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RETO ROSSLER VOM VERSUCH BAUTEILE ZUR ZIRKULATIONSGESCHICHTE EINER IMPLIZITEN GATTUNG DER AUFKLARUNG RETO ROSSLER VOM VERSUCH Die Aufklärung errichtet Systeme, zugleich und vermehrt aber entwirft sie ihr Wissen in Versuchen. Der Versuch der Aufklärung bewegt sich dabei in einem epistemischen Zwischenraum, er partizipiert an der aufkommenden Experimentalkultur wie auch der Praxis des essayistischen Schreibens ohne gleichsam in einer von beiden vollends aufzugehen. Die Studie nimmt es mit einer im 18. Jahrhundert immens beliebten, dort jedoch meist implizit gebliebenen und in der Forschung bislang unberücksichtigten Gattung auf. Sie verfolgt Möglichkeitsbedingungen und ‚Zirkulationsbewegungen‘ des Versuchs in verschiedenen Erkenntnisfeldern wie auch sein rasches ‚Ende‘ an der Wende zum 19. Jahrhundert. Reto Rössler Vom Versuch Kaleidogramme Bd. 142 Reto Rössler ist Literatur- und Kulturwissenschaftler an der Universität Innsbruck. Er ist Mitarbeiter im DFG-Projekt ›Versuch‹ und ›Experiment‹. Konzepte des Experimentierens zwischen Naturwissenschaft und Literatur (1700−1960) und Doktorand im PhD.Net. Das Wissen der Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin. Reto Rössler Vom Versuch Bauteile zur Zirkulationsgeschichte einer impliziten Gattung der Aufklärung Kulturverlag Kadmos Berlin Gedruckt mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Projekts ›Versuch‹ und ›Experiment‹. Konzepte des Experimentierens zwischen Naturwissenschaft und Literatur (1700−1960) [GZ BE 4065/4-1] Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Copyright © 2017, Kulturverlag Kadmos Berlin Wolfram Burckhardt Alle Rechte vorbehalten Internet: www.kulturverlag-kadmos.de Gestaltung und Satz: kaleidogramm, Berlin Umschlaggestaltung: Lena Hösl Druck: Axlo Printed in EU ISBN 978-3-86599-332-8 Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Versuche über Versuche 7 – Neuer Experimentalismus / Literatur- und Wissenschaftsgeschichte 9 – Essay, Experiment und Aufklärung / Zirkulationsgeschichte / ›Versuch‹ als implizite Gattung 14 – Versuchsplan 19 Kapitel 1 – Begriff des Versuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Begriffsarbeit 23 – Versuch als Probe 26 – ›Sich Mühe geben‹ / ›Mit Fleiß‹ 33 – Beobachter versus Experimentator / Das Neue 39 Kapitel 2 – Waage und Essay . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Essay und Experiment um 1600 45 – Einpendeln und Auspendeln (Montaigne) 50 – ›Assaying‹ des Essais (Galilei) 57 – Abwägung & Neigung (Bacon) 63 Kapitel 3 – Kunst, Versuche zu machen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Knappe Evidenzen 71 – Evidenz und Einbildungskraft (Baumgarten) 74 – Wahrscheinlichkeit und Hypothese (Haller) 77 – Versuchskunst, assoziativ (von Rohr) 82 – Erfindungskunst (Flögel) 89 – Geschicklichkeit/Genauigkeit/Aufmerksamkeit (Wolff/Nollet/Anon.) 95 – Versuch als Verfahren 105 Kapitel 4 – Versuchszirkulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Vermittlungen: Empirie und Metaphysik 109 – Begründungsversuche (A–C): A. Dunkle Kraft. Elektrizität um 1740 (Gordon/Nollet/Bunsen) 113 – B. Ordnungslücken, Anthropologie (Pope/Krüger/Platner/ Wezel) 122 – C. Form und Poetik (Gottsched/Haller/Sucro) 132 Kapitel 5 – Enden des Versuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Umbau des Erkenntnismodells: Kamera und Auge 155 – Endspiel I: Transzendentale Wende, zweimal (Kant) 163 – Endspiel II: Vermittler, reihenweise (Goethe) 174 – Nachleben 190 Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Abbildungsverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Einleitung Versuche über Versuche »In diesen Zeiten, da man dieses alles versucht, und so viel Versuche über Versuche schreibt…«1 So beginnt ein kurzer Text des Berliner Reformpädagogen Friedrich Eberhard von Rochow, erschienen in der Deutschen Monatsschrift des Jahres 1794. Angespielt ist damit zunächst auf die Ereignisse der unmittelbaren Gegenwart: Man habe »durch Umstürzung oder Untergrabung alles bisher für wahr gehaltenen die Menschen besser zu machen versucht.«2 Diese letztlich gescheiterten Versuche auf dem Gebiet des Sozialen und Politischen bilden für von Rochow aber nur den aktuellen Aufhänger oder vielmehr die neueste Entwicklung einer kulturellen Praxis, die deutlich weiter zurückreicht. Das Ende des Jahrhunderts gewährt Distanz und die Einnahme eines erhöhten Standpunktes, von dem aus eine Überschau möglich wird: Als Versuch über den Versuch – so der Titel des Aufsatzes – blickt von Rochow zurück auf die Entwicklung einer Wissenskultur, die unter dem Vorzeichen eines auf nahezu allen Erkenntnisfeldern sich rasant verändernden, nicht-festgestellten VersuchsWissens stand. Dabei folgt seine Argumentation vordergründig einem wissenschaftskritischen Impetus. Der Titel etwa versteht sich durchaus als Wissenschaftssatire. Er hebt ab auf eine Explosion – und damit verbunden: eine Inflation des Versuchs-Begriffs im 18. Jahrhundert. Man habe »das Unsichtbare zu sehen, das Unhörbare zu hören, das Unfühlbare zu fühlen versucht: und dem, das nicht ist, noch seyn kann, zu gebieten daß es sey«.3 Ein Blick in die Bibliothekskataloge bestätigt die Zeitdiagnose von Rochows. Tatsächlich wird seit etwa 1710 gerne und vermehrt versucht. Während der Katalog der Staatsbibliothek zu Berlin für den Zeitraum von 1590 bis 1690 gerade einmal 16 Versuchs-Titel aufführt, sind es für die Spanne der darauffolgenden hundert Jahre (1690–1800) immerhin bereits 1 2 3 Friedrich Eberhard von Rochow: Versuch über den Versuch, in: Deutsche Monatsschrift (1794), 3−10, hier: 3. Ebd. Ebd. 8 Einleitung 3799. Das