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Lisa Riedner Arbeit! Wohnen! Urbane Auseinandersetzungen um EU-Migration Eine Untersuchung zwischen Wissenschaft und Aktivismus edition assemblage Arbeit! Wohnen! Urbane Auseinandersetzungen um EU-Migration Eine Untersuchung zwischen Wissenschaft und Aktivismus von Lisa Riedner Ebook - PDF-Ausgabe, 2019 www.edition-assemblage.de Copyright © 2018 edition assemblage ISBN 978-3-96042-039-2 (Print Ausgabe) Lektorat: Desz Debreceni (Edition Assemblage) Satz & Cover: Alma (Edition Assemblage) Gefördert durch die Hans-Böckler-Stiftung und die Graduiertenschule für Geisteswissenschaften Göttingen (GSGG) Inhalt Danksagung 1 Einleitung 3 Der ‚Tagelöhnermarkt‘ zwischen Ausbeutung, Rassismus und Widerstand ‚Tagelöhnermarkt‘ als Einheit? ‚Tagelöhnermarkt‘ als Außen? ‚Tagelöhnermarkt‘ als rassistische Figur ‚Tagelöhnermarkt‘ in der Arbeitsgesellschaft Tagelöhnermarkt als Teil globaler Ausbeutungs- und Klassenverhältnisse Selbstorganisierter Arbeitsmarkt als widerständiger Raum und Ausbeutungstechnologie zugleich Selbstorganisierter Arbeitsmarkt als intersektionelle und überdeterminierte Formation Die relationale Autonomie von Migration und Arbeiter*innen Die Frage nach dem Regieren Fragestellung und Ausblick auf die Kapitel Konflikt als Methode – Ein Ansatz zwischen Wissenschaft und Aktivismus Ethnographic research revisited Regime als ontologisches Konzept Die ethnografische Regimeanalyse Perspektive der Kämpfe und Konflikt als Methode Verhältnis Wissenschaft und Aktivismus? Justice for Janitors? Unwahrnehmbare und sichtbarwerdende Kämpfe gegen Prekarisierung, Ausbeutung und Migrationskontrolle Vor dem Arbeitsgericht 3 6 10 12 18 20 28 31 35 37 41 47 47 51 55 57 65 73 73 Die Verhandlung 74 Fragestellung 76 Rassistische Anrufungen vor Gericht 78 Representational und Imperceptible Politics 80 Mehr arbeiten für weniger Lohn?! Migrantische Arbeit im Reinigungsgewerbe 85 Ausbeutung und Überausbeutung 90 Prekarisierung als Technologie des Regierens und Quelle von Widerstand 92 Transnationale Migrationsprojekte Entfliehen und Fordern Kampf um Deutung – Der ‚Tagelöhnermarkt‘ zwischen Ärger, Endstation und Sprungbrett „Was, in München?!“ Endstation, Sprungbrett oder Ärger? Der Kampf um die Deutung der Figur ‚Tagelöhnermarkt‘ Intersektionale Assemblagen des Rassismus 97 101 103 103 105 120 Kolonial bis postliberal – Artikulationen des Rassismus 121 Stuart Halls Repräsentationsregimeanalyse als Werkzeugkasten 125 ‚Schwarzarbeiter‘, ‚Ungeziefer‘, ‚Freiwild‘ – Eine Assemblage des Rassismus Die Behörden lassen uns alleine! Produktive Moralpaniken 127 139 Markieren, Vertreiben und Aufklären – Sicherheitspraktiken am selbstorganisierten Arbeitsmarkt Grüne Bänder: Zollkontrolle als Effekt der Moralpanik 143 145 Grüne Bänder als Zwang und Markierung 147 Aufklären, Vertreiben oder Eindämmen? 148 Alltägliche Begegnungen mit Sicherheitspraktiken am selbstorganisierten Arbeitsmarkt Perspektiven aus den Sicherheitsbehörden 154 161 „Wenn der normale Fußgänger auf der Straße ausweichen muss...“ – Das Problem aus Sicht einer Polizeistreife 161 „Passanten wandten sich angewidert ab“ – Problembeschreibung eines Bußgeldbescheids 166 „München wird bunter und lebendiger, aber auch lauter“ – Armutszuwanderung als Schwerpunkt städtischer Sicherheitspolitik 168 Wider die Repressionshypothese 171 Obdachlosenpolitik und Grenzziehungen städtischer Bürgerschaft Umkämpfte Stadtbürgerschaft 175 175 Konflikt um Wohnraum I – Ein ‚Härtefall’ 180 Street-level Bureaucracy 184 Jalla Wohnungsamt! Eine Genealogie der Münchner Obdachlosenpolitik gegenüber Migrant*innen 186 Institutionen der Münchner Obdachlosenpolitik 186 Politische Paradigmen 189 Paradigmenwechsel „Wohnen statt Unterbringen“ – from welfare to workfare? 192 Entdeckung und Definition des Problems 197 Anfrage 2006: Einrichtung eines Sondertopfes 197 Anfrage Untersbergstraße 2009/2010: ‚Münchner Problemhaus‘? 