Schauplätze von Krieg und Gedenken in Villmergen:
Besichtigung eines Erinnerungsortes
DOMINIK SAUERLÄNDER
Vorbemerkung
«Ein auf Versöhnung zielendes Lernen setzt die Bereitschaft voraus, das Handeln
von Menschen in seiner Vielschichtigkeit und Dynamik verstehen zu wollen. Versöhnungshandeln kann sich nicht mit der Ablehnung des Geschehenen zufrieden geben.
Es fragt nach den Gründen, ist bereit, seine eigene Perspektive in Frage stellen zu
lassen und weiss um die Unverzichtbarkeit dialogischer Beziehungen.»1
So lautet einer der Kernsätze aus dem Konzeptpapier für die geplante Dauerausstellung der Stiftung «Flucht, Vertreibung, Versöhnung». Die Stiftung der Bundesrepublik Deutschland hat zum Ziel, «im Geiste der Versöhnung die Erinnerung
und das Gedenken an Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im historischen
Kontext des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Expansions- und
Vernichtungspolitik und ihren Folgen wachzuhalten».2
Es geht darum, ein im kollektiven Gedächtnis und in der Geschichtskultur aller beteiligten Länder bis heute präsentes und kontrovers behandeltes Thema im
Geist der Versöhnung zu diskutieren. Die geplante Ausstellung sieht deswegen eine
mehrperspektivische Darstellung des Themas vor. Dazu gehört, dass Menschen zu
Wort kommen, die erlebt und gelitten haben. Und dazu gehört auch, dass man konkrete Ereignisse an konkreten Orten festmacht, dokumentiert und diskutiert. Damit
lernen wir, dass grosse Tragödien aus vielen kleinen Tragödien bestehen, die jeweils
unterschiedlich ausgeprägt sind und die keineswegs schicksalhaft nach einem vorgegebenen Drehbuch ablaufen.
Villmergen als Möglichkeit
Genau dies lässt sich auch anhand der Schlacht bei Villmergen zeigen. Auf den
ersten Blick scheint die Sache klar: Eine gut geschulte Berner Armee besiegt eine
unkoordiniert agierende Innerschweizer und Freiämter Horde. Eine überzeugende
Konsequenz angesichts der bereits im ersten Teil des Krieges offensichtlichen Überlegenheit der reformierten Truppen Zürichs und Berns. Das Studium der Schlacht
zeigt aber, dass der Ausgang bis kurz vor Schluss völlig offen war und auch mit einem
Sieg der katholischen Seite hätte enden können.
Der Verlauf der Kampfhandlungen am 25. Juli 1712 ist gut erforscht und dokumentiert.3 7000 Bernern, Neuenburgern und Genfern standen 8000 Innerschweizer
und etwa 2500 Freiämter gegenüber. Diese zahlenmässige Übermacht wurde allerARGOVIA 126, 2014, SEITEN 103–115
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dings durch die bessere Ausrüstung und Schulung der Berner und Westschweizer
Truppen ausgeglichen. Sie verfügten über eine doppelt so starke Artillerie, setzten
Dragoner ein und die Mannschaft war mit modernen Steinschlossgewehren und
Ringbajonetten ausgerüstet. Auf Innerschweizer Seite kämpften die 2500 Freiämter
hingegen noch mehrheitlich mit Stangenwaffen, eine berittene Truppe fehlte.4
Zu Beginn der Schlacht am frühen Nachmittag gelang es den Bernern, den
rechten Flügel der Innerschweizer in die überschwemmten Niederungen der Bünz
zu treiben und fast vollständig aufzureiben. Dafür war in der folgenden Phase der
linke Flügel der Innerschweizer gegen die Berner erfolgreich und drängte sie immer
mehr zurück. Wie bereits 1656 hätte die reformierte Seite die entscheidende Schlacht
wohl verloren, wenn Ihnen nicht Glück und Zufall zu Hilfe gekommen wäre. Zunächst stiessen die erschöpften Innerschweizer nur langsam nach, sodass die Berner
Offiziere mit Unterstützung der Dragoner die zurückweichenden Mannschaften aufhalten und neu zum Kampf motivieren – oder zwingen – konnten.
