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Symphilosophie Internationale Zeitschrift für philosophische Romantik Geschlecht, Sinnfeld, Kontingenz Zur Ontologie in Dorothea Schlegels Florentin Bryan Norton* ZUSAMMENFASSUNG Dieser Artikel setzt sich mit der Beziehung zwischen Ontologie, Kontingenz und Geschlecht in der Frühromantik auseinander und legt den Fokus dabei auf die Figur von Dorothea Schlegel. Obwohl Dorothea Schlegels Werk oft getrennt von den theoretischen Zielen der Frühromantik behandelt wird, argumentiere ich für die Zentralität ihres Romans Florentin im nachkantischen Kontext. Florentin bietet eine wichtige Revision von Friedrich Schlegels Poetik und Metaphysik der Ehe an, sowie der geschlechtsspezifischen Dynamik seiner Idee einer romantischen Symphilosophie. Darüber hinaus lässt sich der Roman als eine Inszenierung grundlegender Aspekte der realistischen Ontologie Markus Gabriels lesen, die angesichts von Beisers Plädoyer für eine nichtsubjektive Ansicht auf die transzendentalen Ziele der Romantiker für die Romantikforschung in Anspruch genommen werden kann. In Kontrast zu Gabriels Sinnfeldontologie, die Ontologie in letzter Instanz von Geist abhängig macht, insistiert Dorothea Schlegels Florentin allerdings auf die irreduzible Präsenz der Körper und körperlicher Kontingenzen. Stichwörter: Dorothea Schlegel, Markus Gabriel, Sinnfeldontologie, Kontingenz, Frühromantik ABSTRACT This article investigates the relationship between ontology, contingency and gender in early Romanticism, focusing on the figure of Dorothea Schlegel. Although Dorothea Schlegel’s work is often treated at a remove from the theoretical goals of early Romanticism, I argue for the centrality of her novel Florentin in a post-Kantian context. Florentin offers an important revision of Friedrich Schlegel’s poetics and metaphysics of marriage, as well as the gendered dynamics underlying his idea of a romantic Symphilosophie. The novel can also be read as a staging of fundamental aspects of Markus Gabriel’s realist ontology, which can be claimed for romanticism research in light of Beiser’s plea for a non-subjective view of the Romantics’ transcendental aims. In contrast to Gabriel’s sense field ontology, however, which makes ontology ultimately dependent on spirit, Dorothea Schlegel’s Florentin insists on the irreducible presence of bodies and corporal contingencies. Keywords: Dorothea Schlegel, Markus Gabriel, sense field ontology, contingency, Early German Romanticism Doctoral Candidate in Comparative Literature and Literary Theory, University of Pennsylvania, USA; Guest Researcher, Institut für deutsche Literatur, HumboldtUniversität Berlin, Unter den Linden 6, 10117 Berlin, Germany – bryann@sas.upenn.edu * Symphilosophie 2/2020, pp. 115-129 ISSN 2704-8152 BRYAN NORTON Einleitung1 Die Entwicklung der deutschen Philosophie nach Kant ist in den letzten Jahren als die Bewegung von einer untergeordneten Auffassung von Kontingenz in Kants kritischer Philosophie zu einer Kontingenz zweiter Ordnung— d.h. die Kontingenz der Kontingenz selber—im nachkantischen Idealismus beschrieben worden. 2 Statt nur systemintern und unter vorgegebenen strukturellen Bedingungen zu wirken, wie Kant in den Antinomien der reinen Vernunft zu erklären versucht hatte, erhält Kontingenz im nachkantischen Idealismus den höchsten ontologischen Rang. 3 Diese Art Kontingenz zweiter Ordnung dehnt sich weit über die Grenzen des kantischen Subjekts hinaus und eröffnet laut Markus Gabriel den Weg zu einer neuen realistischen Ontologie, die weder szientistisch-reduktiv noch konstruktivistisch sein soll.4 Diese Ontologie, die als Sinnfeldontologie im Kontext von Debatten zum neuen Realismus und zu objektorientierter Ontologie ihren Namen erhalten hat, soll nicht mehr auf einem veralteten Diese Auseinandersetzung mit Dorothea Schlegel wurde zuerst im Rahmen der Goethe Ringvorlesungen an der Goethe Universität in Frankfurt am Main vorgestellt. Ich bedanke mich herzlich bei Martina Wrenli für die Möglichkeit, meine lückenhaften Ergebnisse im Sommer 2020 vortragen zu dürfen, sowie bei Catriona Macleod, Warren Breckman und Frederike Middelhof für ihren Kommentar zu verschiedenen Versionen dieses Aufsatzes. Nicht zuletzt bedanke ich mich bei der Redaktion von Symphilosophie für die sorgfältigen Rückmeldungen und für die Ermutigung zur Einreichung dieses Beitrages. Dieser Aufsatz enthält meine ersten Überlegungen zu diesem komplexen Thema. 2 Diese Auseinandersetzung mit Kontingenz in der Zeit nach Kant stammt teilweise aus Markus Gabriels Kritik der in Quentin Meillassouxs Après la finitude aufgestellten Idee einer Notwendigkeit der Kontingenz für die Ontologie. Gabriels vorgeschlagene Kontingenz zweiter Ordnung wurde im Laufe des letzten Jahrzehnts mehrmals im Rahmen weiterer Studien zum nachkantischen Idealismus besprochen. Vgl. „The Mythological Being of Reflection“ in Markus Gabriel und Slavoj Zizek, Mythology, Madness, and Laughter: Subjectivity in German Idealism, New York/London 2009, 15-94. Die ausführlichste Untersuchung dieser Thematik im nachkantischen Kontext bietet Transcendental Ontology, obwohl weitere Beschäftigungen auch in Schriften wie Sinn und Existenz zu finden sind. Vgl. Transcendental Ontology: Essays in German Idealism, New York/London 2011, insbesondere das 3. Kapitel zu Kontingenz bei Schelling und Hegel sowie Kapitel 7 und 10 in Sinn und Existenz: Eine realistische Ontologie, Berlin 2016. 