Dichten gegen das Vergessen: Lyrikerinnen aus zwei Jahrtausenden
Von Denise Buser
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Über dieses E-Book
Ein aussergewöhnliches, eindrückliches Buch, das zu mehr Weiblichkeit im literarischen Kanon einlädt.
Mit Beiträgen über und Gedichten von al-Khansā (7. Jh.), Comtessa Beatriz de Dia (12. Jh.), Vittoria Colonna (1490/92–1547), Sibylla Schwarz (1621–1638), Anna Louisa Karsch (1722–1791), Akiko Yosano (1878–1942), Gabriela Mistral (1889–1957), Gertrud Kolmar (1894–1943), Helene Bossert (1907–1999), Lenore Kandel (1932–2009), Audre Lorde (1934–1992), Alejandra Pizarnik (1936–1972).
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Buchvorschau
Dichten gegen das Vergessen - Denise Buser
Inhalt
Cover
Impressum
Titel
Vorwort
Die Frau und die Füchsin
Ein tödlicher Schluck Wasser
König und Karschin
Miss Gabi!
Ein Leben im Plural
Vittoria, Michelangelo und ich, der Protokollant von San Silvestro
Zärtliches F...
Der gereimte Flirt
Schlafzimmerhaar
Verhängnisvolle Reise
Das Bordell für Künstlerinnen
Geliebter Bruder
Epilog
Anhang I: Lebensdaten und Herkunft
Anhang II: Gedichtauswahl
Al-Khansāʾ
Comtessa Beatriz de Dia
Vittoria Colonna
Sibylla Schwarz
Anna Louisa Karsch
Akiko Yosano
Gabriela Mistral
Gertrud Kolmar
Helene Bossert
Lenore Kandel
Audre Lorde
Alejandra Pizarnik
Über die Autorin
Über das Buch
Denise Buser
Dichten gegen das Vergessen
Autorin und Verlag danken für die Unterstützung:
emptyDer Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.
© 2023 Zytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Alisa Charté
Korrektorat: Dr. Anja Rebhann
Umschlagbild: John William Godward
Umschlaggestaltung: Hug & Eberlein, Leipzig
eBook-Produktion: 3w+p, Rimpar
ISBN eBook: 978-3-7296-2414-6
www.zytglogge.ch
Denise Buser
Dichten gegen das Vergessen
Lyrikerinnen aus zwei Jahrtausenden
emptyVorwort
Sappho, geboren auf der Insel Lesbos um das Jahr 630 v. Chr., war die Einzige, die an ihren ewigen Nachruhm glaubte. Fast alle anderen Dichterinnen rechneten mit dem Vergessenwerden. Die Karschin, einstige Kuhhirtin und später gefeierte Dichterin in Berlin, antwortete auf die Frage einer ihrer Unterstützerinnen, ob sie wegen des Ruhms schreibe:
Noch ehe sich an mir die Würmer satt gefressen,
Dann, Frau, hat schon die Welt mich und mein Buch vergessen.¹
Vielleicht hängt das größere Selbstbewusstsein Sapphos mit ihrer Herkunft zusammen. Sie stammte aus einer aristokratischen Familie, während Anna Louisa Karsch zeitlebens auf die Feuerholzspenden und die Mittagstische reicher Förderer angewiesen blieb. Das schönste Ergebnis meiner Begegnungen mit den Dichterinnen und ihrem Werk ist allerdings: Sie sind keineswegs vergessen. Wo immer ich nach ihnen suchte – an Orten, wo sie einst lebten, in Bibliotheken und Archiven –, wurde ich fündig.
Inspirierend war das Arbeiten in einem denkmalgeschützten Jugendstil-Kaufhaus, in dem das Privatarchiv der Dichterin Helene Bossert lagerte, deren bitteres Schicksal so gnadenlos mit der friedlichen Stimmung des Ortes kontrastierte. Das Eintauchen in das Werk und die Wirkungsgeschichte eröffneten mir faszinierende Zwischenräume, in denen die Dichterinnen wieder lebendig wurden. Lange blieb ich dort, bis ich ihre Stimmen vernahm: Ja, sie sprachen zu mir. Die Dichterinnen sprachen durch die Gedichte zu mir! Neben aller Zeitgebundenheit und den Unterschieden der Lebensumstände dringt die Schönheit ihrer Lyrik bis in die Gegenwart vor. Weil sie etwas von ihrem Leid und ihren Leidenschaften verrät? Spielt die spezielle Verdichtung der Lyrik eine Rolle, die den Dichterinnen einen kleinen, aber großartigen Freiraum verschaffte – zwischen allen Pflichten, im Haus, in der Fürsorge für andere? Wer wenige Freiräume hat, lernt diese besonders gut zu nutzen. Ich möchte es eine Tradition der Freistatt nennen oder ein geheimes Wissen um die Macht, aus wenigen Worten viel zu machen. So viel, dass das Licht ihrer Worte noch immer leuchtet, die Lyrik noch immer nachklingt.