Entscheidend war aber schliesslich das Eintreffen von Verstärkung. Von Seengen her nahte ein 400 Mann starkes Berner Hilfskorps und von Ammerswil her ein
Sicherungsbataillon, dessen Kommandant Major Fankhauser sich wohl auf eigene
Faust entschlossen hatte, die rückwärtige Stellung zu verlassen und in den Kampf
einzugreifen. Beide Abteilungen kamen gerade richtig, um den neuerlichen Vorstoss
entscheidend voranzutreiben. Die erstarkten Berner verfolgten die Innerschweizer
nach Villmergen zurück. Drei neue Berner Kanonen aus Lenzburg verstärkten zudem das Feuer auf die Flüchtenden.
Nach fünfstündigem Kampf gaben die Innerschweizer und Freiämter um 18
Uhr den Kampf verloren und flohen. So entschied letztlich Kriegsglück in einer verlustreichen Schlacht den Konflikt endgültig. Die Gründe dafür sind vielschichtig.
Zunächst war die militärische Niederlage klar, die Innerschweizer Armee löste sich
nach der Schlacht faktisch auf. Eine Wiederaufnahme der Kriegshandlungen war
nicht mehr möglich. Zurück blieben rund 4000 Tote, davon 3000 Innerschweizer und
Luzerner. Diese gewaltigen Verluste verstärkten den Eindruck der Niederlage in der
Innerschweiz.
Landschaft als Erinnerungs- und Lernort
Selbst Spuren der industriellen Massenkriege des 20. Jahrhunderts müssen heute von
Archäologen ergraben werden. Erst recht verschwunden sind Spuren des Grauens
aus vormoderner Zeit. Im heute dicht besiedelten und genutzten Gebiet des unteren
Bünztals kann man sich auch mit viel Fantasie kaum mehr vorstellen, wo und wie
sich die Soldaten im August 1712 bewegt haben, welches Gelände ihnen Deckung
gab, welcher Sumpf ihnen zum Verhängnis wurde oder welche Häuser im Dorf sie
geplündert haben. Sehen kann man das alles ohnehin nicht mehr. Nichts verändert
sich schneller und nachhaltiger als die Kulturlandschaft.
Und doch soll nun eine Exkursion aufs Schlachtfeld vorgeschlagen werden. Die
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1 Plan mit den Standorten der Exkursion.
Grundlage: Fuhrer 2005.
Exkursion kann auch virtuell mit den hier vorgestellten Arbeitsunterlagen im Klassenzimmer durchgeführt werden. Die Themen und Ziele für Lerngruppen der Sekundarstufe I fokussieren angesichts fehlender Spuren nicht auf die Rekonstruktion
der damaligen Ereignisse, sondern nehmen drei unterschiedliche Fragekomplexe
auf.
Landschaftswandel und Erinnerungslandschaften (Standort 1)
Am Standort auf einer Anhöhe zwischen Wohlen und Anglikon, mitten in einer
meliorierten Ebene mit grossen Ackerflächen geht der Blick Richtung Westen und
Nordwesten über die 1712 überschwemmte Bünzebene unterhalb des Weilers Hembrunn, wo am Morgen des 25. Juli 1712 rund 1000 Innerschweizer den Tod fanden.
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2 Michaeliskarte 1843
(Aargauisches Geografisches
Informationssystem).
Hier stellen sich Fragen: Wie soll man sich hier überflutete Felder vorstellen?
Wo sollen hier so viele im Sumpf umgekommen sein? Wie, wann und warum hat sich
die Landschaft offensichtlich derart verändert?
Tatsächlich ist die Situation von 1712 kaum mehr erahnbar. Der Grund liegt in
den Landschaftsveränderungen des 19. und 20. Jahrhunderts. 1874 ging die Bahnlinie
in Betrieb, 1929 bis 1931 und wieder 1943 wurden die Bachläufe der Bünz, des Holzbachs, Allmendbachs und des Tribachs abgetieft und begradigt. Damit nahmen die
Überschwemmungen ab und die Kulturlandschaft veränderte sich nachhaltig. Die
Verhältnisse im 18. Jahrhundert lassen sich aber anhand alter Karten und Flurnamen
gut rekonstruieren. So zeigt die um 1843 entstandene erste genaue Karte von Ernst
Heinrich Michaelis in der Ebene östlich des Weilers Hembrunn zahlreiche Bewässerungskanäle, die vom Wasser der Bäche gespiesen wurden. Auch die Flurnamen auf
der aktuellen Landeskarte geben zusätzliche Indizien: Der Flurname «Schwellächer»
weist auf Holzschwellen hin, mit denen das Wasser gestaut und umgeleitet wurde.