3 Während Kant Kontingenz aus systematischen Gründen erlauben muss (das gilt vor allem in der dritten und vierten Antinomie der reinen Vernunft) vollzieht er laut Gabriel den Wechsel zu einer neuen Art der Urteilskraft, die regulativ und reflektierend sein soll, um diese Kontingenz zu verharmlosen. Vgl. KrV A 533: B 561 – A 570: B 599. Diese Urteile sind Spezies-bedingt sowie von euklidischen Naturerfahrungen abhängig. Vgl. Gabriel, Transcendental Ontology, 40 und John McDowell, Having the World in View: Essays on Kant, Hegel and Sellars, Cambridge (MA) 2009, 78. Zu Kants Erfindung einer reflektierenden, regulativen Urteilskraft siehe Paul Guyers Aufsatz „Kants Principles of Reflecting Judgment“ in Guyer (Hg.), Kant’s Critique of the Power of Judgment: Critical Essays, Lanham 2003, 1-62. 4 Vgl. Transcendental Ontology, xiv-xv. 1 116 Symphilosophie 2/2020 GESCHLECHT, SINNFELD, KONTINGENZ Dualismus von Sein und Schein basieren. 5 Stattdessen erhalten metaphysische Betrachtungen über die Wirklichkeit und Möglichkeit von Objekten nur beschränkte Gültigkeit innerhalb eines bestimmten Sinnfeldes und sind nicht mehr in der Lage, einen ausschließ-enden Anspruch auf Erkenntnis zu erheben.6 Metaphysik sowie die Naturwissenschaften stellen nur einzelne Möglichkeiten unter anderen dar, eins und dasselbe Objekt zu betrachten. Erkenntnis kann gleichfalls mittels Ästhetik oder anderer Umgangsarten mit einem Gegenstand gewonnen werden. Diese Ansicht spielt eine entscheidende Rolle in dem, was man die Unhintergehbarkeit der Mythologie und Fiktion für die Philosophie insgesamt nennen könnte.7 1. Sinnfeldontologie und Frühromantik Während Arbeiten zur jüngsten Sinnfeldontologie nur wenige direkte (und meistens beiläufige) Verweise auf die bestehende Forschung zur Frühromantik enthalten, gibt es überzeugende Gründe, Sinnfeldontologie in Beziehung zu Romantik und Romantikforschung zu setzen.8 Vor allem lässt sich die Artikulation einer Kontingenz der Kontingenz im nachkantischen Idealismus mit Blick auf die Romantik als weiterer Versuch verstehen, die kantische Grenzlinie zwischen transzendentalen und empirischen Erfahrungsbereichen zu überwinden. 9 Diese ersehnte Überbrückung ist laut Manfred Frank das höchste Desideratum des frühromantischen Projekts. Sie deutet daraufhin, dass die ästhetischen und poetischen Leistungen der Obwohl ich mich in diesem Artikel fast ausschließend mit den sinnfeld-ontologischen Schriften von Markus Gabriel befasse, ist es hier wichtig zu bemerken, dass es auch andere Versionen dieses Programms gibt, die in den letzten Jahren entstanden sind, vor allem von Jocelyn Benoist in Frankreich. Vgl. Jocelyn Benoist, Sens et sensibilité. L’intentionalité en contexte, Paris 2009 und Jocelyn Benoist, L’adresse du réel, Paris 2017. 6 Vgl. das Kapitel zu „Wirklichkeit und Möglichkeit“ in Gabriel, Sinn und Existenz, 369-391. 7 Diese Unhintergehbarkeit wurde vor kurzem in Gabriels Fiktionen untersucht, obwohl sie auch zu seiner früheren Auseinandersetzung mit Schellings Spätphilosophie in Der Mensch im Mythos hindeutet. Vgl. Markus Gabriel, Fiktionen, Berlin 2020 und Der Mensch im Mythos: Untersuchungen über Ontotheologie, Anthropologie und Selbstbewußt-seinsgeschichte in Schellings ‚Philosophie der Mythologie‘, Berlin/New York 2006. Letzteres weist weiterhin auf einen Topos, der schon in der Romantik reflektiert wurde, vor allem in Friedrich Schlegels Plädoyer für eine neue „aus der innersten Tiefe des Geistes“ herausgearbeiteten Mythologie für die Neuzeit, die der Poetik sowie der Physik einen frischen Impuls geben würde. Vgl. die „Rede über die Mythologie“ in seinem Gespräch über die Poesie, Kritische Friedrich-Schlegel Ausgabe [KFSA], Erste Abteilung (I) Band 2, München, Paderborn, Wien, Zürich 1967, 311-329. 8 Vgl. die kurzen Erwähnungen zu Hölderlin in „The Mythological Being of Reflection“, 47 und Fiktionen, 626. 9 Der Begriff einer kantischen Grenzlinie stammt aus einem Brief Hölderlins und wird unten im zweiten Teil weiter diskutiert. Vgl. die 9. Vorlesung in Manfred Franks Einführung in die frühromantische Ästhetik: Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1989, 137-154. 5 Symphilosophie 2/2020 117 BRYAN NORTON Frühromantik entscheidend für metaphysische, epistemologische sowie ontologische Fragen im nachkantischen Kontext waren. 10 Während Beurteilungen dieser Versuche oft dekonstruktiv motiviert sind und romantische Schriften als Inszenierungen eines tiefergreifenden metaphysischen Versagens betrachten, gibt es noch andere Argumente, warum frühromantische Ansprüche auf Wissen als Entwicklung einer positiven Philosophie ernst zu nehmen sind. 11 Dieser Aspekt des frühromantischen Projekts ist vor allem von Frederick Beiser hervorgehoben worden, dessen Auseinandersetzung mit dem idealistischen Kampf gegen Subjektivismus in gewisser Hinsicht als Vorgänger von Gabriels Idealismus-Studien gelten kann. Wie Beiser es in seinem Buch German Idealism: The Struggle Against Subjectivism schreibt: „The post-Kantian idealists understood the absolute in transcendental terms as the fundamental condition of the possibility of experience; as such, they refused to define it as either subjective or objective“.12 In seiner Auseinandersetzung mit dem Deutschen Idealismus und dessen Entwicklung einer Kontingenz zweiter Ordnung behauptet Gabriel seinerseits folgendes: „The absolute is not opposed to knowledge as an unattainable beyond, but identified as the very process of a subjectivization of being in the form of finite objective knowledge.