JCSW 45 (2004): 081–108, Quelle: www.jcsw.de
MANFRED
PRISCHING
Gesellschaftsmodelle
Konstruktionen
der Ökonomen.
des Wirtschaftens
im globalen Zeitalter
Es gibt, gerade wenn es um komplexere gesellschaftliche Sachverhalte
geht, keinen naiven Zugang zur Wirklichkeit.! Auch das Gegenstück zu
einem solchen Vulgärempirismus ist falsch: die Vorstellung, dass sozialwissenschaftliche Hypothesen freischwebende intellektuelle Konstruktionen sind.2 Die Wahrheit liegt - natürlich - in der Mitte: Sozialwissenschaftliehe Arbeiten sind von Gesellschaftsbildern, von Modellen der
Wirklichkeit, abhängig, und diese befinden sich in einer mehr oder minder losen Beziehung zur äußeren Realität. Es gibt eine Wirklichkeit, die
sich nicht beliebig >verbiegen<lässt; es gibt aber immer auch >konstruktive<Akte bei der Annäherung an sie oder bei den Versuchen zu ihrer
Erkenntnis.3
Solche Modelle, welche die Beschaffenheit der Welt in ihren ökonomischen Konturen nachzeichnen, gibt es im spezialisierten Diskurs der
Wirtschaftstheoretiker;4 darüber hinaus bestimmen sie in Form diffuser
wirtschafts kultureller Orientierungen auch das Handeln aller Menschen. Und natürlich hängen die beiden Bereiche - zumindest lose - zusammen. joseph Schumpeter hat von voranalytischen Erkenntnisakten
Von der Art: Die Aussagen der empirischen Forschung korrespondieren unmittelbar
mit der Realität, und wenn man ein paar zusätzliche Projekte durchführen kann, dann
erkundet man endlich die ganze Wahrheit - also eine Beziehung im Sinne einer naiven
Korrespondenztheorie.
2 Von der Art: Die Wirklichkeit entsteht in den Köpfen, und es lässt sich zeigen, dass es
keinerlei intersubjektive Standards der Adäquatheit oder der Wirklichkeitsentsprechung gibt - also eine Beziehung im Sinne postmodern-konstruktivistischer Vorstellungen.
] Vgl. Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt/M. 1980.
4 Nicht aus Nachlässigkeit, sondern aus Gründen der Sprachästhetik wird jenen Gepflogenheiten Rechnung getragen, die dem männlichen Geschlecht einen gewissen Vorzug
bei sprachlichen Formulierungen einräumen; hier sind natürlich, Wirtschaftstheoretikerinnen und Wirtschaftstheoretiker< gemeint, ebenso an entsprechenden Stellen.
I
83
gesprochen, die er >Visionen< nannte: »Es ist bemerkenswert,
daß in jeder Wissenschaft eine derartige Vision nicht nur zeitlich dem Einsatz
analytischer Arbeit vorangehen muß, sondern daß diese Vision auch in
den Werdegang jeder bereits abgerundeten Wissenschaft immer wieder
von neuem einbrechen kann, sobald irgendjemand uns lehrt, die Dinge
in einem Lichte zu sehen, das seine Quelle weder in den Fakten noch in
den Methoden und Ergebnissen des voraufgegangenen Standes der Wissenschaft hat.«5 Es geht um >Perspektiven< oder >Perspektivierungen<,
um >Interpretationsrahmen<
oder frameworks, um >Sichtfelddimensionierungen<6 oder stylized facts, um >Grundmodelle< oder >Paradigmen<,
um >Relevanzstrukturen<, um >Denkstile< und >Weltsichten/ oder dergleichen. Max Weber würde sagen, es gehe darum, aus der Wirklichkeit
In
Gegenstände
nach ihrer >Kulturbedeutsamkeit<
herauszuschälen.8
diesen Vorgang gehen auch persönliche Erfahrungen und Eindrücke ein,
die man nach Tunlichkeit >objektivieren< muss; Wertauffassungen,
die
man so gut wie möglich aus der wissenschaftlichen Arbeit zu verbannen
sucht; biographische
Besonderheiten,
institutionelle
Zugehörigkeiten
und Sozialisierungsprozesse
des Beobachters; auch ein wenig >Zeitgeist<.
Wissenschaftliche
Arbeit ist immer - durch individuelle und kollektive
Einflüsse - kontaminiert von derlei Imponderabilien;
aber erst auf der
Grundlage einer solchen Vision, einer >Weltdeutung<, eines >Gesellschaftsbildes< ist in der Folge die analytische Arbeit möglich, und anders
geht es nicht.9
In der Folge sollen einige >Gesellschaftsbilder<, die hinter den wirtschaftstheoretischen
Lehren und hinter den wirtschaftspolitischen
Entwicklungen des letzten halben Jahrhunderts verborgen sind, rekonstruiert werden. Zum einen: Welche Hintergrundannahmen stecken hinter
ökonomischen Theorien, die als intellektuelle, sachliche, empirische,
nüchterne Hypothesen oder Modelle daherkommen? Zum anderen: Wie
greifen Theorien und reale Entwicklungen ineinander? Das ist ein breites Feld, und die Analyse muss ein wenig holzschnittartig verlaufen. Ich
setze an beim Globalisierungsmodell,
dem derzeit wohl aktuellsten Mo5
joseph A. Schumpeter, Geschichte
der ökonomischen
Analyse,
2 Bde., Göttingen
1965,
I/77f.
Vgl. Karl Acham, Philosophie der Sozialwissenschaften,
Freiburg-München
1983.
Vgl. Benjamin Ward, Die Idealwelten der Ökonomen.
Liberale, Radikale, Konservative, Frankfurr/M.-New
York 1986, XIX.
8 Vgl. Max Weber, Die "Objektivität«
der sozialwissenschaftlichen
und sozialpolitischen
Erkenntnis
(1904), in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre,
Tübingen 1988,
146-214.
, Entgegen manchen weit verbreiteten Auffassungen ist die Forschungsarbeit
der Naturwissenschaftler nicht wesentlich anders geartet.
6
7
84
dell, und greife anschließend zurück auf die unterschiedlichen wirtschaftstheoretischen, wirtschaftspolitischen und wirtschaftsideologischen Akzentsetzungen im letzten halben Jahrhundert: auf den interventionistischen Reformismus der Keynesschen Periode, auf die jakobinisch-utopischen Modelle, das heißt die sozialistischen Versionen, auf
das apokalyptische Modell grün-alternativer Prägung (von den klassischen Club of Rome-Szenarien bis zu den neueren Antiglobalisierungsvarianten). Schließlich kommen wir zum libertären Modell (das seinen
steten Aufstieg in den letzten Jahrzehnten vollzogen und eine hegemoniale Stellung gewonnen hat und das gewissermaßen den mainstream
der Ökonomie ausmacht). Ein Seitenblick auf Varianten des Institutionalismus (neoinstitutionelle und klassische österreichische Schule) wird
hinzugefügt.
1.
DAS GLOBALISIERUNGSMODELL
Globalität, Multikulturalität, die Welt als single place - das alles ist uns,
den globalen Zusehern einer shrinking world, eines globalen Dorfes,
längst vertraut. Die Welt flimmert jeden Abend ins Wohnzimmer. Globalität wird von der unverbindlichen Vision der Grenzenlosigkeit zur
sich aufdrängenden, aber gleichwohl ambivalenten Tatsache: Barrierelosigkeit für Kapital, Güter, Menschen, Drogen, Wissen, Bilder, Kultur,
Verbrechen, Moden, Glaubensströmungen, soziale Bewegungen10 transnationale Marktwirtschaft, globale Wertschöpfungsketten, das kapitalistische >Weltsystem<,d isorganized capitalism.
Es handelt sich insofern um ein neues Gesellschaftsmodell, als ihm das
Bild einer Weltgesellschaft zugrunde liegt.11Nachdem die >Deckungsgleichheit<der drei >Zugriffsbereiche<- wirtschaftlich steuerbare Einheit
(Volkswirtschaft» politisch souveränes Gebilde (Staat) und kulturell homogene Gruppierung (Volk) - nicht mehr, wie zu Zeiten des Nationalstaates, gegeben ist,12ist im verflochtenen Ganzen - etwas übertrieben
10
11
Vgl. ]ohan Galtung, Die andere Globa!isierung, Münster 1998; Hermann Schwengel,
Globa!isierung mit europäischem Gesicht. Der Kampf um die politische Zukunft, Ber!in 1998; Ulrich Beck, Politik der Globalisierung, Frankfurt/M. 1998.
Vgl. Rudol[ Stichweh, Die Weltgesellschaft. Soziologische Analysen, Frankfurt/M.
2000.
12
Vgl. Samuel N. Eisenstadt, Tradition, Wandel und Modernität, Frankfurt/M. 1979; Stein
Rokkan, Staat, Nation und Demokratie in Europa. Die Theorie Stein Rokkans aus seinen gesammelten Werken rekonstruiert und eingeleitet von Peter Flora, Frankfurt/M.
2000.
85
formuliert - nur noch die Weltgesellschaft zu denken, wenn man nicht
fiktive Einheiten dort imaginieren will, wo in Wahrheit nur noch unselbständige Partikel einer größeren Einheit vorhanden sind. I} Es gibt
keine Volkswirtschaft mehr. Es gibt nur noch Weltwirtschaft. Manche
meinen: nur noch Weltgesellschaft.
Die Weltgesellschaft ist eine vermarkdichte
Gesellschaft; die Wirtschaft
war der >Treiber< der Verflechtungen, die Politik wohl eher Erfüllungsgehilfe. Dieses Weltmodell ist der >Aufsteiger< der letzten Jahrzehnte,
im Wechselspiel zwischen strukturellen und technologischen
Entwicklungen, die es fördern, und weltanschaulichen
Entwicklungen, die es legitimieren. Der Markt wird als vorzüglicher Mechanismus allen Ländern, die reich werden wollen, anempfohlen. Das ist die Botschaft: Die
Weltgesellschaft
ist ein großer, ungehinderter,
wohlstandschaffender
Markt - je besser und schneller sich die Länder in diesen Markt integrieren, desto besser für sie; und in Wahrheit haben sie ohnehin keine Alternative, ist doch das einzige ordnungspolitische
Gegenmodell noch vor
dem Ende des 20. Jahrhunderts zusammengebrochen.
Die wirtschaftstheoretische
Grundlage bietet das Modell der internationalen Arbeitsteilung und des Freihandels, das zu den klassischen Beständen der Ökonomie gehört.14 Im Grunde sollten alle beteiligten Länder
13
14
86
Vlrieh Beek, Was ist Globalisierung?, Frankfurt/M. 1998, 26f.: »Mit Globalismus bezeichne ich die Auffassung, daß der Weltmarkt politisches Handeln verdrängt oder ersetzt, d. h. die Ideologie der Weltmarktherrschaft, die Ideologie des Neoliberalismus.