ist, selbst wenn man die steigende Zahl der Buchpublikationen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts und den höheren Anteil lateinischer Titel im 17. Jahrhundert dagegenstellt, noch immer eine recht beachtliche Steigerung. Dieser Befund deckt sich zudem mit einer entsprechenden Abfrage des korpusbasierten google-Dienstes ngrams.4 Der ab etwa 1710 einsetzende steile Anstieg der Kurve, der bis etwa 1800 anhält, verdeutlicht diese Entwicklung. Erst danach flacht die Kurve ab und bewegt sich für den Zeitraum der kommenden Jahrzehnte auf relativ konstantem Niveau. Doch, und auch darauf deutet die polemische Aufzählung von Rochows hin, wird nicht nur häufig, sondern auch auf allen möglichen Gebieten des Wissens versucht. Während im heutigen Sprachgebrauch die Techniken und Praktiken des Versuchs in der Verengung der Begriffsbedeutung am ehesten mit naturwissenschaftlichen Forschungsprozessen assoziiert werden, war dies im 18. Jahrhundert noch keineswegs der Fall. So verweist die häufige Verwendung, die von Rochow karikiert, auf den inflationären Gebrauch ebenso wie auf die hohe Produktivität des Versuchs-Begriffs im 18. Jahrhundert. Auch dies bestätigt ein Blick auf die immense Fülle der Versuchs-Titel der Zeit: Es gibt etwa den Versuch von einer Historie der Land-Charten (1711), den Versuch einer magnetischen Theorie (1720), Versuch über die Electricität (1746), Versuche von Lehrgedichten und Fabeln (1747), Versuch einer Cosmologie (1751), Versuch einer näheren Bestimmung des Neides (1755), Versuch einer neuen Mineralogie (1760), Versuch über die Kunst fröhlich zu sein (1760), Versuch über die Physio- 4 Quelle: Google ngrams: Dargestellt wird die Worthäufigkeit von Versuch in deutschsprachigen selbstständigen Publikationstiteln im Zeitraum 1650–1850 [zuletzt abgerufen am 19.06.2016]. Neuer Experimentalismus / Literatur- und Wissensgeschichte 9 kratie (1782), Versuch über das Fuhrwesen (1787), Versuch über Steuern und Abgaben (1795) et cetera. So beliebig diese Auswahl auch sein mag, sie demonstriert, dass der Versuchs-Begriff im 18. Jahrhundert keinesfalls disziplingebunden verwendet wird. Er wird hier noch nicht synonym zum Experiment-Begriff gebraucht und beschränkt sich damit nicht ausschließlich auf die experimentierenden Disziplinen der sich parallel herausbildenden Naturwissenschaften der Zeit. Vielmehr taucht er in nahezu allen Bereichen des Wissens auf: in den angewandten Wissenschaften wie auf dem Gebiet der reinen Theorie; auf dem Feld der Metaphysik wie im Bereich des Empirischen; in der Naturforschung ebenso wie in den Wissenschaften vom Menschen, der Kunst und der Ästhetik. Von Rochow zieht daraus den Schluss (wenngleich er diesen wohl auch etwas einseitig als wissenschaftskritische Spitze wendet), dass der Gebrauch des Versuchs noch keinesfalls klar sei, weshalb sein eigener ›Versuch zweiter Ordnung‹ noch einmal »die Bühne« betreten müsse. Es ist wohl der Kürze der Gattung, womöglich auch dem begrenzten Textrahmen, den der Herausgeber der Zeitschrift vorgab, geschuldet, dass dieser ›Auftritt‹ mit insgesamt sechs nachfolgenden Seiten, verteilt auf drei Abschnitte, sehr kurz ausfällt. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Dennoch, aus der nun größeren zeitlichen Distanz, gleichsam im Rückblick des Rückblicks, lassen sich einige der hier vorgefundenen Hinweise noch einmal neu aufnehmen. Neuer Experimentalismus / Literatur- und Wissensgeschichte Wohin diese führen werden, wird sich (hoffentlich) zeigen. Nur einen Schritt abseits existieren jedoch bereits Orientierungsmarken und Wegweiser. Nicht der Versuch, wohl aber der Begriff des Experiments nimmt seit langem einen zentralen Stellenwert innerhalb der Wissenschaftsgeschichtsschreibung ein. Im Blick auf die Anfänge einer Forschungsgeschichte des Experiments ergibt sich zunächst das Bild einer paradoxen Entwicklung. Einerseits muss man der Bemerkung Hans-Jörg Rheinbergers wohl zustimmen, es mute trivial an, »wenn man heute sagt, die neuzeitliche Wissenschaft sei experimentell verfasst«.5 Denn insbesondere die ältere Historiographie hat die Umbrüche innerhalb von Wissenschaftssystemen als ganzen wie von naturwissenschaftlichen Einzeldisziplinen entlang der Geschichte des Experiments erzählt. Daraus formierte sich die Geschichte 5 Hans-Jörg Rheinberger: Kulturen des Experiments, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 30 (2007), 135−144, hier: 135. 10 Einleitung eines sich kontinuierlich entwickelnden, stabilisierenden und der Wahrheit immer weiter annähernden Wissens – ein Narrativ, das darüber hinaus maßgeblich von Seiten der Wissenschaftstheorie gestützt wurde. Sowohl der Logische Empirismus des Wiener Kreises als auch der Kritische Rationalismus, die bis zum letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts wohl wirkungsmächtigsten Strömungen auf diesem Gebiet, sahen beide im Experiment ein trennscharfes »Abgrenzungskriterium« zwischen einer rationalen Wissenschaft, die stetig voranschreitet, und einer nicht-wissenschaftlichen »Pseudowissenschaft« bzw. »Metaphysik«, die dies nicht tut.6 Möglicherweise war es aber genau diese scheinbare Selbstverständlichkeit, mit der man Wissenschaft bzw. Wissenschaftlichkeit und Experiment gleichsetzte, die zu dem Umstand geführt hat, dass eine wirkliche Beschäftigung mit historischen Experimenten lange Zeit vernachlässigt wurde. Denn weder der Philosophie noch der Geschichtsschreibung ging es in diesen Anfängen tatsächlich um eine Beschreibung der vielfältigen Funktionen, die dem Experiment in unterschiedlichen Forschungskontexten zu verschiedenen Zeiten zugekommen ist. Für den Wissenschaftsphilosophen Thomas