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DAS ACHTZEHNTE JAHRHUNDERT Zeitschrift der D eutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts Zeitkonzepte Zur Pluralisierung des Zeitdiskurses im langen 18. Jahrhundert Zusammengestellt von Stefanie Stockhorst Herausgegeben im Auftrag des Vorstandes vom Sekretariat der Gesellschaft veritas filia temporis Geschäftsführender Herausgeber: Carsten Zelle JAHRGANG 30 WOLFENBÜTTEL 2006 HEFT 2 WALLSTEIN VERLAG Zum Frontispiz: Sarurn, die Wahrheit empomagend. Zeitallegorie (verita.r filia ttmporis), Deutschland, 1. Drittel 18. Jahrhundert, Elfenbein, Höhe 18,3 cm. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Herzog Anton Ulrich-Museums, Braunschweig. Inhalt Aus der Arbeit der Deutschen Gesellschaft Corrigendum zu DAJ 30 (2006): Zu unserem Bedauern hat sich in den Beitrag von Helmut Keipert: ..Ist Popes Essay on Man bei Brockes wirklich nur aus dem Englischen übersetzt?« (Das achtzehnte jahrhundm 30, 2006, H.1, 79-88, hier: 87, Anm. 15) durch falsche Zeichensatzkonverrierung ein Fehler eingeschlichen. Richtig muß der letzte Satz in Anm. 15 wie folgt heißen: »Da der russische Übersetzer von 1757 sich - mit lto •Was< und eben nicht mit kto •wer< gleichfalls an das et qui Silhouettesangeschlossen hat, liegt neben right- bim auch mit ce qui ein Fehler vor, der in Weiterübersetzungen eine bemerkenswerte Tradition gebildet hat.« Zu diesem Heft ( Carstm :Ulk) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert. Interdisziplinäre und internationale Tagung der Herz.og August Bibliothek in Zusammenarbeit mit der DGEJ, Wolfenbüttel, 15.-18. Okt. 2006. Tagungsbericht ( Ulrich johannes Schneider} Deutsch-Polnischer Kulturtransfer im 18. Jahrhundert. Wrodaw, 14.-17. Juni 2006. Tagungsbericht ( Veit Elm, Agnieszka Pufolska}. . . . . . . . . . . . . . 151 151 155 Zeitkonzepte Zur Pluralisierung des Zeitdiskurses im langen 18. Jahrhundert Zusammengestellt von Stefanie Stockhorst Stefonie Stockhorst: Zur Einführung: Von der Verzeitlichungsthese zur temporalen Diversität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Sicco Lehmann-Brauns: Zur Neuvermessung der Geschichte in der Aufklärung. Philosophische Retrodiktionsversuche nach der Entkräftung der >historia sacra• 165 Daniel Fulda: Rex ex hisroria. Komödienzeit und verzeitlichte Zeit in Minna von Bamhelm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . · · . . . · · · · · Jens Martin Gurr: Geschichte(n} erzählen: Zeitstrukturen und narrative Sinn- 179 stiftung bei Laurence Sterne zwischen Aufklärungs- und Metahistorie . . . . Melanie Wald: Moment musical. Die Wahrnehmbarkeit der Zeit durch Musik. . Gabriek Genge: William Hogarth's Blacks. Die Vermirdung ,fremden Zeitlichkeit im Rahmen seiner narrativen Graphikzyklen . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 207 221 Bart Philipsen: .. buchstabengenau«. kenosisder Zeichen, der Zeit und des Subjekts in Hölderlins später und spätester Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Aus der Forschung © 2006 Deutsche Gesellschaft fur die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts. Alle Rechte vorbehalten. Anschrift des Geschäftsführenden Herausgebers: Carsten Zelle, Herzog August Bibliothek, D-38299 Wolfenbüttel Verlag und Vertrieb: Wallsrein Verlag GmbH, www.wallstein-verlag.de, Göttingen 2006 Druck: Hubert & Co, Göttingen ISBN-13: 978-3-8353-0056-9 ISBN-10: 3-8353-0056-3 ISSN 0722-740-X Günter Arnold: Die Schweiz im 18. Jahrhundert - aus russischer Außen- und schweizerischer Binnensicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . · 253 jürgen Overhojfüber Paul E. Kerry: Enlightenment Thought in the Writings of Goethe: A Contribution co the History ofldeas (2001) . . . . . . . . . . . . Bemd Zegowitz über Jan Assmann: Die Zauberflöte. Oper und Mysterium (2005) Oliver Hochadel über Mary Terrall: T he Man Who Flattened the Earth. Maupertuis and the Seiences in the Enlightenment (2002). . . . . . . . . . . . . 256 257 260 Carl Langschmidt über Die Universität Leipzig und ihr gelehrtes Umfeld 16801780. Hg. Hanspeter Marti, Dcdef Döring (2004) . . . . . . . . . . . . . . 261 149 Aus der Arbeit der Deutschen Gesellschaft jörn Steigerwald über Annene Gracz.yk: Das Iirerarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft (2004) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas Kleinert über Georg Chrisroph Lichtenberg: Vorlesungen zur Naturlehre. Lichtenbergs annorierres Handexemplar der vierten Auflage von J .C.P. Erxleben: Anfangsgründe der Naturlehre (2005) . . . . . . . . . . . . . . . . . Mark-Georg Dehrmann über Herben Jaumann : Handbuch Gelehrtenkultur de r Frühen Neuzeit: Bd. 1: Bio-bibliographisches Repertorium (2004) . . . . . . Han.speter Marti über Johannes Frimmel: Literarisches Leben in Melk. Ein Kloster im 18. Jahrhundert im kulturellen Umbruch (2005) . . . . . . . . . . . . . Andreas Gipper über Jean-Baptiste Jeangene Vilmer: Sade moraliste. Le devoilemenr de la pensee sadienne a Ia lumiere de Ia reforme penale au XVllle siede (2005) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gert Theile über Wilhelm Heinse: Die Aufleichnungen. Frankfurter Na c hla~ s . Hg. Markus Bernauer, AdolfHeinrich Borbein, Thomas W. Gachtgcns, Volkcr Hunecke, Werner Keil und Norbert Millcr. 5 Bde. (2003-2005) . . . . . . . Mark Emtmuel Amtstätter über Joh. Nikolaus Schneider: Ins Ohr geschrieben. Lyrik als akustische Kunst zwischen 1750 und 1800 (2004) . . . . . . . . . . Gert Theile über Gerold Schipper-Hönicke: Jm klaren Rausch der Sinne. Wahrnehmung und Lebensphilosophie in den Schriften und Aufzeichnungen WiJhelm Heinses (2003) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bernd Vincenz: Der Verfasser des biographischen Anhangs der zweiten Auflage von Johann Georg Walchs Philosophischem Lexicon. Eine MiszcUe. . . . . . Eingegangene Bücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 Zu diesem Heft 264 265 268 270 273 278 279 282 285 Mit der >Winter-Nummer< unserer Zeitschrift wird wieder ein >Schwerpunktheft• vorgelegt, das Srefanie Stockhorst (Augsburg) zum Thema »Zeitkonzcpte. Zur Pluralisierung des Zeitdiskurses im langen 18. Jahrhundert• zusammengesteHt hat. Daneben dokumentiert der Rezensionsteil Forschungsfo rtSchritte und ggf. -kontroversen auf den unterschiedlichen Gebieten der 18.-Jahrhunderr-Forschung. Das kommende >Sommerheft< DA] 31. 1 (2007) wird ein •freies< Heft sein, dessen Beiträge im wesentlichen vorliegen. Der Schwerpunkt im Winter (DA} 31.2, 2007) wird von Gisela Schlüter (Erlangen) z.um Thema »Historischer PyrrhonismuS<< vorbereitet. Für das ,freie• Heft im Sommer darauf (DA] 32.1, 2008) sind Aufsat1.angebote (max. 45.000 Zeichen, im Druck ca. ein Bogen von 16 Seiten) erwünscht ebenso wie konzeptionell begründete Vorschläge für spätere Schwerpunkthefte. Auch Rez.ensionsangebote für die in der Rubrik •Eingegangene Bücher• annoncierten Neuerscheinungen sind willkommen. Unsere Leser sind überdies eingeladen, Vorschläge für die zwei deutsch-amerikanischen panels auf den Jahrestagungen der ASECS jeweils Anfang April in den USA, Manuskriptofferten für die beiden wissenschaftlichen DGE}-Reihen (Studien bei Meiner und Suppiementa bei Wallstein) sowie Anregungen für die zukünftig zweijährig stattfindenden Tagungen der DGE} Anfang Oktober einzubringen. Die nächste Mitgliederversammlung findet im Zusammenhang mit dem Kolloqium ,,Aufklärung- Lumieres - llluminismo. l ere conference trilaterale« (18.