Sie verfährt monokausal, ökonomistisch, verkürzt die Vieldimensionalität der Globalisierung auf eine, die wirtschaftliche Dimension, die auch noch linear gedacht wird, und
bringt alle anderen Dimensionen - ökologische, kulturelle, politische, zivilgesellschaftliche Globalisierung - wenn überhaupt, nur in der unterstellten Dominanz des Weltmarktsystems zur Sprache. Selbstverständlich soll damit nicht die zentrale Bedeutung
wirtschaftlicher Globalisierung, auch als Option und Wahrnehmung betrieblicher Akteure, geleugnet oder geschmälert werden. Der ideologische Kern des Globalismus liegt
vielmehr darin, daß hier eine Grunddifferenz der Ersten Moderne liquidiert wird, nämlich die zwischen Politik und Wirtschaft. Die zentrale Aufgabe der Politik, die rechtlichen, sozialen und ökologischen Rahmenbedingungen abzustecken, unter denen wirtschaftliches Handeln überhaupt erst gesellschaftlich möglich und legitim wird, gerät aus
dem Blick oder wird unterschlagen. Der Globalismus unterstellt, daß ein so komplexes
Gebäude wie Deutschland - also der Staat, die Gesellschaft, die Kultur, die Außenpolitik - wie ein Unternehmen zu führen sei. Es handelt sich in diesem Sinne um einen Imperialismus des Ökonomischen, unter dem die Unternehmen die Rahmenbedingungen
einfordern, unter denen sie ihre Ziele optimieren können.«
Die von David Rieardo entwickelte Theorie der komparativen Kosten ist meist Ausgangspunkt wirtschaftstheoretischer Überlegungen: Durch die Aufnahme von Handelsbeziehungen können Länder, die unterschiedliche Güter mit einem unterschiedlichen
Kostenaufwand herstellen können, ihren Wohlstand verbessern. Selbst unter Beibehaltung der Zusammensetzung der Produktion der beiden Länder kann ein Konsumgewinn durch den Handel realisiert werden. Durch eine Spezialisierung der Länder im
Sinne eines beide umfassenden Produktionsoptimums können Produktivitätsgewinne
vom Freihandel profitieren; es sollten sich die Lebensumstände
langfristig eher angleichen; es sollten sich die Menschen besser stehen.15 Das
global-neoliberale
Modell verdichtet die aktuellen Verflechtungsprozesse zu einer großen Vision, der Vision eines einheitlichen Weltmarktes,
einer Schlüsselinstitution,
die in der Folge alles Übrige, das Politische
und Kulturelle, generiert; die Teilrationalität des Marktes gilt als Hebel
für die Universalrationalität
der Weltgesellschaft. Im Grunde handelt es
sich um Marxismus von Rechts: Das Sein bestimmt das Bewusstsein;
15
erzielt werden. - Bei offenen Grenzen müssen die Preise für Güter und Dienste die
Weltmarktpreise
widerspiegeln. Da aufgrund unterschiedlicher Ressourcen, der Arbeitskräfte, des Klimas, der Kultur und anderer Faktoren die relativen Preise von inputs
in einen Produktionsprozess jeweils unterschiedlich sind, ist es für manche Länder günstiger, das Gut A, für andere Länder günstiger, das Gut B herzustellen. Es wird sich also
empfehlen, stärker jene Güter herzustellen, bei denen das Land einen komparativen
Vorteil besitzt.
Zu den wesentlichen theoretischen Elementen gehören drei weitere Theoreme. Das
H eckscher-Ohlin- Theorem besagt: Bei identischen Produktionsfunktionen
wird ein
Land jenes Gut herstellen, bei dem der reichlich vorhandene Faktor besser genutzt werden kann. Ein Land, das viele überschüssige Arbeitskräfte (im Vergleich zum vorhandenen Kapital) aufweist, wird also eher arbeitsintensive Güter exportieren und kapitalintensive Güter importieren. Daraus lässt sich schließen, dass sich die Industrieländer mit
ihrem hohen technologischen Standard und ihrem Qualifikationspotential auf kapitalintensive und know-how-intensive Produkte konzentrieren und die einfache Herstelltätigkeit den weniger entwickelten Ländern überlassen sollten. - Das Samuelson-Stolper-Theorem: Unter den genannten Voraussetzungen verändert sich die Einkommenssituation. Die Öffnung der Grenze wird das Einkommen der reichlich vorhandenen Faktoren, die nunmehr eher nachgefragt werden, steigern und das Einkommen der knappen
Faktoren, deren Leistungen durch Importe substituiert werden, senken. Das würde unter den gegebenen Bedingungen dazu führen, dass Kapitaleigentümer und Arbeitskräfte
mit High- Tech-Qualifikationen mit Einkommensvorteilen rechnen dürften, während
das Einkommen weniger qualifizierter Arbeitnehmer fällt. Insgesamt wird das Einkommen des Landes jedenfalls wachsen, aber die Verteilung wird ungleich sein, ja vieles
spricht dafür, dass es zu einer Polarisierung der Einkommensverhältnisse kommt. - Das
Faktorpreisausgleichs- Theorem: Bei offenen Grenzen werden sich die Preise für Güter
und Dienste (und die Einkommen für die entsprechenden Faktorenanbieter) weltweit
annähern oder angleichen. Wenn in den Industrieländern beispielsweise weniger unqualifizierte Arbeitskräfte nachgefragt werden, weil die entsprechenden Produktionen in
Länder mit billigen Arbeitskräften abwandern, werden die Einkommen unqualifizierter
Arbeitnehmer in den Industrieländern sinken; in jenen Schwellenländern, wo diese Produktionen (beispielsweise) aufgenommen werden, werden die Löhne der entsprechenden Arbeitskräfte bei fortgesetzter Neuansiedlung von Unternehmen hingegen steigen.
Darauf beruht auch die Befürchtung, dass sich zumindest Teile des wohlsituierten Arbeitspotenzials der Industriegesellschaften mit jenen Arbeitskräften in Konkurrenz begeben müssten, die in den Niedrigeinkommensländern am Existenzminimum bezahlt
werden. Auch sonstige ,Belastungen< aus den Arbeitsverhältnissen müssten in dieser
Konkurrenzsituation verringert werden, das heißt, man müsste auch Sozialleistungen
kürzen. - In der wirklichen Welt freilich wird der Lohnkostendruck aus den Niedriglohnländern übertrieben; auch Unternehmen wandern nicht so rasch ab, zusätzliche
Faktoren sind für eine Standortwahl wichtiger, angefangen bei der erzielbaren Arbeitsproduktivität.
87
und der ökonomische
lichen Sphären.
Unterbau
ist determinierend
für alle gesellschaft-
Das Bild der Weltgesellschaft hat auch andere Bestandteile: Es ist eine
vom amerikanischen
Empire geprägte Globalität, und diese Prägung
reicht bis in die letzten Täler der Alpen und Pyrenäen: amerikanische
Musik, Filme, Sitten, Kleidung, Firmen. Die USA sind Hüter und Förderer des globalen Freihandels, wenn es nicht gerade um eigene Bananenplantagen geht; und sie wollen das internationale Recht durchsetzen,
wenn die eigenen Interessen nicht gerade anderes gebieten. Sie hegen die
missionarische Überzeugung, die ganze Welt sich selbst ähnlich machen
zu sollen; doch die Amerikanisierung
der Welt ist nicht selbstverständlich: Kulturen sind widerborstig, ihre Kerne widerständig, und die kulturelle Globalisierung
kann leicht in Huntingtons
Clash 0/ Civilizations16 enden oder in Barbers Konflikt von ]ihad versus McWorld,17 von
möglichen clashes 0/ subcultures - allenfalls auch innerhalb der großen
Kulturkreise - ganz abgesehen.
Der souveräne Charakter des Staates tritt im Globalisierungsprozess
zurück,18 was nicht gleich mit dem Untergang des Staates, wohl aber mit
seiner Um- und Neugestaltung
verbunden ist.19 Die wirtschaftspolitischen Theorien sind neu zu fassen, denn die herkömmlichen
wirtschaftspolitischen
Instrumente
greifen jenseits des national staatlichen
,Containers< nicht mehr: Geldpolitik lässt sich bestenfalls noch im größeren Europa machen, und bei barrierefreien globalen Finanzmärkten
ist auch das kaum möglich. Fiskalpolitik lässt sich für Volkswirtschaften
mit großen Außenhandelsanteilen
sinnvoll nicht mehr bewerkstelligen,
zumal die Verschuldungsrestriktionen
eng (und die ,Strafen< bei Verschlechterung der Standortqualität
spürbar) sind. Das Verhalten der einzelnen Länder ist enger gekoppelt; kein Land ist eine Insel. Die Länder
wachsen - in einem offenen Prozess - in eine neuartige globale gover-
Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order,
NewYork 1996.
17 Benjamin
Barber, Jihad vs. McWorld, New York 1995 (dt. Coca Cola und Heiliger
Krieg, München 1998). Eine ähnliche Entgegensetzung beschreibt Thomas L. Friedman,
The Lexus and the Olive Tree: Understanding Globalization, New York 1999 (dt. Globalisierung verstehen. Zwischen Marktplatz und Weltmarkt, Berlin 1999). >Lexus<steht
im englischen Titel für das japanische High-Tech-Luxusauto, der Olivenbaum für die
lokale Verwurzelung.
18 John W. Meyer u. a., World Society and the Nation State, in: AmericanJournal
of Sociology 103 (1997) 1, 144-181.
19 Martin van Creveld, Aufstieg und Untergang des Staates, München 1999.
16
88
nance-Struktur hinein:20 in eine allseitige
handlungs struktur< mit unterschiedlichen
und unübersichtliche
Ebenen und Arenen.
>Ver-
Die Globalisierung weckt auch Gegenkräfte, sie lässt die Wertschätzung
für das Lokale kompensatorisch
steigen - von der Glokalität reden
manche, derzufolge die globale Konformisierung
immer auch mit Pluralisierung verbunden ist, mit unterschiedlichen
lokal-kulturellen
Vermengungen
und Durchmischungen.21
Spezialkulturen
werden
neu
strukturiert und verpackt, um im Weltbasar verkauft zu werden. Lokale
Wirtschaft wird globalisiert (Vorlieferanten, Produktionseinflüsse,
Produktionsstätten,
Absatzmärkte
in der ganzen Welt); globale Wirtschaft
wird lokalisiert (es muss jeweils lokal gearbeitet, allenfalls auch designerisch angepasst werden).22 Das suggerierte Gesellschaftsbild ist naheliegend: die ganze Welt als gut ausgestatteter Supermarkt.
Arbeitskräfte sind generell zwar weniger mobil als das Kapital, aber verzweifelte Arbeitskräfte können sehr mobil sein. Migrationsströme werden sich in Zukunft nicht mehr kanalisieren lassen. Es geht in diesem
Jahrhundert nicht mehr um konkrete Migrationsströme
aus gequälten
Territorien, sondern um Völkerwanderung. Europa wird am Ende dieses Jahrhunderts
wohl (rassisch-ethnisch-kulturell)
ein recht farbiger
Kontinent sein. Der Arbeitsmarkt wird hierbei >unterschichtet< werden;
ein Vorteil für die Einheimischen.
