die nur einen kruden Marktliberalismus vertreten, auf diese Tradition. Die wesentliche Botschaft, die aus der peripheren österreichischen Ecke erschallt, wird nur an den Rändern der Ökonomie gewürdigt: die Botschaft, dass es das eigentliche, der Analyse 91 92 93 94 95 Manfred Prisching, Schmollers Gesellschaftstheorie, in:}ürgen G. Backhaus (Hg.), Gustav von Schmoll er und die Probleme von heute, Berlin 1993, S. 185-219. Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus (Band I, 1 & I, 2: Die vorkapitalistische im Zeitalter des FrühkapitaWirtschaft; II, 1 & II, 2: Das europäische Wirtschaftsleben lismus; III, 1 & III, 2: Das Wirtschaftsleben im Zeitalter des Hochkapitalismus), München 1987. So etwa bereits die Kritik von Veblen: »The hedonistic conception of man is that of a lightning calculator of pleasures and pains, who oscillates like a homogeneous globule of des ire of happiness under the impulse of stimuli that shift hirn about the area, but leave hirn intact .... He is an isolated, definitive human datum, in stable equilibrium except for the buffets of the impinging forces that displace hirn in one direction or another.« (Thorstein Veblen, Why is Economics Not an Evolutionary Science (1898), in: ders., The Place of Science in Modern Civilisation and Other Essays (1919), New York 1990, 56-81. Geoffrey Hodgson, How Economics Forgot History: The Problem of Historical Specificity in Social Sience, New York 2001. Norbert Reuter, Der Institutionalismus. Geschichte und Theorie der evolutionären Ökonomie, Marburg 1994. 107 bedürftige Problem einer Marktgesellschaft sei, mit Fragen wie unvollständigem Wissen, verstreuter Information, tacit knowledge, Unsicherheit, temporalen Anpassungsverläufen und unvorhersehbaren Veränderungen umzugehen. Eine Markt- oder Unternehmergesellschaft lebt grundsätzlich von Unsicherheiten, von Asymmetrien, von Ungleichgewichten, von unterschiedlichen Einschätzungen und dergleichen. Wenn man diese Phänomene apriori ausschließt,96 verliert man alles aus dem Blick, was am Markt wertvoll und interessant ist: das unternehmerische Verhalten und Geschick, Motivationsprobleme, Phänomene des Lernens, das Erkennen von Chancen und vieles andere. SCHLUSSBEMERKUNGEN Es konnten nur einige Hauptströmungen der Ökonomie angesprochen werden. Wir scheinen uns - um mit Thomas Kuhn 97 zu sprechen - in einer multiparadigmatischen Phase zu befinden, denn das Feld der Disziplin hat sich aufgesplittert. Während die angesehenen Zeitschriften nach wie vor auf den Formalismus fixiert sind, regt sich das Leben an den Rändern: von der Spieltheorie bis zur Behavioural Economics,98 von der >neoinstitutionellen Ökonomie<99 bis zur >Sozioökonomie<,loo von der >evolutionistischen Ökonomie<101 bis zur >verstehenden Ökonomie<,I02von der Wirtschaftskulturforschung103 bis hin zur Chaostheorie. Mit der Aufsplitterung der Zugänge zur Ökonomie haben sich auch jene Gesellschaftsbilder vervielfacht, die - manchmal bewusst, oft unbewusst - im Hintergrund der konkreten Theorien stehen. 96 97 Die Eingemeindung in das neoklassische Modell kann man als Sonderform des Ausschlusses sehen; darunter verstehen wir den Einbezug von Unsicherheitsphänomenen und dergleichen in den neoklassischen Kanon: der optimierende Zugang zum Informationsproblem, der kalkulierende Zugang zum Zukunftsproblem und dergleichen. Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. 2. Auf!., Frankfurt/M. 1976. 98 99 100 101 102 103 Reid Hastie/Robyn M. Dawes, Rational Choice in an Uncertain World. The Psychology of Judgement and Decision Making, Thousand Oaks-London-New Delhi 2001. Oliver E. Williamson, The New Institutional Economics: Taking Stock, Looking Ahead, in: Journal of Economic Literature 38 (2000), 595-613. Egon Matzner/Wolfgang Streeck: Beyond Keynesianism. The Socio-Economics of Production and Full Employment, Aldershot (UK)- Brookfield (USA) 1991. David B. Hamilton, Evolutionary Economics: A Study of Change in Economic Thought, New Brunswick, N.J. 1999; Geoffrey M. Hodgson, Economics and Evolution. Bringing Life Back into Economics, Cambridge (UK) 1993. Don Lavoie (Ed.), Economics and Hermeneutics, London 2001. Vg!. etwa Bertram Schefold, Wirtschaftsstile. Band 1: Studien zum Verhältnis von Ökonomie und Kultur, Frankfurt/M. 1994; Rainer Klump (Hg.), Wirtschafts kultur, Wirtschaftsstil und Wirtschaftsordnung. Methoden und Ergebnisse der Wirtschaftskulturforschung, Marburg 1996. 108