Symphilosophie
Internationale Zeitschrift für philosophische Romantik
Geschlecht, Sinnfeld, Kontingenz
Zur Ontologie in Dorothea Schlegels Florentin
Bryan Norton*
ZUSAMMENFASSUNG
Dieser Artikel setzt sich mit der Beziehung zwischen Ontologie, Kontingenz und Geschlecht in
der Frühromantik auseinander und legt den Fokus dabei auf die Figur von Dorothea Schlegel.
Obwohl Dorothea Schlegels Werk oft getrennt von den theoretischen Zielen der Frühromantik
behandelt wird, argumentiere ich für die Zentralität ihres Romans Florentin im nachkantischen
Kontext. Florentin bietet eine wichtige Revision von Friedrich Schlegels Poetik und Metaphysik
der Ehe an, sowie der geschlechtsspezifischen Dynamik seiner Idee einer romantischen
Symphilosophie. Darüber hinaus lässt sich der Roman als eine Inszenierung grundlegender
Aspekte der realistischen Ontologie Markus Gabriels lesen, die angesichts von Beisers Plädoyer
für eine nichtsubjektive Ansicht auf die transzendentalen Ziele der Romantiker für die
Romantikforschung in Anspruch genommen werden kann. In Kontrast zu Gabriels Sinnfeldontologie, die Ontologie in letzter Instanz von Geist abhängig macht, insistiert Dorothea
Schlegels Florentin allerdings auf die irreduzible Präsenz der Körper und körperlicher
Kontingenzen.
Stichwörter: Dorothea Schlegel, Markus Gabriel, Sinnfeldontologie, Kontingenz, Frühromantik
ABSTRACT
This article investigates the relationship between ontology, contingency and gender in early
Romanticism, focusing on the figure of Dorothea Schlegel. Although Dorothea Schlegel’s work
is often treated at a remove from the theoretical goals of early Romanticism, I argue for the
centrality of her novel Florentin in a post-Kantian context. Florentin offers an important revision
of Friedrich Schlegel’s poetics and metaphysics of marriage, as well as the gendered dynamics
underlying his idea of a romantic Symphilosophie. The novel can also be read as a staging of
fundamental aspects of Markus Gabriel’s realist ontology, which can be claimed for romanticism
research in light of Beiser’s plea for a non-subjective view of the Romantics’ transcendental aims.
In contrast to Gabriel’s sense field ontology, however, which makes ontology ultimately
dependent on spirit, Dorothea Schlegel’s Florentin insists on the irreducible presence of bodies
and corporal contingencies.
Keywords: Dorothea Schlegel, Markus Gabriel, sense field ontology, contingency, Early German
Romanticism
Doctoral Candidate in Comparative Literature and Literary Theory, University of
Pennsylvania, USA; Guest Researcher, Institut für deutsche Literatur, HumboldtUniversität Berlin, Unter den Linden 6, 10117 Berlin, Germany – bryann@sas.upenn.edu
*
Symphilosophie 2/2020, pp. 115-129
ISSN 2704-8152
BRYAN NORTON
Einleitung1
Die Entwicklung der deutschen Philosophie nach Kant ist in den letzten
Jahren als die Bewegung von einer untergeordneten Auffassung von
Kontingenz in Kants kritischer Philosophie zu einer Kontingenz zweiter
Ordnung— d.h. die Kontingenz der Kontingenz selber—im nachkantischen
Idealismus beschrieben worden. 2 Statt nur systemintern und unter vorgegebenen strukturellen Bedingungen zu wirken, wie Kant in den Antinomien
der reinen Vernunft zu erklären versucht hatte, erhält Kontingenz im
nachkantischen Idealismus den höchsten ontologischen Rang. 3 Diese Art
Kontingenz zweiter Ordnung dehnt sich weit über die Grenzen des
kantischen Subjekts hinaus und eröffnet laut Markus Gabriel den Weg zu
einer neuen realistischen Ontologie, die weder szientistisch-reduktiv noch
konstruktivistisch sein soll.4 Diese Ontologie, die als Sinnfeldontologie im
Kontext von Debatten zum neuen Realismus und zu objektorientierter
Ontologie ihren Namen erhalten hat, soll nicht mehr auf einem veralteten
Diese Auseinandersetzung mit Dorothea Schlegel wurde zuerst im Rahmen der Goethe
Ringvorlesungen an der Goethe Universität in Frankfurt am Main vorgestellt. Ich bedanke
mich herzlich bei Martina Wrenli für die Möglichkeit, meine lückenhaften Ergebnisse im
Sommer 2020 vortragen zu dürfen, sowie bei Catriona Macleod, Warren Breckman und
Frederike Middelhof für ihren Kommentar zu verschiedenen Versionen dieses Aufsatzes.
Nicht zuletzt bedanke ich mich bei der Redaktion von Symphilosophie für die sorgfältigen
Rückmeldungen und für die Ermutigung zur Einreichung dieses Beitrages. Dieser Aufsatz
enthält meine ersten Überlegungen zu diesem komplexen Thema.
2
Diese Auseinandersetzung mit Kontingenz in der Zeit nach Kant stammt teilweise aus
Markus Gabriels Kritik der in Quentin Meillassouxs Après la finitude aufgestellten Idee einer
Notwendigkeit der Kontingenz für die Ontologie. Gabriels vorgeschlagene Kontingenz
zweiter Ordnung wurde im Laufe des letzten Jahrzehnts mehrmals im Rahmen weiterer
Studien zum nachkantischen Idealismus besprochen. Vgl. „The Mythological Being of
Reflection“ in Markus Gabriel und Slavoj Zizek, Mythology, Madness, and Laughter:
Subjectivity in German Idealism, New York/London 2009, 15-94. Die ausführlichste
Untersuchung dieser Thematik im nachkantischen Kontext bietet Transcendental Ontology,
obwohl weitere Beschäftigungen auch in Schriften wie Sinn und Existenz zu finden sind. Vgl.
Transcendental Ontology: Essays in German Idealism, New York/London 2011, insbesondere
das 3. Kapitel zu Kontingenz bei Schelling und Hegel sowie Kapitel 7 und 10 in Sinn und
Existenz: Eine realistische Ontologie, Berlin 2016.