“13 Darüber hinaus wird in Schriften zur Sinnfeldontologie die Frage nach dem, was anders sein könnte (um die klassische aristotelische Definition von Kontingenz aufzurufen), unwiderruflich mit Fragen von Geschlecht und der Metaphysik sexueller Identitäten verbunden, was die Kernthematik dieses Artikels ausmacht.14 In Gabriels Schriften zur Sinnfeldontologie wird mehrmals die Frage gestellt, ob sexuelle Identitäten nur als metaphysische Erwägungen innerhalb eines bestimmten Sinnfelds gültig sind, oder ob sie auf einem ontologischen Niveau—d.h. mit roher Kontingenz—wirken. Es entsteht in seinen Schriften wie Fields of Sense und Sinn und Existenz eine Vgl. Frank, Einführung in die frühromantische Ästhetik, 139. Kanonisch für diese dekonstruktivistische Leseart ist die von Lacoue-Labarthe und Nancy eingeführte Idee eines désœuvrement des Metaphysischen im frühromantischen ästhetischen Programm. Dieses désœuvrement oder ‚Entarbeitung‘ wirkt durch die formalen Erfindungen der Romantik (vor allem durch das Fragment) und zielt auf die Unterbindung von Ansprüchen auf Vollkommenheit und metaphysische Schließung. Vgl. Philippe LacoueLabarthe und Jean-Luc Nancy, L’Absolu littéraire. Théorie de la littérature du romantisme allemand, Paris 1978. Vgl. auch David Farrell Krell, The Tragic Absolute: German Idealism and the Languishing of God, Bloomington 2005 und Alice A. Kuzniar, Delayed Endings: Nonclosure in Novalis and Hölderlin, Athens (Georgia) 1987. 12 Vgl. die Einleitung zu Frederick C. Beiser, German Idealism: The Struggle against Subjectivism, 1781-1801, Cambridge (MA) 2002, 5. 13 Vgl. Gabriel, Transcendental Ontology, 2. 14 Vgl. Kapitel 12 und 13 in Aristoteles, Hermeneutik / Peri hermeneias, Berlin 2015, 247-273. 10 11 118 Symphilosophie 2/2020 GESCHLECHT, SINNFELD, KONTINGENZ rätselhafte und oft unbeantwortete Frage, ob sexuelle Identitäten nur als Wirklichkeiten bzw. Möglichkeiten zu verstehen sind—das heißt, als eine Metaphysik der vorstrukturierten Objekte innerhalb eines bedingten Sinnfelds—oder ob sie auf ein höheres ontologisches Niveau, das von einer unbestimmten Vielzahl von Kontingenzen geprägt sein könnte, hinausdeutet. In Sinn und Existenz scheint das Geschlecht nur metaphysisch zu wirken: „Wir verfügen schlichtweg nicht über metaphysisch notwendige Identitätskriterien für Gegenstände im Allgemeinen, weil es solche nicht gibt“. In Fields of Sense bleibt es hingegen unklar, ob Sex auch kontingent sein soll: For something to exist is not for it to fall under any concept whatsoever, but to fall under suitable concepts. It is not enough to identity some bare individual essence of Arnold Schwarzenegger picked out by Kripkean baptism (that is, the moment someone referred to the guy for the first time) and to say that ‘Arnold Schwarzenegger’ from now on refers to the same individual in all possible worlds in which this individual exists. This might be a way of rephrasing the modal claims involved in saying that Arnold Schwarzenegger could have lost the Election [for Governor of California – B.N.] (too bad, he won) or that he could have not been the actor who played the Terminator (fortunately, he was chosen). But no one wants to say that Arnold Schwarzenegger (the guy) could have been a Norwegian female sex worker (he could not!), even though there is some possible world in which the individual essence of Arnold Schwarzenegger (whatever that is) could be a Norwegian female sex worker (maybe by having changed sex first depending on what the actual relationship between his individual essence, his genetic code, and his gender is).15 Wenn Markus Gabriel über die Bestimmtheit bzw. Flexibilität von Identität nach einer theoretischen Geschlechtsumwandlung spekuliert, tritt die Zentralität dieser Fragestellung ans Licht. Wenn eine Beziehung zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit für diese sexuellen Identitäten kontingent gemacht werden soll, dann wirkt Geschlecht selbst auf einem übergeordneten ontologischen Niveau. Diese Frage nach der Beziehung zwischen Geschlecht und Kontingenz im nachkantischen Kontext war der Impuls für Friedrich Schlegels Poetik der Ehe und der darin vollzogenen Rückkehr zum platonischen Mythos von Liebe als Wiedervereinigung zweier Teile, welche bei näherer Betrachtung nur eine weitere Inszenierung einer Metaphysik 15 Vgl. Fields of Sense, 374 und 94. Symphilosophie 2/2020 119 BRYAN NORTON darstellt und keine Kontingenz in letzter Instanz erlaubt.16 Erst in Dorothea Schlegels Antwort auf Lucinde, ihrem 1801 veröffentlichten Roman Florentin, wirkt Geschlecht völlig kontingent. Der Roman inszeniert aber eine revidierte Version von Gabriels Sinnfeldontologie: während Kontingenz nur durch die Unhintergehbarkeit des Geistes in der Sinnfeldontologie ermöglicht wird, ist in Dorothea Schlegels Florentin eine tiefergreifende Unhintergehbarkeit des Körpers zu finden, die über einen transzendentalen Ansatz zur Ontologie hinauszugehen scheint. 