-20. Okt. 2007) in Potsdam, die nächste DGEJ-Tagung zum Thema »Europa und die Türkei im 18. Jahrhundert« (9.- 11. Okt. 2008) in Bonn statt. Carstm alle, Geschäftsführender Herausgeber, Das achtzehnte Jahrhundert Kulturen des Wirsens im 18. Jahrhundert. Interdisziplinäre und internationale Tagung der Herzog August Bibliothek in Zusammenarbeit mit der DGEJ, Wolfenbüttcl, 15.-18. Okt. 2006. Tagungsbericht Die von Helwig Schmidt-Giinczer (Wolfenbüttel) und Ulrich ]ohannes Schneider (Leipz.ig) geleitete und von der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung geförderte Tagung hat neben fünfHauptvomägen fust 60 Arbeitsberichte in 13 thematischen Sektionen zur Diskussion gebracht und konme so das T hema Kulturen d ~s Wissens im 18. Jahrhundert in relativ großer Breite und Intensität behandeln. Es waren ca. 60 angemeldete und ca. 30 unangemeldete wissenschaftliche Gäste während der Tagung anwesend, sodass sämtliche Plenarveranstaltungen und Sektionen gut besucht waren. Zugegen waren ebenfalls Vertreter von Verlagen und von Zeitschriften; am 19. Okt. wurde ein Bericht über die Tagung im deutschflmdfimk (kulrur heute) gesendet. Oie Tagung wurde durch den Direktor der Herz.og August Bibliothek, Helwig Schmidt-Glinczer, eröffnet. Nach Begrüßungsworten des Präsidenten der DGE], Wolfgang Adam (Osnabrück), und einer Einführung ins Thema von Ulrich Johannes Schneider (Leipz.ig), brachte der erste Hauptvortrag von Walther Ch. Zimmerli (Wolfsburg) ei ne umfassende Prohlcmatisierung unter dem 150 151 Grundcharakter« (Mahler) der Gattung Komödie. Das gilt auch für Tcllheim, der nicht weniger, aber auch nicht mehr als rehabilitiert wird. Auch mit Minna geht er keine neue Bindung ein, sondern sie schließen lediglich die Ehe, die sie sich schon vor längerem versprochen haben. Die füt die Fortschrittserwartung der verzeitlichten Zeit charakteristische Zuversicht, daß die Dinge gut ausgehen, findet sich gleichwohl auch in Minna von Barnhelm. Sie ist sogar wesentlicher Bestandteil des Verhaltensideals, das diese Komödie propagiert. Denn Tellheims Fehler besteht wesendich darin, daß er in seiner Sache so pessimistisch ist, sämtliche Ankündigungen seiner Rehabilitation von sich zu weisen. Seine Neigung, »Wider die Vorsicht zu murren« (1,6, 614), bringt ihn bis an den Rand der »VerLWeiflung« (11,9, 641; vgl. V, 10/11). Minna hingegen ist sich gewiß, daß »die Vorsicht[... ] den ehrlichen Mann immer schadlos hält« (IV,6, 678). Und der Ausgang des Stücks gibt ihr recht. Die Rede von der >>Vorsicht« oder Vorsehung ist dabei nicht bloß als Metaphorik zu verstehen, deren religiöse Provenienz unerheblich wäre. Vielmehr ist das Zukunftsvertrauen Minnas ebenso wie seine Approbation durch den Dramenverlauf untrennbar mit dem christlichen Providenzvertrauen verbunden. Folgt daraus, daß die in und von Minna von Barnhelm artikulierten Hoffnungen auf einen heilsamen Verlauf der Zeit im Kern noch einem vormodernen, eher religiösen als histOrischen Denken zuzurechnen sind? Dieser Schluß wäre nur dann zu ziehen, wenn Providenzgewißheit und Geschichtsoptimismus als streng geschiedene Varianten von Z ukunftshoffnung zu gelten hätten. Gerade in der zweüen Hälfte des 18. Jahrhunderts überschnitt sich jedoch beides, fungiene der Providenzglaube als »religiöses Unterfutter« histOrischer Fortschrinserwarcungen.45 Auch dabei vollwg sich eine Verzeitlichung, nämlich durch die Verschiebung von einem Erwartungsziel jenseits der Zeit zur dynamisierten Zeit als Erwartungshoriwnt. Um noch einmal Reinhart Kaselleck zu zitieren: »Das Heil wurde nicht mehr am Ende der Geschichte, sondern seitdem im Vollzug der Geschichte selbst erwarret«.46 Nun stellt sich der (fast immer) gute Schluß der Komödie schon garrungskonvemionell kurzfristig, nämlich innerhalb der Spielzeit ein, und mit einer Heirat (und deren materieller Ausstattung) ist das angezielre Heil ganz traditionell ein innerwelcliches. Eine Lösung des Konflikts wie in Minna von Barnheim- durch einen König, der nicht als •deus ex machina<agiert- ist gleichwohl signifikant, nämlich für die Hisrorisierung, die jene Verzeirlichung bedeutet. In lA:SSings Komödie geht die Historisierung freili ch nicht soweit, daß die Geschichte als Feld des Fortschritts dargestellt würde. Um so deutlicher wird die religiöse Quelle, aus der sich die optimistischen Erwartungen der Moderne an die verzeitlichte Zeit speisten- auch wenn Minna von Barnhelm für diese Dimension von Verzcidichung keinen >empirischen Beleg< darstellt. Daniel Fulda, Halle 45 Koselleck: »Zeicverkünung und Beschleunigung« (= Anm. 6), 191. 46 Ebd., 189. 192 Geschichte(n) erzählen: Zeitstrukturen und narrative Sinnstiftung in Laurence Sternes Tristram Shandy zwischen Aufklärungsund Metahistorie This Nsay reads Sternes radically non-Linear •gamt1 with timt• a.s a critical reacticn to pmiominant/y linear 18th untury conceptions oftime. Talring its cues from Haydm White and Paul RictrUr, it thm discusm the novel's insights into rhe unurtainty of historicallmowkdge and its necNsarily na"ative comtrucrion. Final1y. it poinrs out how the narratiw in Sternestext appears a.s an anthropologicalneussity in giving meaning to the othtrwise threatming and chaotic human experimu oftime. Cette contribution voit dam ks •Jeux avec le umps« tk Sterne, qui sont jo11dammtakmmt non linlrairts, une reaction critique aux concepts du umps principakmmt linraires du XV!Iüme si~rk. II m emuiu que1tion, dam Ia ligne tk Paul Ricomr tt tk Haydm White, tks ptrspectives que k roman ouvrt! sur /'incertitude du savoir historique et sa comtruction nkessairemmt na"ative. On montrera mfm commmr, dans k texte tk Sttme, k na"atifapparait comme une nrussitl anthropologique donnant un sens al'explrimce du tnnps, qui serait sinon mtna(ante et chaotiqttt pour L'homme. •[Sterne) isaman ofhis time, though he complicates our sense ofthat time.• (Denis Donoghue) 1 I. Einleitung - Spiele mit der Zeit Mü einem Aufsatz Theodore Bairds begann in den 1930er Jahren eine intensive Auseinandersetzung mit Fragen der Chronologie, der Zeitwahrnehmung und -gestaltung in TristromShandy {1759-1767), die gerade in jüngerer Zeit einige der interessantesten Studien zu Sternes Roman hervorgebracht hat. 2 Nicht zuletzt Sternes oft postmodern anmutende >Spiele mit der Zeit• sind für dieses anhaltende Interesse verantwortlich. Diese ins 20. Jahrhundert vorausweisenden Innovationen im Umgang mit der Zeit kommentie- Denis Donoghue: •Sterne, Our Contemporary«. In: The Winged Skul1: Papers from the Laurmce Sterne Bicentmary Conftrt!nce. Hg. Anhur H. Cash, John M. Stedmond. London 1971, 42-58, hier: 58. 2 Aus der Vidzahl der Beiträge über >Zeit in 1rntram Shandyc seien nur die folgenden genannt: Theodore Baird: •The Time-Seherne oflfisrram Shandy and a Source«. In: Publicatiom ofthe Modern Language Association 51 (1936), 3. 