Richtung Nordwesten unterhalb Hembrunns liegt die grosse Flur «Rüthmatten». Mit
Matten bezeichnete man Grasflächen, die durch Bewässerung gedüngt wurden und
mehrmals im Jahr zur Heugewinnung geschnitten werden konnten. So kann man
also sagen, dass sich noch im 19. Jahrhundert an der Bünz und unterhalb der Anhöhe
von Hembrunn grosse feuchte Flächen befunden haben, die mit Bewässerungsgrä106
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ben durchzogen waren. Nun wird klar, dass solche Gebiete bei anhaltendem Regen
und Hochwasser rasch überflutet wurden.5
Damit können wir die vermutlich überschwemmte Fläche einigermassen eingrenzen. Und tatsächlich: auf der Michaeliskarte von 1843 findet sich am nördlichen
Ende der Rütmatten der Eintrag: «Aufgefundene Gebeine vom J. 1712». Derselbe
Punkt unterhalb des Eschemooses, wo heute die EMS Dottikon einen Teil der früheren Waldfläche beansprucht, ist auch auf einer Karte des unteren Freiamts verzeichnet, die der Feldingenieur und Kartograph Johann Adam Riediger 1714 für
die Zürcher Regierung anfertigte. Gut möglich, das sich Michaelis auf diese Karte
bezog. Riediger verzeichnete alle Ereignisse der Entscheidungsschlacht sowie die
neue Grenze zwischen den Oberen und Unteren Freien Ämtern.6
Riedigers Karte ist nur eine von verschiedenen Darstellungen, die von der reformierten Seite angefertigt wurden und die Erinnerung an die siegreiche Schlacht und
die politischen Veränderungen zu ihren Gunsten festhalten sollten. Eine weitere ist
der kolorierte Stich der Schlacht von Johann Heinrich Meyer.7 Meyer widmete ihn
der Berner Regierung. Seine Darstellung gehört damit zusammen mit der Karte von
Riediger zur offiziellen Ikonografie. Meyer stellt den Verlauf der Schlacht synchron
in einem Bild dar. Im Vordergrund zu sehen ist die erste Phase bei Hembrunn. Auch
er lokalisiert sie entweder im Eschenmoss oder im Hämberehölzli, auf alle Fälle
seien – wie er in der Legende schreibt – die Innerschweizer im Wald durch die Berner
Kavallerie erschlagen worden oder dann in der Bünz ertrunken. Meyer ist der einzige
Künstler, der das Massengrab, das am Tag nach der Schlacht ausgehoben worden sein
soll, darstellt. Nimmt man seinen Stich als Massgabe, dann müsste sich das Grab
mit den rund 4000 Toten der Schlacht nördlich oder westlich des Eschenmooswaldes
befinden. Vielleicht gehören die bei Michaelis erwähnten «Gebeine» dazu.
Die Karte Riedigers und die Darstellung Meyers sind Beispiele dafür, wie die
Orte des Geschehens nachträglich zu Erinnerungsorten werden. Eine andere Variante ist die spätere Konstruktion historischer Landschaften am Ort des Geschehens.
In der Schweiz ist das berühmteste Beispiel einer solchen historischen Konstruktion
die Erinnerungslandschaft rund um den Vierwaldstättersee: Rütli, Hohle Gasse und
Tellskapelle. Die drei Erinnerungsorte markieren die im Weissen Buch von Sarnen
erstmals aufgezeichneten Orte der Befreiungstradition. Das Rütli, der wichtigste
Lieu de mémoire der Schweiz (Georg Kreis) wurde 1860 von der Schweizerischen
Gemeinnützigen Gesellschaft erworben und der Eidgenossenschaft geschenkt. Die
Tellskapelle bei Sisikon entstand bereits im 16. Jahrhundert, wurde aber 1879/80 neu
errichtet und mit Fresken zur Befreiungstradition des Basler Malers Ernst Stückelberg versehen. Die Hohle Gasse wurde erst 1937 im Zuge der Geistigen Landesverteidigung konstruiert. Man leitete die Landstrasse um und baute das Teilstück der
alten Verbindung Zürich–Gotthard, wo Tell Gessler erschossen haben soll, im Stil
einer Landschaftskulisse völlig neu. Ein Hohlweg ersetzte das breite Strassenbett,
Felsbrocken und Pflästerung sorgen seither für das historische Ambiente.8 Die dorS C H A U P L ÄT Z E V O N K R I E G U N D G E D E N K E N I N V I L L M E R G E N
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3 Ausschnitt aus der Karte
des unteren Freiamts von
Johann Adam Riediger
1714 (Staatsarchiv Aargau
GS 342).