S. Kuhn wie für den Historiker Alexandre Koyré, so Michael Heidelberger, »ist eine wissenschaftliche Revolution vor allem eine ›intellektuelle Mutation‹, also eine Revolution des Geistes und keine experimentelle Innovation«.7 Seit dem Beginn der 1980er Jahre hat sich diese Perspektive jedoch grundlegend verändert. Hier setzte eine historische wie theoretische Beschreibung des Experiments ein, die sich nicht mehr primär an den experimentellen Ergebnissen und ebenso wenig an wissenschaftlichen Theorien und Hypothesen orientiert, sondern stattdessen die komplexen politischen, sozialen und technischen Bedingungen der Herstellung von wissenschaftlichen Objekten in Experimenten und Laboren in den Blick nimmt.8 Erst unter einer solchen Fokussierung auf die Materialitäten und Institutionen der Wissensproduktion ist das Experiment als historisch gewachsenes und historisch variables Element sowie als eigenständiger Akteur des Forschungsprozesses hervorgetreten. Eine erste epochemachende Studie innerhalb dieses neuen Paradigmas, das seit einigen Jahren unter dem Begriff new experimentalism firmiert, war Steven Shapins und Simon 6 7 8 Vgl. Rudolf Carnap: Scheinprobleme in der Philosophie und andere metaphysikkritische Schriften. Hg. v. Thomas Mormann. Hamburg 2004, bes. 49−63; Karl Popper: Logik der Forschung. Tübingen 2005, bes. 12−15. Michael Heidelberger: Experiment und Instrument, in: Helmar Schramm, Ludger Schwarte, Jan Lazardzig (Hg.): Spektakuläre Experimente. Praktiken der Evidenzproduktion im 17. Jahrhundert. Berlin/New York 2006, 378−397, hier: 386 [Herv. R.R.]. Siehe hierzu z.B. Karin Knorr-Cetina: The Manufacture of Knowledge. An Essay in the Constructivist and Contextual Nature of Science. Oxford/New York u.a. 1981. Neuer Experimentalismus / Literatur- und Wissensgeschichte 11 Schaffers Leviathan and the Air-Pump (1985). Am Beispiel der Luftpumpe Robert Boyles machen die beiden Autoren bewusst einen möglichst unvoreingenommenen »stranger’s account«9 jenseits der bekannten Fortschrittsnarrative aus, um von hier aus eine kleinschrittig und äußerst widerständig verlaufende Etablierung wissenschaftlicher Tatsachen und Praktiken beobachten zu können. Angestrebt wird die historische Rekonstruktion eines Forschungsprozesses, die zeigt, dass die Fragen nach den epistemischen Objekten stets untrennbar mit Fragen der Politik und Macht verbunden sind. So existierte zum Ende des 17. Jahrhunderts im Umkreis der Royal Society neben Boyles Programm einer experimental philosophy mit der heute weitgehend vergessenen natural philosophy Thomas Hobbes’ eine zweite, ähnlich angesehene wissenschaftliche Vorgehensweise. In jeweils abwechselnden Kapiteln zu Boyle und Hobbes beschreiben Shapin und Schaffer nun in erster Linie die unterschiedlichen sozialen und rhetorischen Praktiken der beiden Konkurrenten, etwa das geschickte Mobilisieren von glaubhaften Zeugen der Experimentalbeobachtung (virtual witnessing). Eine zentrale Pointe der Arbeit bestand im Hinweis darauf, dass gerade nicht ›harte‹ rationale Argumente, ›gute‹ Theorien oder entscheidende Experimente, sondern vielmehr die vermeintlich weicheren Techniken des sozialen Verkehrs und der Überredung der Boyle’schen experimental philosophy letztlich zum Durchbruch verholfen haben.10 Ebenfalls zu Beginn der 1980er Jahre wurde eine medizinhistorische Arbeit wiederentdeckt, die erstmals bereits im Jahr 1935 erschienen war. In Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache fragt der Immunologe Ludwik Fleck nach den Praktiken der Forschergruppe um den Bakteriologen August von Wassermann, die zu Beginn der 1920er Jahre ein Testverfahren zur Diagnose von Syphilis entwickelt hatte.11 Entlang der beiden Begriffe Denkstil und Denkkollektiv arbeitet Fleck – entgegen den zeitgleich entstehenden positivistischen Philosophien, die einen voraussetzungslosen Beobachter behaupten – sowohl die Prozesshaftigkeit 9 10 11 Steven Shapin, Simon Schaffer: Leviathan and the Air-Pump. Hobbes, Boyle, and the Experimental Life. Princeton 1985, 4. Neben der Historiographie hat sich (wenn auch in ganz unterschiedlichen Ansätzen) ebenso die Wissenschaftstheorie dieser Neuperspektivierung des Experiments angeschlossen: Vgl. hierzu z.B. Ian Hacking: Representing and Intervening. Introductory Topics in the Philosophy of Natural Science. Cambridge 1983; Bruno Latour (Hg.): Science in Action. How to follow Scientists and Engineers through Society. Cambridge/Mass. 1987; David Gooding: Experiment and the Making of Meaning. Human Agency in Scientific Observation and Experiment. Dordrecht u.a. 1990. Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Mit einer Einleitung von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle. Frankfurt am Main 1980. 12 Einleitung als auch die soziale Bedingtheit wissenschaftlicher Tatsachen, etwa die Bereitschaft zum gemeinsamen gerichteten Beobachten, heraus. In den vergangenen beiden Jahrzehnten hat Hans-Jörg Rheinberger diesen begonnenen practical turn schließlich in Richtung einer Theorie der Experimentalsysteme entwickelt.12 Neben den Arbeiten Flecks schließt er dazu an die beiden Begründer einer Historischen Epistemologie im 20. Jahrhundert, Gaston Bachelard und Georges Canguilhem, an.13 Am Beispiel der Proteinsynthese im Reagenzglas Mitte der 1950er Jahre begreift Rheinberger das Experiment nicht als Prüfverfahren, das Entscheidungen erzwingt, indem es Theorien entweder bestätigt oder widerlegt (experimentum crucis). Losgelöst von der einseitigen Beschränkung auf die technischen Apparaturen richtet sich sein Interesse stattdessen auf Experimentalsysteme als »kleinsten vollständigen Arbeitseinheiten der Forschung«.14 