3
Während Kant Kontingenz aus systematischen Gründen erlauben muss (das gilt vor allem
in der dritten und vierten Antinomie der reinen Vernunft) vollzieht er laut Gabriel den
Wechsel zu einer neuen Art der Urteilskraft, die regulativ und reflektierend sein soll, um
diese Kontingenz zu verharmlosen. Vgl. KrV A 533: B 561 – A 570: B 599. Diese Urteile
sind Spezies-bedingt sowie von euklidischen Naturerfahrungen abhängig. Vgl. Gabriel,
Transcendental Ontology, 40 und John McDowell, Having the World in View: Essays on Kant,
Hegel and Sellars, Cambridge (MA) 2009, 78. Zu Kants Erfindung einer reflektierenden,
regulativen Urteilskraft siehe Paul Guyers Aufsatz „Kants Principles of Reflecting
Judgment“ in Guyer (Hg.), Kant’s Critique of the Power of Judgment: Critical Essays, Lanham
2003, 1-62.
4
Vgl. Transcendental Ontology, xiv-xv.
1
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Dualismus von Sein und Schein basieren. 5 Stattdessen erhalten metaphysische Betrachtungen über die Wirklichkeit und Möglichkeit von
Objekten nur beschränkte Gültigkeit innerhalb eines bestimmten Sinnfeldes
und sind nicht mehr in der Lage, einen ausschließ-enden Anspruch auf
Erkenntnis zu erheben.6 Metaphysik sowie die Naturwissenschaften stellen
nur einzelne Möglichkeiten unter anderen dar, eins und dasselbe Objekt zu
betrachten. Erkenntnis kann gleichfalls mittels Ästhetik oder anderer
Umgangsarten mit einem Gegenstand gewonnen werden. Diese Ansicht
spielt eine entscheidende Rolle in dem, was man die Unhintergehbarkeit der
Mythologie und Fiktion für die Philosophie insgesamt nennen könnte.7
1. Sinnfeldontologie und Frühromantik
Während Arbeiten zur jüngsten Sinnfeldontologie nur wenige direkte (und
meistens beiläufige) Verweise auf die bestehende Forschung zur
Frühromantik enthalten, gibt es überzeugende Gründe, Sinnfeldontologie in
Beziehung zu Romantik und Romantikforschung zu setzen.8 Vor allem lässt
sich die Artikulation einer Kontingenz der Kontingenz im nachkantischen
Idealismus mit Blick auf die Romantik als weiterer Versuch verstehen, die
kantische Grenzlinie zwischen transzendentalen und empirischen Erfahrungsbereichen zu überwinden. 9 Diese ersehnte Überbrückung ist laut
Manfred Frank das höchste Desideratum des frühromantischen Projekts. Sie
deutet daraufhin, dass die ästhetischen und poetischen Leistungen der
Obwohl ich mich in diesem Artikel fast ausschließend mit den sinnfeld-ontologischen
Schriften von Markus Gabriel befasse, ist es hier wichtig zu bemerken, dass es auch andere
Versionen dieses Programms gibt, die in den letzten Jahren entstanden sind, vor allem von
Jocelyn Benoist in Frankreich. Vgl. Jocelyn Benoist, Sens et sensibilité. L’intentionalité en
contexte, Paris 2009 und Jocelyn Benoist, L’adresse du réel, Paris 2017.
6
Vgl. das Kapitel zu „Wirklichkeit und Möglichkeit“ in Gabriel, Sinn und Existenz, 369-391.
7
Diese Unhintergehbarkeit wurde vor kurzem in Gabriels Fiktionen untersucht, obwohl sie
auch zu seiner früheren Auseinandersetzung mit Schellings Spätphilosophie in Der Mensch
im Mythos hindeutet. Vgl. Markus Gabriel, Fiktionen, Berlin 2020 und Der Mensch im Mythos:
Untersuchungen über Ontotheologie, Anthropologie und Selbstbewußt-seinsgeschichte in Schellings
‚Philosophie der Mythologie‘, Berlin/New York 2006. Letzteres weist weiterhin auf einen
Topos, der schon in der Romantik reflektiert wurde, vor allem in Friedrich Schlegels
Plädoyer für eine neue „aus der innersten Tiefe des Geistes“ herausgearbeiteten Mythologie
für die Neuzeit, die der Poetik sowie der Physik einen frischen Impuls geben würde. Vgl. die
„Rede über die Mythologie“ in seinem Gespräch über die Poesie, Kritische Friedrich-Schlegel
Ausgabe [KFSA], Erste Abteilung (I) Band 2, München, Paderborn, Wien, Zürich 1967,
311-329.
8
Vgl. die kurzen Erwähnungen zu Hölderlin in „The Mythological Being of Reflection“, 47
und Fiktionen, 626.
9
Der Begriff einer kantischen Grenzlinie stammt aus einem Brief Hölderlins und wird unten
im zweiten Teil weiter diskutiert. Vgl. die 9. Vorlesung in Manfred Franks Einführung in die
frühromantische Ästhetik: Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1989, 137-154.
5
Symphilosophie 2/2020
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BRYAN NORTON
Frühromantik entscheidend für metaphysische, epistemologische sowie
ontologische Fragen im nachkantischen Kontext waren. 10 Während
Beurteilungen dieser Versuche oft dekonstruktiv motiviert sind und
romantische Schriften als Inszenierungen eines tiefergreifenden metaphysischen Versagens betrachten, gibt es noch andere Argumente, warum
frühromantische Ansprüche auf Wissen als Entwicklung einer positiven
Philosophie ernst zu nehmen sind. 11 Dieser Aspekt des frühromantischen
Projekts ist vor allem von Frederick Beiser hervorgehoben worden, dessen
Auseinandersetzung mit dem idealistischen Kampf gegen Subjektivismus in
gewisser Hinsicht als Vorgänger von Gabriels Idealismus-Studien gelten
kann. Wie Beiser es in seinem Buch German Idealism: The Struggle Against
Subjectivism schreibt: „The post-Kantian idealists understood the absolute in
transcendental terms as the fundamental condition of the possibility of
experience; as such, they refused to define it as either subjective or
objective“.12 In seiner Auseinandersetzung mit dem Deutschen Idealismus
und dessen Entwicklung einer Kontingenz zweiter Ordnung behauptet
Gabriel seinerseits folgendes: „The absolute is not opposed to knowledge as
an unattainable beyond, but identified as the very process of a
subjectivization of being in the form of finite objective knowledge.“13
Darüber hinaus wird in Schriften zur Sinnfeldontologie die Frage nach
dem, was anders sein könnte (um die klassische aristotelische Definition von
Kontingenz aufzurufen), unwiderruflich mit Fragen von Geschlecht und der
Metaphysik sexueller Identitäten verbunden, was die Kernthematik dieses
Artikels ausmacht.14 In Gabriels Schriften zur Sinnfeldontologie wird mehrmals die Frage gestellt, ob sexuelle Identitäten nur als metaphysische
Erwägungen innerhalb eines bestimmten Sinnfelds gültig sind, oder ob sie
auf einem ontologischen Niveau—d.h. mit roher Kontingenz—wirken. Es
entsteht in seinen Schriften wie Fields of Sense und Sinn und Existenz eine
Vgl. Frank, Einführung in die frühromantische Ästhetik, 139.