Die Globalisierungseuphoriker
sind der Überzeugung,
für die >Nachzügler< der Modernisierung
und die >Armenhäuser< dieser Welt sei
nichts anderes erforderlich als ihr Einbezug in eine liberale Weltwirt-
20
21
22
Martin Albrow, Abschied vom Nationalstaat. Staat und Gesellschaft im Globalen Zeitalter, Frankfurt a.M. 1998; Rüdiger Altmann, Abschied vom Staat. Politische Essays,
Frankfurt/M. 1998; Michael Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates. Globalisierung
und Denationalisierung als Chance, Frankfurt/M. 1998.
Eine andere Formulierung desselben Phänomens: Es gibt Homogenisierungs- und Heterogenisierungsprozesse. Homogenisierungsprozesse sind Fusionen, Konvergenzen,
Konformisierungen, Nivellierungen: die Europäische Integration, die Globalisierung,
die globale Kultur, weltweite Standardisierungen, die gleichen Hotelzimmer, dieselbe
Popmusik, die gleichen elektronischen Produkte, die gleichen Ladenketten. Heterogenisierungsprozesse sind Polarisierungen, Fragmentierungen, Multikulturalismen, Multidimensionalität, ein Auseinanderdriften: Industrieländer versus Dritte Welt, Reiche versus Arme, Informationsbesitzer versus informationelle Habenichtse. Beide Strömungen
werden miteinander existieren, und dies wird ein dynamisches, auch konfliktreiches soziales Gebilde ergeben.
Regionale und lokale Spezialitäten werden also nicht durchwegs ausgelöscht, sondern
sie werden neu arrangiert, ,kosmopolitisiert< und vermarktet: ,vietnamesische Küche<,
,Buddhismus für Manager<, das Möbeldesign religiöser Sekten, Sushi in jedem Dorf und
allenfalls bald geröstete Ameisen als Delikatesse.
89
schaft. Die Weltsystemanalyse Immanuel Wallersteins23 hingegen verneint, dass man von fragmentierten
Einheiten ausgehen kann: Keine
Einheit kann einen Entwicklungsprozess
so vollziehen, als gäbe es die
anderen Einheiten im Rahmen der Weltgesellschaft nicht. Staatliche
Strukturen fördern und behindern den >freien< Markt je nach dem Interesse bestimmter Gruppen, und die reichen Länder wissen dabei ihre Interessen zu wahren. Es gibt deshalb ein globales Schichtungssystem, das
den Ländern als Subsystemeinheiten
einen bestimmten Platz in der internationalen Wohlstands hierarchie zuweist - den Ländern der Dritten
Welt freilich einen schlechteren.
Tatsächlich ist die Globalisierung
nicht nur ein eigendynamisches
Ergebnis unbeherrschbarer
Technik- und Marktprozesse,
sie wird auch
von politischen Einflussnahmen
und wirtschaftlichen
Ideologien geformt; dies hat]oseph Stiglitz24 jüngst in der Darlegung seiner Erfahrungen mit internationalen
Organisationen
gezeigt. Und es gibt Ungleichheiten in der Behandlung von Staaten, die das >Marktgerede< als vordergründig erweisen: Forderungen
zur Beseitigung der Atomwaffen, mit
Ausnahme der enormen Vorräte der dominierenden Länder, die erhalten
bleiben; Forderungen
nach Abbau der Handelsschranken,
mit Ausnahme der enormen Protektion
für die Bauern in Europa oder die
Baumwoll- und Textilindustrie in den USA; Forderungen nach Reduzierung giftiger Emissionen, welche die Atmosphäre
schädigen, mit
Ausnahme der Bestimmung,
dass nach den Interessen derer maßgeschneidert werden muss, die den größten Anteil an Emissionen in die
Atmosphäre haben.25 Tatsächlich steht die Möglichkeit im Raum, dass
die Weltgesellschaft
asymmetrisch
und somit recht unvollkommen
bleibt: nämlich aus globalisierten Reichen und lokalisierten Armen besteht.
2.
DAS INTERVENTIONISTISCH-REFORMISTISCHE
Der Globalisierungsprozess
namisch voranzuschreiten;
23
24
25
MODELL
scheint an der Jahrhundertwende
eigendyund der Umstand, dass sich Konzerne, Poli-
Immanuel M. Wallerstein, The Modern World System, Capitalist Agriculture and the
Origins of the European World Economy in the Sixteenth Century, New York 1974.
joseph E. Stiglitz, Globalization and its Discontents, New York 2002.
Erste Konferenz über Weltethos und traditionell indische Ethik, New Delhi, 1997, in:
Helmut Schmidt (Hg.), Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten. Ein Vorschlag,
München 1998, 11; zit. nach Anil Bhatti, Ethik und Globalisierung. Eine Anmerkung
zum Unbehagen, in: Karl Acham (Hg.): Moral und Kunst im Zeitalter der Globalisierung (Zeitdiagnosen 2), Wien 2001,99-121.
90
tiker und internationale Organisationen
selbst als >Zuseher< darstellen,
kontrastiert auffallend mit jenen ehrgeizigen planerischen und gestalterischen Modellen, die das abgeschlossene 20. Jahrhundert
geprägt haben.
Spätestens seit den Zeiten der Aufklärung haben sich die Menschen einiges an Kompetenz beigemessen, um die Dinge dieser Welt zu gestalten.
Machbarkeits- und Gestaltungsideen
hoben ihr Selbstbewusstsein,
und
sie trauten sich zu, mit den Mitteln der Vernunft eine immer bessere
Welt zu schaffen. Das 20. Jahrhundert, das hinterdrein als >Jahrhundert
der Obszönität<26 oder als >Jahrhundert der Extreme<27 bezeichnet worden ist, hat zwar bewiesen, dass die ungeheuerliche
Dynamik wirtschaftlichen Wachstums und technischer Errungenschaften
keineswegs
eine entsprechende Versittlichung menschlichen Handelns bewirkt; aber
die Idee, dass man die Turbulenzen dieser Welt zum Wohle aller einem
rational gesteuerten Zugriff aussetzen müsste, ist wirtschaftsordnungspolitisch erst in dieser Epoche zur Reife gelangt - und hat sich als Flop
erwiesen. Aber auch Sozialwissenschaftler
wie Max Webe~8 und ]oseph
Schumpete~9 sagten - mit durchaus ambivalenten Gefühlen - die umfassende >Rationalisierung< der Welt voraus, und sie meinten damit nicht
nur Automatisierung
und Technisierung, sondern auch eine größere Rechenhaftigkeit des wirtschaftlichen
wie des allgemein gesellschaftlichen
Handelns und eine Verwissenschaftlichung
der gesellschaftlichen
Entwicklung. Die großen wirtschaftstheoretischen
Debatten der Zwischenkriegszeit gingen um die Kriterien, Methoden und Instrumente
der
Wirtschaftsablaufssteuerung:
die Wirtschaftsrechnungsdebatte
(Barone,
Mises, Hayek, Lange) oder die Debatte um die Steuerungskompetenz
des Staates, nicht zuletzt in der Diskussion über die Weltwirtschaftskrise (mit dem Niedergang der liberal-klassischen und dem Aufstieg der
wurde
interventionistischen
Keynesschen Lehre3D). Planungskompetenz
von zwei Seiten behauptet und gefordert: Es ist zum einen die nüchterne
Idee einer modernen technokratischen
Klasse, die mit immer ausgefeilteren Methoden Abläufe simulieren und ge-stalten kann; zum anderen
die heils geschichtliche Idee eines sozialistischen Modells, das gleichfalls
beansprucht hat, die gesellschaftliche Entwicklung aus der naturwüchsiVgl. Eckard HenscheidlGerhard Henschel, Das Jahrhundert der Obszönität. Eine Bilanz, Berlin 2000.
17 Vgl. Eric Hobsbawm, The Age of Extremes. A History of the World, 1914-1991,
New
York 1996.
28 Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. Tübingen 1976.
29 Vgl. ]oseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (1950), Tübingen u. a. 1993.
Ja lohn
Maynard Keynes, The General Theory of Employment, Interest and Money
(1936), Bd. 7 der Collected Works ofJohn Maynard Keynes, London-Basingstoke 1973.
26
91
gen Krisenhaftigkeit
einer kapitalistischen
hielten liberale Theoretiker entgegen, dass
nicht steuern ließen beziehungsweise
dass
unweigerlich weitere Eingriffe nach sich
sches System münden müssten.
Ordnung zu befreien. Dem
sich moderne Gesellschaften
einzelne Eingriffe in Märkte
ziehen und in ein sozialisti-
Wir wenden uns zunächst dem reformistischen Modell zu, dem Versuch
einer Grobsteuerung
und Domestizierung
des Kapitalismus, und setzen
gleich in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg an. In den 1960er Jahren konnte man in den europäischen Ländern - unerwartet - wieder ein
befriedigendes Lebensniveau erzielen und begann, den neugewonnenen
Wohlstand zu genießen. Die Politik der westlichen Industrieländer
empfahl sich als Garant des sicheren Weges in eine von Wohlstand und
Frieden gekennzeichnete
Zukunft, als Alternative zu den kommunistischen Avancen. So betrachteten
es auch die Bürger der westlichen
Marktgesellschaften
als zunehmend selbstverständlich
werdende Aufgabe des Staates, die Beschäftigung zu gewährleisten und die Standards
der sozialen Sicherheit höher zu schrauben. Die Wirtschaftspolitiker
stützten sich auf ökonomische Gesamtmodelle keynesianischer Prägung
und meinten, damit den golden-age-Wachstumspfad zuverlässig anpeilen zu können. Über die antizyklische Fiskalpolitik hinaus wollten sie
zum fine-tuning eines langfristigen Wachstumspfades vorstoßen, der allen Individuen und Ländern Reichtum gewähren sollte. Man wagte im
Überschwang des Selbstbewusstseins
gar zu fragen, ob Konjunkturzyklen bereits obsolet geworden seien.3!
Keynesianismus war der gangbare Kompromiss zwischen unterschiedlichen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen
Modellen: Er erlaubte die
Makroregulierung
der Wirtschaft (die Steuerung der wirtschaftlichen
Aggregate), ohne die Mikrostrukturen
(die unternehmerische
Entscheidungsfreiheit) anzutasten. Die staatliche Stabilisierungsleistung
musste
in dieser Weise nicht notwendig in ein Planungssystem münden, dessen
Leistungsfähigkeit
man mit Recht anzweifelte, auch wenn man sich von
den sowjetischen Vorhersagen, die USA überholen zu wollen, beeindruckt zeigte.32
11
32
Vg!. Martin Bronfenbrenner, Is the Business Cyde Obsolete?, New York 1969.
Von der liberalen Seite her wurde das Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus
etwa in den beiden berühmten Büchern von Hayek und Friedman behandelt. Friedrich
von Hayek, Der Weg zur Knechtschaft, 3. Auf!. (The Road to Serfdom, 1944), München 1952; Milton Friedman, Kapitalismus und Freiheit (Capitalism and Freedom, Chicago 1962), München 1976. In dieser Tradition steht auch das neuere Buch von Peter L.
Berger, Die kapitalistische Revolution. Fünfzig Leitsätze über Wohlstand, Gleichheit
und Freiheit, Wien 1992.