803-820; Madeleine Descargues: »La Pcrception du temps dans l'reuvre de Laurence Sterne«. in : Les Ages de Ia vil' en Grande-Bretagne au XV!lle sieck: Actes tks colloques dicembre 1990 et dlumbre 1991. Hg. Serge Soupel. Paris 1995, 213223; Dietrich Schwanitz: »Laurence Sternes Tristram Shandy und der Wertlauf zwischen Achilles und der Schildkröte•. In : Das Paradox: Eine Herausforderung tks abendländischen Denkem. Hg. Paul Geyer, Roland Hagenbüchle. Tübingen 1992, 409-430; Jo Allyson Parker: »Spiralling down >the Gurcer ofTimec: Tristram Shandy and the Srrange Attracror of Oeath•. In: wtber Studies 14 (1997), 102-114; Jo AJlyson Parker: »The Clockmaker's Outcry: Tristram Shandyand the Complexification oflime•. In: Disrupted Patterns: On Chaos and Ortkr in the Enlighten- 193 Trotz des chaotischen Leseeindrucks ist seit langem etabliert, dass dem Roman ein detailliertes Zeitschema zugrunde liegt, das von den 1680er Jah ren bis in die >Schreibzeit< in den 1760er Jahren reicht und auf zahlreiche histOrische Ereignisse Bezug nimmt, so dass sich bei genauer Lektüre ein durchaus engmaschiges Netz historischer Verweise ergibt. Dabei verschränkt der Text mindestens drei Zcirebenen? Erstens die Zeit der H andlung, also die Zeir um Tristrams Geburt im Jahre 17 I 8 mit verschiedenen Vor- und Rückgriffen auf die Vorgeschichte seiner Familie und auf spätere Phasen seines Lebens. Hinzu kommt zweitens die Zeit der vorgeblichen Abfassung des Textes durch Tristram zwischen 1759 und 1767, d ie mit der tatsächlichen Entstehung des Romans synchronisiert ist. So thematisiert der Erzähler Tristtarn Shandy wiederholt seine eigene Schreibsituation und nimmt Bezug auf das Werrer, seine Kleidung oder seinen Gesundheitszustand an konkret benannten Tagen der Niederschrift seiner Erinnerungen: »And here am I sitting, this 12th day of August, 1766«.8 Hierher gehören auch Bemerkungen des Erzählers, die mit dem sukzessiven Erscheinen des Romans zwischen 1759 und 1767 spielen, etwa wenn es heißt: »l told the reader, this time two years [ago]« (VI, XXXI, 348). Die dritte Zeitebene ist die der Lektüre, die über die in den Roman eingeschriebene Zuhörer- bzw. Leserschaft ins Spiel kommt. Entscheidend ist hier die Fiktion der ständigen Interaktion des Erzählers mit den anwesend gedachten und dabei durchaus individualisierten Leserinnen und Lesern, denen er immer wieder sein Erzählverfahren erläutert, die er um Verständnis für Verzögerungen bittet oder mit denen er schlicht in Streit gerät. Viele der Zeitexperimente sind lediglich Spiele mit der Zeitgebundenheit und der erwarceten Linearität des Lesevorgangs: D er Erzähler schickt eine unaufmerksame Leserio zur erneuten Lektüre in ein früheres Kapitel zurück (I, XX, 43), liefert zwei zunächst fehlende Kapitel einige Seiten später nach (IX, XVII, 477-IX, XXV, 488) oder lässt ein Kapitel ganz aus (IV, xxv, 237). Henke stellt daher treffend fest, dass die meisten dieser Spiele mit der Zeit »sich aus ungewöhnlichen erzähltechnischen Relationen zwischen den verschiedenen Zeitebenen im Roman ergeben.«9 So werden die Ebenen des erinnerten Erlebens von Tristrams Kindheit, des Schreibens bzw. Enählens darüber und schließlich die des Lesevorgangs in unzähligen Varianten verschränkt, wofür ich im Folgenden nur einige wenige Beispiele geben kann. Das Vorwort des Romans etwa findet sieb erst mitten im dritten Band, was der Erzähler damit begründet, dass seine Figuren gerade alle gut beschäftigt seien, so dass er jetzt Zeit dafür habe: •All my heroes are off my hands;- 'tis ehe first time I have had a moment ro spare,-and 1'11 make use of it, and write my preface.« (Ill, x:x, 142). An anderer Stelle wird ein Gespräch zwischen Tristrams Vater und Onkel mitten im Satz unterbrochen, um nach einer weitschweifigen Erläuterung der Hintergründe des Gesprächs fast dreißig Seiten später ebenso unvermittelt fortgesetzt zu werden rend, resümiert Christoph H enke völlig zurecht: »In keinem anderen Roman des 18. Jahrhunderts[ ... Jwird Zeit so sehr zum Thema und zugleich zur Komplikation wie in Sternes Tristram Shandy.«3 Wenn Lcssing 1766- also gerade gegen Ende der Emstehungszeit von TriJtram Shandy - in Laokoon die berühmte Feststdlung trifft, »die Zeitfolge ist das Gebiete des Dich ters, so wie der Raum das Gebiete des Malers«4 , so gilt diese Bestimmung der (sehr weit gefassten) Dichtung als Zeitkunst natürlich noch verstärkt für den bei Lcssing nicht einmal bevorzugt mitgedachten Roman, der sich in besonderer Weise dazu eignet, Formen der Zeitwahrnehmung zu gestalten und zu problematisieren.5 Betrachtet man in diesem Sinne die erzählende Literatur und besonders den Roman als privilegiertes Medium der literarischen Zeirgesralrung, erkennt man den Roman als- zumjndest in England - Leirgenre des 18. Jahrhunderts, und fasst man schließlich Tristram Shandy als radikalsten Zeitroman vielleicht nicht einmal nur des 18. Jahrhunderts auf, so wird die paradigmatische Bedeutung dieses Texres für jede Diskussion literarischer Zeitdarstellung evidenr.6 Die >postmodernen< Erzählseraregien und Varianten der Zeitdarstellung in Sternes Roman sind breit erfim cht, so dass ich mich daraufbeschränken werde, sie nur knapp zu vergegenwärtigen, um mich später darauf beziehen zu können. Im zweiten Teil dieses Beitrags soll dann gezeigt werden, dass es durchaus möglich ist, der Modernität des Texres im Umgang mit der Zeit gerecht zu werden, ohne ihn aus dem Kontext des 18. Jahrhunderts herauszulösen. Hier wird zu zeigen sein, dass Sternes Roman gerade die Gestaltung der Zeitwahrnehmung zum wichtigsten Mittel der Auseinandersetzung mit zentralen Problemen, Diskussionen und Fragestellungen seiner Entstehungszeit nutzt. Was mich im Foregang des Aufsatzes schließlich beschäftigen wird, ist d ie Überkreuzung von Fiktion und Historiographie im Erzählen von Geschichte(n), die narrative Gestaltung von Problemen der Zeitwahrnehmung sowie die Sinn- und IdentitätSStiftung durch dieses Enählen von menschlichen Erfahrungen in und mit der Zeit. mmt. Hg. Thcodore E.D. Braun, John A. McCanhy. Amsterdam 2000, 147- 160; Chrisroph Henke: •Trisrrams Zeitprobleme: Venögerungen, Anachronismen und subjektive Zeit in Laurence Sternes Tristram Shandy«. In: Zeit und Roman: aittrfohrung im historischen Wantkl und ästh~icm Pardigmw~chul vom stch:uhmm jahrhuntkrt bis zur Postmk~. Hg. Martin Middeke. Würzburg 2002, 91-109. 3 Henke: •Trisrrams Zeitprobleme• (= Anm. 2), 91. 4 Gotthold Ephraim Lessing: •Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie mit beiläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte«. ln: Ders.: W~rk. Hg. Herherr G. Göpferr. München 1974, Bd. 6 , 7- I 87, hier: I 16; vgl insbes. die Abschnitte XV bis XVUI. 5 Vgl. hierzu auch Henke: •Tristrams Zeitprobleme• (% Anm. 2), 93. 6 Zur Zeit als zentraler narrawlogischer Kategorie vgl. etwa Gerard Genette: Nar t iv~ 7 Das umfassendste Analyseraster für solche Variationen des Umgangs mir der Zeit in Erzähltexten bietet immer noch Genette: Narrative Discoursd= Anm. 6). [1759-1767]. Hg. !an 8 Laurence Sterne: The Lift and Opinions ofTristram Shandy. Gentl~ Watt. Boston 1965, IX, 1, 462; vgl. auch I, xvm, 34; I. XXI, 49; V, XVll , 284. Weirere Angaben in 0 im Text mir Buch, Kapitel und Seitenzahl. 9 Henke: •Tristrams Zeitprobleme• (• Anm. 2), 92. Discourse (fn.. Discours du rccir, 1972). Irhaca 1980; für eine knappe Übersicht vgL auch Monika Fludcrnik: •Tempus und Zeitbewusstsein : Er.cihlt.heorerische Überlegungen zur englischen Literatur•. In : Middeke: :Uir und Rom4n (% Anm. 2), 21-32, sowie Ansgar Nünning, Roy Sommer: •Die Verrcxrung der Zeir: Zur narratologischen und phänomenologischen Rekonstruktion erzählerisch insunierter Zeiterfahrungen und Zeirkonzeptionen•, ebd., 33-56. 