Diese umfassen Kommunikationsstile, Beobachtungsordnungen und soziale Praktiken, ihr Zusammenspiel innerhalb eines Forscherkollektivs spannt zudem einen Möglichkeitsraum auf, in dem sich wissenschaftliche Objekte stets in der Schwebe befinden. Stärker als Fleck und Shapin/Schaffer hebt Rheinberger damit auf den Aspekt der Kontingenz des Wissens bzw. Nicht-Wissens, des Vermutens und ImDunkeln-Tappens in Laborkontexten ab.15 Insbesondere im Bereich der angloamerikanischen Science Studies sind in den letzten Jahren zahlreiche Studien erschienen, die sowohl historisch vergleichend als auch innerhalb einer Epoche die Vielheit und Heterogenität einzelner Experimentalkulturen in den Blick genommen haben.16 12 13 14 15 16 Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas. Frankfurt am Main 2006. Zu Beginn seiner Einführung bringt Rheinberger dieses Forschungsprogramm auf eine prägnante Formel: Historische Epistemologie meint weniger eine Theorie der Erkenntnis im Wandel der Zeiten, sondern vielmehr eine »Reflexion auf die historischen Bedingungen, unter denen, und die Mittel, mit denen Dinge zu Objekten des Wissens gemacht werden […].« – Hans-Jörg Rheinberger: Historische Epistemologie zur Einführung. Hamburg 2007, 11. Ferner: Gaston Bachelard: Epistemologie. Hg. v. Friedrich Balke. Übers. v. Henriette Beese. Frankfurt am Main 1993, 17−33 und Georges Canguilhem: Der Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte, in: Wolf Lepenies (Hg.): Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Gesammelte Aufsätze. Frankfurt am Main 1979, 22−37. Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, 25. Vgl. Hans-Jörg Rheinberger: Strukturen des Experimentierens. Zum Umgang mit Nichtwissen, in: Hans Erich Bödeker, Peter Hanns Reill, Jürgen Schlumbohm (Hg.): Wissenschaft als kulturelle Praxis, 1750−1900. Göttingen 1999, 415−425. Einen guten Überblick über dieses Forschungsfeld bietet Mario Biagioli (Hg.): The Science Studies Reader. New York 1999. Für die deutschsprachige Diskussion dieser Phase einschlägig waren: Hans-Jörg Rheinberger, Michael Hagner (Hg.): Die Experimentalisierung des Lebens. Experimentalsysteme in den biologischen Wissenschaften 1850/1959. Berlin 1993 sowie Christoph Meinel (Hg.): Instrument – Experiment. Historische Studien. Berlin 2000. Neuer Experimentalismus / Literatur- und Wissensgeschichte 13 Während beispielsweise Peter Dear für die Frühe Neuzeit eine Vielfalt der Erfahrungsbegriffe und damit verbunden ganz unterschiedliche Konzepte des Experimentierens unterscheidet,17 hat der von Helmar Schramm u.a. herausgegebene Band Spektakuläre Experimente. Praktiken der Evidenzproduktion im 17. Jahrhundert eine barocke Kultur des Experimentierens beleuchtet, die gerade nicht auf das Finden des Neuen, sondern das Bezeugen, also das Herstellen von sinnlicher Evidenz, abzielt.18 Parallel dazu und häufig im Anschluss an die Arbeiten Rheinbergers19 hat sich zuletzt auch die Literaturwissenschaft für die Geschichte des Experiments interessiert. Unter der wissenspoetologischen Prämisse, Literatur als ein Medium zu begreifen, »das am Wissen seiner Zeit teilhat«,20 lag der Einsatzpunkt hier bei den rhetorischen, narrativen und medialen Praktiken, mittels derer Wissen im Rahmen historischer Experimentalanordnungen »erläutert, repräsentiert und distribuiert« wurde.21 Dabei etablierte sich eine doppelte Optik auf die sowohl inkludierende wie exkludierende Seite der Wissensproduktion. Mit Blick auf die narrative Konstruktion ließen sich einerseits komplexe Wechselwirkungen zwischen historischen Experimentalanordnungen und literarischen Einzelgattungen beobachten, wie etwa dem Fragment der Aufklärung oder der Novelle im 18. und 19. Jahrhundert.22 Anhand konkreter historischer Beispiele konnte gezeigt werden, wie diese jeweils ein experimentelles Wissen mit hervorbrachten, 17 18 19 20 21 22 Peter Dear: Discipline & Experience. The Mathematical Way in the Scientific Revolution. Chicago 1995, bes. 124−151 (= Ch. 4); bzw. Peter Dear: The Meanings of Experience, in: Katharine Park, Lorraine Daston (Hg.): The Cambridge History of Science. Bd. 3: Early Modern Science. Cambridge 2006, 106−132. Helmar Schramm, Ludger Schwarte, Jan Lazardzig (Hg.): Spektakuläre Experimente. Praktiken der Evidenzproduktion im 17. Jahrhundert. Berlin/New York 2008. Vgl. hierzu bes. Falko Schmieder: »Experimentalsysteme« in Wissenschaft und Literatur, in: Michael Gamper (Hg.): Experiment und Literatur. Themen, Methoden, Theorien. Göttingen 2010, 17−39. Michael Gamper: Dichtung als ›Versuch‹. Literatur zwischen Experiment und Essay, in: Zeitschrift für Germanistik 17 (2007), 593−611, hier: 593. Zur Wissenspoetologie vgl. Joseph Vogl: Einleitung, in: Ders. (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800. München 1999, 7−19 sowie Joseph Vogl: Poetologien des Wissens, in: Harun Maye, Leander Scholz (Hg.): Einführung in die Kulturwissenschaft. München 2011, 49−73. Vgl. Michael Gamper: Zur Literaturgeschichte des Experiments – eine Einleitung, in: Ders. (Hg.): »Es ist nun einmal zum Versuch gekommen«. Experiment und Literatur I: 1580−1790. Göttingen 2009, 9−30, hier: 13. Gamper verfolgt diese Wissensgeschichte des Experiments in insgesamt drei Teilbänden; des Weiteren sind erschienen: Michael Gamper, Martina Wernli, Jörg Zimmer (Hg.): »Wir sind Experimente: Wollen wir es auch sein!« Experiment und Literatur II: 1790−1890. Göttingen 2010 sowie Michael Bies, Michael Gamper (Hg.): »Es ist ein Laboratorium, ein Laboratorium für Worte«. Experiment und Literatur III: 1890−2010. Göttingen 2011. Vgl. hierzu. Gunhild Berg (Hg.): Wissenstexturen. Literarische Gattungen als Organisationsformen von Wissen. Frankfurt am Main u.a. 2014 sowie Michael Bies, Michael Gamper (Hg.): Gattungs-Wissen. Wissenspoetologie und literarische Form. Göttingen 2012. 