Alle zwölf Dichterinnen und ihre Urmutter aus Lesbos sind durch die Ungewöhnlichkeit ihrer Biografien miteinander verbunden. Berührt und bei der Auswahl geleitet hat mich auch, welch große Bedeutung sie der Lyrik in ihrem Leben einräumten. Oft mussten sie diese Entscheidung gegen gesellschaftliche Konventionen, joviales Belächeltwerden oder sogar in einem lebensbedrohlichen Kontext durchsetzen.
Die arabische Dichterin al-Khansāʾ aus dem 7. (nachchristlichen) Jahrhundert lebte in einer von Wüsten umringten Oase in der Nähe von Medina. Mit großem Erfolg trat sie zu öffentlichen Lyrikwettstreiten an. Ihre zahlreichen Trauergedichte wurden rund hundert Jahre nach ihrem Tod von arabischen Schriftgelehrten in einem Diwan (Sammlung) aufgeschrieben.
In der provenzalischen Liebesdichtung gab es auch weibliche Troubadours, sogenannte Trobairitz. Dies hat – nicht zuerst –, aber in wissenschaftlich fundierter Art die moderne, gendersensible Forschung nachgewiesen. Die bekannteste Trobairitz war die Comtessa Beatriz de Dia (spätes 12. Jh.), die in ihren Liedern dem Begehren Raum gab – und darin ihren männlichen Kollegen in nichts nachstand.
Das lyrische Werk der Renaissancedichterin Vittoria Colonna (1490/92–1547) erschien zu ihren Lebzeiten in zahlreichen Raubdrucken. Nach ihren gefeierten Liebesgedichten schrieb sie spirituelle Lyrik. Zu ihrem engsten Bekanntenkreis gehörten Michelangelo und die Papstkritiker ihrer Zeit.
In einer von todbringendem Terror geprägten Welt versuchte Sibylla Schwarz (1621–1638) ihre Passion für die Lyrik zu verteidigen. Ihre gesamte Lebensdauer fiel in den Dreißigjährigen Krieg. Sie wurde nur siebzehn Jahre alt und schrieb bis zur letzten Minute.
Ein Auf und Ab stellt das Dichterinnenleben der ehemaligen Kuhhirtin Anna Louisa Karsch (1722–1791) dar, die Friedrich den Großen – vergeblich – um eine Lebensrente bat. An seine Stelle trat der Domsekretär und Dichter Johann Wilhelm Ludwig Gleim, der ihren ersten Gedichtband herausgab. Damit verfügte sie über einen minimalen Lebensunterhalt, um als alleinerziehende Mutter und Dichterin existieren zu können.
Die Dichterin Akiko Yosano (1878–1942) aus Japan brachte dreizehn Kinder zur Welt und es gelang ihr trotz der verantwortungsvollen Familienarbeit, die erstarrte japanische Lyrik zu erneuern und mit einem persönlichen, emotionalen Ton zu versehen.
Im Schicksalsjahr 1945 wurde der Nobelpreis für Literatur der chilenischen Dichterin Gabriela Mistral (1889–1957) verliehen. Ihr Lebensweg war das wahr gewordene Märchen einer Dorfschülerin aus ärmlichen Verhältnissen, die es zur gefeierten Dichterin und Diplomatin brachte. Dabei musste vor allem ihr Liebesleben verborgen bleiben.
Den schlimmsten Terror hatte Gertrud Kolmar (1894–1943) zu ertragen. Sie verpasste die Flucht vor dem Holocaust, weil sie ihren alten Vater nicht allein in Berlin zurücklassen wollte. Als sie wenige Jahre vor ihrer Ermordung durch die Nazis Zwangsarbeit verrichten musste, zerbrach ihre lyrische Feder. Die Fähigkeit zu lieben konnte sie sich bis zuletzt bewahren.
Die schweizerische Mundartdichterin Helene Bossert (1907–1999) wurde wegen einer Russlandreise während des Kalten Kriegs zur öffentlichen Unperson. Sie musste deswegen in den besten Lebensjahren einen Bruch ihrer dichterischen Laufbahn hinnehmen. In ihrem Nachlass befinden sich viele unveröffentlichte Gedichte.