195 194 l (I, XXI, 48-ll, VI, 75). Verschiedendich diskuriert der Erzähler, ob die zum Lesen einer Abschweifung nötige Zeit wohl ausreichend gewesen sei, im Hintergrund ablaufende Handlungen glaubwürdig zu Ende zu bringen (li, vm, 78 f.), oder ob es denn angemessen sei, zwei Kapitel darauf zu verwenden, ein Gespräch zwischen seinem Vater und seinem Onkel beim Herabsteigen einer Treppe zu schildern (IV, IX, 210 f.). Ein besonders reizvolles Beispiel der Verschränkung mehrerer Zeitebenen ergibt sich, als der Erzähler beschließt, seinen Vater vorerst im Bett liegen zu lassen und eine halbe Stunde lang andere Dinge zu erzählen (III, x:xx, 161 ), viero:hn Seiten später jedoch behauptet, der turbulenten Ereignisse wegen schon 35 Minuten erzählt zu haben, so dass ihm nun für die vor der Rückkehr zum Vater noch unbedingt zu enählenden Dinge »five minutes less than no time at all« verblieben (Ill, XXXVIII, 175). Das am konsequentesten durchgeführte Spiel mit der Zeit aber ergibt sich aus der digressivcn Erzähltechnik des Textes selbst: Der Versuch, jede Episode auch noch des Lebens seiner Eltern vor seiner Geburt ab ovo zu erzählen, führt zu einer unendlichen Verschachtdung immer komplexer s ich überwuchernder Kausalzusammenhänge und notwendig zu erzählender Hincergründe und Begleitumstände, so dass der Erzählvorgang m ir dem zu Erlählenden nicht mehr Schritt halten kann: »I am this monrh one whole year older than I was this time [one year ago], and ha:ving gor, as you perceive, almosc into the middle of my fourth volume- and no facther than ro my firsr day's life [ ... ] J have three hundred and sixry-four days more life to write just now, than when I firsr sec out; so that instead of advancing [ ... ] I am just rhrown so many volumes back [ ... ] as ar this rate I should just live 364 times faster than I should write~I must follow [ ... 1that the more I weite, ehe more I shalJ have to write-and consequendy the more your worships read, the more your worships will have to read.« (IV, Xlll, 214). 10 Dieses vom Erzähler reflektierte Problem, dass das Leben schneller verläuft als er erzählend Schritt halten kann, wird nun innerhalb der erzählten H andlung noch einmal gespiegelt, nämlich in der Unf'ahigkeit des Vaters, die »Trisrrapa!dia« - das großangelegte Handbuch zur Erziehung seines Sohnes - auch nur annähernd soweit fortzuschreiben, dass die jeweils für eine Eniehungsphase gedachten fertiggestellten Abschnitte auch Trisrrams Lebensalter entsprechen: »[B]y ehe very delay, the first part of the work, upon which my father had spenr ehe most of his pains, was rendered entirely useless,-every day a page or two became of no consequence.« (V, XVI, 283 f.). Das hier noch skurril wi rkende Anschreiben des Vaters gegen die verrinnende Zeit wird, wie an späterer Stelle noch zu zeigen sein wird, für Tristram im Verlauf seiner Erzählung zunehmend zum existenziellen Problem. If. Sternes Problematisierung der Zeitwahrnehmung als Reaktion auf lineare Zeitkonzepte Wenn ich im Folgenden die These vertrete, Sternes Roman >antizipiere• theoretische Überlegungen des 20. Jahrhunderts, so ist damit keine prophetische Gabe Sternes oder auch nur des Romans gemeint. Vieles von dem, was uns besonders in der Zeitgestaltung anachronistisch als geradezu postmodern erscheine- und was erheblich zum anhaltenden Interesse an Sterne beiträgt- ist nun keineswegs nur postmodern, sondern ist auf zentrale Debarren, Probleme und Überlegungen des 18. Jahrhunderts zurückzuführen. So haben Elizabeth W Harrics, Everett Zimmermann, Jo Allyson Parker und andere gezeigt, dass theoretisch avancierte und an •postmodernen Problemen• interessierte Arbeiten keineswegs ahistorisch Sternes Modernität einfach diagnostizieren müssen, sondern diese vielmehr auf zeitgenössische philosophische, theologische und wissenschaftliche Debatren zurückführen können. 11 Harries etwa findet Kontexte für die •postmoderne• Fragmentiertheit von Sternes Text in der Bibel und in zeitgenössischen exegetischen D iskussionen, im Interesse des 18. Jahrhunderts an antiken Fragmenten und Bruchstücken in Literatur, Kunst und Architektur, aber auch in einer beginnenden, durchaus schon auf die Romantik vorau~weisnd Tendenz, von Anfang an als solche intendierte Fragmente neu zu schaffen. Evererr Zimmermann sieht neuere Debatcen um die Möglichkeiten und Grenzen der Geschichtsschreibung in Problemen der Hisroriographie und der Bibelwissenschaft im mitderen 18. Jahrhundert antizipiere, ja er liest einzelne Passagen in Sternes Roman bereits als »parody of [concemporary) historicaJ method«. 12 Aufschlussreich für die hier interessierende Fragestellung ist nun, dass in Sternes Text gerade die al.len Gewohnheiten widersprechende nicht-lineare, digressive Erzählweise zum wichtigsten Mirtel wird, diese Diskurse zu ins-t.enieren und kritisch zu hinterfragen, ist doch die Fragmentiertheit des Erzählvorgangs als Verweigerung linearen Erzählens genau als Form der Zeitgestaltung zu verstehen. Doch auch in einem noch direkteren Sinne isr Tristram Shandyals Reaktion auf Zeitdiskursedes 18. Jahrhunderts zu sehen. So liest etwa Parker den Text mir seinem konsequent nicht-linearen Erzählen als Reaktion auf das dominant linear-progressive Denken seiner Zeit, insbesondere als »deliberate resisrance to the determinism of Newtonian science to which the grear linear narratives of the mid-eighteenth-century conform.« 13 II Vgl. Elizabeth W Harries: •Srerne's Novels: Garhering up the Fragments«. In: English Liurary History 49 (1982), 35-49; Everert Zimmermann: »Tristram Shandy and Narrative Representation•. ln : The Eighteenth Cmmry: Theory and Interpretation 28 (1987), 127-147; Parker: »Gutter of Time• (= Anm. 2); Parker: »Ciockmaker's Outcry« (= Anm. 2). Die Essays von Harries und Zimmermann sind nachgedruckt in Tristram Shandy. Hg. Melvyn New. New York 1992 (= New Casebook Series); vgl. auch die Bemerkungen des Herausgebers zu diesen Arbeiten, bes. 11-13. Zum Problem der Historizität und Akrualirär in Arbeiren über Trimam Shandy vgl. auch Verf.: Tristram Shandy and the Diakaie ofEnlighsmmmt. Heidelberg 1999, 9 f. und pa.~s 10 Vgl. auch Sterne: Trntram Shandy (= Anm. 8), I, xiv, 28 (: »I have been (wriring] these six weeks, making all the speed I possibly could,-and am not yer born [... ] so rhar you see rhe rhing is yet far from being accomplished.« 12 Zimmermann: •Narrative Represenration• (= Anm. II), 131. 13 Parker: •Guneroffime« (= Anm. 2), 103; vgl. auch Parker: ·Ciockmaker'sOutcry« (= Anm. 2), 147 f. I 196 I l 197 Aber nicht nur die Physik im Gefolge Newtons mit ihrem Glauben an Kausalität und (zumindest prinzipielle) Berechenbarkeit der Welt wird hier satirisch hinterfragt. Bedenkt man nämlich, dass die hier zur Rede stehende Epoche in den verschiedensten Bereichen von Vorstellungen eines linearen, progressiven Zeitverlaufs geprägt war, so wird der Roman in weit umfassenderer Weise als Reaktion gegen ein solches Zeitverständnis lesbar. Zunächst prägen die Uhr und der Umgang mit der Zeit im Verlauf des 18. JahrhundertS zunehmend und in vorher nicht denkbarem Maße das Arbeitsleben und den Alltag; aber auch in den verschiedensten Bereiche der Wissenschaft rücken die Untersuchungsgegenstände verstärkt in ihrer Zeitlichkeit in den Blick: 14 So finden sich um die Mirce des 18. Jahrhunderts, erwa bei Linne oder Buffon, erste Gedanken zu einer evolutionären Weiterenrwicklung der Arten in der Natur. 15 Diese und verwandte Enrwicklungen resümierend, spricht Wendorff von einer ,. VerLCitlichung des Denkens über die Natur« in rueser Zeü. 16 Das Zeitversrändnis, das diesen Vorstellungen einer fortschreitenden (Höher-)Enrwickl ung in der Natur zugrunde liegt, iSt ein kontinuierlich-lineares, das sich leicht mit dem Gedanken des in dieser Zeit zunehmend auch für die menschliche Gesellschaft postulierten Fortschritts in Einklang bringen lässt. Tristram !3handy ist durchsetzt m it ironischen Brechungen solcher optimistischer Annahmen eines linearen Verlauf.., der Geschichte, einer H öherenewicklung der menschlichen Gesellschaft sowie kollektiver oder inruvidueller Perfektibilirät. 