Kanonisch für diese dekonstruktivistische Leseart ist die von Lacoue-Labarthe und Nancy
eingeführte Idee eines désœuvrement des Metaphysischen im frühromantischen ästhetischen
Programm. Dieses désœuvrement oder ‚Entarbeitung‘ wirkt durch die formalen
Erfindungen der Romantik (vor allem durch das Fragment) und zielt auf die Unterbindung
von Ansprüchen auf Vollkommenheit und metaphysische Schließung. Vgl. Philippe LacoueLabarthe und Jean-Luc Nancy, L’Absolu littéraire. Théorie de la littérature du romantisme
allemand, Paris 1978. Vgl. auch David Farrell Krell, The Tragic Absolute: German Idealism and
the Languishing of God, Bloomington 2005 und Alice A. Kuzniar, Delayed Endings: Nonclosure
in Novalis and Hölderlin, Athens (Georgia) 1987.
12
Vgl. die Einleitung zu Frederick C. Beiser, German Idealism: The Struggle against
Subjectivism, 1781-1801, Cambridge (MA) 2002, 5.
13
Vgl. Gabriel, Transcendental Ontology, 2.
14
Vgl. Kapitel 12 und 13 in Aristoteles, Hermeneutik / Peri hermeneias, Berlin 2015, 247-273.
10
11
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rätselhafte und oft unbeantwortete Frage, ob sexuelle Identitäten nur als
Wirklichkeiten bzw. Möglichkeiten zu verstehen sind—das heißt, als eine
Metaphysik der vorstrukturierten Objekte innerhalb eines bedingten
Sinnfelds—oder ob sie auf ein höheres ontologisches Niveau, das von einer
unbestimmten Vielzahl von Kontingenzen geprägt sein könnte, hinausdeutet.
In Sinn und Existenz scheint das Geschlecht nur metaphysisch zu wirken:
„Wir verfügen schlichtweg nicht über metaphysisch notwendige Identitätskriterien für Gegenstände im Allgemeinen, weil es solche nicht gibt“. In
Fields of Sense bleibt es hingegen unklar, ob Sex auch kontingent sein soll:
For something to exist is not for it to fall under any concept whatsoever,
but to fall under suitable concepts. It is not enough to identity some
bare individual essence of Arnold Schwarzenegger picked out by
Kripkean baptism (that is, the moment someone referred to the guy for
the first time) and to say that ‘Arnold Schwarzenegger’ from now on
refers to the same individual in all possible worlds in which this
individual exists. This might be a way of rephrasing the modal claims
involved in saying that Arnold Schwarzenegger could have lost the
Election [for Governor of California – B.N.] (too bad, he won) or that
he could have not been the actor who played the Terminator
(fortunately, he was chosen). But no one wants to say that Arnold
Schwarzenegger (the guy) could have been a Norwegian female sex
worker (he could not!), even though there is some possible world in
which the individual essence of Arnold Schwarzenegger (whatever that
is) could be a Norwegian female sex worker (maybe by having changed
sex first depending on what the actual relationship between his
individual essence, his genetic code, and his gender is).15
Wenn Markus Gabriel über die Bestimmtheit bzw. Flexibilität von Identität
nach einer theoretischen Geschlechtsumwandlung spekuliert, tritt die
Zentralität dieser Fragestellung ans Licht. Wenn eine Beziehung zwischen
Wirklichkeit und Möglichkeit für diese sexuellen Identitäten kontingent
gemacht werden soll, dann wirkt Geschlecht selbst auf einem übergeordneten ontologischen Niveau. Diese Frage nach der Beziehung zwischen
Geschlecht und Kontingenz im nachkantischen Kontext war der Impuls für
Friedrich Schlegels Poetik der Ehe und der darin vollzogenen Rückkehr zum
platonischen Mythos von Liebe als Wiedervereinigung zweier Teile, welche
bei näherer Betrachtung nur eine weitere Inszenierung einer Metaphysik
15
Vgl. Fields of Sense, 374 und 94.
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darstellt und keine Kontingenz in letzter Instanz erlaubt.16 Erst in Dorothea
Schlegels Antwort auf Lucinde, ihrem 1801 veröffentlichten Roman Florentin,
wirkt Geschlecht völlig kontingent. Der Roman inszeniert aber eine revidierte
Version von Gabriels Sinnfeldontologie: während Kontingenz nur durch die
Unhintergehbarkeit des Geistes in der Sinnfeldontologie ermöglicht wird, ist
in Dorothea Schlegels Florentin eine tiefergreifende Unhintergehbarkeit des
Körpers zu finden, die über einen transzendentalen Ansatz zur Ontologie
hinauszugehen scheint.
2. Vom Zeichen zum Sinnfeld: Dorothea Schlegels Florentin und seine
Rezeption
In der Forschung zu Dorothea Schlegel und ihrer Position in der
Frühromantik sind zwei Bilder auffällig, die auf zwei verschiedene Haltungen
gegenüber der Autorin von Florentin hindeuten. Das erste wirkt herablassend
und enthüllt ein Zögern, ihr Werk als Beitrag zum frühromantischen Projekt
ernst zu nehmen. Erst später in der Romantik würden Frauen schreiben,
meinte Friedrich Kittler, als ob Friedrich Schlegels Bemerkung, dass Frauen
zu viele Poesie besitzen, um selber Gedichte zu schreiben, ohne Ironie zu
lesen wäre.17 Eine ähnliche Haltung ist bei Lacoue-Labarthe und Nancy zu
erkennen. In Das Literarisch-Absolute gilt Friedrich Schlegels Eheroman
Lucinde als die einzige Referenz für die „literarische Figur von Dorothea.“18
Ihr eigener Roman wird nie erwähnt. Obwohl wichtige Untersuchungen zu
den theoretischen Leistungen der Frauen in frühromantischen Kreisen
inzwischen erschienen sind, wird dieses Bild, das Schriften von Frauen
getrennt von den theoretischen Zielen der Romantik hält, nur langsam und
teilweise korrigiert.19
Das andere Bild, welches öfter in der literaturwissenschaftlichen
Befassung mit Dorothea Schlegels Werk vorkommt, ist das Bild einer Frau,
die unter ihrem Status als doppelte Minderheit—als Jüdin und Frau—
lebenslang leiden musste und nur ihre eigene Position in den existierenden
Vgl. Stefan Matuscheks Beitrag „Über die Diotima“ und Mark-Georg Dehrmanns
Bemerkungen zu „Lucinde“ in Johannes Endres (Hg.), Friedrich Schlegel-Handbuch, Stuttgart
2017, 79-80 bzw. 171-178.