4 Johann Heinrich Meyer. Zweite Schlacht von
Villmergen (Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern).
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tige Tellskapelle, deren Vorgängerbau ebenfalls aus dem 16. Jahrhundert stammt,
wurde 1638 neu errichtet.
Erinnerungslandschaften entstehen auch heute noch. Aktuellstes Beispiel ist
das Museum und der Park Kalkriese, die zwischen 2000 und 2002 an einem der
mutmasslichen Schauplätze der Varusschlacht um 9 n.Chr. in der Region Osnabrück
(D) angelegt wurden. Im Gegensatz zur nationalistisch-patriotischen Inszenierung
vor 1945 zeigt diese moderne Erinnerungslandschaft neue Ansätze historischer Erinnerungskultur vor Ort. Der 20 Hektar grosse Park arbeitet zwar auch mit Rekonstruktionen. Diese sind aber als solche klar gekennzeichnet. Weitere Interventionen
im Gelände weisen auf den Stand der archäologischen Forschung hin und gewähren
den Besuchenden auch Einblicke in aktuelle Ausgrabungen. Sie machen somit deutlich, dass der Prozess historischer Erkenntnisgewinnung keineswegs abgeschlossen
ist, sondern dass laufend mit neuen Erkenntnissen gerechnet werden darf. Diesem
Ansatz ist auch das Museum verpflichtet.9
Diesem Ansatz sollte auch die Begehung eines Erinnerungsortes folgen. Wir
versuchen uns also vor Ort zwar durchaus die Vorgänge vor 300 Jahren zu vergegenwärtigen, sind uns dabei aber bewusst, dass keineswegs alle Erkenntnisse zum
Schlachtverlauf gesichert sind und dass neben der Schlacht auch die Landschaftsveränderung an sich eine zentrale Lerngelegenheit ist. Wir erkennen, wie stark und
nachhaltig eine Kulturlandschaft verändert wird und bringen diese Veränderungen
in den Zusammenhang mit gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen.
Landschaftswandel und die Rolle des Zufalls (Standort 2)
Auch am Standort 2, oberhalb des Dorfes Villmergen am Fuss der Schwarzhalde, ist
der Landschaftswandel ein zentrales Thema. Von hier lässt sich das ganze Schlachtfeld überblicken: im Süden das Dorf Villmergen, im Osten gleich gegenüber des
jetzigen Standpunktes der Bünzlauf mit dem Sumpfgebiet, wo sich der erste Teil der
Schlacht abspielte. Im Westen, also gleich hinter uns, erstreckt sich der Rietenberg,
der heute an seiner Ostflanke vollständig bewaldet ist.
Thema dieses Standorts ist der zweite Teil der Schlacht, der lange Zeit zu Ungunsten der Berner verlief und sie zum Rückzug bis weit hinter Dintikon zwang. Erst die
überraschend eintreffende Verstärkung verhalf den erschöpften Bernern schliesslich
zum Sieg gegen die nicht minder erschöpften Innerschweizer. Aus den Schilderungen
verschiedener Quellen nimmt man an, dass der linke Flügel der Innerschweizer Truppen über den Rietenberg vorstiess und die Berner auf ihrer rechten Flanke bei Dintikon angriff und in Bedrängnis brachte. Lange sah es nach einer Berner Niederlage aus,
denn ihr rechter Flügel war nach dem Gemetzel im Sumpfgebiet der Bünz offenbar
nur schwer wieder in Kampfformation zu bringen und die Innerschweizer nutzten
geschickt den Geländevorteil. Die Chronisten schreiben den knapp errungenen bernischen Sieg denn auch zwei singulären glücklichen Ereignissen zu: Zum einen dem
Berner Schultheiss Samuel Frisching, der beherzt die zurückweichenden Berner zum
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erneuten Angreifen ermunterte und dem Eingreifen ausgeruhter Truppen, die von
Ammerswil und Seengen her gerade noch rechtzeitig anrückten.