17 Beispielhaft für diese lronisierung der Fomchrirrsidee ist die folgende Passage über neuesec Enrwicklungen in den Wissenschaften: »[B]y slow stcps of casual increase [ ... ] our knowledgc physical, metaphysical, physiological, polemical, nautical, marhematical, a:nigmatical, tcchnical, biographical, romantical, chcmical, and obstetrical, with fifty other branches of it, (most of 'em ending, as thesc do, in icaL) have, for these last rwo centuries and more, gradually been creeping upwards towards that )\xttJ1 of thcir pcrfections, from which, if we may form a conjecrure ftom the advances of theselast seven years, we cannot possibly be far off.« (1, XXJ, 49). Ein im Text in zahllosen Variarioneo eingesetztes Verfahren, die genannten linearen Zeitvorstellungen kritisch zu kommentieren, ist es gerade, die gewohnte Wahrnehmung der Zeit als linear verlaufend durch vielfache Brechungen der C hronologie und Überlagerung der verschiedenen Zeitebenen zu verfremden. Eben dieser Umstand macht es möglich, dem Eindruck erstaunlicher Modernität des Textes in der radikalen Fragmenrierung des Erzählens gerecht zu werden, ohne ihn anachronistisch aus dem Kontext des 18. Jahrhunderts herauslösen zu müssen. Gerade bei Sterne also müssen aktualisierende Interpretationen keineswegs ahistorisch sein. 14 Vgl. hierzu e[Wa RudolfWendorff: äit und Kultur: G~schiu tks äitb~wußns in Europa. Opladen 1980, bcs. 253-337. 15 Vgl. ebd., 309 ff. 16 Vgl. den so überschriebenen Abschnitt, ebd., 309-321. 17 Zur Kritik des Fortschrittsgedankens in Tristram Shandy vgl. Verf.: Tristram Shandy (= Anm. II), 27 f. und pass. 198 111. Die Histori1.ität der Fiktion und die Fiktionalirät der Historie Nachdem die innovative Form der Zeitgestaltung in Tristram Shandy so als Reaktion auf lineare Zeitvorstellungen des 18. Jahrhunderts erkennbar geworden ist, soll im Folgenden der Versuch unrernommen werden, diese Behandlung der Zeit als erzählende Sinnstiftung sowie die Frage nach der Verwandtschaft von Historiographie und Fiktion in Sternes Roman aus der Perspektive Hayden Whites und Paul Ricreurs w fokussieren. Angesichts der >Einschlägigkeit< grundlegender Überlegungen beider für zentrale Themen des Romans erscheint mir eine solche Lesart naheliegend; sie isr aber bislang meines Wissens nicht unternommen worden. Die beiden Theoretiker verbindet in Bezug auf die hier interessierenden Fragestellungen ein Verhältnis der »überkreuzten Referenz«, um einen zentralen Begriff aus ilit und Erzählung 1.u verwenden. 18 Und dies nicht nur, weil White Ricreurs opus magnum in einem Aufsatz ausführlich als »the most imponant synthesis of literary and historical 19 rheory produced in our cemury~ gewürdigt hat und weil sich Ricreur in seinem Werk an zentralen Stellen aufWhites Metahistory bezieht. White wie Ricreu r gehen von einem engen Verhältnis von Historiographie und Fiktion aus und sehen im Erzählen, in der narrativen Vermittlung tatsächlicher oder fiktiver Ereignisse, ein zentrales Bindeglied zwischen beiden. Whites Begriff des »emplotment«, der Vertextung von Geschichte(n) in der Form archetypischer Plot-Muster, ist dabei sehr weitgehend analog dem Begriff der »Fabelbildung« (•mise en inrrigue•) bei Ricreur- und für beide ist das Erzählen eine privilegierte Form historischer und individueller Sinnsriftung. White wie Ricoeur bestehen darauf, Historiographie sei bei aller angestrebten Wissenschaftlichkeit und Objektivität immer und norwcndigerweise narrativ. In einer ausgewogenen Darstellung einiger zentraler Fragen moderner Historiographie und ihrer Berührungspunkte mit fiktionalen narrativen Texten schreibt Scott Mandelbrote: »[M)emory and the teUing of stories about oneself, allow the expression not only of the human experience of time, and of history, but also of human identity. Wc are who we arc because of ehe scories which we remember and repcat about ourselves.«20 In einer Passage über die ontologische und epistemologische Unsicherheit im h istorischen Diskurs der letzten Jahrzehnte- gerade auch im Gefolge Hayden Whites - nimmt Mandelbrate an, das postmoderne Gefühl fehlender Gewissheit und Bestimmtheit sei geprägt von einer zunehmend komplexen Auffassung vom Verlauf der Zeit und entSpringe nicht 18 Paul Ricceur: äit und Erzählung. 3 ßdc. (frz. 1983/85]. München 1991, Bd. 3, 395. 19 Hayden Whirc: •The Mctapbysics ofNarrarivity: Time and Symbol in Ricreur's Philosophy of History«. In: Ders.: Th~ Conunt oftht Form: Narrativt Discoum and Historical Rtprestntation. Saltimore 1987, 169-184, hier: 170. Zu diesem Verhältnis vergleiche e[Wa Jörn Stückrath/ )ürg Zbinden: •Metageschichte: Ein interdisziplinäres Projekt•. In: Dies. (Hg.): Mnagachichu - Haydm Whiu und Pau/ RictzUr: Dargme//tt Wirklichluit in tkr turopäischm Kultur im Konttxt von Hus~rl, ~btr, Aun-bach und Gombrich. Baden-Baden 1997. 11-22, bes. 14 f. 20 Scott Mandclbrote: »History, Narrative, Time~ . In: Journal of European ldtas 22 (1996), 337350, hier: 339. 199 Man geht wohl nicht zu weit, wenn man behauptet, das gesamte Werk Hayden Whites von einigen Aufsätzen aus den 60er Jahren bis heute23 kreise um die von ihm bereits in einem 1966 erschienenen Aufsatz gestellte Frage, "inwieweit der Diskurs des H istorikers und des Autors fiktionaler Literatur sich überschneiden, Ähnlichkeiten aufweisen oder einander enrsprechen.«24 Wenn Reinhart KoseHeck in seiner knappen Einführung zur d eutschen Ausgabe von Tropics ofDiscourse- der plakative Titel Auch Klio dichtet oder Die Fiktiorz des Faktischen scheint mir sehr geglückt- konstatiert, es gehe um nicht weniger 2 5 , so gilt dies als die »sprachliche Konstitution menschlicher Erfahrung überhaupt~ praktisch für Whires Gesamrwerk...Emplotment«, die erzählerische Verarbeitung von Geschichte als Venextung in narrativen Grundschemata - White nennt in Metahistory Komödie, Tragödie, Romanze und Satire - , die diese allererst verstehbar und darstellbar macht und es ermöglicht, in ihr einen Sinn zu sehen, ist in der Tat vielleicht der Schlüsselbegriffbei Hayden White. Dies führt uns zurück zu Tristram Sharzdy, denn auch Sternes Erzähler bezeichnet sich mehrfach als »historiographer« oder »historian «, insbesondere an einer entscheidenden Stelle, an der er begründet, warum er seine Geschichte so und nicht anders erzähle. Ihm erscheint der Prozess des Geschichte-Schreibens noch unkalkulierbarer als das Vorantreiben eines Maultiers: »Could a historiographer drive on his history, as a muleteer drives on his mule,-straight forward;- for instance, from Rome all the way to Loretto, wichout ever once turning his head aside eieher to the right hand or ro the Left,- he might vemure to foreteU you to an hour when he should get to his journey's end;-buc the thing is, morally spealcing, impossible: For, if he is a man of the least spirit, he wiLl have ftfty d eviations from a straight line to make with this orthat parry as he goes along, which he can no ways avoid [...] he will moreover have various Accouncs to reconcile: Anecdotes to pick up: [ ... ] Stories to weave in: Traditions to sift [ ... ] chere are archives at every stage to be look'd inro, and rolls, records, documents, and endless genealogies, which justice ever and anon calls him back to stay the reading of:-ln short, there is no end of it.