92
Aus wissenschaftlicher
Sicht wies der Keynesianismus den Vorteil auf,
sich nicht - wie spätere Varianten - nur als an gewandte Mathematik auf
der Grundlage von a-priori-Annahmen darzustellen, sondern eher auf
soziologischen Überlegungen zu fußen.33 Unmittelbar nach der Publikation der >General Theory< 1936 hatte freilich auch schon in der Wirtschaftstheorie die Umdeutung jener Elemente der Theorie begonnen,
die in das Weltbild der Ökonomie nicht passten - lohn R. Hieks in seinem Aufsatz >Mr. Keynes and the Classics<3\ Paul A. Samuelson mit seinen Lehrbüchern35; Roy Harrod mit seinem gleichgewichtigen
Wachstumsmodell.36 Das Ergebnis war Bastard-Keynesianismus/7 ein gefügig
gemachter Keynesianismus.
Natürlich waren auch die Wirtschaftspolitiker
mit der Lehre nicht sonderlich kompetent umgegangen. Der Keynesianismus
wurde als Botschaft missverstanden, dass die Regierung in jedem Fall die Vollbeschäftigung zu sichern habe, auch durch explodierende Budgetdefizite, was
in der Praxis zur bequemen Maxime führte, dass man beliebig Schulden
machen könne.38 Dazu fügte man einen expandierenden
Wohlfahrtsstaat, und die Mischung von antizyklisch-interventionistischer
Wirtschaftspolitik und umgreifender Allgemeinversorgung
verstand man als
Keynes hat nicht bei der Nutzenfunktion
und damit bei den traditionellen Rationalkonzepten angesetzt, sondern bei soziologischen
Verhaltensweisen:
bei Konsumneigung,
Investitionsneigung,
unterschiedlichen
Zinssatzreaktionen,
Multiplikatorprozessen,
Erwartungen, Liquiditätspräferenzen
und dergleichen. Das bedeutet den Übergang von
einer individuenzentrierten zu einer gruppenzentrierten Verhaltenskonzeption.
Soziale
Normen kommen ins Spiel anstelle abstrakter Maximierungs-Robinsone.
Im Weiteren
kommt bei Keynes der Unsicherheit
eine essentielle Bedeutung zu: Wahlhandlungen
werden weniger unter dem Aspekt der Knappheit als unter dem Aspekt der Unsicherheit analysiert. Auch die Zukunft wird unsicher, und damit eröffnet sich der Weg für
eine außersystemische
Intervention als unverzichtbares
Element der Wirtschaftspolitik:
Die Regierung wird zu einem Akteur im Wirtschaftsgeschehen.
Bei Keynes kommt
auch die Zeit ins Spiel: Während Marshall einen summativen Ansatz zur Gesamtwirtschaft vorgelegt hat, bei dem sich das Ganze aus der Summe der Teile ergibt, hat Keynes
einen aggregativen Ansatz dargelegt: Zum Sozialprodukt
gelangt man nicht, indem
man die outputs einzelner Märkte addiert. Die keynesianischen
Probleme von Unterbeschäftigung, Liquiditätsfallen
und Multiplikatoren
werden in einer marshallianischen
oder walrasianischen
Welt nicht einfach übersehen, sie können vielmehr in ihr einfach
nicht behandelt werden; bei einer summativen Analyse gibt es nur zeitlose Anpassungsprozesse.
J4 lohn R. Hieks, Mr. Keynes
and the ,Classics<: A Suggested Interpretation,
in: Econometrica 5 (1937), 147-159.
35 Paul A. Samuelson, Economics,
New York 1948; ders., Foundations
of Economic Analysis, Cambridge/MassLondon 1947.
36 Roy F.Harrod, An Essay in Dynamic
Theory, in: Economic Journal 49 (1939), 24-33.
37 ]oan Robinson, Economic
Heresies, New York 1971.
35 ]ames M. BuehananlRiehard E. Wagner, Democracy
in Deficit: The Political Legacy of
Lord Keynes, New York 1977.
33
93
>realisierten Sozialismus<. Das Gesellschaftsbild, in dem sich Theoretiker und Politiker fanden, war ein paternalistisch-reformistisches:
Die
Welt ist gestaltbar, wir wissen, wie sie funktioniert, und entschlossene
Reformen können eine humane Gesellschaft im Rahmen einer marktwirtschaftlichen Ordnung schaffen.
Dieses Bild begann in den 1970er Jahren deutlich zu bröckeln: durch
das Steuerungsversagen der Staaten, die nicht wussten, wie sie auf die
Ölkrise (mit nachfolgender Stagflation) reagieren sollten; durch den demographisch bedingten Finanzierungsdruck auf die öffentlichen Budgets, der sich in den 1980er Jahren verschärfte; durch die Öffnung der
nationalen Wirtschaften und durch die Globalisierung, die ihnen die Instrumente aus der Hand nahm - bis sich die europäischen Regierungen,
beginnend in den 1990er Jahren, zu radikalen Sanierungs-, Entstaatlichungs- und Deregulierungsmaßnahmen entschließen mussten.
Seit den 1970er Jahren setzte die gänzliche Auflösung des Keynesschen
Modells ein.39 Dies war nicht zuletzt Ergebnis von Veränderungen bestehender sozioökonomischer Bedingungen: durch die Schwäche des
Keynesianismus, keine kohärente Theorie der Inflation liefern zu können (die Entwicklung ging von der >Phillips-Kurve< zur >non-accelerating inflation rate of unemployment< (NAIRU)); durch das Problem,
den Zustand der Stagflation nicht befriedigend erklären zu können;
durch Schwierigkeiten mit der Geldtheorie. Das Keynessche Modell
wurde zunächst noch stärker als Modell der Stimmungslagen, der Erwartungsschwankungen und der animal spirits reinterpretiert; auch daraus ergab sich, dass die Steuerung des Wirtschaftsprozesses im Grunde
unmöglich ist, aber bald legte man es ohnehin ganz beiseite.40 Allerdings
hätte die Theorie sich durchaus adaptieren lassen; in Wahrheit waren für
die Peripherisierung der Theorie weltanschauliche Veränderungen maßgebend, die in eine liberale und libertäre Richtung drängten, einschließlich der Verstärkung der individualistischen Komponente der Theorie
und des von ihr suggerierten Gesellschaftsbildes.
Der Keynesianismus ist zu seinen besten Zeiten kein weltanschaulich
einseitiges Programm gewesen, vielmehr wurde die Rezeptur in allen
39
Vgl. lohn R. Hicks, The Crisis of Keynesian Economics, New York 1975; Alan S. Blinder, The Fall and Rise of Keynesian Economics, in: The Economic Record 64 (1988),
278-294.
40
94
G. Bombach u.a., Der Keynesianismus, 3 Bde., Berlin 1981; Sidney Weintraub, Keynes,
Keynesians and Monetarists, Philadelphia 1978; Stephan Böhm, Die Keynes'sche Renaissance, in: Wirtschaftspolitische Blätter 29 (1982), 65-77; Gunther Tichy, AustroKeynesianismus - Gibt's den? Angewandte Psychologie als Konjunkturpolitik, in:
Wirtschaftspolitische Blätter 29 (1982), 50-64.
politischen Lagern als Selbstverständlichkeit
angesehen. Aber jenseits
der wirtschaftspolitischen
Gesamtsteuerung
trieb man die technokratischen Visionen so weit, dass man damit rechnete, politische Auseinandersetzungen in Zukunft als fruchtlose Streitigkeiten angesichts überzeugender Optimierungsberechnungen
und Modellprojektionen
der zuständigen Fachleute überflüssig zu machen.41 Und natürlich konnten
sich im gemeinsamen Wachstumsziel alle politischen Gruppen und gesellschaftlichen Gegensätze aufgehoben finden. Daniel Bell sah »the end
of ideology« voraus.42 Experten sind solchen Visionen zufolge der beste
Schutz gegen die Irrationalitäten
des öffentlichen Diskurses. Das Bild,
in dem die Welt gesehen wurde, entsprach dem einer Maschine, die von
fähigen und weisen Technokraten mit steigender Präzision und Verlässlichkeit gesteuert wurde. Dieses Selbstvertrauen erstarb erst in den wirtschaftlichen Störungen der 1970er Jahre, als der Glücksfall starker
Wachstumsraten erschöpft war.
Die technokratische
Vision hat die Krisenjahre nicht gut überstanden,
aber sie ist nicht gänzlich dahingeschieden. Sie scheint sich seitdem eher
in den Mikrobereich verkrochen zu haben; dort allerdings leben überzogene Planungsvorstellungen
fort, die neuerdings unter dem Titel des
»Managements« abgehandelt werden.43 Ingesamt hat man sich Friedrich
von Hayeks Diktum zu Herzen genommen: Die Begründung, dass die
moderne Wirtschaft so komplex geworden sei, dass man ohne Planung
nicht auskomme, sei exakt falsch; genau andersherum sei es richtig: Die
moderne Wirtschaft ist so komplex geworden, dass man nicht mehr planen kann, sondern auf Selbstorganisationsprozesse
- eben auf Märkte
41
42
4l
]ean Fourastie, Le Grand Espoir du xx Siede, Paris 1950; Alain Touraine, The PostIndustrial Society, London 1974 (dt. Die postindustrielle Gesellschaft, Frankfurt 1972).
»Der >technische Staat<<<,
so meinte etwa Helmut Schelsky voraussagen zu können, »entzieht, ohne antidemokratisch zu sein, der Demokratie ihre Substanz. Technisch-wissenschaftliche Entscheidungen können keiner demokratischen Willens bildung unterliegen,
sie werden auf diese Weise nur uneffektiv. Wenn die politischen Entscheidungen der
Staatsführungen nach wissenschaftlich kontrollierten Sachgesetzlichkeiten fallen, dann
ist die Regierung ein Organ der Verwaltung von Sachnotwendigkeiten, das Parlament
ein Kontrollorgan für sachliche Richtigkeit geworden.« (Helmut Schelsky, Der Mensch
in der wissenschaftlichen Zivilisation, in: ders. (Hg.), Auf der Suche nach Wirklichkeit.
Gesammelte Aufsätze, München, 1979, 459)
Daniel Bell, The End of Ideology, New York 1960.
So glaubt man, verschiedene Politikbereiche, neuerdings in der>Wissensgesellschaft<besonders den Forschungsbereich, durch Projektplanungen, Total Quality Management,
Wissensmanagement, Reengineering, Evaluationen und so weiter steuern zu können,
wie dies nur zu den blühenden Zeiten der Planwirtschaft vorgeschlagen wurde. Aber
im Hinblick auf die Gesamtwirtschaft sind die großen Planungen auf jeden Fall abgesagt, und der Keynesianismus gilt als diskreditiert: In den USA spricht man nicht mehr
darüber, in Europa bestenfalls in einigen Gewerkschaftszirkeln.
95
als wissens effiziente Institutionen - vertrauen muss.44 Das ist ein völlig
neues Gesellschaftsbild: Die Gesellschaft ähnelt hierbei nicht mehr einer
Maschine, sondern eher einer biologischen Entität. Nicht das cartesianische Modell, sondern das evolutionäre Modell wird als realistisch angesehen; und die Technokraten greifen - mangels ausreichenden Wissens nicht mehr ein, sondern gestalten (bestenfalls) Rahmenbedingungen
für
selbstorganisierende
Prozesse.