Aus heutiger Sicht irritieren vor allem die Truppenbewegungen über den Rietenberg. Wie – so fragt man sich – sollten Hunderte von Soldaten samt Tross und
Artillerie mitten durch den Wald vorrücken können? Die Antwort ist einmal mehr
in der Landschaftsveränderung begründet. Auf den heute bewaldeten Flächen des
Rietenbergs breitete sich um 1700 ein beträchtlicher Teil des Villmeger Ackerlandes
aus. Der Ackerbau wurde erst im 19. Jahrhundert aufgegeben, weil sich die Bewirtschaftung solcher Randlagen im Zeitalter der Getreideimporte nicht mehr lohnte.10
Diese Situation ist um 1840 noch auf der Michaeliskarte gut sichtbar, aber auch
auf einer der beiden bekanntesten Bilder zum Zweiten Villmergerkrieg, die dem Zuger Maler Johann Franz Strickler zugeschrieben werden.11 Während auf dem ersten
Bild die Innerschweizer, angeführt durch einen Hauptmann mit Kruzifix, freudig
vorrücken, zeigt das zweite Bild die sich abzeichnende Niederlage, verursacht durch
den Verrat des fliehenden Anführers, der seine verzweifelten Leute zurücklässt. Wir
kommen auf die inhaltliche Deutung noch zurück. Hier interessiert zuerst die Darstellung der Landschaft. Im Hintergrund beider Bilder sind deutlich die Hügelzüge
des Rietenbergs zu sehen. Sie sind nur teilweise bewaldet und zeigen grosse freie
Flächen, die als Kulturlandflächen zu identifizieren sind. Hier liess sich ein Truppenaufmarsch durchaus bewerkstelligen und man kam wohl besser vorwärts als in der
durchweichten Flur des Bünztals.
Die beiden Bilder von Strickler geben aber nicht nur Hinweise zur Landschaftsveränderung. Vor allem sind sie ein Zeichen der Aufarbeitung der für die breite
Bevölkerung völlig überraschenden Niederlage. Die Innerschweizer Truppen bei
Villmergen waren ja klar in der Überzahl. Und trotz der moderneren Bewaffnung
und Ausrüstung samt starker Artillerie und Kavallerie bildete diese Überzahl hochmotivierter Kämpfer für die Berner eine grosse Gefahr, der sie sich ohne die abwesenden Zürcher stellen mussten. Der Ausgang der Schlacht war also offen und
hätte am späten Nachmittag auch fast mit einem Sieg der katholischen Seite geendet.
Die Wende und das Erstarken der Berner, die lange aus der Defensive heraus agiert
hatten, blieb der Innerschweizer Bevölkerung ein Rätsel und konnte nur durch den
Verrat der aus der Luzerner Oberschicht stammenden Haupt-Anführer geschehen
sein. Ihnen machte man nun den Vorwurf, sie hätten den Kampf sabotiert, weil sie an
einem Friedensschluss mit den reformierten Stadtorten mehr interessiert gewesen
seien als an einem Sieg der Innerschweizer Landbevölkerung.
Die beiden Bilder von Strickler zeigen genau dies: Einen zuerst noch eifrigen,
dann aber rasch entmutigten Anführer, der seine Truppen den Bernern führungslos überlässt. Zusammen mit Stricklers Darstellung des Sieges der Innerschweizer
bei Sins gegen ein Berner Detachement ergeben die beiden Bilder ein starkes Trio,
das die Sichtweise der Innerschweizer Landbevölkerung wiedergibt: Der Sieg schien
sicher, aber die Anführer wollten ihn nicht und sabotierten ihn deswegen.12
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5a
5 a+b Zwei Gemälde
zur Schlacht von Villmergen 1712 von
Johann Franz Strickler
(Foto Schweizerisches
Nationalmuseum. DIG3536 und DIG-3540).