17
Vgl. KFSA II, 268: Nr. 127: „Die Poesie der Dichter bedürfen die Frauen weniger, weil
ihr eigenstes Wesen Poesie ist“. Für Kittlers Argument vgl. „In den Wind schreibend,
Bettina“ in Friedrich A. Kittler, Dichter, Mutter, Kind, München 1998, 233-234.
18
Vgl. L’Absolu littéraire, 185.
19
Bemerkenswerte Vertreter dieser korrigierenden Tendenz sind Adrian Daub und Anna
Ezekiel. Vgl. Adrian Daub, Uncivil Unions: The Metaphysics of Marriage in German Idealism and
Romanticism, Chicago 2012 und Anna C. Ezekiel, „Metamorphosis, Personhood, and Power
in Karoline von Günderrode“, European Romantic Review 25, no. 6 (November 2, 2014),
773-91.
16
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sozialen Strukturen der Zeit auszutarieren versuchte.20 Abgesehen von ein
paar kurzfristigen Fluchtlinien, von denen das Schreiben ihres einzigen
Romans sowie das Verlassen ihres ersten Manns zugunsten Friedrich
Schlegel die klarsten Beispiele darbieten, setzt sich das Bild einer Frau
zusammen, die in einer fast stoischen Akzeptanz den Erwartungen ihrer Zeit
zu entsprechen versuchte. Sie gab alles für ihren zweiten Mann und seine
Arbeit auf, und trat selbst in den Hintergrund. Obwohl dieses Bild
sympathischer als das erste wirkt, bietet es auch nur eine lückenhafte
Darstellung an. In Florentin und Dorothea Schlegels Bemerkungen zum
Roman ist eine tiefgreifende Auseinander-setzung mit ontologischen Fragen
über die Rolle von Kontingenz in der metaphysischen Beziehung zwischen
Wirklichkeit und Möglichkeit enthalten, die auch soziale Verhältnisse—vor
allem Geschlechter-verhältnisse—nicht unberührt lässt. Es handelt sich
dabei um nichts weniger als den Appell, ein neues „Naturgesetz“ zu finden,
welches aktiv an der Schöpfung neuer Sinnfelder arbeitet.21
Dorothea Schlegel war lebenslag in verschiedenen intellektuellen
Bereichen tätig. Obwohl Florentin ihr einziger Roman bleiben wird, verfasste
sie eine Vielzahl von Übersetzungen.22 Sie schrieb ihre eigenen Beiträge zum
frühromantischen Organ Athenaeum, obwohl dieses Werk, wie das Werk von
vielen Frauen der Frühromantik, nur teilweise anerkannt wurde. 23 Im
Kontext des Jenaer Kreises entstand in den Jahren zwischen 1797 und 1800
Dorothea Schlegels enge Verbindung zu Friedrich Schlegel sowie der Impuls
für den Roman Florentin. 1799 wurde Friedrich Schlegels Eheroman Lucinde
veröffentlicht, welcher als Inszenierung des frühromantischen Ideals einer
Symphilosophie konzipiert wurde und unsubtile Darstellungen von
Friedrichs und Dorotheas skandalöser Affäre enthielt. 24 Kurz nach der
Veröffentlichung von Lucinde begann Dorothea Schlegel ihren eigenen
Roman zu konzipieren, welcher als Antwort auf Friedrichs Lucinde gelten
sollte. Es gibt hinreichende Gründe, Florentin als Kritik an Lucinde sowie als
Vgl. Barbara Becker-Cantarino, Schriftstellerinnen der Romantik: Epoche, Werke, Wirkung,
München 2000, 112-149.
21
Vgl. Liliane Weissberg, „Schreiben als Selbstentwurf“, Zeitschrift für Religions- und
Geistesgeschichte 47, no. 3 (1995), 243.
22
Vgl. „The Magic of Translation: Dorothea Schlegel’s ‚Geschichte des Zauberers Merlin‘“,
Pacific Coast Philology 40, no. 1 (2005), 36-56. Nach einigen Berechnungen hat sie während
dieser Zeit mehr als Friedrich geschrieben. Vgl. Liliane Weissbergs Nachwort zu Ullstein
Werkausgabe von Dorothea Schlegel, Florentin: Roman. Fragmente. Varianten, hg. v. Liliane
Weissberg, Frankfurt a. M. 1987, 222.
23
Vgl. den Rezensionsartikel zu Basilius von Ramdohrs Moralische Erzählungen in der letzten
Athenaeum Fassung: „Moralische Erzählungen von Ramdohr“, Athenaeum, Berlin 1800, Bd.
3, 238-266.
24
Vgl. Dehrmann, „Lucinde“, 171-178.
20
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BRYAN NORTON
ihren eigenen Beitrag zum frühromantischen Projekt zu betrachten, wobei
Letzteres bislang nicht ausreichend untersucht worden ist.25
Der Roman stellt die Wanderungen eines jungen italienischen Mannes
dar, der durch eine zufällige Begegnung im Wald das Leben eines deutschen
Grafs rettet. Florentin verbringt einige Wochen bei der Familie aus dem
deutschen Adelstand und befreundet sich schnell mit der Tochter Juliane
und ihrem Verlobten Eduard. Schon in den ersten Kapiteln ist ein gewisses
Versagen einer Logik der Referenz zu bemerken, die auf eine Flexibilität in
der Beziehung zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit und die Eröffnung
neuer Sinnfelder hinausdeutet.26 Der italienische Waise Florentin, der zunächst ohne Namen und nur als Reisender eingeführt wurde, wird von einer
deutschen Familie höchsten Rangs aufgenommen. 27 Der Großteil der
Erzählung spielt in den Wochen unmittelbar vor Julianes und Eduards
Hochzeit, die aus verschiedenen Gründen verschoben werden muss.