3.
DAS JAKOBINISCH-UTOPISCHE
MODELL
Schon in den 1960er Jahren hatten die protestierenden
Studenten an den
Eigenschaften des Wirtschaftssystems
kein gutes Haar gelassen, und sie
fanden eine Grundlage für ihre Weltdeutung in der marxistischen Theorie.45 Freilich war es - ordnungspolitisch
gesprochen - nicht das Modell
der planwirtschaftlichen
Länder, das den revoltierenden Studenten und
ihren Mentoren attraktiv erschien, denn der ökonomische
Entwicklungsrückstand und der politisch-totalitäre
Charakter dieser Länder waren für die meisten von ihnen offensichtlich.46 Die Reform im Westen
sollte aber auch mehr sein als ein verwaschener Sozialdemokratismus,
dem im Rahmen des kapitalistischen
Systems nur >eindimensionale
44
45
46
96
Vgl. Friedrich August von Hayek, Economics and Knowledge, in: Individualism
and
Economic Order, Chicago 1948; ders., Law, Legislation and Liberty, 3 Bde., Chicago
1973 ff.
Zu dieser Zeit genoss man bereits die Früchte des Wiederaufbaus.
Die Erfolge der Elterngeneration
wurden Selbstverständlichkeiten,
während die Versäumnisse spürbarer
wurden: das Unbehagen in einer anonymen Welt, geprägt von Ungleichheit,
gelähmt
von Mitbestimmungsdefiziten.
Die Planungskraft
der Technokraten
schien den Studierenden alles andere als attraktiv; sie erfuhren sie als Verlust individueller Entscheidungsräume. Ihre Kritik entzündete
sich an der Rassentrennung
in Amerika, am Vietnamkrieg und an universitären
Unzulänglichkeiten.
Eine Revolte der privilegierten Kinder
schwappte über die europäischen Länder. Die marxistische Theorie wurde ihren Erfahrungen durch die intellektuellen
Führer der Studentenbewegung
angepasst, durch Denker wie Ernst Bloch, Max Horkheimer, Theodor Adorno und Herbert Marcuse (vgl.
Max HorkheimerlTheodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947). Die Studentenschaft
wurde zum >Ersatz-Proletariat< ernannt
- und sie dachte, sie sei in eine revolutionäre
Situation geraten; vgl. zu Theorie und gesellschaftlichem
Hintergrund
Clemens AlbrechtlGünther C. BehrmannlMichael Bockl
Harald HomannlFriedrich H. Tenbruck, Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte
der Frankfurter Schule, Frankfurt-New
York 2000.
Viele betrachteten die Ostblockstaaten
freilich gewissermaßen als >entartete Brüder<, als
eine fortbestehende,
doch zeitweilig sistierte Option auf eine bessere Zukunft, verzerrt
durch den Belagerungszustand
kapitalistischer
Aggressoren; oder sie glaubten, zumindest einen Unterschied
machen zu müssen zwischen stalinistischen
>Verirrungen< und
der akzeptablen kommunistischen
Lehre.
Menschen<47 entspringen könnten. Anzustreben
war - >basisdemokratisch< - eine Gesellschaft des Friedens und der Gerechtigkeit, der Selbstentfaltung und des Wohlstands, in der alle Widersprüche
aufgehoben
wären, und dies nicht zuletzt durch einen Umsturz der Wirtschaftsordnung. Man wollte mehr als die bloß formale Demokratie. Modelle eines
>Dritten Weges< wurden kolportiert, ein >Sozialismus mit menschlichem
Antlitz< beschworen, das Gespenst des >Eurokommunismus< ging in Europa um.48 Das neue Gesellschaftsmodell,
das die Perspektive prägte,
war: die moderne, kapitalistische Welt als repressive und ausbeuterische
Struktur, die Menschheit und Kultur verdürbe im Interesse einer herrschenden Kapitalistenklasse.
Diese Modelle - ökonomisch formuliert in Modellen des >Spätkapitalismus< und des >staatsmonopolistischen
Kapitalismus<49 - waren weder
verallgemeinerungsfähig
noch dauerhaft. 50 Die radikaleren Varianten gesellschaftlicher
Reform blieben auf Intellektuellenzirkel
beschränkt;
dort hortete man die neomarxistische
Literatur, einschließlich der entsprechenden wirtschaftstheoretischen
Publikationen.51
Manche linken
Gruppen glitten in den Terrorismus ab, andere starteten wenig später
ihre bürgerliche Karriere, die sie durch die Notwendigkeit
eines >Marsches durch die Institutionen< rechtfertigten.
Die Bewegung schwand
dahin.
47
•8
49
50
51
Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Neuwied 1967 .
Vgl. etwa Santiago Carillo, Eurocommunism and the State, London 1977.
Vgl. Paul Baran/Paul M. Sweezy, Monopolkapital. Ein Essay über die amerikanische
Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, Frankfurt/M. 1973; fames O'Connor, Die Finanzkrise des Staates, Frankfurt/M. 1974.
Die alte, wirtschaftstheoretisch hochinteressante Auseinandersetzung der Zwischenkriegszeit wurde nicht noch einmal aufgenommen. Die Wirtschaftsrechnungsdebatte
kann nämlich als Indiz dafür genommen werden, dass eine bestimmte Methodologie zu
gänzlich unterschiedlichen Ergebnissen führen kann: Marktfetischisten müssen nicht
unbedingt bei extremliberalen Vorschlägen landen, sondern können ebenso gut für ein
planwirtschaftliches System votieren (und daraus ließe sich schließen, dass beide Modelle möglicherweise ihre Schwierigkeiten mit der Realität aufweisen). Denn Oskar
Lange hat bewiesen, dass unter den üblichen Annahmen der neoklassischen Markttheoretiker (insbesondere unter der Annahme vollständigen Wissens der Akteure) ein Plansystem genau so machbar wäre wie ein Marktsystem: die Marktergebnisse würden von
vollständig informierten Planem einfach nachgerechnet werden. Der ideale Marktsozialismus deckt sich mit dem idealen Kapitalismus. Eine wirklich ,andere< Theorie, die
nicht zu derart absurden Ergebnissen führte, bot nur die österreichische Schule. Vg!.
Oskar Lange, On the Economic Theory of Socalism (1939), in: Benjamin Lippincott
(E d.), On the Economic Theory of Socialism, N ew York 1970. Siehe dazu auch die
schöne Darstellung von Peter j. Boettke, Where Did Economics Go Wrong? Equilibrium as a Flightfrom Reality, in: Critical Review 11 (1997) 1, 11-64.
Beispielsweise Ernest Mandel, Marxistische Wirtschaftstheorien, 2 Bde., 2. Auf!.,
Frankfurt 1972.
97
Immerhin durchdrang
ein diffuses sozialdemokratisches Lebensgefühl
die Gesellschaft, mit modernisierenden
und liberalisierenden
Wirkungen in vielen Lebensbereichen - Recht, Familie, Kunst, Frauen, Wissenschaft. Es verhalf sozialdemokratischen
Parteien zu manchen wahlerfolgen. Der Zeitgeist >stand links<. Die Ausweitung der Staatsaktivitäten
und des Staatsanteils am Sozialprodukt wurde für wünschenswert gehalten. Freilich wurde es immer fraglicher, ob von der sozialistischen Vision noch mehr übrig war als verwaschene humanistische Gefühle mit
etatistischer Akzentuierung.
Der westlich-demokratische
Sozialismus
rutschte zunehmend in die Attitüde sklerotischer Besitzstandwahrung
ohne visionäre Kraft. Und der >real existierende Sozialismus< hat 1989 nach einer Periode des Verblühens - seinen überraschenden
Abschied
gefeiert. Damit sind die jakobinisch-utopischen
Ideenmuster fürs Erste
einmal archiviert. Der Kapitalismus ist der >Sieger<, der Linken bleibt
vorderhand nur die Melancholie - vielleicht auch das Abwarten auf die
Selbstzerstörung
des kapitalistischen
Systems, ein Habitus, der nicht
ganz ungewohnt ist.
4.
DAS APOKALYPTISCHE
MODELL
Dem Staat wurde in den 1960er und den beginnenden 1970er Jahren ein
großes Maß an Vertrauen entgegengebracht,
es wurde ihm nicht nur Allkompetenz, sondern beinahe (nicht zuletzt: wirtschaftspolitische)
Allmacht zugeschrieben.52 Aber diese Machbarkeitsvorstellungen
sind in
der Mitte der 1970er Jahre zerbrochen. Angesichts der durch den ÖIschock ausgelösten Wirtschaftskrise waren die Menschen mit der Hilflosigkeit der wirtschaftspolitischen
Instanzen konfrontiert,
und diese
Ratlosigkeit stand in krassem Gegensatz zu den überhöhten Kompetenzbehauptungen
der Jahre davor. Die Club of Rome-Wamungen über die
>Grenzen des Wachstums<53 schienen durch die Ölkrise belegt; die Serie
der Umweltskandale
begann in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre in
Schwung zu kommen; und die Ökologie wurde zu einem aktuellen politischen Thema: Energie, Ressourcen, Emissionen, Landschaft, Nah-
52
Kurt Eichenberger, Der geforderte Staat. Zur Problematik der Staatsaufgaben, in: Wilhelm HennislPeter Graf KielmansegglUlrich Matz (Hg.), Regierbarkeit. Studien zu ihrer Problematisierung,
53
Limits to Growth,
98
Stuttgart
1977/79.
Donnella H. MeadowslDennis L. Meadowsljürgen RanderslWilliam W. Behrens, The
New York 1972.
rungsmittel, Verkehr, Technik.54 Ein neues Gesellschaftsbild
wuchs im
Bewusstsein: Die Geschichte der Moderne wurde zu einer Verlustbilanz, zu einer Geschichte der Verwüstungen und Vernichtungen. Der
Untergang der Welt drohte, man konnte sich allenfalls noch aussuchen,
an welcher Art von Desaster die Welt im Verlaufe des kommenden Jahrhunderts ihr Ende finden müsste. Dazu wurde man auf soziale Grenzen
aufmerksam. 55Romantische Traditionen der Kritik an der Moderne und
an der Industriegesellschaft,
die aus dem frühen 19. Jahrhundert stammten und an der Wende zum 20. Jahrhundert neue Resonanz gewannen,
wurden wieder aufgenommen.56 Ihre Stichworte sind: Selbstverwaltung,
small is beautiful, Vernetzung, Einordnen statt Machen, Kreisläufe statt
Beherrschung, Natürlichkeit statt Künstlichkeit, Harmonie statt Durchsetzungskraft, Spontaneität statt Formalismus, Emotionalität
statt entfremdeter Vernunft, Kommunikation
statt Anonymität - einfach: Widerstand gegen die Tendenzen einer »Kolonialisierung
der Lebenswelt«.57 Experten machen die Menschen unmündig, verkündete Ivan Illich.58 Viele beteiligten sich an dem Vorhaben, eine >Gegenkultur< zu entwerfen59 und neue (postmaterialistische)
Werte60 zu propagieren. Harte
Wirtschafts theorie war in dieser Szene freilich nicht viel zu finden,61 ein
wenig Diskussion über Nullwachstum62 und die neu sich entwickelnde
Karl- Werner Brand, Neue soziale Bewegungen in Westeuropa und den USA. Ein internationaler Vergleich, Frankfurt-New York 1985; Karl- Werner Brand, Neue soziale Bewegungen. Entstehung, Funktion und Perspektive neuer Protestpotentiale. Eine Zwischenbilanz, Opladen 1982; Wilhelm P. Bürklin, Grüne Politik. Ideologische Zyklen,
Wähler und Parteiensystem, Opladen 1984.