5b
Im Gegensatz zum ersten Standort an der Bünz lässt sich hier unterhalb der
Winterhalde noch etwas von der alten Kulturlandschaft erahnen, wie sie 1712 ausgesehen haben könnte. In den Feldern nahe dem Waldrand sind noch einzelne Hochstammobstbäume zu sehen. Sie sind die letzten Reste der früher weit verbreiteten
Baumgärten, die meist mitten in den Feldern standen. Ackerbau und Obstbau gingen
Hand in Hand. Für die traditionelle Bewirtschaftung bildeten die Bäume kein grosses
Hindernis, für die Landmaschinen hingegen schon. Deshalb verschwanden sie im
Laufe des 20. Jahrhunderts fast ganz aus der Kulturlandschaft und konnten sich nur
noch am Rande der Flur halten.
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6 Obstbäume unterhalb der Winterhalde
(Foto: Dominik Sauerländer).
Erinnerungsort (Standort 3)
Über rund 250 Jahre hinweg erinnerte kein Denkmal an die Schlacht – eine bemerkenswerte Tatsache angesichts der Tragödie, die sich hier ereignete. Lange Zeit bestand keine Basis für eine gemeinsame Erinnerung. Erst am 22. Mai 1960 wurde im
Dorfkern von Villmergen ein Mahnmal errichtet, und zwar für beide Villmergerkriege 1656 und 1712. Im Gegensatz zu klassischen Schlachtdenkmälern ging es hier um
den Ausdruck von Versöhnung. Weder wurde ein Sieg verherrlicht noch eine Niederlage beklagt. Endlich – so schien es – war eine kollektive Form der Erinnerungskultur
gefunden. Doch auch um dieses schlichte Mahnmal wurde mehrere Jahre heftig
gerungen. Die Schlussformel «das walte Gott» fand erst auf Interventionen aus der
Villmerger Bevölkerung hin Eingang in die Denkmalinschrift.
Erste Pläne für einen Gedenkstein entstanden in der Zeit zwischen den beiden
Weltkriegen, wurden aber nicht weiter verfolgt. In den 1930er-Jahren wollten verschiedenen regionale Schützenvereine ein Gedenkschiessen ins Leben rufen, ähnlich
dem Morgarten- oder Rütlischiessen. Trotz der Unterstützung aus Luzern, Bern und
Zürich wurde nichts daraus. Anstoss für das heutige Denkmal gab erst das Gedenkjahr
1956 (300 Jahre Erster Villmergerkrieg). Einmal mehr vermisste man einen konkreten
Erinnerungsort an die Ereignisse. Villmergen wurde in der Schweiz mit den beiden
Kriegen in Verbindung gebracht, Durchreisende fanden aber kein Erinnerungezeichen. Der Verkehrsverein nahm sich der Sache an. Hinter dem unmittelbaren Erinnerungsbedürfnis standen laut Georg Kreis zwei weitere wichtige Gründe: Zum ersten
sollten die beiden Kriege als historische Ereignisse der eigenen Geschichte in den
Zeiten fortschreitender Veränderungen ein neues Gewicht geben. Zum zweiten wollte sich das Dorf als Ort der Versöhnung neu profilieren und darstellen. Dies sollte auch
das neue Denkmal ausdrücken: kein Zeichen des Sieges, sondern der Versöhnung.13
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7 Das Brunnendenkmal in Villmergen
(Foto: Dominik Sauerländer).