2. Vom Zeichen zum Sinnfeld: Dorothea Schlegels Florentin und seine Rezeption In der Forschung zu Dorothea Schlegel und ihrer Position in der Frühromantik sind zwei Bilder auffällig, die auf zwei verschiedene Haltungen gegenüber der Autorin von Florentin hindeuten. Das erste wirkt herablassend und enthüllt ein Zögern, ihr Werk als Beitrag zum frühromantischen Projekt ernst zu nehmen. Erst später in der Romantik würden Frauen schreiben, meinte Friedrich Kittler, als ob Friedrich Schlegels Bemerkung, dass Frauen zu viele Poesie besitzen, um selber Gedichte zu schreiben, ohne Ironie zu lesen wäre.17 Eine ähnliche Haltung ist bei Lacoue-Labarthe und Nancy zu erkennen. In Das Literarisch-Absolute gilt Friedrich Schlegels Eheroman Lucinde als die einzige Referenz für die „literarische Figur von Dorothea.“18 Ihr eigener Roman wird nie erwähnt. Obwohl wichtige Untersuchungen zu den theoretischen Leistungen der Frauen in frühromantischen Kreisen inzwischen erschienen sind, wird dieses Bild, das Schriften von Frauen getrennt von den theoretischen Zielen der Romantik hält, nur langsam und teilweise korrigiert.19 Das andere Bild, welches öfter in der literaturwissenschaftlichen Befassung mit Dorothea Schlegels Werk vorkommt, ist das Bild einer Frau, die unter ihrem Status als doppelte Minderheit—als Jüdin und Frau— lebenslang leiden musste und nur ihre eigene Position in den existierenden Vgl. Stefan Matuscheks Beitrag „Über die Diotima“ und Mark-Georg Dehrmanns Bemerkungen zu „Lucinde“ in Johannes Endres (Hg.), Friedrich Schlegel-Handbuch, Stuttgart 2017, 79-80 bzw. 171-178. 17 Vgl. KFSA II, 268: Nr. 127: „Die Poesie der Dichter bedürfen die Frauen weniger, weil ihr eigenstes Wesen Poesie ist“. Für Kittlers Argument vgl. „In den Wind schreibend, Bettina“ in Friedrich A. Kittler, Dichter, Mutter, Kind, München 1998, 233-234. 18 Vgl. L’Absolu littéraire, 185. 19 Bemerkenswerte Vertreter dieser korrigierenden Tendenz sind Adrian Daub und Anna Ezekiel. Vgl. Adrian Daub, Uncivil Unions: The Metaphysics of Marriage in German Idealism and Romanticism, Chicago 2012 und Anna C. Ezekiel, „Metamorphosis, Personhood, and Power in Karoline von Günderrode“, European Romantic Review 25, no. 6 (November 2, 2014), 773-91. 16 120 Symphilosophie 2/2020 GESCHLECHT, SINNFELD, KONTINGENZ sozialen Strukturen der Zeit auszutarieren versuchte.20 Abgesehen von ein paar kurzfristigen Fluchtlinien, von denen das Schreiben ihres einzigen Romans sowie das Verlassen ihres ersten Manns zugunsten Friedrich Schlegel die klarsten Beispiele darbieten, setzt sich das Bild einer Frau zusammen, die in einer fast stoischen Akzeptanz den Erwartungen ihrer Zeit zu entsprechen versuchte. Sie gab alles für ihren zweiten Mann und seine Arbeit auf, und trat selbst in den Hintergrund. Obwohl dieses Bild sympathischer als das erste wirkt, bietet es auch nur eine lückenhafte Darstellung an. In Florentin und Dorothea Schlegels Bemerkungen zum Roman ist eine tiefgreifende Auseinander-setzung mit ontologischen Fragen über die Rolle von Kontingenz in der metaphysischen Beziehung zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit enthalten, die auch soziale Verhältnisse—vor allem Geschlechter-verhältnisse—nicht unberührt lässt. Es handelt sich dabei um nichts weniger als den Appell, ein neues „Naturgesetz“ zu finden, welches aktiv an der Schöpfung neuer Sinnfelder arbeitet.21 Dorothea Schlegel war lebenslag in verschiedenen intellektuellen Bereichen tätig. Obwohl Florentin ihr einziger Roman bleiben wird, verfasste sie eine Vielzahl von Übersetzungen.22 Sie schrieb ihre eigenen Beiträge zum frühromantischen Organ Athenaeum, obwohl dieses Werk, wie das Werk von vielen Frauen der Frühromantik, nur teilweise anerkannt wurde. 23 Im Kontext des Jenaer Kreises entstand in den Jahren zwischen 1797 und 1800 Dorothea Schlegels enge Verbindung zu Friedrich Schlegel sowie der Impuls für den Roman Florentin. 1799 wurde Friedrich Schlegels Eheroman Lucinde veröffentlicht, welcher als Inszenierung des frühromantischen Ideals einer Symphilosophie konzipiert wurde und unsubtile Darstellungen von Friedrichs und Dorotheas skandalöser Affäre enthielt. 24 Kurz nach der Veröffentlichung von Lucinde begann Dorothea Schlegel ihren eigenen Roman zu konzipieren, welcher als Antwort auf Friedrichs Lucinde gelten sollte. Es gibt hinreichende Gründe, Florentin als Kritik an Lucinde sowie als Vgl. Barbara Becker-Cantarino, Schriftstellerinnen der Romantik: Epoche, Werke, Wirkung, München 2000, 112-149. 21 Vgl. Liliane Weissberg, „Schreiben als Selbstentwurf“, Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 47, no. 3 (1995), 243. 22 Vgl. „The Magic of Translation: Dorothea Schlegel’s ‚Geschichte des Zauberers Merlin‘“, Pacific Coast Philology 40, no. 1 (2005), 36-56. Nach einigen Berechnungen hat sie während dieser Zeit mehr als Friedrich geschrieben. Vgl. Liliane Weissbergs Nachwort zu Ullstein Werkausgabe von Dorothea Schlegel, Florentin: Roman. Fragmente. Varianten, hg. v. Liliane Weissberg, Frankfurt a. M. 1987, 222. 23 Vgl. den Rezensionsartikel zu Basilius von Ramdohrs Moralische Erzählungen in der letzten Athenaeum Fassung: „Moralische Erzählungen von Ramdohr“, Athenaeum, Berlin 1800, Bd. 3, 238-266. 24 Vgl. Dehrmann, „Lucinde“, 171-178. 20 Symphilosophie 2/2020 121 BRYAN NORTON ihren eigenen Beitrag zum frühromantischen Projekt zu betrachten, wobei Letzteres bislang nicht ausreichend untersucht worden ist.25 Der Roman stellt die Wanderungen eines jungen italienischen Mannes dar, der durch eine zufällige Begegnung im Wald das Leben eines deutschen Grafs rettet. Florentin verbringt einige Wochen bei der Familie aus dem deutschen Adelstand und befreundet sich schnell mit der Tochter Juliane und ihrem Verlobten Eduard. Schon in den ersten Kapiteln ist ein gewisses Versagen einer Logik der Referenz zu bemerken, die auf eine Flexibilität in der Beziehung zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit und die Eröffnung neuer Sinnfelder hinausdeutet.26 Der italienische Waise Florentin, der zunächst ohne Namen und nur als Reisender eingeführt wurde, wird von einer deutschen Familie höchsten Rangs aufgenommen. 