Während dieser Wartezeit machen Florentin und Eduard eine Reihe von
Ausflügen zu den nahliegenden Dörfern, wo sie sich als Charaktere aus
verschiedenen Gesellschaftsschichten verkleiden und sich auf Kosten der
Einheimischen lustig machen:
Eduard und Florentin hatten einigemal kleine Reisen im Gebirg und in
der umliegenden Gegend gemacht. In abwechselnden Verkleidungen
hatten sie die benachbarten Städtchen und Dörfer durchzogen, auf
Kirmsen, Hochzeiten, Jahrmärkten, bald als Krämer oder als Spielleute.
Manches lustige Abenteuer kam ihnen entgegen, sie wiesen keines von
sich. Wenn sie dann von ihren Wanderungen zurückkamen, hatten sie
viel zu erzählen und von den Eroberungen zu sprechen, die sie wollten
gemacht haben.28
Zu diesem Zeitpunkt ist eine gewisse Flexibilität im metaphysischen Raum
zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit zu bemerken, die aber bald eine
Obergrenze erreicht. Juliane äußert den Wunsch, an einer dieser Ausflüge
Vgl. Becker-Cantarino, Schriftstellerinnen der Romantik und Elena Pnevmonidou, „Die
Absage an das Romantische Ich: Dorothea Schlegels Florentin als Umschrift von Friedrich
Schlegels Lucinde“, German Life and Letters 58, no. 3 (2005), 271-92.
26
Adrian Daub identifiziert in der Geschichte eine „unendliche Aufschiebung von
Signifikanten […], welche familiäre Beziehungen versprechen, die nie geliefert werden.“ Vgl.
Metaphysical Unions, 172.
27
Vgl. Florentin, 11: „Mutig trabte ein Reisender den Hügel auf.“ Becker-Cantarino schreibt
von einem „Verschwimmen“ aller festen Rollen im Roman, eine These, die ich im Laufe
dieses Aufsatzes leicht korrigieren möchte. Es geht nicht per se nur um die Konstanz oder
das Instabil-werden von Rollen, sondern um die Flexibilität bzw. Inflexibilität dieser
Grenzen in einem gegebenen Sinnfeld. Vgl. Becker-Cantarino, Schriftstellerinnen der
Romantik, 141.
28
Florentin, 36.
25
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Symphilosophie 2/2020
GESCHLECHT, SINNFELD, KONTINGENZ
teilzunehmen. 29 Die Eltern reagieren ängstlich und wollen es zuerst nicht
erlauben. Sie werden letztendlich überzeugt, machen aber so viele Umstände
und geben so viele Vorschriften, „so viele Regeln und Warnungen […] daß
Juliane, ganz ängstlich gemacht, sich im Herzen vornahm, gewiß nichts zu
übertreten, und gewiß zum letztenmal eine solche Erlaubnis zu begehren.“30
Auch die Annahme einer anderen sozialen Position durch Verkleidung ist für
Juliane keine unterhaltsame Möglichkeit unter anderen, sondern die
notwendige Vorbedingung des Verlassens ihres Elternhauses. Statt als
Krämer oder Schauspieler muss sie sich als jugendlicher Mann verkleiden,
um mit den jungen Männern ausgehen zu können.31 An dieser Stelle sehen
wir nicht zum letzten Mal die Inflexibilität einer sozialen Struktur, die trotz
ihrer Kontingenz die Macht von Wirklichkeit besitzt und keine Alternative
zu diesem Zeitpunkt erlaubt.
Eine ähnliche Problematik lässt sich in der Geschichte von Florentins
Kindheit bemerken. Er stammt von einer unbenannten Insel an der
italienischen Küste und sein Vater starb kurz nach seiner Geburt. Florentins
Erziehung wird von einem strengen Benediktinerorden übernommen und er
fühlt sich von der abverlangten Gehorsamkeit im Kloster stark bedrängt.
Nach vier Jahren unter diesen strengen Bedingungen verlässt er das Kloster.
Er geht zunächst mit seinem Freund Manfredi in eine Militärschule. Aber
die Militärschule wird nur die erste von vielen Haltestellen in Florentins
„eigentlichem Reiseleben“ sein.32 Eines Tages empfängt er eine Nachricht
von seiner Schwester Felicita, die als Nonne geweiht werden soll. Er liest die
Einladung zu der Einweihung als einen versteckten Hilfeschrei und versucht
sie zu retten, aber das Komplott wird entdeckt. Florentin muss sofort
fliehen.33 Kurz bevor er geht, hat seine Mutter eine unerwartete Nachricht
für ihn. Die Schwester, die er retten wollte, ist nicht seine Blutsverwandte.
Diese Mutter ist auch nicht seine eigentliche Mutter, obwohl sie „mütterliche
Sorge für [ihn] getragen“ hat.34 Er reist nach Florenz, nach Rom und in die
Vgl. Florentin, 36: „Juliane bekam den Einfall sie einmal zu begleiten; und das nächste
Mal, daß sich die beiden jungen Männer wieder zu einer solchen abenteuerlichen Reise
anschickten, teilte sie Eduard ihren Wunsch sie zu begleiten mit.“
30
Vgl. Florentin, 36-37: „Und nun wurden noch so viele Anstalten gemacht, so viel Regeln
und Warnungen gegeben, daß Juliane, ganz ängstlich gemacht, sich im Herzen vornahm,
gewiß nichts zu übertreten, und gewiß zum letztenmal eine solche Erlaubnis zu begehren.“
31
Vgl. Florentin, 37.
32
Vgl. Florentin, 11.
33
Ähnlich wie bei Julianes Verkleidung wird hier der Unterschied zwischen Florentin und
dem Schicksal seiner Schwester (sie kann nicht anders sein) mehrmals betont. Vgl. Florentin,
63-64.