55 Fred Hirsch, Die sozialen Grenzen des Wachstums. Eine ökonomische
Analyse der
Wachstumskrise (Social Limits to Growth, 1976), Frankfurt/M. 1980.
56 Rolf Peter Sieferle, Fortschrittsfeinde?
Opposition gegen Technik und Industrie von
der Romantik bis zur Gegenwart, München 1984.
57 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen HandeIns, 2 Bde., Frankfurt/M.
1981.
58 Ivan Illich, Fortschrittsmythen,
Reinbek 1983.
59 Theodore Roszak, The Making of a Counter Culture. Reflections on the Technocratic
Society and its Youthful Opposition, Berkeley 1968 (dt. Gegenkultur. Gedanken über
die technokratische Gesellschaft und die Opposition der Jugend, Düsseldorf-Wien
1971).
60 Ronald Inglehart, Die stille Revolution, Frankfurt/M.
1977; ders., Modernisierung und
Postmodernisierung. Kultureller, wirtschaftlicher und politischer Wandel in 43 Gesellschaften, Frankfurt/M. 1998; ders., Kultureller Umbruch. Wertewandel in der westlichen Welt, Frankfurt-New York 1989.
61 Eckhard Stratmann-MertenslRudolf
HickellJan Priewe, Wachstum. Abschied vom
Dogma. Kontroverse über eine ökologisch-soziale Wirtschaftspolitik, Frankfurt/M.
1991.
62 Lester C. Thurow, Die Null-Summen-Gesellschaft.
Einkommensverteilung und Möglichkeiten wirtschaftlichen Wandels, München 1981 (The Zero-Sum Society. Distribution and the Possibilities for Economic Change, New York 1980).
54
99
Nische der Ressourcenökonomie.
Aber es gab auch technokratisch
orientierte >Gegenexperten<, die sich dem technology assessment widmeten, und seriöse Studien internationaler
Organisationen
unterstrichen
die Bedeutung der Probleme: der Interfutures-Bericht
der OECD, der
Global 2000-Bericht,
der Tinbergen-Bericht
und andere.63 Aus den
Theorien, Essays, Studien und Streitschriften lässt sich ein Bild destillieren: die Welt als durch Phänomene der Moderne bedrohte, vergiftete
und gefährdete Welt, geführt von unverantwortlichen
Eliten.64
Das grün-alternative
Paradigma hat sich freilich nicht recht weiter entwickeln können. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts begann allerdings die
Globalisierung einen neuen Fokus der Kritik für ein buntes Spektrum
von Protesten abzugeben: Alles, was man an den Lebensbedingungen
auszusetzen hatte, vom sozialstaatlichen Abbau über das umweltpolitische Versagen bis zu entwicklungspolitischen
Defiziten, wird in den
letzten Jahren mit dem Globalisierungstrend
in Zusammenhang
gebracht - manches zu Recht, manches zu Unrecht. Die >Versagenstatbestände< des wirtschaftlich-politischen
Systems sind in den letzten drei
Jahrzehnten
tatsächlich kaum weniger geworden. Einer Reihe von
Schwellenländern
geht es besser, aber die Hälfte der Bewohner dieser
Erde kämpft weiterhin gegen die bitterste Armut, und die Disparitäten
zwischen Ländern nehmen zu. Einige Flüsse wurden gesäubert, aber
der ökologische Ruin des Planeten - vom Ressourcenmangel
über die
Bodenerosion bis zu Wasserknappheiten
- schreitet voran. Der Migrationsdruck aus den Armutsregionen
wird zunehmen. In den Industrieländern gehen Errungenschaften
einer gesicherten Arbeitswelt im Flexibilisierungsprozess
verloren, Einkommen und Vermögen klaffen auch auf
nationaler Ebene immer weiter auseinander. Im Standortwettbewerb
werden wohlfahrts staatliche Programme abgebaut. Die internationalen
Finanzmärkte
destabilisieren die Weltwirtschaft. GATS kann unabsehbare Folgen haben. Letztlich könnten die Industrieländer
zu befestigten
Inseln werden, die gegen die Verelendeten dicht machen, die von außen
die luxuriöse Burg erstürmen wollen. Die etablierten Ökonomen haben
dafür nur einen Ratschlag: Märkte einrichten, Budgetpolitik disziplinieren, Hemmnisse beseitigen, in die Weltwirtschaft integrieren. Am Rande
63
64
OECD, Facing the Future. Mastering the Probable and Managing the Unpredictable,
Paris 1979; Reinhard Kaiser, Global 2000. Der Bericht an den Präsidenten.
14. Auf!,
Frankfurt/M.
1981;]an Tinbergen, Der RIO-Bericht an den Club of Rome. Wir haben
nur eine Zukunft. Reform der internationalen
Ordnung, Opladen 1977.
Vlrieh Beek, Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit,
Frankfurt/M.
1988;
ders., Risikogesellschaft.
Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/M.
1986.
100
gibt es Vorschläge über einen >Weltvertrag<65, einen >Weltstaat<66 oder
eine >WeltethikP, die allerdings oft eines gewissen Realitätsbezuges entbehren.
5. DAS LIBERTÄRE MODELL
In den 1970er Jahren wurde der Staat als Papiertiger entlarvt. Die Unfähigkeit der Experten wurde aufgezeigt. Verschwendung, Ineffizienz und
Korruption wurden einem aufgeblähten Staatsapparat nachgesagt. Die
skandinavischen Staaten näherten sich einem Staatsanteil von zwei Dritteln des Sozialprodukts,
die Mehrzahl der europäischen Staaten einem
Anteil von fünfzig Prozent, und nur >Ausreißer< wie die USA, die
Schweiz und Japan verharrten bei einem Drittel. Der Staat, so vermerkten nun liberale Kritiker, habe seine Aktivitäten in Bereiche ausgeweitet,
in denen er nichts zu suchen habe, sondern wo er bloß die individuelle
Entscheidungsfreiheit
bedrohe. Er behindere dadurch den Wirtschaftsprozess und schwäche die wirtschaftliche
Dynamik. Er sei daher zurückzudrängen,
sein Budget sei zu kürzen, seine Programme seien zurechtzustutzen: eine Entzauberung des Staates. 68
Ein neues Gesellschaftsbild war im Aufstieg: Der Staat wird darin nicht
mehr als pflegende und betreuende Institution gesehen, sondern als gefräßiger Leviathan, dem es seine Beute zu entreißen gilt. Nicht seine
Expansion ist erwünscht, sondern über Mittel zu seiner Eindämmung
wird nachgedacht. Wirtschaftstheoretiker
wie]ames M. Buehanan 69 propagierten Vertragsmodelle,
die verfassungsrechtliche
Einschränkungen
wirtschaftspolitischer
Aktivitäten des Staates sicherstellen sollen. Friedrieh von HayeFO plädierte für einen Minimalstaat klassischer Prägung,
um Dynamik und Innovativität sicherzustellen. Robert Noziek71 radikaDie Gruppe von Lissabon, Grenzen des Wettbewerbs. Die Globalisierung der Wirtschaft und die Zukunft der Menschheit, München 1997.
66 Ot/ried Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 1999.
67 Hans Küng, Weltpolitik und Weltethos. Status quo und Perspektiven, Wien 2002.
68 Helmut
Willke, Entzauberung des Staates. Überlegungen zu einer sozietalen Steuerungstheorie, Königstein 1983.
69 fames M. Buchanan, The Limits of Liberty. Between Anarchy and Leviathan, Chicago
1975.
70 Friedrich von Hayek,
Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, 2. Auf!., Zürich
1952 (Individualism and Economic Order, 1948); ders., Die Verfassung der Freiheit,
2. Auf!. Tübingen 1983; ders., Law, Legislation and Liberty. A New Statement of the
Liberal Principles of Justice and Political Economy (One Volume-Edition), LondonMelbourne- Henley 1982.
71 Robert Nozick, Anarchy, State and Utopia, New York 1974.
65
101
lisierte klassisch-liberale
Forderungen,
um den Staat an die Peripherie
abzudrängen. Politikwissenschaftler
prognostizierten
die Selbstüberforderung des allseitig engagierten Staates und zweifelten an seiner >Regierbarkeit<.72
Auch in der Ecke der Theoretiker gab es Veränderungen. Man verlegte
den Akzent von den sozialen Gruppen (wie bei den Klassikern oder bei
Keynes) zu den Individuen. Man setzte statt bei der Makroökonomie
bei der Mikroökonomie
an - und begann, die Makroebene
auf geschickte Weise aus dem Mikroverhalten
zu erklären.73 Der Monetarismus blieb ein Zwischenspiel, weil er im Grunde wie der Keynesianismus
makroökonomisch
ansetztet aber die Theorie der rationalen Erwartungen begann ihren Aufstieg.75 Die Rational Expectations hatten zwar
nicht mehr empirischen Gehalt als das Modell der herkömmlichen Nutzenmaximierung,
aber sie machten das ökonomische Verhaltensmodell
für die Gesamtwirtschaft
nutzbar. Rationale Erwartungen beziehen sich
auf die Zukunft: Menschen sind nicht völlig naiv, sie nutzen Informationen, um sich ein Bild erwartbarer wirtschaftlicher
Entwicklungen
zu
machen, und sie handeln entsprechend; alle Akteure zusammen kommen zu einer weitgehend korrekten Einschätzung
künftiger Entwicklungen - was schon deswegen der Fall sein muss, weil die Handlungen
dieser Akteure zusammen als self-fulfilling prophecies die Zukunftsmärkte bestimmen. Damit kann kein repräsentatives
Individuum den
Markt >ausnutzen<, und vor allem: Auch kein Nichtmarktteilnehmer
auch nicht der Staat - vermag den Markt zu überlisten, denn auch dieser
verfügt über keine bessere Voraussicht als irgendein repräsentativer Akteur. Damit ist die Regierung als Steuerungsinstanz
aus dem Rennen,
und die policy ineffectiveness proposition, derzufolge weder Fiskalpolitik
noch Geldpolitik langfristige reale Wirkungen zeitigen können, wird zu
einem mächtigen liberalen Argument. Der Staat ist draußen. Wenn er
72
Michel j. CrozierlSamuel P. HuntingtonlJoji Watanuki, The Crisis of Demoeraey.
ReCommission,
New York
1975; Wilhelm HennislPeter Graf KielmansegglUlrich Matz (Hg.), Regierbarkeit. Studien zu ihrer Problematisierung,
Stuttgart, 1977179.