27 Der Großteil der Erzählung spielt in den Wochen unmittelbar vor Julianes und Eduards Hochzeit, die aus verschiedenen Gründen verschoben werden muss. Während dieser Wartezeit machen Florentin und Eduard eine Reihe von Ausflügen zu den nahliegenden Dörfern, wo sie sich als Charaktere aus verschiedenen Gesellschaftsschichten verkleiden und sich auf Kosten der Einheimischen lustig machen: Eduard und Florentin hatten einigemal kleine Reisen im Gebirg und in der umliegenden Gegend gemacht. In abwechselnden Verkleidungen hatten sie die benachbarten Städtchen und Dörfer durchzogen, auf Kirmsen, Hochzeiten, Jahrmärkten, bald als Krämer oder als Spielleute. Manches lustige Abenteuer kam ihnen entgegen, sie wiesen keines von sich. Wenn sie dann von ihren Wanderungen zurückkamen, hatten sie viel zu erzählen und von den Eroberungen zu sprechen, die sie wollten gemacht haben.28 Zu diesem Zeitpunkt ist eine gewisse Flexibilität im metaphysischen Raum zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit zu bemerken, die aber bald eine Obergrenze erreicht. Juliane äußert den Wunsch, an einer dieser Ausflüge Vgl. Becker-Cantarino, Schriftstellerinnen der Romantik und Elena Pnevmonidou, „Die Absage an das Romantische Ich: Dorothea Schlegels Florentin als Umschrift von Friedrich Schlegels Lucinde“, German Life and Letters 58, no. 3 (2005), 271-92. 26 Adrian Daub identifiziert in der Geschichte eine „unendliche Aufschiebung von Signifikanten […], welche familiäre Beziehungen versprechen, die nie geliefert werden.“ Vgl. Metaphysical Unions, 172. 27 Vgl. Florentin, 11: „Mutig trabte ein Reisender den Hügel auf.“ Becker-Cantarino schreibt von einem „Verschwimmen“ aller festen Rollen im Roman, eine These, die ich im Laufe dieses Aufsatzes leicht korrigieren möchte. Es geht nicht per se nur um die Konstanz oder das Instabil-werden von Rollen, sondern um die Flexibilität bzw. Inflexibilität dieser Grenzen in einem gegebenen Sinnfeld. Vgl. Becker-Cantarino, Schriftstellerinnen der Romantik, 141. 28 Florentin, 36. 25 122 Symphilosophie 2/2020 GESCHLECHT, SINNFELD, KONTINGENZ teilzunehmen. 29 Die Eltern reagieren ängstlich und wollen es zuerst nicht erlauben. Sie werden letztendlich überzeugt, machen aber so viele Umstände und geben so viele Vorschriften, „so viele Regeln und Warnungen […] daß Juliane, ganz ängstlich gemacht, sich im Herzen vornahm, gewiß nichts zu übertreten, und gewiß zum letztenmal eine solche Erlaubnis zu begehren.“30 Auch die Annahme einer anderen sozialen Position durch Verkleidung ist für Juliane keine unterhaltsame Möglichkeit unter anderen, sondern die notwendige Vorbedingung des Verlassens ihres Elternhauses. Statt als Krämer oder Schauspieler muss sie sich als jugendlicher Mann verkleiden, um mit den jungen Männern ausgehen zu können.31 An dieser Stelle sehen wir nicht zum letzten Mal die Inflexibilität einer sozialen Struktur, die trotz ihrer Kontingenz die Macht von Wirklichkeit besitzt und keine Alternative zu diesem Zeitpunkt erlaubt. Eine ähnliche Problematik lässt sich in der Geschichte von Florentins Kindheit bemerken. Er stammt von einer unbenannten Insel an der italienischen Küste und sein Vater starb kurz nach seiner Geburt. Florentins Erziehung wird von einem strengen Benediktinerorden übernommen und er fühlt sich von der abverlangten Gehorsamkeit im Kloster stark bedrängt. Nach vier Jahren unter diesen strengen Bedingungen verlässt er das Kloster. Er geht zunächst mit seinem Freund Manfredi in eine Militärschule. Aber die Militärschule wird nur die erste von vielen Haltestellen in Florentins „eigentlichem Reiseleben“ sein.32 Eines Tages empfängt er eine Nachricht von seiner Schwester Felicita, die als Nonne geweiht werden soll. Er liest die Einladung zu der Einweihung als einen versteckten Hilfeschrei und versucht sie zu retten, aber das Komplott wird entdeckt. Florentin muss sofort fliehen.33 Kurz bevor er geht, hat seine Mutter eine unerwartete Nachricht für ihn. Die Schwester, die er retten wollte, ist nicht seine Blutsverwandte. Diese Mutter ist auch nicht seine eigentliche Mutter, obwohl sie „mütterliche Sorge für [ihn] getragen“ hat.34 Er reist nach Florenz, nach Rom und in die Vgl. Florentin, 36: „Juliane bekam den Einfall sie einmal zu begleiten; und das nächste Mal, daß sich die beiden jungen Männer wieder zu einer solchen abenteuerlichen Reise anschickten, teilte sie Eduard ihren Wunsch sie zu begleiten mit.“ 30 Vgl. Florentin, 36-37: „Und nun wurden noch so viele Anstalten gemacht, so viel Regeln und Warnungen gegeben, daß Juliane, ganz ängstlich gemacht, sich im Herzen vornahm, gewiß nichts zu übertreten, und gewiß zum letztenmal eine solche Erlaubnis zu begehren.“ 31 Vgl. Florentin, 37. 32 Vgl. Florentin, 11. 33 Ähnlich wie bei Julianes Verkleidung wird hier der Unterschied zwischen Florentin und dem Schicksal seiner Schwester (sie kann nicht anders sein) mehrmals betont. Vgl. Florentin, 63-64. 34 Vgl. Florentin, 64: „Ich bin zwar nicht deine Mutter, aber ich habe mütterliche Sorge für dich getragen […].