34
Vgl. Florentin, 64: „Ich bin zwar nicht deine Mutter, aber ich habe mütterliche Sorge für
dich getragen […].“
29
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BRYAN NORTON
Schweiz. Er träumt mehrmals von Amerika, statt auf seinen Hintergrund und
seine „eigentliche“ Familie fixiert zu bleiben.35
3. Geschlecht auf der Kantischen Grenzlinie: männliche Urteilskraft
und ihre romantischen Nachläufer
Während Florentin in einem breiten Sinne auf die Bewegung von einer
referentiellen Logik, die durch metaphysische Strukturen auf soziale
Verhältnissen wirkt, zu einer Eröffnung neuer Sinnfelder zielt, werden
Charaktere im Roman mehrmals mit Strukturen konfrontiert, deren
Kontingenz keine Auswirkung auf die Macht ihrer Wirklichkeit zu haben
scheint. Grenzen zwischen einer Ontologie roher Kontingenz, metaphysische Untersuchungen von Wirklichkeit und Möglichkeit und die Macht von
bestehenden sozialen Verhältnissen werden sogar in Frage gestellt und
flexibel dargestellt. Aber solche Grenzen werden in vielen Fällen nicht
eigentlich überwunden. Für jede Stelle, in der soziale Verhältnisse zu
verschwimmen scheinen, gibt es ein anderes Moment, in dem eine Charakter
mit der Festigkeit einer Rolle—mit der Inflexibilität einer Metaphysik der
Substanz, der Identität—konfrontiert wird. Diese Betrachtung gilt vor allem
für die nicht-männlichen Akteurinnen des Romans. Florentins Schwester
wird nicht gerettet. Und für Juliane ist die Annahme einer anderen Rolle kein
Spiel, sondern die notwendige Bedingung, um ihr Elternhaus verlassen zu
können. Wenn Kontingenz nach Kant als allergreifendes Medium der
Urteilskraft wirkt und die Beziehung zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit
in der Metaphysik ausmacht, wird in Florentin mehrmals hervorgehoben, dass
Fragen von Geschlecht und Geschlechterpolitik unerlässlich für solche
ontologischen Untersuchungen über die Rolle von Kontingenz in der
Urteilskraft sind.36
An dieser Stelle trifft Geschlecht das Herz des kritischen Projekts. In
einer oft übersehenen Passage in der Polemik gegen eine „skeptische
Befriedigung der mit sich selbst veruneinigten reinen Vernunft“ in der
Es wird kurz erwähnt, dass Manfredi „keine Mühe und keine Nachforschung zu sparen“
verspricht, „um etwas über [Florentins] Geburt und […] Eltern zu erfahren,“ aber der
Versuch gerät bald in Vergessenheit. Vgl. Florentin, 65.
36
Vgl. Gabriel, Transcendental Ontology, 85: „Given that our access to existence is mediated
through predicative determinations, reality is thus only available to us in judgment and
therefore only ever in the medium of contingency.“ Die Politik dieser Urteile wird oft von
Kants Kommentatoren hervorgehoben, obwohl diese expliziten Geschlechtsaspekten oft
übersehen werden. Vgl. Eckart Försters „The Hidden Plan of Nature“ in Amélie Oksenberg
Rorty und James Schmid (Hg.), Kant’s Idea for a Universal History with a Cosmopolitan Aim,
Cambridge 2009 und Hannah Arendt, Das Urteilen, München 2012.
35
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GESCHLECHT, SINNFELD, KONTINGENZ
„Transzendentalen Methodenlehre“ der ersten Kritik beschreibt Kant die
Urteilskraft als explizit männlich:
Der erste Schritt in Sachen der reinen Vernunft, der das Kindesalter
derselben auszeichnet, ist dogmatisch. Der eben genannte zweite Schritt
ist skeptisch, und zeugt von Vorsichtigkeit der durch Erfahrung
gewitzigten Urteilskraft. Nun ist aber noch ein dritter Schritt nötig, der
nur der gereiften und männlichen Urteilskraft zukömmt, welche feste
und ihre Allgemeinheit nach bewährte Maximen zum Grunde hat […].37
Es bleibt höchst unklar, wie sich die Urteilskraft in Bezug auf dieser
unerwarteten Eigenschaft männlich verhalten soll, aber es ist wichtig zu
bemerken, dass Männlichkeit an derselben Kluft zwischen Natur und
Freiheit, Transzendentalem und Empirischem wie die Urteilskraft selbst
kranken muss. Kant sagt nichts weiteres zum Thema und es bleibt unklar,
ob Männlichkeit eine bestimmende Kraft wie Ethik sein soll oder notwendigkonstitutiv wie metaphysische Überlegungen wirkt. Auf jeden Fall sollte man
zwischen den anthropologischen und transzendentalen Standpunkten
unterscheiden.
Diese Unklarheit der Urteilskraft sowie der Rolle der Geschlechter in
der Funktion von Urteilskraft führt Friedrich Schlegel zum Vorschlag einer
Wiedervereinigung der Geschlechter im Sinne einer platonischen Ehe,
welche als grundlegende nachkantische Mythologie für die Philosophie
dienen soll. „Vielleicht würde eine ganz neue Epoche der Wissenschaften
und Künste beginnen,“ schreibt er in einem Fragment „wenn die
Symphilosophie und Sympoesie so allgemein und so innig würde, daß es
nichts Seltnes mehr wäre, wenn mehre[re] sich gegenseitig ergänzende
Naturen gemeinschaftliche Werke bildeten.“38 Darüber hinaus soll diese Ehe
das höchste Desideratum der Romantik—die Überwindung der kantischen
Grenzlinie—erfüllen. An Stelle der „Kluft“39 zwischen Natur und Freiheit
Vgl. KrV A762, B 789.
Vgl. KFSA I 2, 181: Nr 125.