Wegen Obszönität wurde der amerikanischen Hippie-Dichterin Lenore Kandel (1932–2009) der Prozess gemacht. Durch alle Gerichtsinstanzen hindurch musste sie sich das Recht erstreiten, das Wort «Schwanz» («cock») in einem Gedicht verwenden zu dürfen. In anderen Gedichten nimmt sie die Queerness vorweg und spricht die «freakische» Natur in uns an.
Fast alle der Dichterinnen mussten die Barrieren der Rollenstereotype ihrer Epoche überwinden und neue Autorinnen-Perspektiven entwickeln. Diese Aufgabe stellte sich für die afroamerikanische Dichterin und Aktivistin Audre Lorde (1934–1992) nicht nur am Rand. Sie verstand sich als lesbische, feministische, schwarze Intellektuelle und befasste sich mit der individuellen Selbstermächtigung, die aber so weit gedacht wurde, dass sie auch Geltung für ihre Schicksalsgenossinnen hatte.
Alejandra Pizarnik (1936–1972) aus Buenos Aires konnte sich aus ihrer «tödlichen Einsamkeit»² nur mit einer Überdosis Schlaftabletten erlösen. Da war ihr dichterisches Werk schon international bekannt. Ein Werk, das mit funkelnder Lyrik die Qualen der Angst beschreibt – nicht vor dem Tod, sondern vor dem Leben.
Die folgenden zwölf Geschichten sind keine Kurzbiografien, sondern erzählen von den möglichen Wendepunkten im Leben der Dichterinnen. Auch wenn es nach einem Widerspruch klingt, denke ich, dass die fiktionale Erzählung die wahre Dichterin besser hervortreten lässt. Das setzt zwar eine intensive Recherche über die jeweilige Persönlichkeit sowie ein Eintauchen in ihre Gedichtwelt voraus, dann aber folgt das «désapprendre», wie es Picasso einst beschrieb.³ Das Leben der Dichterin und ihre Liebe zur Lyrik will erzählt und nicht in bloßen Lebensdaten oder Dokumenten ausgedrückt werden.
Mein Zugang zu den Dichterinnen erfolgte über ihr Werk. Als meine Mutter starb, habe ich al-Khansās Trauergedichte gelesen, eins nach dem anderen, tagelang und in einem Zug. Plötzlich waren Jahrhunderte, geografische und kulturelle Kontexte unwichtig und nur noch die Sprache der Trauer hörbar. Eine Essenz der Trauer, universal verständlich, ohne weitere Erklärung begreifbar. Normalerweise muss man keinen Liebeskummer haben, um Liebesgedichte zu verstehen. Es trifft aber sicher zu, dass sich die mehrschichtige Welt von Gedichten erst vollständig öffnet, wenn man nicht nur ein einzelnes Gedicht herauspflückt, sondern in den lyrischen Fluss eines ganzen Werks eintaucht. Wer einen Gedichtband vom Anfang bis zum Ende liest, fast wie eine große Erzählung, vernimmt plötzlich die Stimme der Lyrikerin. Ein berührendes Erlebnis, das einer Verschmelzung von Vergangenheit und Gegenwart gleichkommt: Die Dichterin spricht jetzt zu dir.
Der Epilog besteht aus einem fiktiven Brief an die lyrische Urmutter Sappho. Sie hat vor mehr als 2000 Jahren gelebt, aber sie ist noch immer weltberühmt, obwohl ihre Gedichte fast alle verloren sind. Doch die Wissenschaft gibt nicht auf und versucht unermüdlich, das Verschollene zu finden, zu sichten und zusammenzuführen. Für dieses Buch habe ich Gedichtsammlungen benutzt, die aus der Zeit der arabischen Diwane bis zu den modernen Editionen mit dem neuesten Forschungsstand reichen. Die Sorgfalt und Pflege, die diese Editor*innen einem Gedichtwerk angedeihen lassen, die Mühen der Übersetzung, die sie auf sich nehmen, haben mich berührt und bei der Arbeit an diesem Buch inspiriert. Die Reihenfolge der Erzählungen folgt nicht der Chronologie der Lebensdaten, sondern ist ein assoziativer Reigen. Die Lyrik ist zeitlos.
Endnoten
¹Die zwei letzten Zeilen aus dem Gedicht Ob Sappho für den Ruhm schreibt? ; siehe das gesamte Gedicht im Anhang.