14 Einleitung aber ebenso umgekehrt, wie sie dabei im Zuge epistemischer Umbrüche als Gattungen transformiert wurden. Auf der anderen Seite offenbarte diese Perspektive den Blick auf eine Praxis des Experimentierens, das es nur in seinen Ausnahme- und Grenzfällen mit Wissen im Sinne von stabilen wissenschaftlichen Gegenständen und Tatsachen, in aller Regel dagegen mit unterschiedlichen Formen des Nicht-Wissens zu tun hat.23 Diese Formen können ein Wissen betreffen, das im Verborgenen bleibt, ein Scheitern von Experimenten, aber ebenso ein bewusst ausgeschlossenes, verbotenes und/oder gefährliches Wissen.24 Im Hinblick auf eine Wissensgeschichte des Versuchs im 18. Jahrhundert ließe sich an jede dieser drei Entwicklungen der neueren Experimentalgeschichte anschließen: Als solche richtet sie den Blick auf die Prozesshaftigkeit des Wissens und die Orte seines Entstehens, auf seine Rhetoriken, Kommunikationsstile und Affektlagen sowie die Praktiken, Verfahren und Darstellungsformen der Wissensproduktion.25 Essay, Experiment und Aufklärung / Zirkulationsgeschichte / ›Versuch‹ als implizite Gattung Neben den zuletzt genannten Arbeiten sind in den vergangenen Jahren noch eine Reihe weiterer kulturwissenschaftlicher Studien erschienen, wobei auffällt, dass sich diese mehrheitlich auf zwei historische Zeitabschnitte konzentrieren: Die beiden Hochphasen für eine historische Epistemologie des Experiments bilden offenbar zum einen die Phase vom ersten Drittel des 17. Jahrhunderts bis zum Jahrhundertende26 sowie zum anderen, 200 23 24 25 26 Vgl. hierzu Friedrich Balke: Der Riesenmaulwurf. Zur Rolle des Nicht-Wissens bei Kafka und Foucault, in: Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte 5 (2009), 13−31; Michael Gamper: Nicht-Wissen und Literatur. Eine Poetik des Irrtums bei Bacon, Lichtenberg, Novalis, Goethe, in: IASL 34/2 (2010), 92−120 sowie die beiden Sammelbände: Hans Adler, Rainer Godel (Hg.): Formen des Nicht-Wissens der Aufklärung. München 2010 und Michael Bies, Michael Gamper (Hg.): Literatur und Nicht-Wissen. Historische Konstellationen 1730−1930. Göttingen 2012. Vgl. hierzu Irina Gradinari, Dorit Müller, Johannes Pause (Hg.): Versteckt – Verirrt – Verschollen. Reisen und Nicht-Wissen. Wiesbaden 2015. Vgl. hierzu Philipp Sarasin: Was ist Wissensgeschichte?, in: IASL 36 (2011), 159−172. Neben dem Band Spektakuläre Experimente sind vier weitere Publikationen in der Reihe Theatrum Scientiarum erschienen: Helmar Schramm, Hans-Christian von Herrmann, Florian Nelle et al. (Hg.): Bühnen des Wissens. Interferenzen zwischen Wissenschaft und Kunst. Berlin 2003; Ludger Schwarte, Helmar Schramm, Jan Lazardzig (Hg.): Instrumente in Kunst und Wissenschaft. Zur Architektonik kultureller Grenzen im 17. Jahrhundert. Berlin 2006; Helmar Schramm, Ludger Schwarte, Jan Lazardzig (Hg.): Spuren der Avantgarde. Theatrum Machinarum. Berlin 2008; Helmar Schramm, Ludger Schwarte, Jan Lazardzig (Hg.): Spuren der Avantgarde. Theatrum Anatomicum. Frühe Neuzeit und Moderne im Kulturvergleich. Berlin/New York 2011. ›Versuch‹ als implizite Gattung 15 Jahre später, die Phase vom Ende der ›Goethezeit‹ bis etwa zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.27 Für diese Schwerpunktsetzungen gibt es Gründe. Das 17. Jahrhundert ist, wie bereits angedeutet, die Phase, in der sich über das systematische Anstellen von Experimenten erstmals ein Verständnis von naturwissenschaftlicher Forschung im modernen Sinne herausbildet. In einer relativ kurzen Zeitspanne werden eine Vielzahl wissenschaftlicher Instrumente zur Beobachtung und Vermessung natürlicher Objekte und Phänomene entwickelt.28 Als Demonstration einer Herrschaft des Menschen sowohl über die Natur als auch das eigene Innere, seine Leidenschaften und seine Ängste vor dem Übersinnlichen, werden Wissenschaft und Experimentieren zu wichtigen Funktionselementen höfischer (und seit dem 19. Jahrhundert: nationaler) Selbstrepräsentation.29 Das 19. Jahrhundert ist zudem durch die Professionalisierung der Experimentaltechniken sowie die Ausweitung des Experimentierens auf nahezu alle Gebiete des Wissens gekennzeichnet. Im Zuge der Durchsetzung positivistischer Methodologien wird das Experiment in den einzelnen naturwissenschaftlichen Disziplinen zum zentralen Erkenntnisverfahren und entwickelt dabei vielfältige Techniken der Objektivierung, Stabilisierung und Sicherung von Messergebnissen. Und ebenso werden diese Techniken nun auch von den sich neu herausbildenden Human- und Gesellschaftswissenschaften30 sowie der Ästhetik und Kunst der Zeit übernommen.31 27 28 29 30 31 Vgl. hierzu Henning Schmidgen, Peter Geimer, Sven Dierig (Hg.): Kultur im Experiment. Berlin 2004; Marcus Krause, Nicolas Pethes (Hg.): Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert. Würzburg 2005; Sabine Schimma, Joseph Vogl (Hg.): Versuchsanordnungen 1800. Zürich 2009; Raul Calzoni, Massimo Salgaro (Hg.): »Ein in der Phantasie durchgeführtes Experiment«. Literatur und Wissenschaft nach Neunzehnhundert. Göttingen 2010. Zudem wurden bereits zwei Spezialformen des Experiments für diese herausgearbeitet und näher beleuchtet: Zum einen das Gedankenexperiment (Thomas Macho, Annette Wunschel (Hg.): Science & Fiction. Über Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur. Frankfurt am Main 2004), zum anderen die Geschichte des Menschenversuchs (Nicolas Pethes, Birgit Griesecke, Marcus Krause et al. (Hg.): Menschenversuche. Eine Anthologie 1750−2000. Frankfurt am Main 2008). Vgl. hierzu Engelhard Weigl: Instrumente der Neuzeit. Die Entdeckung der modernen Wirklichkeit. Stuttgart 1990. Vgl. hierzu z.B. Mario Biagioli: Galilei, der Höfling. Entdeckung und Etikette. Vom Aufstieg der neuen Wissenschaft. Übers. v. Michael Bischoff. Frankfurt am Main 1999. Vgl. Gunhild Berg: Zur Konjunktur des Begriffs »Experiment« in den Natur-, Sozial-, und Geisteswissenschaften, in: Michael Eggers, Matthias Rothe (Hg.): Wissenschaftsgeschichte als Begriffsgeschichte. Terminologische Umbrüche im Entstehungsprozess der modernen Wissenschaften. Bielefeld 2009, 51−82. Vgl. hierzu Georg Jäger: Art. ›Experimentell‹, in: Georg Braungart, Harald Fricke, Klaus Grubmüller et al. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. 3 Bde. Berlin/ New York 1997, Bd. 1, 546−547; Gunhild Berg: Art. ›Experimentieren‹, in: Ute Fritsch, Jörg Rogge (Hg.): Über die Praxis des kulturwissenschaftlichen Arbeitens. Ein Handwörterbuch. Bielefeld 2013, 138−144. 16 Einleitung Zwischen diesen beiden ›hot spots‹ der Experimentalgeschichte erschien das 18. Jahrhundert bislang eher als eine unspektakuläre Zwischenphase, in der sich die Formen des Experimentierens parallel zur Etablierung des Wissenschaftssystems schrittweise ausdifferenzierten.32 Michael Gamper beschreibt diese Phase als eine gleichsam konservative Reaktion auf die sich entwickelnden Experimentalverfahren des vorherigen Jahrhunderts. Während im 17. Jahrhundert noch »Fiktion, Narration und Rhetorik« in ihren »produktiven und repräsentativen Aspekten« einen entscheidenden Anteil an der Wissensproduktion hatten, folge nun eine Abschließung nach innen: Einbildungskraft und Fiktion seien im 18. Jahrhundert durch die »messenden und sich mathematisierenden Wissenschaften unter Druck« geraten; im Zuge dessen hätten sich »Praktiken und Definitionen des Experiments« sowie die »dabei zugelassenen Verfahren« ausdifferenziert.33 Eine solche umfassende Ausgrenzung des Fiktiven und Narrativen im 18. Jahrhundert deckt sich jedoch beispielsweise nicht mit den rückblickenden Beobachtungen von Rochows. Hatte dieser nicht gerade das heuristische, explorative und spekulativ-hypothetische Potential der Versuchs-Texte hervorgehoben? Damit also noch einmal zurück zum Versuch der Aufklärung. Wie lässt es sich erklären, dass diese Gattung hier einerseits eine solche Konjunktur erfährt, andererseits jedoch selbst im Urteil der Zeitgenossen derart unterbestimmt bleibt? Auch ungeachtet der Ratlosigkeit, die sich im Urteil von Rochows ausdrückt, ist es auffällig, dass sich ebenso in den Vorworten und Einleitungen der oben genannten Versuchs-Texte zumeist keine Erläuterungen zur Wahl des Titels finden. Immerhin zeigt sich eine erste Referenz in den englisch- und französischsprachigen Übersetzungen. Die mehr als hundert Jahre zuvor begründete Form des Essai/Essay wurde im 18. Jahrhundert, wie sich etwa an den Übertragungen von Leibniz, Pope oder Diderot ins Deutsche ablesen lässt, nahezu ausnahmslos mit Versuch übersetzt.34 Daneben steht jedoch eine Vielzahl an Texten, die 32 33 34 Dieses Desiderat benennt auch Marie-Theres Federhofer in der Einleitung ihres JahrbuchBandes Experiment und Experimentieren im 18. Jahrhundert. Das 18. Jahrhundert erweise sich »aus wissenschaftshistoriographischer Perspektive tatsächlich oft als merkwürdig schwach profiliert«. Zugleich erhebt der Band jedoch nicht den Anspruch, diese Forschungslücke zu schließen, sondern beschränkt sich auf vier einzelne »Mikrostudien zum Experiment«. – Marie Theres Federhofer: Vorwort, in: Experiment und Experimentieren im 18. Jahrhundert (= Cardanus. Jahrbuch für Wissenschaftsgeschichte; Bd. 5) (2005), 7−14, hier: 12. Michael Gamper: Experimentelle Differenzierungen im 19. Jahrhundert. Eine Einleitung, in: Michael Gamper, Martina Wernli, Jörg Zimmer (Hg.): »Wir sind Experimente: Wollen wir es auch sein!«. Experiment und Literatur II: 1790−1890. Göttingen 2010, 9−23, hier: 12. Herrn Gottfried Wilhelm von Leibnitz Theodicaea oder Versuch und Abhandlung, wie die Güte und Gerechtigkeit Gottes, in Ansehung der menschlichen Freyheit, und des Ursprungs ›Versuch‹ als implizite Gattung 17 auf den ersten Blick keine oder nur sehr wenige Eigenschaften mit dieser Gattung teilen. Ebenso wenig lässt sich die These aufrechterhalten, der Versuch folge einem ausschließlich rhetorischen Gestus der Bescheidenheit (captatio benevolentiae). Als 1799 Alexander von Humboldts Versuche über die chemische Zerlegung des Luftkreises erscheinen, hatte ihr Verfasser bereits fünf (teils mehrbändige Monographien), daneben eine größere Anzahl an Artikeln und Aufsätzen publiziert und war in der damaligen akademischen Welt gewiss kein unbekannter Autor mehr. Bereits das Inhaltsverzeichnis der Abhandlung lässt ihre Zugehörigkeit zu einer ganz anderen Wissenstradition erkennen. Humboldt geht es hier darum, seine eigens angestellten Experimente vorzustellen und damit ein experimentelles Verfahren zur chemischen Analyse der Luft zu beschreiben.35 Das alles legt den Schluss nahe, dass es sich bei der Fülle der Versuche in dieser Phase um Texte handelt, die sich gattungspoetologisch nicht klar zuordnen lassen, sondern sich viel eher in Grenzbereichen zwischen unterschiedlichen Gattungen und Wissenstraditionen bewegen und gerade dadurch eine heuristisch produktive Kraft entfalten. Während somit die ›Abschließungs‹-These mit Blick auf die Versuchs-Texte zumindest in Frage gestellt werden darf, lässt sich jedoch an eine andere These Michael Gampers anschließen, die dieser in einem früheren Aufsatz entwickelt hatte. In Dichtung als Versuch begreift er die von Francis Bacon zu Beginn des 17. Jahrhunderts konzipierte Methodologie des