Im Gegensatz zu klassischen Schlachtdenkmälern sollte das Mahnmal modern
und zeitlos wirken. Das Konzept des Zürcher Bildhauers Franz Fischer, das vom
örtlichen Bildhauer Cäsar Jules Jäggi ausgeführt wurde, sah denn auch eine schlichte
und moderne Brunnenanlage mit Gedenkstein und Bank vor. Die Schrift auf dem
Stein ist ein Entwurf der Aarauer Grafikerin Lisa Stauffer-Imhof. Realisiert wurde
das Denkmal als Gemeinschaftswerk des ganzen Dorfes, finanziert durch Spenden
der Bevölkerung. Der grösste Donator war der im Ausland lebende Villmerger Carlos
Fischbach aus Buenos Aires. Namhafte Beiträge steuerten auch der Kanton Aargau
sowie weitere Gemeinden und Stiftungen bei.14
Uns erscheint das Denkmal als Erinnerungsort noch heute eindrücklich in seiner Gradlinigkeit und Schlichtheit. Betrachtet man vor allem die Inschrift genauer,
sieht man dahinter aber deutlich die Zeit des Kalten Krieges, die auch in einer der
Eröffnungsreden 1960 angesprochen wurde. So kann man das Denkmal auch als
Aufruf zur Einigkeit angesichts äusserer Bedrohung empfinden – oder als Ausdruck
der Verdrängung von inneren Konflikten. Dazu passt, dass die Inschrift die beiden
Konflikte als reine Glaubenskonflikte beschreibt. Diese Sichtweise nahm den beiden
Villmergerkriegen ihre Brisanz, denn Konfessionsgegensätze waren um 1960 in der
Schweiz überwunden. Hätte man die beiden Villmergerkriege hingegen als Konflikte
zwischen Stadt und Land oder zwischen liberal oder konservativ gedeutet, so wären
sie aktueller denn je gewesen und man hätte sich kaum auf einen Text geeinigt.
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8 Inschrift auf dem Denkmal (Foto:
Dominik Sauerländer).
So gesehen wird das Denkmal in Villmergen zu einem Manifest der Nachkriegszeit, in der sich die Schweiz in einem neuen europäischen Umfeld orientieren musste
und dies durch eine Verlängerung der Abgrenzungspolitik tat. Kulturell gebrauchte
man die Geschichte im Sinne der geistigen Landesverteidigung als Instrument der
Selbstvergewisserung. Innere Konflikte sind überwunden, damit man gegen aussen
vereint auftreten kann.
Anmerkungen
1
Konzeption für die Arbeit der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung und Leitlinien für die geplante Dauerausstellung, 2012, S. 7: http://www.
dhm.de/sfvv/docs/Konzeption%20SFVV.pdf (abgerufen am 8. 10. 2012)
2
Zitiert nach: http://www.dhm.de/sfvv/ (abgerufen
am 8. 10. 2012)
3
Vgl. die exzellente Zusammenfassung des aktuellen Forschungsstandes in: Fuhrer, Hans Rudolf
(Hg.): Villmerger Kriege 1656/1712. Militärgeschichte zum Anfassen. Heft 19. Au 2005. Als
Standardwerk gilt immer noch Löw, Karl: Die
Schlacht bei Villmergen im Jahre 1712. Liestal 1912.
4
Meier, Jürg: Waffen im 17. Jahrhundert am Beispiel
des Villmergerkrieges 1712. Beilage zu Fuhrer 2005,
S. 24 f.
5
Vgl dazu auch Engel, Max: Der nasse Tod bei
Hembrunn. In: Heimatkunde aus dem Seetal 2003,
S. 23–29; ders. Auf der Spur der 1712 in der Bünz
ertrunkenen 1100 Krieger. In: Heimatkunde aus
dem Seetal 2007, S. 5–10.
6
Staatsarchiv Aargau GS 342.
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7
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9
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12
13
14
ZHB Luzern, Sondersammlung (Eigentum Kor-
poration Luzern).
Vgl. dazu Messmer, Kurt: Ausgewählte geschichtsdidaktische Profile. In: Furrer. Markus et.al. (Hg.):
Die Schweiz im kurzen 20. Jahrhundert. 1914 bis
1989 – mit Blick auf die Gegenwart. Zürich 2008,
S. 175–296, speziell S. 213 f.
Vgl. die Dokumentation zu Konzept und Aktivitäten auf der homepage von Museum und Park:
www.kalkriese-varusschlacht.de (abgerufen am
26. 12. 2012).
Vgl. Sauerländer, Dominik: Villmergen – eine
Ortsgeschichte. Villmergen 2000, S. 28 f.
Schweizerisches Nationalmuseum LM 16 808, LM
16 809.
Vgl Wüthrich, Lukas: Zwei Gemälde mit Darstellungen der Schlacht bei Villmergen 1712. In:
Zeistchrift für Schweizerische Archäologie und
Kunstgeschichte, Band 27/1970, Heft 3, S. 154–171.
Vgl. Kreis, Zeitzeichen, S. 342–346.
Denkmalkommission Villmergen (Hg.). Gedenkschrift zur Denkmaleinweihung vom 22. Mai 1960
in Villmergen. Villmergen 1960.
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