²Zitat aus: Die Besessenen im Flieder IV ( Los poseídos entre lilas IV ), in: Alejandra Pizarnik, Cenizas ( Asche, Asche ), Spanisch und Deutsch, herausgegeben und übertragen von Juana und Tobias Burghardt, Zürich 2002, S. 385.
³«Apprendre vraiment, c'est toujours désapprendre , pour rompre avec ce qui nous bloque, nous enferme et nous aliène.» – Wirklich lernen heißt immer auch verlernen, um mit dem zu brechen, was uns blockiert, einschließt und entfremdet. (Picasso zugeschriebenes Zitat)
Die Frau und die Füchsin
Es ist früh am Morgen, die Nacht zieht sich langsam zurück. Eine Füchsin tänzelt durch den tief verschneiten Wald. Hinter jedem Baum ein Versprechen, ein verirrtes Rebhuhn oder mäusische Geruchsfetzen, verfangen in den Eiskristallen am Boden. Sie wird den Hunger stillen, auch jetzt im Winter. Anderswo wütet eine Welt, von der sie nichts weiß. Hier herrscht weiße Stille, Schutz, Schönheit, eine Ahnung vom nahenden Tag; die aufgehende Wintersonne wird mit Eisblumen ringen. Rote Hagebutten an kahlen Ästen werden der Kälte eine zärtliche Note geben. Die Füchsin ahnt, dass ihr Reich ein Wunder ist, ein Paradies, ein Waldfrieden. Am Saum ihres Reviers, das sie selten verlässt, erhebt sich eine Anhöhe, auf der ein paar alte Villen stehen, ringsherum große, ausladende Rotbuchen und himmelwärts ragende, malerisch gekrümmte Kiefern.
Zur selben Stunde ist die Frau in der Stadt weit ab von diesem Wald unterwegs. Schon kurz nach vier Uhr ist sie aufgestanden, so leise wie möglich, um niemanden zu wecken. Viele sind es nicht mehr in der Wohnung, nur noch zwei Mitmieter. Auch der alte Vater ist nicht mehr da. Aus gewohnter Rücksicht steigt sie dennoch sachte aus dem Bett, bereitet still ihren Ausgang vor, die Stullen, denn sie wird erst spätabends heimkehren. Kein Frühstück jetzt, es dauerte zu lang. Denn die halbe Stunde, die noch bleibt, ist heilig. Es ist das, was ihr an Kostbarkeit geblieben ist, die heilige halbe Stunde, die Zinsen trägt! Ein Brief an die Schwester in der sicheren Schweiz, die schon so viele Antworten und dringende Bitten geschickt hat, sie solle ebenfalls abreisen, am besten sofort. Aber die Frau ist reich, reich an Kraft, an Seelenstärke. Sie kann einiges aushalten. Mir hilft das innere Licht, schreibt sie, und nie vergesse ich, es jeden Morgen anzuzünden. Die Frau staunt, wie leicht ihr das frühe Aufstehen fällt, geschuldet nur dem pünktlichen Eintritt in die Fabrik, der Fußmarsch von einer Stunde dorthin, wie das möglich ist. Um sechs Uhr morgens, sie ist nun mitten auf dem Weg, liegt die Stadt noch still und dunkel da. Die Winterkälte ist dieselbe, die auch die Füchsin spürt. Die Frau kennt die Füchsin. Sie hat sie früher, als sie noch in der Villa am Waldrand lebte, weit hinten zwischen Birken gesehen, wenn sie den Barsoi, den großen Windhund, ausführte, morgens, wenn alles in der Villa noch schlief, die kranke Mutter, der Vater und die langjährige Aufwartefrau. Die Geschwister hatten sich längst in Sicherheit gebracht.
Die Frau hat sich in den Fabrikarbeiter verliebt. Aber er ist gar kein Fabrikarbeiter, sondern Medizinstudent, und sie ist keine Fabrikarbeiterin, sondern Lyrikerin, Dolmetscherin und Kindererzieherin. Sie müssen so tun, als wären sie Fabrikarbeiter. Denn alles andere entspricht den Tatsachen. Die Maschinen, an denen sie arbeiten, sind echt, in der Kartonageverarbeitung, in großen Lagerhallen, Pappe und Papierabfall türmen sich auf, Zellulose gärt in stinkenden Brühen, gefährliche Schneidevorrichtungen und Pressen müssen von ihr bedient und von ihm instand gehalten werden. Einmal schneidet sie sich tief in den Finger. Blut spritzt und gellender Schmerz. Er verarztet sie notdürftig, er ist ja Medizinstudent, wird nur gezwungen, Fabrikarbeiter zu sein, wie sie. Und sie haben sich tatsächlich in der Fabrik kennengelernt.