<< (1, xtv, 28). Dass eine in dieser Art entstandene Geschichtsdarstellung in hohem Maße von den äußeren Umständen ihrer Produktion geprägt sein wird und nur schwerlich als objektive und zwingende Abhandlung erscheinen kann, liegt auf der Hand. Selten ist die Kontingenz im Prozess der Verfertigung von Geschichte so deutlich vor Augen geführt worden. Tristrarns Rolle als Historiker und dessen Macht, den Lauf der Zeit anzuhalten und zu verändern, werden von Hunter wie folgt kommentiert: >>Tristram is a historian [ ... ] That such a mere recorder may have ehe power to interrupt time icself, to stop ics flow momentarily or alter its normal course of events, is one of ehe novel's central propositions, and ehe dock early suggests that subjective notions of time not only transcend bur alrer realiry.«26 Eine weitere Rückbindung postmoderner Gedanken zur Konstruktion von Geschichte an die Zeit der Entstehung von Sternes Roman ergibt sich aus durchaus paraUelen Überlegungen zur Konstitution von Wirklichkeit in der Hisroriographie. Ging es White und anderen Theoretikern der Historiographie in den vergangeneo Jahrzehnten darum, »den erkenntnistheoretischen Stat us historischer DarsteUungen zu klären «27 , so lässt sich Ähnliches auch für das späte 18. Jahrhundert sagen. So liest erwa Stuart Peterfreund28 Sternes Roman im Kontext der von Hayden White in Metahistory diagnostizierten »Krise im historischen Denken der Spätaufklärung<<.29 White paraphrasierend, argumentiert Pererfreund, die spätere Aufklärung - White nennt David Hume, Edward Gibbon und lmmanuel Kant - habe verstanden, dass Historiographie niemals die •historische Wahrheit< erfassen könne und daher zwangsläufig die Form selbstbezüglicher Fiktion (»self-reflexive ficrion«) annehmen müsse.30 Whire hat in der Tat argumentiert, die Historiker und Ge- 21 Ebd., 338. 22 Einen weiteren Versuch der Zusammenschau unterni.mmr der Band von Srückrath/Zbinden (Hg.): Metageschichte (= Anm. 19). Die einzelnen Beiträge sind zwar für ein Verständnis sehr hilfreich, als Grundlegung f'ur eine Umersuchung wie die vorliegende bicrer der Band jedoch kaum Anhaltspunkte. 23 Vgl. insbesondere Hayden Whitc: Metahistory: The Historical Imagination in NintteenthCentury Europt. ßalrimore 1973; ders.: Tropics ofDiscouru: Essays in Cultural Criticism. Baicimore 1978; ders.: The Co,uent oftht Form(= Anm. 19), sowie ders.: Figural Realism: Studies in the Mimesis Effict. Saltimore 1999. 24 Hayden White: • Die Fiktionen der Darstellung des Faktischen• [»T he Fictions of Factual Representarion•, 1966]. In: Ders.: Auch Klio dichm otkr Die Fiktion tks Faktischen: Studim zur Tropoklgit des historischm Diskurses. Sruttgarr 1986, 145-160, hier: 145. 25 Reinhart Kosdleck: • Einführung4, ebd., J-6, hier: I f. 26 ). Paul Hunter: . Ciocks, Calendars, and Names: The Troubles ofTrisuam and the Aestherics of Uncenainty«. 1n: J. Douglas Canfield, dcrs. (Hg.): Rhttorics ofOrtkr/Ortkring Rhttorics in English Neoclassical Literaturt. Newark 1989, 173-198, hier: 176. 27 Hayden White: •Interpretation und Geschichte• [am. •In terpretation in History•, 1972] . In: Ders.: Auch Klio dichtet (• Anm. 24), 64-100, hier: 64. 28 Vgl. Scuarc Peterfreund: •Srerne and Lare-Eighceenrh-Cenrury ldeas of Hiscory«. In: Eightemth-Cmtury Lift 7 ( 1981 ), 1, 25-53, hier: 25. 29 Ebd., 25; vgl. White: Mttahiuory (= Anm. 23), 38. 30 Peterfi-eund: . ldeas of Hiscory• (= Anm. 28), 26. Bis hierhin ist Peterfreund uneingeschränkt zuz.usrimmen; seine Überlegungen zum Verhältnis von •conversarion• und GeschichtSVerständnis in Sternes Roman sowie über Tristrams Onkel Toby und die Witwe Wadman als Repräsen· canteo verschiedener Auffassungen über die Quellen hisrorischer Evidenz sind dann jedoch schwerlich übeneugend. zulecu einem Verständnis dessen, was Gedächtnis und Erinnerung eigentlich seien: »ln parr, it arises out of ideas about t he nature of memory irself. Memory is a necessary antecedent ro history; it is what makes human beings aware o f the past and able to speak (or wrire) of it.« 21 Die Schlüsselbegriffe und -konzepte dieses Versuchs einer Synthese von White und Rica:ur2 2 - Gedächtnis, Erinnerung, Komplexität d er Zeiterfahrung, Sinnund Identitätsstiftung durch das Erzählen von Geschichte(n) - sind auch die zentralen Themen von Sternes Roman. IV. Tristram Sharzdy, Hayden Whire und die •gemachte< Geschichte 200 201 schichtsphilosophen der Spätaufklärung hänen den Umerschjed zwischen Geschichte und Fiktion aufgelöst und damit auch den Anspruch der Historiographie auf ·Objektivität< uncerminiert.31 Das damit unausweichlkh immer auch Subjektive der Historiographie wird in der radikalen Subjektivität von Tristrams Erzählen bis zum Exzess sinnf'allig gemacht. Tristrams von Sterne in57.enierter Versuch der Historiographie ist ein radikal persönlicher3 2; der volle Titel des Romans, The Lift and Opinions of Tristram Shandy. Gentleman, signalisiert dies bereits deutlich. Der Text kreist geradezu obsessiv um Fragen des Geschichtsverständnisses- was ist Geschichte? Wie wird sie •gemacht<? Wie ka nn sie narrativ adäquat gefasst werden? Inwieweit ist Historiographie überhaupt nur als individuelle Historiographie möglich? In seinem Aufsan »Das I rrationale und das Problem historischer Erkenntnis in der Aufklärung« argumentiert White, angesichts der Tatsache, dass fur die Historiker und Geschichtstheoretiker der Spätaufklärung - anders als noch etwa für Bayle und Voltaire - nicht mehr die Frage, was geschehen ist, sondern die erkenntnistheoretische hage nach der Möglichkeit historischen •Wissens• zentral gewesen sei, sei damit auch der Historiker selbst als Urheber der zunehmend als Konstruktion verstandenen Geschichte in den Blick gerückt. Die Selbstbezüglichkeit und thematisierre Subjektivität jeder Historiographie wird in Sternes Roman auf die Spitze getrieben. 33 DerText inszeniert nämlich bereits sehr deutlich die denkbar moderne Einsicht, dass Geschichte •gemacht<wird: Geschichte als Gegenstand der Historiographie ist keine Rekonstruktion, sondern Konstruktion - soviel lehrt der Blick ins Arbeitszimmer und auf die Feldforschungen von Sternes eigensinnigem Geschichtenerzähler allemal. Aber auch weitere Konsequenzen dieser Zweifel an der >Objektivität<der Historiographie werden in Sternes Text thematisiert. Wenn White schreibt, für jeden im weitesten Sinne mimetischen Text- mit Aristoteles und Rica:ur dürfen wir Tristram Shandy als solchen betrachten - könne gezeigt werden, »dass er etwas bei der Beschreibung seines Gegenstandes ausgelassen hat oder dass er etwas eingefügt hat, das irgendein Leser mit mehr oder weniger Berechtigung als unwesendich ansieht für das, was er für eine adäquate Beschreibung hälr. ~3 4 , so wird auch dieser notwendig selektive - und damit letztlich vom persönlichen Urteil, ja Geschmack des erzählenden Historikers abhängige - Charakter aller H istoriographie in Triscrams denkbar ungewöhnlich arrangierten Erzählungen überdeudich. 31 Vgl. Whice: Mttahistory (= Anm. 23), 48 f. 32 Zur individualisierten Historiographie als einzig möglicher vgl. Peterfreund : •ldeas of Hiscory• (= Anm. 28), 3 1. 33 Vgl. ebd., 33. 34 Whice: •Einleitung•. in: Auch Klio dichtet(= Anm. 24), 9. 202 V. Tristram Shandy und das Eri.