Experiments und Michel de Montaignes Begründung der Gattung Essai zum Ende des 16. Jahrhunderts als voneinander verschiedene und doch gleichursprüngliche »Instrumente der Wissensbildung«.36 In einem historischen Längsschnitt argumentiert Gamper sodann, dass der Literatur der letzten 400 Jahre über ihre Eigenschaft, Medium der »Beobachtung zweiter Ordnung« zu 35 36 des Bösen, zu vertheidigen. Übers. v. Georg Friedrich Richter. Amsterdam 1726; Herrn Barthold Heinrich Brockes aus dem Englischen übersetzter Versuch vom Menschen des Herrn Alexander Pope […]. Hamburg 1740; Denis Diderot: Versuche über die Mahlerey, aus dem Französischen übersetzt v. Carl Friederich Cramer. Riga 1797. Alexander von Humboldt: Versuche über die chemische Zerlegung des Luftkreises und über einige andere Gegenstände der Naturlehre. Braunschweig 1799. Gamper, Dichtung als Versuch, 593. – Vor Gamper hatte bereits Wolfgang Müller-Funk die Geschichte des »Essayismus« in den Kontext einer Erfahrungswissenschaft gestellt und dessen erste Entwicklungsphase von Montaigne bis Novalis unter der Programmatik einer »Phänomenologie der Erfahrung« beschrieben: Wolfgang Müller-Funk: Erfahrung und Experiment. Studien zu Theorie und Geschichte des Essayismus. Berlin 1995. Ferner perspektiviert die Doppelsemantik des Versuchs als Experiment und Essay in seiner Einleitung: Gerhard Gamm: Im Zwielicht des Versuchs. Experimentieren in Philosophie und Wissenschaften, in: Ders., Jens Kertscher (Hg.): Philosophie in Experimenten. Versuche explorativen Denkens. Bielefeld 2011, 15−37, hier: 24f. 18 Einleitung sein sowie die Perspektive des »Auch-anders-möglich-Seins«, VersuchsCharakter zukam.37 Diese These wird hier noch modifiziert und erweitert. Die epistemischen Funktionen, die Literatur ab einem bestimmten Zeitpunkt übernimmt bzw. übernehmen kann, können hier auf die konkrete Materialität der Versuchs-Texte bezogen werden: Nicht nur versuchen seit dem 17. Jahrhundert die Texte, sondern es kommt, mit etwas Vorlauf, eine neue, eigenständige Gattung des Versuchs auf, die in ihrer Oszillation zwischen den Polen Essai und Experiment trotz der Häufigkeit ihres Auftretens im Verborgenen bleibt, weil ihre Referenzen meist nicht explizit gemacht werden. Wenn Christoph Eberhards Versuch einer magnetischen Theorie (1720), Johann Christoph Gottscheds Versuch einer critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1730) und Johann Gottlob Krügers Versuch einer Experimental-Seelenlehre (1756) hinsichtlich ihrer disziplinären Zugehörigkeit, aber ebenso bezüglich ihrer textuellen Verfahren anscheinend nur wenig verbindet, sie aber dennoch alle unter dem einen Titel des Versuchs firmieren, lässt sich grundsätzlich nach den Gründen dafür fragen. Sollte es sich hierbei um eine implizite Gattung handeln: Aus welchen Wissenstraditionen und -bereichen geht der Versuch dann hervor? Welche Breite epistemischer Funktionen, Praktiken und Verfahren umspannt er? Und wodurch erklärt sich schließlich sein schrittweises Verschwinden? Damit richtet sich der Blick auf eine Geschichte des Wissens, in der neben den wissenschaftlichen Objekten auch die Medien der Darstellung die Rolle von handelnden Akteuren einnehmen können.38 Dass etwa historischen Wissenschaftsmetaphern eine solche Eigendynamik zukommen kann, ist bereits verschiedentlich nachgewiesen worden. So hat zum Beispiel Georges Canguilhem in einem mittlerweile kanonischen Aufsatz gezeigt, wie die Metapher der Regulation ihren Ursprung zunächst noch als Regler in der Mechanik des 18. Jahrhunderts nahm und von hier aus in den biologischen und physiologischen Diskurs des 19. Jahrhunderts diffundierte, wo sie zum zentralen Funktionselement der Organisation pflanzlicher und tierischer Lebewesen wurde.39 Ausgehend von Canguilhem 37 38 39 Gamper, Dichtung als Versuch, 604. Die Bedeutung von Dingen im Forschungsprozess, die hier eine eigene Handlungsmacht entwickeln (z.B. Laborinstrumente, Hotelschlüssel, das Ozonloch, Mikroben), hat Bruno Latour hervorgehoben. – Vgl. hierzu z.B. Bruno Latour: Drawing Things Together. Die Macht der unveränderlich mobilen Elemente, in: Andréa Belliger, David J. Krieger (Hg.): ANTthology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld 2006, 259−309. Vgl. Georges Canguilhem: Die Herausbildung des Konzepts der biologischen Regulation im 18. und 19. Jahrhundert. Übers. v. Michael Bischoff, Walter Seitter, in: Wolf Lepenies (Hg.): Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Gesammelte Aufsätze. Frankfurt am Main 1979, 89−110. Versuchsplan 19 hat vor Kurzem Eva Johach den Begriff der Metaphernzirkulation vorgeschlagen und hieran die These geknüpft, dass gerade solche Metaphern ein interdiskursiv hohes Zirkulationspotential aufwiesen, die sich »durch eine konstitutive Unschärfe auszeichnen«.40 Möglicherweise lässt sich am Beispiel des Versuchs aufzeigen, dass es sich mit Textsorten und literarischen Gattungen ganz ähnlich verhalten kann. Auch der Versuch im 18. Jahrhundert musste seinen Weg als ›Zwischengattung‹ zuerst finden. Seine Bewegungen sollen hier in einer Art Zirkulationsgeschichte nachverfolgt werden, die ausgehend von seinem Aufkommen, seinen Merkmalen und Funktionen in zwei Richtungen verfolgt wird: zum einen im archäologischen Rückblick auf die Handlungs-, Wissens- und Erkenntnisbereiche, aus denen der Versuch im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts hervorging; zum anderen im poetologischen Horizontalblick auf die Funktionen, Interaktionen und Bewegungen, die er zwischen Gattungen und Disziplinen während der Phase seiner Konjunktur über- bzw. unternommen hat. Versuchsplan Daraus ergibt sich folgender Plan. Die