39
Vgl. Kant, Einleitung in die Kritik der Urteilskraft (A LII, B LIV): „Der Verstand ist a priori
gesetzgebend für die Natur als Objekt der Sinne, zu einem theoretischen Erkenntnis
derselben in einer möglichen Erfahrung. Die Vernunft ist a priori gesetzgebend für die
Freiheit und ihre eigene Kausalität, als das Übersinnliche in dem Subjekte, zu einem
unbedingt-praktischen Erkenntnis. Das Gebiet des Naturbegriffs, unter der einen, und das
des Freiheitsbegriffs, unter der anderen Gesetzgebung, sind gegen allen wechselseitigen
Einfluß, den für sich (ein jedes nach seinen Grundgesetzen) auf einander haben könnten,
durch die große Kluft, welche das Übersinnliche von den Erscheinungen trennt, gänzlich
abgesondert. Der Freiheitsbegriff bestimmt nichts in Ansehung der theoretischen Erkenntnis
der Natur; der Naturbegriff eben sowohl nichts in Ansehung der praktischen Gesetze der
Freiheit: und es ist in sofern nicht möglich, eine Brücke von einem Gebiete zu dem andern
hinüberzuschlagen.“
37
38
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feiert man hier eine überbrückende Hochzeit. Während Kant Natur und
Freiheit „gegen allen wechselseitigen Einfluß“ versichert hatte, zielt die
Romantik auf eine kombinatorische Alternative—eine progressive
Universalpoesie, die diese Erfahrungsbereiche „bald mischen, bald verschmelzen“ sollte.40 Wenn die „neue Epoche der Wissenschaft und Künste“
zu positivem Wissen für die Romantik führen soll, würde man nicht nur
männliche Urteilskraft, sondern auch ein weibliches Gegenstück brauchen.41
Friedrich Schlegels fragmentarischer Roman Lucinde gilt als
Inszenierung dieser metaphysischen Ehe, die Metaphysik sogar als Ehe
inszeniert. Hier handelt es sich nicht mehr um eine allein agierende
Urteilskraft, die als Männlichkeit funktioniert, sondern um die Notwendigkeit eines sexuellen Unterschieds innerhalb der Urteilskraft selber. Es soll
„eigentlich nur zwei Stände unter den Menschen geben,“ schreibt der
Protagonist Julius an seiner Frau – die bildende Männlichkeit und die
gebildete Weiblichkeit. 42 „Was ist denn aber das Bestimmende oder das
Bestimmte selbst?“, sinnt der Erzähler weiter nach. „In der Männlichkeit ist
es das Namenlose. Und was ist das Namenlose in der Weiblichkeit? – das
Unbestimmte.“43 Obwohl auf den ersten Blick die Weiblichkeit die Funktion
einer rohen Kontingenz anzunehmen scheint, die das höchste ontologische
Niveau markiert, taucht in letzter Instanz nicht die Kontingenz der
Weiblichkeit, sondern die Notwendigkeit dieser Weiblichkeit auf, die sich
selbst nur als Gegenstück zum Männlichen verstehen muss. Die gesetzgebende Kraft dieser binären Ausdifferenzierung ist auch an der Figur
Wilhelmine zu beobachten. Obwohl die Figur zuerst als unbestimmtes,
androgynes Kind in der Erzählung gefeiert wird, gewinnt sie im Laufe der
Erzählung mehr geschlechtsspezifische Merkmale. 44 Es gibt keinen dritten
Weg, der die Metaphysik der Ehe selbst kontingent machen könnte.
KFSA I 2, 181: Nr 116.
Vgl. Beiser, German Idealism: The Struggle against Subjectivism. Diese Idee von Ehe und
einem notwendigen binären Geschlechtsunterschied in der Natur, der organisches
Wachstum und Reproduktion vorantriebt, war seit Linné Teil des naturphilosophischen
Diskurses. Vgl. Wilhelm von Humboldts 1795 Aufsatz „Über den Geschlechtsunterschied
und dessen Einfluss auf die organische Natur“ in Die Horen, Tübingen 1795, Bd. II, 99-132
und Goethes morphologische Schriften. Vgl. Bryan Klausmeyer, „Abschlussbewegungen:
Goethe, Freud, and Spectral Forms of Life“, Goethe Yearbook 26, no. 1 (2019).
42
Vgl. KFSA I 5: 62.
43
Vgl. KFSA I 5: 71.
44
Vgl. „Die Charakteristik der kleinen Wilhelmine“ in Lucinde, KFSA I 5, 13-15, dazu
Daub, Uncivil Unions, 168: „Julius is so caught up in the notion of unification through sex
that he reflexively ‘determines’ the product of that unification“ und das Kapitel zu Friedrich
Schlegel: ,,Androgynous Chaos—Androgynous Stasis“ in Catriona MacLeod, Embodying
Ambiguity: Androgyny and Aesthetics from Winckelmann to Keller, Detroit 1998, 66-90.
40
41
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GESCHLECHT, SINNFELD, KONTINGENZ
4. Die Unhintergehbarkeit von Körpern
In Vergleich zu Lucinde ist in Dorothea Schlegels Roman Florentin eine
mögliche Alternative zu finden, wobei ein einfacher, binärer Geschlechtsunterschied als kontingent präsentiert wird. Schon am Anfang des Romans
tritt Florentin in einer Landschaft auf, die ihren „Vermählungstag“ feiert:
Es war an einem der ersten schönen Frühlingsmorgen. Allenthalben, auf
Feldern, auf Wiesen und im Wald, waren noch Spuren des vergangnen
Winters sichtbar, und der Härte, womit er lange gewütet: noch einmal
hatte er mächtig im Sturm seine Schwingen geschüttelt, aber es war zum
letztenmal. Die Wolken waren vertrieben vom Sturm, die Sonne
durchgebrochen, und eine laue milde Wärme durchströmte die Luft.
Junge Grasspitzen drängten sich hervor, Veilchen und süße
Schlüsselblumen erhoben furchtsam ihre Köpfchen, die Erde war der
Fesseln entledigt, und feierte ihren Vermählungstag.45
Florentin fühlt sich entfremdet von diesem Naturbild, das seit Linné als
organische Ehe inszeniert wird.46 Er ist ledig und reist allein. Aber statt zu
heiraten reist er am Ende des Romans einfach weiter. Dieser Schluss
inszeniert eine Ausdifferenzierung des romantischen Absoluten—der
Natur—die auf einer höheren Ordnung als Friedrich Schlegels Metaphysik
der Ehe wirkt, weil Ehe selbst nur eine Möglichkeit unter anderen darbietet.
Wenn die Vielzahl heterogener Erscheinungen auf der Welt nicht mit derart
metaphysischer Skepsis begegnet werden soll, die auf eine Trennung von
Sein und Schein insistiert, muss nicht nur der Geschlechtsunterschied im
Sinne von einem binären Unterschied zwischen zwei Geschlechtern
überwunden werden. Diese Differenz muss selbst als etwas Kontingentes
gezeigt werden.
Zum Schluss möchte ich kurz zur Kernthematik der Sinnfeldontologie
und derer Auseinandersetzung mit Objekten zurückkehren, die mit diesem
in Florentin gewonnenen Verständnis von Kontingenz eng verbunden bleibt.
Ontologie wird in letzter Instanz als kontingent gezeigt, aber auf Kosten eines
Florentin, 11.