“ 29 Symphilosophie 2/2020 123 BRYAN NORTON Schweiz. Er träumt mehrmals von Amerika, statt auf seinen Hintergrund und seine „eigentliche“ Familie fixiert zu bleiben.35 3. Geschlecht auf der Kantischen Grenzlinie: männliche Urteilskraft und ihre romantischen Nachläufer Während Florentin in einem breiten Sinne auf die Bewegung von einer referentiellen Logik, die durch metaphysische Strukturen auf soziale Verhältnissen wirkt, zu einer Eröffnung neuer Sinnfelder zielt, werden Charaktere im Roman mehrmals mit Strukturen konfrontiert, deren Kontingenz keine Auswirkung auf die Macht ihrer Wirklichkeit zu haben scheint. Grenzen zwischen einer Ontologie roher Kontingenz, metaphysische Untersuchungen von Wirklichkeit und Möglichkeit und die Macht von bestehenden sozialen Verhältnissen werden sogar in Frage gestellt und flexibel dargestellt. Aber solche Grenzen werden in vielen Fällen nicht eigentlich überwunden. Für jede Stelle, in der soziale Verhältnisse zu verschwimmen scheinen, gibt es ein anderes Moment, in dem eine Charakter mit der Festigkeit einer Rolle—mit der Inflexibilität einer Metaphysik der Substanz, der Identität—konfrontiert wird. Diese Betrachtung gilt vor allem für die nicht-männlichen Akteurinnen des Romans. Florentins Schwester wird nicht gerettet. Und für Juliane ist die Annahme einer anderen Rolle kein Spiel, sondern die notwendige Bedingung, um ihr Elternhaus verlassen zu können. Wenn Kontingenz nach Kant als allergreifendes Medium der Urteilskraft wirkt und die Beziehung zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit in der Metaphysik ausmacht, wird in Florentin mehrmals hervorgehoben, dass Fragen von Geschlecht und Geschlechterpolitik unerlässlich für solche ontologischen Untersuchungen über die Rolle von Kontingenz in der Urteilskraft sind.36 An dieser Stelle trifft Geschlecht das Herz des kritischen Projekts. In einer oft übersehenen Passage in der Polemik gegen eine „skeptische Befriedigung der mit sich selbst veruneinigten reinen Vernunft“ in der Es wird kurz erwähnt, dass Manfredi „keine Mühe und keine Nachforschung zu sparen“ verspricht, „um etwas über [Florentins] Geburt und […] Eltern zu erfahren,“ aber der Versuch gerät bald in Vergessenheit. Vgl. Florentin, 65. 36 Vgl. Gabriel, Transcendental Ontology, 85: „Given that our access to existence is mediated through predicative determinations, reality is thus only available to us in judgment and therefore only ever in the medium of contingency.“ Die Politik dieser Urteile wird oft von Kants Kommentatoren hervorgehoben, obwohl diese expliziten Geschlechtsaspekten oft übersehen werden. Vgl. Eckart Försters „The Hidden Plan of Nature“ in Amélie Oksenberg Rorty und James Schmid (Hg.), Kant’s Idea for a Universal History with a Cosmopolitan Aim, Cambridge 2009 und Hannah Arendt, Das Urteilen, München 2012. 35 124 Symphilosophie 2/2020 GESCHLECHT, SINNFELD, KONTINGENZ „Transzendentalen Methodenlehre“ der ersten Kritik beschreibt Kant die Urteilskraft als explizit männlich: Der erste Schritt in Sachen der reinen Vernunft, der das Kindesalter derselben auszeichnet, ist dogmatisch. Der eben genannte zweite Schritt ist skeptisch, und zeugt von Vorsichtigkeit der durch Erfahrung gewitzigten Urteilskraft. Nun ist aber noch ein dritter Schritt nötig, der nur der gereiften und männlichen Urteilskraft zukömmt, welche feste und ihre Allgemeinheit nach bewährte Maximen zum Grunde hat […].37 Es bleibt höchst unklar, wie sich die Urteilskraft in Bezug auf dieser unerwarteten Eigenschaft männlich verhalten soll, aber es ist wichtig zu bemerken, dass Männlichkeit an derselben Kluft zwischen Natur und Freiheit, Transzendentalem und Empirischem wie die Urteilskraft selbst kranken muss. Kant sagt nichts weiteres zum Thema und es bleibt unklar, ob Männlichkeit eine bestimmende Kraft wie Ethik sein soll oder notwendigkonstitutiv wie metaphysische Überlegungen wirkt. Auf jeden Fall sollte man zwischen den anthropologischen und transzendentalen Standpunkten unterscheiden. Diese Unklarheit der Urteilskraft sowie der Rolle der Geschlechter in der Funktion von Urteilskraft führt Friedrich Schlegel zum Vorschlag einer Wiedervereinigung der Geschlechter im Sinne einer platonischen Ehe, welche als grundlegende nachkantische Mythologie für die Philosophie dienen soll. „Vielleicht würde eine ganz neue Epoche der Wissenschaften und Künste beginnen,“ schreibt er in einem Fragment „wenn die Symphilosophie und Sympoesie so allgemein und so innig würde, daß es nichts Seltnes mehr wäre, wenn mehre[re] sich gegenseitig ergänzende Naturen gemeinschaftliche Werke bildeten.“38 Darüber hinaus soll diese Ehe das höchste Desideratum der Romantik—die Überwindung der kantischen Grenzlinie—erfüllen. An Stelle der „Kluft“39 zwischen Natur und Freiheit Vgl. KrV A762, B 789. Vgl. KFSA I 2, 181: Nr 125. 39 Vgl. Kant, Einleitung in die Kritik der Urteilskraft (A LII, B LIV): „Der Verstand ist a priori gesetzgebend für die Natur als Objekt der Sinne, zu einem theoretischen Erkenntnis derselben in einer möglichen Erfahrung. Die Vernunft ist a priori gesetzgebend für die Freiheit und ihre eigene Kausalität, als das Übersinnliche in dem Subjekte, zu einem unbedingt-praktischen Erkenntnis. Das Gebiet des Naturbegriffs, unter der einen, und das des Freiheitsbegriffs, unter der anderen Gesetzgebung, sind gegen allen wechselseitigen Einfluß, den für sich (ein jedes nach seinen Grundgesetzen) auf einander haben könnten, durch die große Kluft, welche das Übersinnliche von den Erscheinungen trennt, gänzlich abgesondert. Der Freiheitsbegriff bestimmt nichts in Ansehung der theoretischen Erkenntnis der Natur; der Naturbegriff eben sowohl nichts in Ansehung der praktischen Gesetze der Freiheit: und es ist in sofern nicht möglich, eine Brücke von einem Gebiete zu dem andern hinüberzuschlagen.