doppelte Optik vertikal/horizontal legt grob zwei größere Teile nahe, einen ersten, der die Formationsbewegungen der impliziten Gattung Versuch nachverfolgt. Am Anfang stehen dabei – mit Thomas S. Kuhn gesprochen – ›Aufräumarbeiten‹. Wenn die Versuche selbst ihre Herkunft nicht offenlegen, sind zunächst die zeitgenössischen Hilfsmittel zur Wort- und Bedeutungserläuterung zu befragen (Kapitel 1).41 Wie also wurde die Bedeutung von Versuch (bzw. Experiment) in historischen Wörterbüchern und Lexika der Aufklärung mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten – etwa Universallexika, Wissenschaftslexika, Sprachwörterbücher etc. – bestimmt? Ebenso wichtig ist es, dabei auch die Querverweise der Artikel zu berücksichtigen, um 40 41 Vgl. Eva Johach: Metaphernzirkulation. Methodologische Überlegungen zwischen Metaphorologie und Wissenschaftsgeschichte, in: Matthias Kroß, Rüdiger Zill (Hg.): Metapherngeschichten. Perspektiven einer Theorie der Unbegrifflichkeit. Berlin 2011, 83−105. Historische Analysebeispiele einer solchen Betrachtung versammeln: Philipp Sarasin, Andreas B. Kilcher (Hg.): Zirkulationen (= Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte, H. 7). Berlin/Zürich 2011. Zur Begriffsgeschichte und Historischen Semantik siehe Reinhart Koselleck: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Hg. v. Carsten Dutt. Frankfurt am Main 2006; Hans Erich Bödeker: Ausprägungen der historischen Semantik in den historischen Kulturwissenschaften, in: Ders. (Hg.): Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte. Göttingen 2002, 7−29; Carsten Dutt (Hg.): Herausforderungen der Begriffsgeschichte. Heidelberg 2003 sowie Christoph Strosetzki (Hg.): Literaturwissenschaft als Begriffsgeschichte (= Archiv für Begriffsgeschichte Sonderheft 8). Hamburg 2010. 20 Einleitung auf diese Weise ein Wortfeld des Versuchs zu erschließen, das bereits erste Rückschlüsse auf die verknüpften Versuchspraktiken zulässt. Jedoch sind auch die Grenzen einer solchen historischen Semantik bereits benannt worden.42 Weil diese allein die denotative Seite von Begriffsbedeutungen erfasst, nicht aber den ungleich größeren, jenseits liegenden Bereich des Unbegrifflich-Metaphorischen wie auch des Unausgesprochenen berücksichtigt, richtet sich der Blick darauf aufbauend auf den Handlungscharakter der Versuchs-Texte.43 Dazu ist zunächst historisch noch ein Schritt weiter zurückzugehen und die Anfänge von Experiment und Essay zu Beginn des 17. Jahrhunderts zu eruieren (Kapitel 2). Hierbei kommt es darauf an, die epistemologischen Bedingungen zu beleuchten, unter denen beide in relativer zeitlicher Nähe aufkommen konnten. Welche Bedeutungen, Wissens- und Handlungskonzepte wurden etwa mit Experiment und Essay/Essai in dieser Anfangszeit verbunden? Auf welche intellektuellen Problemlagen reagierten sie? Welche Erkenntnisoperationen teilten sie und worin unterschieden sie sich? An die Ergebnisse zur Begriffs- und Gattungsgeschichte des Versuchs schließt ein weiteres Kapitel an, welches eine Reihe von Versuchstheorien des 18. Jahrhunderts, die je unterschiedlichen Erkenntnisbereichen zugeordnet werden, behandelt. Herausgearbeitet werden hierin Vermögen, Techniken und Verfahren, welche die doppelte – gleichermaßen vorsichtige wie selbstbewusste – Absicht verfolgen, mit einem unsicheren Wissen einerseits bestmöglich umzugehen, andererseits aber auch die Erkenntnis aktiv zu erweitern und neues Wissen hervorzubringen (Kapitel 3). Während also die ersten drei Kapitel nach den Möglichkeitsbedingungen des Versuchs als (impliziter) Gattung fragen, wenden sich die beiden letzten Kapitel seinen Bewegungen und Wechselwirkungen im Laufe des 18. Jahrhunderts zu. So untersucht das vierte Kapitel Versuchszirkulation die epistemischen Funktionen des Versuchs in den Bereichen Metaphysik, Naturforschung, Anthropologie sowie Poetik und veranschaulicht damit zugleich die Vielseitigkeit und Wandlungsfähigkeit dieser Denkform um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Gibt es aber Bedingungen der 42 43 Vgl. hierzu Hans Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit. Hg. v. Anselm Haverkamp. Frankfurt am Main 2007; Hans Ulrich Gumbrecht: Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte. München 2006 sowie den Band: Michael Eggers, Matthias Rothe (Hg.): Wissenschaftsgeschichte als Begriffsgeschichte. Terminologische Umbrüche im Entstehungsprozess der modernen Wissenschaften. Bielefeld 2009. Damit folgt die Arbeit dem Vorschlag für eine ›erweiterte Begriffsgeschichte‹. – Vgl. hierzu Gunhild Berg: Die Geschichte der Begriffe als Geschichte des Wissens. Methodische Überlegungen zum ›practical turn‹ in der Historischen Semantik, in: Ernst Müller, Falko Schmieder (Hg.): Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften. Zur historischen und kulturellen Dimension naturwissenschaftlicher Konzepte. Berlin/New York 2008, 327−343. Versuchsplan 21 Versuchs-Formation, so auch solche der Auflösung. Jenen wendet sich das Schlusskapitel am Beispiel von Kant und Goethe zu. Es fragt nach den epistemischen Umbrüchen um 1800, die zu einem relativ schnellen Abflachen der Gattung beitragen sowie nach den Praktiken und Verfahren, die an ihre Stelle treten. Ihrer Anlage nach ist die Arbeit damit historisch wie diskursiv recht weit gefasst. Dies bedingt im Einzelnen Mut zur Lücke und die Beschränkung auf nur einige wenige Aspekte. Eine vollständige Beschreibung des Versuchs der Aufklärung soll und kann hier nicht geleistet werden. Wir verfahren so, wie die Texte, die wir beschreiben, wollen also kein Gebäude errichten, wohl aber erste Bauteile zur (vergnüglichen) Weiterverwendung bereitstellen.