Die Füchsin hat eine erfrorene Kröte am Rand eines Tümpels entdeckt, die sie verschlingt und in ihrem Magen bestattet. Bald bricht der Tag an. Das Tier ist müde vom nächtlichen Streifzug. Die geschlossene Schneedecke wird noch wochenlang kalt vor sich hin glitzern. Die Füchsin will schlafen. Im wohlig abgedunkelten Bau unter der Erde, wo alles außer ihr in Totenstarre verharrt, die Krume, die Larven, Gerippe längst verstorbener Mäuse. In Nachbarhöhlen schlummern Siebenschläfer, Eidechsen, Igel.
Während die Füchsin im Wald in ihrem Erdloch verschwindet, hat die Frau zur gleichen Zeit das Ende der Straße erreicht. Bald bricht der Tag an. Die vom Schnee eingehüllte Stadt erwacht nur zögerlich. Die Frau dreht sich um. Immer an dieser Stelle auf dem Weg in die Fabrik dreht sie sich um, bevor sie abbiegt. Der Blick auf die Backsteinkirche am Ende der Straße löst jedes Mal die Erinnerung an Frühlingserwachen aus, weil im Frühling die Ansicht vom Purpurrausch der Magnolienblüte eingerahmt wird. Auch jetzt, mit den schneebedeckten Astrispen im Bildausschnitt, ist ihr die Szenerie lieb. Der neugotische Bau wirkt herb, die braunroten Backsteine mildern die Sprödigkeit der Architektur. Die Aura des Unerschütterlichen kann sich entfalten. Es kommt ihr vor, als ob die ihr zugewandte Stirnfassade mit dem großen Portal und den Zwillingsfenstern atmet und immer atmen wird, komme, was wolle. Einen Gottesdienst wird sie nicht besuchen. Im Land der Füchsin gibt es nicht einmal eine Synagoge. Es könnte sein, dass sie im eigenen Tempel wohnt, und im Tempel brennt ein Licht, das sie jeden Morgen anzündet. Die Magnolie ist real, auch wenn sie nur kurz im Frühjahr blüht und jetzt im Winter nur in der Vorstellung weiß und purpurn aufbricht und das Herz erfreut. Man kann alles herüberretten, wenn das Licht der Vergangenheit immer wieder erglimmt und man sich davon bezaubern lässt.
Der Barsoi in der Villa brauchte viel Auslauf. Ein Morgenspaziergang genügte nicht. Wenn sie am frühen Nachmittag mit der ausgetobten Hündin zurückkam, ging sie in ihr Zimmer und zog die Vorhänge zu. Auf dem Bett ruhend lauschte sie ihren Gedanken nach. Gedanken wie halbfertige Gedichte. Bilderbögen, zyklische Abläufe, Seegeister, Wale, Verwandlungen und Du. Dich wollt' ich vom Himmel mir krallen, Reißen tief in mein Leben hinein.⁴ Alles spielt sich direkt vor ihrem Auge ab. Sie muss es anschließend nur noch notieren. Es ist Zeit zum Schreiben da, neben kürzeren Berufsphasen und der langjährigen Pflege der Mutter im Elternhaus, wo sie fortan bleibt.
Denn es werden andere Tage kommen, an denen sie jeden Morgen um vier Uhr oder abends nach endloser Plackerei in der Fabrik noch ihre Strümpfe stopfen, ihre Wäsche flicken muss. Aber jetzt, in ihrem ruhigen Zimmer im großen Waldhaus, ist dieses noch Zufluchtsort, um Wortwelten, Meeresburgen mit Wortstrebebögen, mit Worttragebalken zu bauen. Ein Kosmos, unzerstörbar, verwahrt in Manuskripten, ausgehändigt an befreundete Botinnen mit gesicherter Existenz. Die Frau weiß, dass sie das Dichterinnen-Gen hat. Es verschafft ihr kurze, jähe Glücksmomente, ganz so, wie sich Glück anfühlt: abruptexplosiv, dann dem Zurückfließen einer Welle ähnlich.
Die Mergui-Inseln sind Laich.
Hingesamt vor den Schenkel des Frosches,
Der, blaues Birma, gelbes Siam, grünes Annam,
Hockt und rudert, den Schwimmfuß Malakka in chinesische Fluten stößt.⁵