Vgl. Linnés Systema naturae und Londa Schiebinger, ,,Why Mammals Are Called
Mammals: Gender Politics in Eighteenth-Century Natural History“, The American Historical
Review 98, no. 2 (1993), 382-411. Florentin, 11: „Sei meine Reise wie mein Leben und wie
die ganze Natur, unaufhaltsam vorwärts! … Was mir nur begegnen wird auf dieser
Lebensreise, oder diesem Reiseleben? Ich rühme mich ein freier Mensch zu sein, und dieser
Sonnenschein, dieses laue Umfangen, die jungen Knospen, das Erwarten der Dinge, die
mich umgeben, ist schuld, daß auch ich erwarte… und was? … War mir doch mit allem
bunten Spielzeug schon längst Hoffnung und Erwartung entflohen!... Närrisch genug wäre
es, wenn mich dieser Weg auch endlich an den rechten Ort führte, wie alles Leben zum
unvermeidlichen Ziel.“
45
46
Symphilosophie 2/2020
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BRYAN NORTON
grundlegenden Aspektes von Gabriels Ansicht des nachkantischen
transzendentalen Idealismus – des Transzendentalen selbst. Statt Geist tritt
eine heterogene Vielzahl von Körpern als der privilegierte Ort für Ontologie
auf, als locus, an dem Fragen über Wirklichkeit, Möglichkeit und die
Kontingenz dieser Beziehung mehrfach gestellt, entschieden, und neu
gestellt werden. Ontologie hängt nicht mehr von der Unhintergehbarkeit des
Geistes, sondern von der Unhintergehbarkeit der Körper ab, die allein in der
Lage sind, ontologische Betrachtungen in Verbindung mit Metaphysik und
sozialen Verhältnissen zu setzen. Diese Unhintergehbarkeit der Körper in
Fragen zu Kontingenz wird vor allem in einer Geistergeschichte gezeigt, die
nicht von Florentin, sondern von Juliane in Dorothea Schlegels Roman
erzählt wird. 47 Während des oben erwähnten Ausflugs mit Florentin und
Eduard, in dem die drei in einem Sturm geraten werden und in einer Mühle
übernachten müssen, erzählt Juliane die Geschichte einer jungen Frau, die
schwanger werden muss, damit ihr Mann ein wertvolles Gut erben kann.
Nach einer Weile wird klar, dass etwas nicht funktioniert. Kein Kind kommt
und die Frau versucht alles, um diese Lage zu ändern. Sie kauft Fetische,
macht Pilgerreisen und besucht diverse Ärzte, aber alles umsonst. Sie sorgt
sich um ihre Ehe und schwört eines Tages einen verzweifelten Eid. Wenn sie
im nächsten Jahr nicht schwanger wird, dann wird sie ihren Mann verlassen
und den Rest ihres Lebens in einem Kloster verbringen. Kurz danach passiert
etwas Merkwürdiges: sie beginnt die Erscheinung eines Kindes zu sehen, was
zunächst nur größere Sorge um ihren Zustand verursacht. Das Kind
erscheint überall in ihrem Zimmer, draußen im Garten, wo es vor ihr spielt
und lacht, aber niemand außer der jungen Frau ist in der Lage, dieses Kind
zu sehen.48 Sie muss die Erscheinung ausführlich beschreiben, um andere zu
überzeugen, dass sie „wirklich sähe, was sie zu sehen vorgab“:
Es schien ihr in einem Alter von drei Jahren, trug ein leichtes weißes
Gewand, Arme und Füße waren nackt, um den Leib hatte es einen
blauen Gürtel von hellglänzendem Zeuge, dessen Enden hinter ihm
niederflatterten. Das Köpfchen sei mit himmlischen blonden Locken,
wie mit den zartesten Strahlen umgeben, das mit den kindlichen
Wangen, dem frischen Munde und den lachenden blauen Augen wie
ein wundersüßes Engelsköpfchen aussehe. Das ganze Figürchen
umschwebe hinreißende Anmut; kurz, sie beschrieb es so umständlich,
Diese mise en abyme lässt sich auch als Inszenierung Dorothea Schlegels eigener Position
in der Romantik verstehen.
48
Vgl. Florentin, 99.
47
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GESCHLECHT, SINNFELD, KONTINGENZ
daß man gar nicht mehr zweifeln durfte, sie sähe es in der Tat vor sich
[...].49
Aber im Vergleich zu Kants Behandlung solcher Ereignisse wird die
Erscheinung nicht als Schwärmerei, sondern als real behandelt—und ganz in
einem körperlichen Sinne. Neun Monate später bringt die junge Frau ein
Kind zur Welt, und die Erscheinung ist nicht mehr zu sehen.50 Auch wenn
es als Halluzination gelten könnte, wird durch einen Geist in letzter Instanz
auf einen Körper zurückverwiesen, der die strengsten Bedingungen einer
nachkantischen Urteilskraft erfüllt. Sie verbindet, sie trennt und sie schöpft
etwas Neues, Unvorhersehbares, und höchst Kontingentes—ein kleines
Mädchen:
Nach einiger Zeit ereignete sich etwas, welches das Wunderbare dieser
Erscheinung zugleich erklärte und vergrößerte. Die Marquise fühlte
nämlich deutliche Zeichen, daß sie guter Hoffnung sei […] Neun
Monate nach dem Tage der ersten Erscheinung ward sie glücklich von
einer Tochter entbunden. Während ihrer Niederkunft sah sie die
Erscheinung an ihrem Lager unbeweglich stehen, in dem Augenblick
aber, daß ihr Kind zur Welt kam, war jene verschwunden, und sie hat
sie niemals wiedergesehen.51
Florentin, 99.
Vgl. „Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik“ in Immanuel
Kant, Werke in zwölf Bänden, Frankfurt a. M. 1977, 923-989. Dazu Jeremiah Alberg, „What
Dreams May Come: Kant’s Träume eines Geistersehers Elucidated by the Dreams of a
Coquette“, Kant-Studien 106, no. 2 (June 28, 2015), 169-200. Adrian Daub hat auch die
Verwirrung bemerkt, die das System-Subjekt an dieser Erfahrung erleiden müsste. Vgl.
Metaphysics of Marriage, 176: „The figure of the ghost child that is lacking precisely in
causation casts into confusion the autotelic subject-work of Lucinde.“
51
Florentin, 101.
49
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