ählen der Zeit als Sinnstiftung Von Anfang an35 stellt Rica:ur heraus, dass es auch ihm darum gehe, die struktureiJe Identität von fiktiver und historiographischer Erzählung zu belegen, die nicht zuletzt in der Art ihrer Zeitbehandlung liegt. An entscheidender SreUe im dritten Band vo n ait und Erzählung führt Rica::ur seine Überlegungen zur Zeit in der Historiographie und in der Fiktion, zur anthropologischen Funktion des Erzählens und der damit einhergehenden Sinn- und Identitätsstift-ung zusammen. Oie Analyse der »innigen Austauschbeziehungen zwischen Historisierung der Fiktionserzählung und Fikcionalisierung der historischen Erzählung«- von Riaeur durch eine Verschränkung der entsprechenden Kapitel sinnf'allig gemachc36 - führt hier zu einer Konvergenz im Begriff der »Geschichte« (histoire), der »in einer großen An1..ahl von Sprachen zugleich die Totalität des Verlaufs der Ereignisse bezeichnet und die Totalität der Erzählungen, die sich auf diesen Verlaufbe-tiehen.« Und wenn •Geschichte< hier also »sowohl die Geschiehts-Eczählung wie auch die wirkliche Geschichte« bezeichne, so sei dies nicht das Produkt einer Ungenauigkeit der Sprache sondern Ausdruck eines tieferen Zusammenhangs. Ergebnis dieser Konvergenz von Erzählung in Historiographie und Fiktion, so Riaeur, sei die menschliche Zeit als erzählte Zeit: »Aus diesen innigen Ausrauschbeziehungen l ... ] entstehe das, was man die menschliche Zeit nennt, die letztlich nichts anderes ist als die erzählte Zeit.« 37 Die in beiden Formen des Erzählens- Historiographie wie Fiktion - dargestellte Welt ist eine zeitlich suukrurierte und vom Menschen als solche wahrgenommene. Die Zeit aber - und damit auch die in der Zeit durchlebte Erfahrung- wird »erst in dem Maße zur menschlichen, wie sie narrativ artikuliert wird.«3 8 Der Sinn der Erzählung wiederum liegt genau darin, dieses Zeiterleben zu vermitteln: »Ich betrachte die Fabeln, die wir erfinden, als das bevorLugte Mittel, durch das wir unsere wirre, formlose [und] stumme Erfahrung neu konfigurieren.«39 Das Erzählen isr nun die sinnstiftende Synthese der »Stummen Erfahrungen«, womit das Erzählen von Geschichten zur anthropologischen Notwendigkeit wird.40 Das ungeordnete, in engster Bedeutung Sinn-lose Leben wird erst durch seine narrative Aufarbeitung im Medium der Erzählung überhaupt sinnvoll. Zeit und die Wahrnehmung von Zeit stellen zentrale Erfahrungen menschlichen Lebens dar, so dass die narrative Vermittlung von Zeit und Zeiterleben als eine der wichtigs- 35 Vgl. die erste Seite des ersten Kapitels von Ricu:r: :Uit und Erzählung(= Anm. 18), Bd. 1,13. 36 Diese Verschränkung ist ein zentrales Komposicionsprinzip von :Uit und Erzählung, auf das Ricceur durchgängig hinweist; vgl. etwa in den •Schlußfolgerungen•: »Um die gekreuzte Referenz von Geschichte und Enählung aufzuklären, haben wir eine tatsächliche Überkreuzung unserer Kapitel durchgeführt.• (Ebd., Bd. 3, 395). 37 Ebd., Bd. I, 163; eine ganz ähnliche Zusammenführung findec sich noch einmal in den •Schlußfolgerungen•, vgl. etwa, ebd., 395. 38 Ebd., 13. 39 Ebd., 10. 40 Vgl. etwa, ebd., 119: •Wir erzählen Geschichten, weil die Menschenleben E.rzählungen brauchen und verdienen«. 203 ren Funktionen von fiktiven und historiographischenTexten anzusehen .ist. 41 Die Behandlung von Zeit kann aus dieser Perspektive sogar als zentrales T hema allen Er.tählens gelten. Rica:ur argumentiert nun jedoch, dass gerade die Fiktion in einzigartiger Weise in der Lage sei, menschliche Erfahrung zu vermitteln, dass nachgerade nur fiktionale Texte in der Lage seien, die Probleme der Zeitwahrnehmung narrativ zu lösen, die einer diskursivphilosophischen Lösung nicht zugänglich sind. Und Tristram Shandy treibt in der Tat das Spiel mit der narrativen Vermirdung dieser Aporie der Zeiterfahrung radikal auf die Spitze, während der Roman des 18. Jahrhunderts vor Sterne - etwa Samuel Richardsons Briefromane oder die Romane Tobias Smolletts oder Daniel Defoes 42 - gerade im Sinne Rica:urs das En.ählen nutzen, um Aporien der Zeitwahrnehmung zu überspielen. Insofern ist Tristram Shandy mit seinen exzessiv-selbstreflexiven Hinweisen auf die Aporien der Zeitlichkeit kein Gegenbeispiel zu Rica:ur, sondern macht als Grenzfall radikalen Erzählens gerade sinnfällig, wie notwendig eben die narrative Auflösung von Zeitaporien im Roman ist - und Sternes Roman tut dies, gerade indem er die Scharniere, Fäden und Gerüste - die ganze narrative Maschinerie- selbstbewusst hervorkehrt und damit selbstreflexiv mit den Möglichkeiten und Grenzen einer solchen narrativen Vermittlung der Aporien spielt. In seinen >>Schlussfolgerungen« am Ende des dritten Bandes von Zeit und Erzählung fasst Rica:ur die existenzielle anthropologische Funktion des Erzählens pointiert zusammen und berührt erneut ein zentrales Thema des hier zur Rede stehenden Romans, nämlich die Sclbsrvergewisserung durch das Erzählen: >>Der zarte Sprößling, der aus der Vereinigung von Geschichte und Fiktion hervorgeht, ist die Zuweisung einer spezifischen Identität an ein Individuum oder eine Gemeinschaft, die man ihre narrative Identität nennen kann. {... ] Die Identität eines Individuums oder einer Gemeinschaft angeben, heißt auf die Frage antworten: werhat diese Handlung ausgeführt, werist der Handelnde, der Urheber?{ ...] Die Antwort kann nur narrativ ausfallen. Auf die Frage >wer?< antworten, heißt[... ] die Geschichte eines Lebens erzählen.«43 Sternes Erzähler teilt mit Rica:ur die Aufwertung des Erzählens gegenüber einem als chaotisch und bedrohlich empfundenen Leben. Erzählen wird auch für Tristram existenziell, und zwar in doppelter Hinsicht. Einerseits entwickelt er wiederholt die Vorstellung, das Erzählen sei ein Ausweg aus einem als Abfolge traumatischer Erlebnisse empfundenen Leben. 44 Zugegeben ist explizit meist nur vom Erfolg als Autor die Rede, der über diese Erlebnisse hinweghelfen soll. Dies kann aber nicht verbergen, dass das Erzählen selbst" in diesem Text zum geradezu lebensnotwendigen Mittel der Selbsrvergewisserung wird; Erzählen ist Verstehen, ist Sinn- und Identitätsstiftung. In einem weiteren Sinne wird Erzählen zur existentiellen Notwendigkeit, wenn Tristram buchstäblich gegen die verrinnende Lebenszeit anschreibt: »l said 1 would write two volumes every year, provided the vile cough which then tormented me [ ... ] would but give me leave [but then] DEATH hirnself knocked at my door. [But] I care not which way he enter'd [... ] provided he be not in such a hurry to take me out with him-for I have forty volumes to weite, and forty thousand things to say and do [ ... ]« (VII, I, 365).45 Dieses Gefühl des Anschreibens gegen die verrinnende Lebenszeit überschattet insbesondere die Ietzren Bände Vll bis IX. Wir haben oben gesehen, wie Sterne die Jahre der tatsächlichen Entstehung des Romans auch zur Schreibzeit seiner Erzählerfigur macht. Ohne einer naiven Gleichsetzung des Autors mit dieser Erzählerfigur das Wort reden zu wollen, darf daher vielleicht daran erinnert werden -denn auch mit dem Wissen darum spielt der Text ständig-, dass Sterne selbst während seiner Ietzren Jahre, in denen der Roman entstand, immer wieder seiner Lungenkrankheit wegen in Frankreich und Italien leben musste und nur wenig mehr als ein Jahr nach dem Erscheinen des letzten Bandes Anfang 1767 im März 1768 starb. VI. Fazit Nachdem Sternes radikal nicht-lineare und digressive Erzähltechnik als problematisierendes Spiel mir der Zeit zunächst einmal vorgeführt und dann als kritische Reaktion auf primär lineare Zeitkonzeptionen des 18. Jahrhunderts historisch kontextualisiert worden ist, konnten auch die im Roman auf spielerische Weise vermittelten Einsichten zum Konstruktcharakter aller Historiographie als notwendig narrative und selektive Verarbeitung von Geschichte einerseits an hiscoriographische Probleme der späteren AufkJärung zurückgebunden werden, andererseits aber aus der Perspektive Hayden Whites als denkbar modern charakterisiert werden. Schließlich ist gezeigt worden, wie der Roman auf mehreren Ebenen das Er.tählen als anthropologisch notwendige Form der Sinn- und Identitätsstiftung angesichrs der als bedrohlich und chaotisch empfundenen menschlichen Erfahrungen in und mit der Zeit inszeniert. Die im 20. Jahrhundert von Paul Ricreur komplex und subtil theoretisch entfaltete Sinnstiftung durch narrative Gestaltung der 41 Es i.st diese Funkdon der Reflexion über Zeit und Zeirlichkeit, die die Faszination auch •veralteter< historiographischer Texte ausmacht - in seinem Aufsau über Ricceur nennt White erwa Herodot, Gibbon, Michelet, Burckhardt etc.; vgl. Whire: »Rica:ur's Philosophy of History« (=Anm. 19), 180. 