“ 37 38 Symphilosophie 2/2020 125 BRYAN NORTON feiert man hier eine überbrückende Hochzeit. Während Kant Natur und Freiheit „gegen allen wechselseitigen Einfluß“ versichert hatte, zielt die Romantik auf eine kombinatorische Alternative—eine progressive Universalpoesie, die diese Erfahrungsbereiche „bald mischen, bald verschmelzen“ sollte.40 Wenn die „neue Epoche der Wissenschaft und Künste“ zu positivem Wissen für die Romantik führen soll, würde man nicht nur männliche Urteilskraft, sondern auch ein weibliches Gegenstück brauchen.41 Friedrich Schlegels fragmentarischer Roman Lucinde gilt als Inszenierung dieser metaphysischen Ehe, die Metaphysik sogar als Ehe inszeniert. Hier handelt es sich nicht mehr um eine allein agierende Urteilskraft, die als Männlichkeit funktioniert, sondern um die Notwendigkeit eines sexuellen Unterschieds innerhalb der Urteilskraft selber. Es soll „eigentlich nur zwei Stände unter den Menschen geben,“ schreibt der Protagonist Julius an seiner Frau – die bildende Männlichkeit und die gebildete Weiblichkeit. 42 „Was ist denn aber das Bestimmende oder das Bestimmte selbst?“, sinnt der Erzähler weiter nach. „In der Männlichkeit ist es das Namenlose. Und was ist das Namenlose in der Weiblichkeit? – das Unbestimmte.“43 Obwohl auf den ersten Blick die Weiblichkeit die Funktion einer rohen Kontingenz anzunehmen scheint, die das höchste ontologische Niveau markiert, taucht in letzter Instanz nicht die Kontingenz der Weiblichkeit, sondern die Notwendigkeit dieser Weiblichkeit auf, die sich selbst nur als Gegenstück zum Männlichen verstehen muss. Die gesetzgebende Kraft dieser binären Ausdifferenzierung ist auch an der Figur Wilhelmine zu beobachten. Obwohl die Figur zuerst als unbestimmtes, androgynes Kind in der Erzählung gefeiert wird, gewinnt sie im Laufe der Erzählung mehr geschlechtsspezifische Merkmale. 44 Es gibt keinen dritten Weg, der die Metaphysik der Ehe selbst kontingent machen könnte. KFSA I 2, 181: Nr 116. Vgl. Beiser, German Idealism: The Struggle against Subjectivism. Diese Idee von Ehe und einem notwendigen binären Geschlechtsunterschied in der Natur, der organisches Wachstum und Reproduktion vorantriebt, war seit Linné Teil des naturphilosophischen Diskurses. Vgl. Wilhelm von Humboldts 1795 Aufsatz „Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluss auf die organische Natur“ in Die Horen, Tübingen 1795, Bd. II, 99-132 und Goethes morphologische Schriften. Vgl. Bryan Klausmeyer, „Abschlussbewegungen: Goethe, Freud, and Spectral Forms of Life“, Goethe Yearbook 26, no. 1 (2019). 42 Vgl. KFSA I 5: 62. 43 Vgl. KFSA I 5: 71. 44 Vgl. „Die Charakteristik der kleinen Wilhelmine“ in Lucinde, KFSA I 5, 13-15, dazu Daub, Uncivil Unions, 168: „Julius is so caught up in the notion of unification through sex that he reflexively ‘determines’ the product of that unification“ und das Kapitel zu Friedrich Schlegel: ,,Androgynous Chaos—Androgynous Stasis“ in Catriona MacLeod, Embodying Ambiguity: Androgyny and Aesthetics from Winckelmann to Keller, Detroit 1998, 66-90. 40 41 126 Symphilosophie 2/2020 GESCHLECHT, SINNFELD, KONTINGENZ 4. Die Unhintergehbarkeit von Körpern In Vergleich zu Lucinde ist in Dorothea Schlegels Roman Florentin eine mögliche Alternative zu finden, wobei ein einfacher, binärer Geschlechtsunterschied als kontingent präsentiert wird. Schon am Anfang des Romans tritt Florentin in einer Landschaft auf, die ihren „Vermählungstag“ feiert: Es war an einem der ersten schönen Frühlingsmorgen. Allenthalben, auf Feldern, auf Wiesen und im Wald, waren noch Spuren des vergangnen Winters sichtbar, und der Härte, womit er lange gewütet: noch einmal hatte er mächtig im Sturm seine Schwingen geschüttelt, aber es war zum letztenmal. Die Wolken waren vertrieben vom Sturm, die Sonne durchgebrochen, und eine laue milde Wärme durchströmte die Luft. Junge Grasspitzen drängten sich hervor, Veilchen und süße Schlüsselblumen erhoben furchtsam ihre Köpfchen, die Erde war der Fesseln entledigt, und feierte ihren Vermählungstag.45 Florentin fühlt sich entfremdet von diesem Naturbild, das seit Linné als organische Ehe inszeniert wird.46 Er ist ledig und reist allein. Aber statt zu heiraten reist er am Ende des Romans einfach weiter. Dieser Schluss inszeniert eine Ausdifferenzierung des romantischen Absoluten—der Natur—die auf einer höheren Ordnung als Friedrich Schlegels Metaphysik der Ehe wirkt, weil Ehe selbst nur eine Möglichkeit unter anderen darbietet. Wenn die Vielzahl heterogener Erscheinungen auf der Welt nicht mit derart metaphysischer Skepsis begegnet werden soll, die auf eine Trennung von Sein und Schein insistiert, muss nicht nur der Geschlechtsunterschied im Sinne von einem binären Unterschied zwischen zwei Geschlechtern überwunden werden. Diese Differenz muss selbst als etwas Kontingentes gezeigt werden. Zum Schluss möchte ich kurz zur Kernthematik der Sinnfeldontologie und derer Auseinandersetzung mit Objekten zurückkehren, die mit diesem in Florentin gewonnenen Verständnis von Kontingenz