Vgl. zum Problem Thomas C. Schelling, Mieromotives and Maerobehavior, New YorkLondon 1978.
Charles P. Kindleberger, Keynesianism vs. Monetarism and Other Essays in Finaneial
History, Boston-Sydney
1986; Sidney Weintraub, Keynes, Keynesians and Monetarists,
Philadelphia 1978.
Robert Fischer, Rational Expeetations and Eeonomie Poliey, Chieago 1980; Roger Guesnerie, Assessing Rational Expeetations: Sunspot Multiplieity and Eeonomie Fluetuations, Boston 2001.
port on the Governability
73
74
75
102
of Demoeraeies
to the Trilateral
eingreift,
stört er nur. Der Markt wird zu emem unbeeinflussbaren,
Gebilde.76
Die Wirtschaftspolitik
war seit den 1970er Jahren mit steigenden Arbeitslosenraten konfrontiert, und dennoch gelang es, das Thema aus den
Schlagzeilen zu verdrängen. Da kamen ökonomische Theorien gerade
recht, denen zufolge es gar keine >echten< Arbeitslosen gäbe; vielmehr
sei die Unterbeschäftigung
nur auf überhöhte Lohnerwartungen
und
77
Suchstrategien zurückzuführen.
Auch die >langen Wellen< wurden bemüht, um die Schicksalhaftigkeit des Geschehens zu verdeutlichen.78
Bleibt nur noch der Markt. Die liberalen Vorschläge wurden rasch in
politikpraktische
Empfehlungen umgemünzt: weniger Steuern, weniger
gleichsam naturwüchsigen
Auch die Neoklassiker und selbst die Neokeynesianer dachten auf dieser Linie weiter.
Ein weiteres Angebot folgte mit der neoklassischen Theorie. Ihre Vertreter akzeptierten
die Rationalerwartungshypothese und gründeten die Makroökonomie in mathematisch
rigoroser Weise auf Mikroprozesse mit gegebenen Präferenzen und gegebener Technologie. Die Annahme großer Fluktuationen in der Rate technischen Wandels mit entsprechenden Wirkungen für die relativen Preise von Gütern und weiteren Anpassungsprozessen wurde aber nicht generell als plausibel angesehen, zumal die Neoklassik mit ihren Exogenitätsannahmen auf der Ablehnung der Gesellschaftlichkeit ökonomischer
Akteure und Märkte beharrte. Auch die keynesianischen Verhaltenselemente - animal
spirits, liquidity preference, uncertainty - wurden wieder eliminiert. Selbst die neokeynesianische Ökonomie konnte sich dem Druck der Rationalverhaltenstheorie, die offenbar eine Art von ,Hintergrund-Paradigma< für alle Paradigmen darstellen sollte, nicht
mehr entziehen. Ihre Theoretiker erbrachten den Nachweis, dass die keynesianischen
Dysfunktionen auch in einer Wirtschaft bestehen können, in der die walrasianischen
und neoklassischen Annahmen gelten. Sie verwiesen auf institutionelle Rigiditäten und
auf Marktunvollkommenheiten verschiedenster Art und konnten tatsächlich viele Inkonsistenzen ausbügeln. Aber die Sache bekam langsam den Anschein eines insiderSpiels: Der Neokeynesianismus wurde ein Spiel, das gegen andere Ökonomen gespielt
wird, ein Puzzle-Unternehmen, das sich so weit von Keynes entfernt hat, dass es nicht
mehr über eine Vision der wirklichen Welt verfügt; vgl. dazu Robert Heilbroner, Kapitalismus im 21. Jahrhundert, München 1994.
" Die Theorie hatte zwei Aspekte. Der erste Aspekt war, dass zur Kenntnis genommen
wurde, dass es auf dem Arbeitsmarkt keine vollständige Information gebe. Arbeitslosigkeit bestand also deshalb, weil Arbeitslose mit überhöhten Erwartungen zu lange nach
attraktiven Jobs suchten, die sie im Laufe der Zeit zu finden hofften. Einen Schritt weiter ging man mit dem zweiten Aspekt: Die Informationsbeschaffung wurde gleichfalls
in das Rationalkalkül einbezogen. Intelligente Arbeitslose suchten so lange, bis die Kosten ihrer Suche die erwarteten Erträge überstiegen. Es gab also nicht nur Informationsdefizite, sondern so etwas wie ein Optimal niveau des Nichtwissens. Und es konnte
keine unfreiwillige Arbeitslosigkeit mehr geben. Die Optimalität der jeweils herrschenden Arbeitslosenrate war damit gesichert; vgl. George Stigler, The Economics of Information, in: Journal of Political Economy 69 (1961), 213-225.
" Walt W. Rostow, The World Economy. History and Prospect, London-Basingstoke
1978; ders., Getting From here To There. A Policy for the Post-Keynesian Age, London- Basingstoke 1978; Dieter PetzinalG. van Roon, Konjunktur, Krise, Gesellschaft.
Wirtschaftliche Wechsellagen und soziale Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert,
Stuttgart 1981; Christopher Freeman, Long Waves in the World Economy, London
1983.
76
103
Sozialausgaben,
weniger
Eingriffe.
Der Aufstieg individualorientierter
der Sozialwissenschaften79
machte die Betrachtungsweise
plausibel, dass man in erster Linie die autonomen Entscheidungen
der Menschen ins Auge zu fassen und im
Sinne ihrer größtmöglichen
Freiheit zu fördern hätte; schließlich ließ
sich bereits seit geraumer Zeit mit mathematischer Präzision beweisen,
dass marktförmige Prozesse zu den besten Ergebnissen für alle Akteure
führen.80 Deregulierung, Privatisierung, Ausgliederung und Entbürokratisierung waren jene Schlagworte, die ab dem Ende der 1970er Jahre an
Plausibilität stetig gewannen. Für die politische Elite war die Privatisierung eine Strategie mit spezifischen Vorteilen: Erstens war sie ein neues,
innovatives Programm, geeignet, das Vertrauen in die Tatkraft der Politiker wiederherzustellen.
Zweitens erlaubte sie der Regierung, sich von
Eingriffswünschen
zu befreien, die nicht mehr erfüllt werden konnten.
Drittens gestattete sie es, zusätzliche Einnahmen in einer Situation flüssig zu machen, in der die Staatskassen rapide austrockneten.sl
Rational- Choice- Theorien in allen Bereichen
Die Öffentlichkeit begann, die Welt in einem liberalen Gesellschaftsbild
zu sehen: als ein im Grunde selbststabilisierendes und dynamisches System, dessen entscheidender Vorzug in seiner Selbstorganisation
bestand,
mit nur marginalen Aufgaben für eine Regierung. Der neoliberale mainstream hat zwei Aspekte, einen wirtschaftstheoretischen
und einen gesellschaftlich-ordnungspolitischen.
Erstens: der wirtschaftstheoretische
Aspekt. Indem man dem wissenschaftlichen
Modell der Naturwissenschaften nacheiferte, wurde die Ökonomie formalisiert; insofern blieb
der mathematische Zweig Sieger im Kampf gegen (1) die >Historische
Schule<, (2) die sozialistischen
Strömungen,
(3) die >Österreichische
Schule<. Das Problem, dass die Formalisierung
bestimmte Annahmen
erzwingen musste, Annahmen, die das Marktmodell selbst inkonsistent
machten, hat dabei keine Rolle gespielt. Denn in einer Welt mit vollständiger Information, einer großen Zahl von Akteuren, keinen Transaktionskosten, voller Mobilität, blitzschnellen Anpassungsreaktionen
sind
tatsächlich alle Preise gegeben und entsprechen den Grenzkosten der
Produktion;
aber alle interessanten Fragen sind wegdefiniert: Es gibt
79
80
81
fames S. Coleman, Foundations of Social Theory, Cambridge/Mass.
1990.
feffrey Friedman, The Rational Choice Theory: Economic Models of Politics Reconsidered, 1996; Robin M. Hogarth, Rational Choice: The Contrast Between Economics
and Psychology, Chicago 1987.
Die radikalste Politik - Thatcherism - wurde in Großbritannien
betrieben, wo die ,Eiserne Lady< es schaffte, die Macht der Gewerkschaften
zu brechen und kühne Privatisierungsvorhaben
zu realisieren. Die Reaganomics waren demgegenüber
eher eine rhetorische Angelegenheit, immerhin mit der Wirkung, Sozialausgaben weiter zu kürzen.
104
keine Firmen, keine Gewinne, kein Ungleichgewicht,
keine >Entscheidungen<, kein unternehmerisches
Handeln. Das Modell des vollständigen Marktes ist nicht eine Idealisierung, sondern verzichtet auf die Analyse aller Vorgänge, die gerade für eine Marktwirtschaft
von Belang
sind. Konsequente Methodiker haben es demnach auch als >Entscheidungslogik< bezeichnet (und als solche für durchaus sinnvoll gehalten).
Aber im Alltag ging es doch immer wieder als hinreichende Annäherung an die Realität durch.82 Bemerkungen, die auf die Absonderlichkeit
solcher Annahmen hinwiesen, wurden immer wieder rasch eingemeindet.83 Zweitens: der gesellschaJtlich-ordnungspolitische
Aspekt. Die Welt
ist in diesem Modell bevölkert von autonomen, freien, ihrer selbst gewissen Individuen. Sie sind aufgeklärt, unmetaphysisch;
sie haben die
Suche nach dem guten Leben, nach Tugenden, nach Gewissheiten aufgegeben, sie sind tolerant. Märkte verkörpern für sie Flexibilität und Unverbindlichkeit. Sie sind für die Chancengleichheit,
aber gegen die Ergebnisgleichheit. Jeder ist seines Glückes Schmied. Sie sind gegen Privilegien und Pfründe, sie sind für Leistung, sie sind gegen ausgeprägte Sozialstaatlichkeit.84 Die extremen Libertären treiben es noch weiter: »For
the libertarian the state is but a criminal gang.«85 Auf Grund einer hundertjährigen Propagandakampagne
erkannten nur die meisten Leute den
82
83
84
85
Unterstützt wurde diese Vorgangsweise durch Milton Friedmans wissenschaftstheoretische Begleitmusik, derzufolge es kein Problem darstellt, wenn Annahmen eines Modells
unrealistisch sind; sie können, ja sie müssen unrealistisch sein, das Kriterium einer guten
Theorie ist nur ihre Vorhersagequalität.
Vgl. Milton Friedman, Essays in Positive Economics, Chicago 1953.
Ein typischer Fall sind die Coaseschen
Transaktionskosten.
Coase formulierte
im
Grunde nur die alte Einsicht, dass es auf einem Markt ohne Transaktionskosten
keine
Unternehmen
geben könne und dass die anfängliche Zuordnung von Eigentumsrechten
irrelevant sei, weil alle Güter zu ihren höchstwertigen
Verwendungen
streben würden.
Das Modell kann durchaus so verstanden werden, dass es die Absurdität solcher Annahmen dartut; de facto wurde es als neuerliche Bestätigung der Richtigkeit des Modells
vollkommener
Märkte verstanden; vgl. Ronald Coase, The Firm, the Market and the
Law (1938), Chicago 1988.