42 Als ein Grenzfall erscheint mir Henry Fielding, der zwar einerseits mit der >willing suspension of disbelief< angesichrs der höchst unwahrscheinlichen zeitlichen und anderen Koinzidenzen spielt, diese Ansärze aber längst nicht so weitgehend selbst-reflexiv wendet und zu einer MetaDiskussion ausweitet. 43 Rica:ur: Zeit und Erziihlung(= Anm. 18), Bd. I, 395. Hier nimmt Rica:ur- der sich hier selbst auf Hannah Arendt bezieht - manche Einsicht eines in jüngster Zeit viel zitierten Aufsatzes vorweg, der genau in dieser Einzigartigkeit des gelebten und erzählten Lebens einen Ausweg aus der poststrukturalistischen Identitätskrise sieht; vgl. Angela Deeds Ermarth: •Beyond >The Subject•. Individuality in the Oiscursive Condition«. In: New Liurary History 31 (2000}, 405419. 44 Vgl. Sterne: Tristram Shandy (= Anm. 8}, IV, XXXII, 255; siehe auch I, VI, 8, wo der Erzähler eine Freundschaft mir seinen Lesern bzw. Zuhörern als sein großes Ziel ausgibt. 45 Vgl. auch, ebd., IX, vm, 469: »Time wastes too fast: every Ietter Irrace teils me with what rapidity Life follows my pen.« 204 205 1 Moment musical. Die Wahrnehmbarkeit der Zeit durch Musik Zeitwahrnehmung wird in Tristram Shandy anband der erzähltechnischen Zeitexperimente von Sternes fiktivem Autobiographen als überzeitliches, weder auf das 18. Jahrhundert noch auf unsere Gegenwart beschränktes existenzielles Grundbedürfnis erkennbar. Die scheinbar so disparaten Sieheweisen auf Sternes Roman in der Forschung- Sterne als konservativer Satiriker in der Tradition Swifts oder als radikal innovativer, auf die Postmoderne vorausweisender Fremdkörper in der Literatur des 18. Jahrhunderts- lassen sich in dieser Weise, betrachtet man den Roman unter dem Aspekt der Gestaltung von Zeirwahrnehmungen, in einer gleichermaßen historisierenden wie aktualisierenden Interpretation durchaus harmonisieren. Es ist seit langem etabliert, dass es erwa mir Swifts Tale ofa Tub (1704) beim bewusst digressiven und sogar meta-digressiven Schreiben oder mit den Romanen Henry Fieldings beim Spiel mit Plausibilitätserwartungen und den Unwahrscheiniichkeiten zeitlicher Koinzidenz im Erzählen durchaus Vorbilder für Tristram Shandy gibt.4 6 So ist denn auch Sternes Modernität wohl weniger eine Frage grundsätzlich neuer Einsichten in den problematischen Status histOrischen Wissens, die Komplexität menschlicher Zeiterfahrung oder die Notwendigkeit ihrer narrativen Vermittlung. Von herausgehobener Bedeutung sind vielmehr die Radikalität und Subtilität, mit denen diese Einsichten im Roman insbesondere in Form von >Spielen mit der Zeit< inszeniert werden und mit denen Sterne im 18. Jahrhunden durchaus singulär ist. Basedon the argument that the stages in 18th century musical hisu1ry can each be characrerised as specific manifestations ofthe relation between music and time, this contribution appreciates theformaUy open works ofapproximauLy 1760 as crucial evocations ofthe instant. Furthermore, it aims to assess the tkvelcpment of irzstrul?U'ntal musica/forms as a resulting attempt to musicaUy organise time as a meaningfol procm. siede peut etre Partant du principe que chacune des periodes de l'histoire de Ia musique du XV!l~me caractirisee comme une manifestation specifique du rapportentre Ia musique et k temps, cette contribution considere fes oeuvres inachevies datant d'environ 1760 comme des !vocations cruciales du moment. Elle a en outre pour but de montrer que l'evolution des formes instrumentales constituent une tentative d'organiser musicakment k temps comme un processus dort de sens. I. Musik und Zeit - Musik als Zeit Unter allen Kulturleisrungen ist die Musik wohl am innigsten an die Temporalität gebunden und darf daher als der sensibelste Seismograph für das Verhältnis gelten, das eine bestimmte Epoche zur Zeit enrwickelt. Die Indikatoren für diese Affinität sind schnell bestimmt, längst topisch geworden und kulminieren immer wieder in der emphatischen Apostrophierung der Musik als Zeitkunst. 1 Schließlich bedarf die Apperzeption eines Musikstücks gleich zweier norwendig temporal bestimmter Vorgänge, nämlich seine Aufführung und sein Anhören. Oie Zeit kann also geradezu das Medium von Musik schlechthin genannt werden; durch sie werden die spezifisch musikalischen Informationen übertragen. Aber Musik und Zeit lassen sich noch weitaus signifikanter verknüpfen, wenn man die Zeit nicht nur als die Trägeein musikalischer Inhalte begreift, sondern sie selber in den Rang eines möglichen Inhalts erhebt. 2 Diese Zuspitzung liegt ebenso nahe, wie sie spannende Konsequenzen aufscheinen lässt: Denn was leuchtete mehr ein, als dass Komponisten das unauflösliche Verhältnis ihrer Ausdrucksform mit der Zeit nicht nur billigend in Kauf nehmen, sondern in ihren Werken absichtsvoll thematisieren? Damit kann in Musik Jetztlieh jenes Kunststück gelingen, an dem noch jede Uhr scheiterte : Zeit wahrnehmbar zu machen, und zwar wahrnehmbar gerade in ihrer dichotomischen Spannung von objektiver, physikalischer Zeit und erlebter, innerer Zeit. Welche konkreten kompositorischen Möglichkeiten lassen sich Jens Martin Gurr, Duisburg-Essen Von musikwissenschaftlicher Seite sind hierzu vor allem folgende Arbeiten einschlägig: Carl Dahlhaus, Hans Heinrich Eggebreche Was ist Musik? [zuerst 1985) 3. Aufl. Wilhelmshaven 1991 (= Taschenbücher Musikwissenschaft, 100), darin die Kapitel •Musik und Zeit«, 174-180 (Dahlhaus) und 181-186 (Eggebrecht); Barbara R. Harry: Musical Time. The Sense of Order. Stuyvesant, NY 1990 (= Harmonologia Series, 5); Justin London: Art. »Time«. ln: The New Grove Dictionary ofMusic and Musicians. Hg. Stanley Sadie. 2. Aufl. London 200 I, Bd. 25, 479; Andres Briner: Der Wandel der Musik als Zeitkunst. Wien, Zürich, London 1955; aber auch die entsprechenden Abschnitte in RudolfWendorff: Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa. Wiesbaden 1980. 2 So auch Eggebrecht: »Musik und Zeit«(= Anm. 1), 184. 46 Sternes Singularität wird partiell relativiert in folgenden Arbeiten zu den Traditionen selbstreflexiven , digressiven oder achronologischen Erzählens: Wayne C. Booth: »Thc Self-Conscious Narrator in Comic Fiction before Tristram Shandy.<. In: Publications ofthe Modern Languagt: Association 67 (1952), 163-185; Melvyn New: Laurmu Stt:me as Satirist: A Rt:adingof» Tristram Shandy.c. Gainesville 1969; Christoph Henke: »Self-Reflexivity and CommonSense in A Tak ofa Tub and Tristram Shandy. Eighteenth-Cemury Satire and the Novek In: St:/fRt:foxivity in Literau~:. Hg. Werner Huber, Martin Middeke, Hubert Zapf. Würzburg 2005, 13-37. 206 207 j