eng verbunden bleibt. Ontologie wird in letzter Instanz als kontingent gezeigt, aber auf Kosten eines Florentin, 11. Vgl. Linnés Systema naturae und Londa Schiebinger, ,,Why Mammals Are Called Mammals: Gender Politics in Eighteenth-Century Natural History“, The American Historical Review 98, no. 2 (1993), 382-411. Florentin, 11: „Sei meine Reise wie mein Leben und wie die ganze Natur, unaufhaltsam vorwärts! … Was mir nur begegnen wird auf dieser Lebensreise, oder diesem Reiseleben? Ich rühme mich ein freier Mensch zu sein, und dieser Sonnenschein, dieses laue Umfangen, die jungen Knospen, das Erwarten der Dinge, die mich umgeben, ist schuld, daß auch ich erwarte… und was? … War mir doch mit allem bunten Spielzeug schon längst Hoffnung und Erwartung entflohen!... Närrisch genug wäre es, wenn mich dieser Weg auch endlich an den rechten Ort führte, wie alles Leben zum unvermeidlichen Ziel.“ 45 46 Symphilosophie 2/2020 127 BRYAN NORTON grundlegenden Aspektes von Gabriels Ansicht des nachkantischen transzendentalen Idealismus – des Transzendentalen selbst. Statt Geist tritt eine heterogene Vielzahl von Körpern als der privilegierte Ort für Ontologie auf, als locus, an dem Fragen über Wirklichkeit, Möglichkeit und die Kontingenz dieser Beziehung mehrfach gestellt, entschieden, und neu gestellt werden. Ontologie hängt nicht mehr von der Unhintergehbarkeit des Geistes, sondern von der Unhintergehbarkeit der Körper ab, die allein in der Lage sind, ontologische Betrachtungen in Verbindung mit Metaphysik und sozialen Verhältnissen zu setzen. Diese Unhintergehbarkeit der Körper in Fragen zu Kontingenz wird vor allem in einer Geistergeschichte gezeigt, die nicht von Florentin, sondern von Juliane in Dorothea Schlegels Roman erzählt wird. 47 Während des oben erwähnten Ausflugs mit Florentin und Eduard, in dem die drei in einem Sturm geraten werden und in einer Mühle übernachten müssen, erzählt Juliane die Geschichte einer jungen Frau, die schwanger werden muss, damit ihr Mann ein wertvolles Gut erben kann. Nach einer Weile wird klar, dass etwas nicht funktioniert. Kein Kind kommt und die Frau versucht alles, um diese Lage zu ändern. Sie kauft Fetische, macht Pilgerreisen und besucht diverse Ärzte, aber alles umsonst. Sie sorgt sich um ihre Ehe und schwört eines Tages einen verzweifelten Eid. Wenn sie im nächsten Jahr nicht schwanger wird, dann wird sie ihren Mann verlassen und den Rest ihres Lebens in einem Kloster verbringen. Kurz danach passiert etwas Merkwürdiges: sie beginnt die Erscheinung eines Kindes zu sehen, was zunächst nur größere Sorge um ihren Zustand verursacht. Das Kind erscheint überall in ihrem Zimmer, draußen im Garten, wo es vor ihr spielt und lacht, aber niemand außer der jungen Frau ist in der Lage, dieses Kind zu sehen.48 Sie muss die Erscheinung ausführlich beschreiben, um andere zu überzeugen, dass sie „wirklich sähe, was sie zu sehen vorgab“: Es schien ihr in einem Alter von drei Jahren, trug ein leichtes weißes Gewand, Arme und Füße waren nackt, um den Leib hatte es einen blauen Gürtel von hellglänzendem Zeuge, dessen Enden hinter ihm niederflatterten. Das Köpfchen sei mit himmlischen blonden Locken, wie mit den zartesten Strahlen umgeben, das mit den kindlichen Wangen, dem frischen Munde und den lachenden blauen Augen wie ein wundersüßes Engelsköpfchen aussehe. Das ganze Figürchen umschwebe hinreißende Anmut; kurz, sie beschrieb es so umständlich, Diese mise en abyme lässt sich auch als Inszenierung Dorothea Schlegels eigener Position in der Romantik verstehen. 48 Vgl. Florentin, 99. 47 128 Symphilosophie 2/2020 GESCHLECHT, SINNFELD, KONTINGENZ daß man gar nicht mehr zweifeln durfte, sie sähe es in der Tat vor sich [...].49 Aber im Vergleich zu Kants Behandlung solcher Ereignisse wird die Erscheinung nicht als Schwärmerei, sondern als real behandelt—und ganz in einem körperlichen Sinne. Neun Monate später bringt die junge Frau ein Kind zur Welt, und die Erscheinung ist nicht mehr zu sehen.50 Auch wenn es als Halluzination gelten könnte, wird durch einen Geist in letzter Instanz auf einen Körper zurückverwiesen, der die strengsten Bedingungen einer nachkantischen Urteilskraft erfüllt. Sie verbindet, sie trennt und sie schöpft etwas Neues, Unvorhersehbares, und höchst Kontingentes—ein kleines Mädchen: Nach einiger Zeit ereignete sich etwas, welches das Wunderbare dieser Erscheinung zugleich erklärte und vergrößerte. Die Marquise fühlte nämlich deutliche Zeichen, daß sie guter Hoffnung sei […] Neun Monate nach dem Tage der ersten Erscheinung ward sie glücklich von einer Tochter entbunden. Während ihrer Niederkunft sah sie die Erscheinung an ihrem Lager unbeweglich stehen, in dem Augenblick aber, daß ihr Kind zur Welt kam, war jene verschwunden, und sie hat sie niemals wiedergesehen.51 Florentin, 99. Vgl. „Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik“ in Immanuel Kant, Werke in zwölf Bänden, Frankfurt a. M. 1977, 923-989. Dazu Jeremiah Alberg, „What Dreams May Come: Kant’s Träume eines Geistersehers Elucidated by the Dreams of a Coquette“, Kant-Studien 106, no. 2 (June 28, 2015), 169-200. Adrian Daub hat auch die Verwirrung bemerkt, die das System-Subjekt an dieser Erfahrung erleiden müsste. Vgl. Metaphysics of Marriage, 176: „The figure of the ghost child that is lacking precisely in causation casts into confusion the autotelic subject-work of Lucinde.“ 51 Florentin, 101. 49 50 Symphilosophie 2/2020 129