Vgl. Manfred Prisching, Die liberale Konzeption von Gesellschaft und Politik, in: Emil
BrixlPeter Kampits (Hg.), Zivilgesellschaft zwischen Liberalismus und Kommunitarismus, Wien 2003, 37-48.
Hier als aktuelles Beispiel: Walter Block, Decentralization,
Subsidiarity, Rodney King
and State Deification: A Libertarian Appr.oach, in: European Journal of Law and Econo mies 16 (2003) 2, 139-147, hier 139. Vgl. auch Murray Rothbard, Power and Market,
Government and the Economy, Menloe Parl, CA 1970; ders., For a New Liberty, New
York 1973; ders., The Ethic of Liberty, Atlantic Highlands, NJ 1982; Hans-Hermann
Hoppe, The Private Production of Defense, in: The Journal of Libertarian Studies 14
(1998-99) 1, 27-52; ders., Democracy, the God That Failed: The Economics and Politics
of Monarchy, Democracy and Natural Order, New Brunswick, NJ 2001; Walter Block,
Defending the Undefendable,
New York 1991; David Boaz (Ed.), The Crisis in Drug
Prohibition, Washington, DC 1990 und viele andere.
105
Sachverhalt nicht: »[T]hey refuse to recognize taxation as the theft it is;
the inflation of the central bank and Federal Reserve system for the
counterfeiting it is; and the military draft for the kidnapping it is.«86Es
ist ganz offensichtlich nicht die Zeit der Etatisten, sondern eher jene der
>Anarchisten<, auch wenn sie sich als libertäre Wirtschaftstheoretiker
verkleiden.
6.
DAS INSTITUTIONALISTISCH-SOZIOÖKONOMISCHE
MODELL
Einen »liberalen Realismus« - im Gegensatz zum skizzierten VulgärNeoliberalismus
- gibt es zuweilen auch.87 Er nimmt Grenzen wahr, die
der libertäre Fundamentalismus
oder der fundamentalistische
Libertarianismus (diese Begriffe sind eigentlich Paradoxa) nicht sieht: Er nimmt
zur Kenntnis, dass Märkte ein embedding brauchen, ein passendes kulturelles Rahmenwerk,88 das möglicherweise durch einen ungehemmten
Marktmechanismus
gefährdet wird, und dass auch sozialpolitische Absicherungen ihren wirtschaftlichen
Wert haben. Gerade in Transformationszeiten ist sichtbar, dass der Spätkapitalismus verschiedentlich wieder in seine frühkapitalistische
Phase zurückfällt. In vielen Teilen der
Welt blüht ein Sippen- und Familienkapitalismus,
ein Staatskapitalismus
und ein Abenteurerkapitalismus,
ein Eroberer- und Militärkapitalismus,
zum Teil unter Verhältnissen, die Korruption, Erpressung, Gewalt und
Krieg einschließen.89 Es genügt offenbar nicht, Privateigentum
zu etablieren, um selbsttätig funktionierende
Märkte ins Leben zu rufen.
Märkte sind eine Sache der Wirtschaftskultur.
Das ist nicht neu; die Kritiker des neoklassischen mainstreams berufen
sich nicht zu Unrecht auf ökonomische Leitfiguren wie Adam Smith,90
86
87
SR
89
90
Block, Dezentralization
(Anm. 85), 139.
Peter]. Boettke (1997, 13) hat für den übertriebenen
Formalismus eine schöne Formulierung gefunden: "Too much realism may kill analysis, but too little realism is unscientific. If theoretical coherence alone were all that mattered, then the only constraint on
theoretical
exercises would be the human imagination.«
(ders., What Went Wrong,
1997,13).
Kar! Polanyi, The Great Transformation.
Politische und ökonomische
Ursprünge von
Gesellschaften und Wirtschaftssystemen,
Wien 1977; Mark Granovetter, Economic Action and Social Structure. The Problem of Embeddedness,
in: American Journal of Sociology 93 (1985),481-510.
Günther Roth, Max Weber und der globale Kapitalismus damals und heute, in: Gert
SchmidtlRainer Trinczek (Hg.), Globalisierung.
Ökonomische
und soziale Herausforderungen am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts,
Baden-Baden 1999, 29-39.
Franz-Xaver KaufmannlHans-Georg Krüsselberg, Markt, Staat und Solidarität bei
Adam Smith, Frankfurt-New
York 1984.
106
Gustav
Sch mo ller9
I
oder
Werner
Sombart.
92
Die
institutionalistische
Schule reiht sich nur ein in eine lange Tradition,
schaftstheorie zugrunde liegende Menschenbild
wenn sie das der Wirtanzweifelt: das Individuum als allwissende, rationale Figur, autonom in seinen Entscheidungen und frei in der Anwendung seiner Mitte1.93 Stattdessen wird die
Vielseitigkeit menschlicher Handlungsmotivationen
betont, die Einbettung in Sitten, Gewohnheiten,
Gesetze, Macht, die Ambivalenz von Altruismus und Egoismus; das Handeln unter Neid und Statusgesichtspunkten; die Unsicherheit, unter der jede Entscheidung zu fällen ist; die
Existenz sozialer Konflikte und Ungleichgewichte;
Märkte in ihren Prägungen durch das Rechtssystem oder die vorherrschenden
Sitten und
Gebräuche. Methodisch vereint der Institutionalismus
historische, pragmatistische und evolutorische Elemente. Er ist beeinflusst von der >Historischen Schule<, wehrt sich mit deren Vertretern gegen überzeitliche
Gesetzmäßigkeiten,
betont die Notwendigkeit
historischer und soziologischer Untersuchungen94
im Gegensatz zur bloßen mathematischen
Modellbildung.95 Das Gesellschaftsbild, das von Vertretern dieser Richtung verwendet wird, ist komplexer, weist aber keine deutlichen Konturen auf, die allen Repräsentanten
gemeinsam sind oder die auch nur ein
>Hauptmodell< konstituieren; es handelt sich um eine breite Strömung,
die keine einheitliche theoretische Entwicklung zu verzeichnen hat.
Die österreichische Schule hat ihren >klassischen Zweig<. Neuerdings
berufen sich aber viele, die nur einen kruden Marktliberalismus
vertreten, auf diese Tradition. Die wesentliche Botschaft, die aus der peripheren österreichischen Ecke erschallt, wird nur an den Rändern der Ökonomie gewürdigt: die Botschaft, dass es das eigentliche, der Analyse
91
92
93
94
95
Manfred Prisching, Schmollers
Gesellschaftstheorie,
in:}ürgen G. Backhaus (Hg.), Gustav von Schmoll er und die Probleme von heute, Berlin 1993, S. 185-219.
Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus (Band I, 1 & I, 2: Die vorkapitalistische
im Zeitalter des FrühkapitaWirtschaft; II, 1 & II, 2: Das europäische Wirtschaftsleben
lismus; III, 1 & III, 2: Das Wirtschaftsleben
im Zeitalter des Hochkapitalismus),
München 1987.
So etwa bereits die Kritik von Veblen: »The hedonistic conception of man is that of a
lightning calculator of pleasures and pains, who oscillates like a homogeneous
globule
of des ire of happiness under the impulse of stimuli that shift hirn about the area, but
leave hirn intact .... He is an isolated, definitive human datum, in stable equilibrium except for the buffets of the impinging forces that displace hirn in one direction or another.« (Thorstein Veblen, Why is Economics Not an Evolutionary
Science (1898), in:
ders., The Place of Science in Modern Civilisation and Other Essays (1919), New York
1990, 56-81.
Geoffrey Hodgson, How Economics Forgot History: The Problem of Historical Specificity in Social Sience, New York 2001.
Norbert Reuter, Der Institutionalismus.
Geschichte
und Theorie der evolutionären
Ökonomie, Marburg 1994.
107
bedürftige Problem einer Marktgesellschaft
sei, mit Fragen wie unvollständigem Wissen, verstreuter Information, tacit knowledge, Unsicherheit, temporalen Anpassungsverläufen
und unvorhersehbaren
Veränderungen umzugehen.
Eine Markt- oder Unternehmergesellschaft
lebt
grundsätzlich von Unsicherheiten,
von Asymmetrien, von Ungleichgewichten, von unterschiedlichen
Einschätzungen und dergleichen. Wenn
man diese Phänomene apriori ausschließt,96 verliert man alles aus dem
Blick, was am Markt wertvoll und interessant ist: das unternehmerische
Verhalten und Geschick, Motivationsprobleme,
Phänomene des Lernens, das Erkennen von Chancen und vieles andere.
SCHLUSSBEMERKUNGEN
Es konnten nur einige Hauptströmungen
der Ökonomie angesprochen
werden. Wir scheinen uns - um mit Thomas Kuhn 97 zu sprechen - in
einer multiparadigmatischen
Phase zu befinden, denn das Feld der Disziplin hat sich aufgesplittert. Während die angesehenen Zeitschriften
nach wie vor auf den Formalismus fixiert sind, regt sich das Leben an
den Rändern: von der Spieltheorie bis zur Behavioural Economics,98 von
der >neoinstitutionellen
Ökonomie<99 bis zur >Sozioökonomie<,loo von
der >evolutionistischen
Ökonomie<101 bis zur >verstehenden Ökonomie<,I02von der Wirtschaftskulturforschung103
bis hin zur Chaostheorie.
Mit der Aufsplitterung
der Zugänge zur Ökonomie haben sich auch
jene Gesellschaftsbilder
vervielfacht, die - manchmal bewusst, oft unbewusst - im Hintergrund der konkreten Theorien stehen.
96
97
Die Eingemeindung in das neoklassische Modell kann man als Sonderform des Ausschlusses sehen; darunter verstehen wir den Einbezug von Unsicherheitsphänomenen
und dergleichen in den neoklassischen Kanon: der optimierende Zugang zum Informationsproblem, der kalkulierende Zugang zum Zukunftsproblem und dergleichen.
Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. 2. Auf!., Frankfurt/M.
1976.
98
99
100
101
102
103
Reid Hastie/Robyn M. Dawes, Rational Choice in an Uncertain World. The Psychology of Judgement and Decision Making, Thousand Oaks-London-New Delhi 2001.
Oliver E. Williamson, The New Institutional Economics: Taking Stock, Looking
Ahead, in: Journal of Economic Literature 38 (2000), 595-613.
Egon Matzner/Wolfgang Streeck: Beyond Keynesianism. The Socio-Economics of Production and Full Employment, Aldershot (UK)- Brookfield (USA) 1991.
David B. Hamilton, Evolutionary Economics: A Study of Change in Economic
Thought, New Brunswick, N.J. 1999; Geoffrey M. Hodgson, Economics and Evolution.
Bringing Life Back into Economics, Cambridge (UK) 1993.
Don Lavoie (Ed.), Economics and Hermeneutics, London 2001.
Vg!. etwa Bertram Schefold, Wirtschaftsstile. Band 1: Studien zum Verhältnis von Ökonomie und Kultur, Frankfurt/M. 1994; Rainer Klump (Hg.), Wirtschafts kultur, Wirtschaftsstil und Wirtschaftsordnung. Methoden und Ergebnisse der Wirtschaftskulturforschung, Marburg 1996.
108