200 Podiumsdiskussion: „Was unter den Nägeln brennt...“ 202 Runder Tisch bei ver.di: „Da sträuben sich sämtliche Haare!“ 204 Konflikt um Wohnraum II: „Jalla Wohnungsamt!“ 206 Runder Tisch Hilfebedürftige Zuwanderer*innen 207 Der Amtsleiter: „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“ 209 Erneute Krise des Unterbringungssystems wird ausgerufen 213 Versuche der Problemlösung, Entwicklung neuer Instrumente 214 Dienstanweisung Meldefrist 6 Monate 214 „Beratung, da müssen wir mehr tun“ 216 Thesenpapier gegen ‚Anreize zum Verbleib‘ 220 Weitere Dienstanweisungen 221 Konflikt um Wohnraum III: Zugang unmöglich 223 Gesamtplan Wohnen statt Unterbringen 2012: Ausschluss als Schutz 225 Eine Frage der Kälte: Kälteschutz als humanitaristisches Ausweichmanöver 228 Runder Tisch Armutszuwanderung: Verfestigungstendenzen vermeiden 231 Konflikt um Wohnraum IV: Kundgebung gegen Null-Grad-Regelung 235 Multiple Grenzziehungen Nachtrag Soziale Union oder nationale Souveränität des Sozialstaats? Aushandlungen am EuGH 238 240 243 Neues Terrain Rechtlicher Rahmen in the making Soziale Union vs. nationale Wohlfahrtssouveränität: Strategien am EuGH Sala 1998, Grzelczyk 2001 und Baumbast 2002: Unionsbürger*innen diskriminieren verboten? 243 246 249 251 Änderung des Sekundärrechts: die Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG 254 Tas/Tas-Hagen 2006 & Morgan/Bucher 2007: Freizügigkeit als Grundfreiheit? 257 Verhältnismäßig freizügig – Seilziehen vor Gericht 258 D’Hoop 2002 & Collins 2004: Bezug zum Arbeitsmarkt 260 Trojani 2004: Solidarität für „arme Schlucker“ 261 Bidar 2005 und Förster 2008: Aufenthaltskriterium 262 Hartz IV für nichterwerbstätige Unionsbürger*innen?! 265 Vatsouras/Koupatantze 2009: Wider die deutsche Ausschlussklausel 265 Änderung des Sekundärrechts: Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit 268 Dano 2014 und Alimanovic 2015: Migrationskontrolle statt soziale Union 270 Resümée: Der kurze Sommer der Sozialunion. Oder: Wie die Nation vor ‚Sozialtourismus‘ geschützt wurde 276 Nachtrag: Die Grenzen der Freizügigkeit und der selbstorganisierte Arbeitsmarkt in München Workfare verschärft - Zwischen Aktivierung und Ausschluss Der soziale Frieden ist bedroht – Vom Städtetagspapier zur Verschärfung des Freizügigkeitsgesetzes Die Münchner Ausländerbehörde als Aktivierungsinstanz Das Münchner Jobcenter als Grenzbehörde 279 281 281 289 296 Perspektiven aus dem Jobcenter München 299 Hartz IV beantragen 301 Sozialhilfemissbrauch bekämpfen 305 Über Aktivierung und Ausschluss hinaus 309 „What sort of crisis is this?“ 313 Literaturverzeichnis 323 Danksagung Dieses Buch ist durch unzählige Menschen, Situationen und Begegnungen geprägt. Es ist unmöglich, alle Personen zu nennen, die Anteil an der Entstehung dieser Arbeit hatten, aber wenigstens einigen möchte ich meinen persönlichen Dank aussprechen. Zu allererst möchte ich den Menschen danken, mit denen ich im Workers’ Center der Initiative Zivilcourage zusammen gearbeitet, gekämpft und Zeit verbracht habe – von niemandem habe ich mehr gelernt. Hier seien stellvertretend Ahmed M., Anton C., Birgit R., Christian B., Hristo V., Isabel G., Jonathan D., Julia E., Julia S., Meike T., Nadka E., Nina R., Oğuz L., Pembe A., Raia A., Savas T., Vasvie Y. und Vildan S. genannt – teşekkür, mersi, благодаря! Die Netzwerke e4a, MigrAr und transnational social strike haben mir gemeinsame, translokale Perspektiven eröffnet und den Mut nicht verlieren lassen. Weiterer Dank gilt den Mitgliedern des Netzwerks für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung (kritnet), des gleichnamigen Labors in Göttingen und der Redaktion der Zeitschrift movements: Ihr habt mir die Gewissheit gegeben, nicht vereinzelt, sondern Teil eines interventionsfähigen Projektes zur Kritik von Migrations- und Grenzregimen zu sein. Besonderer Dank gilt Prof. Dr. Nina Glick Schiller und Dr. Stef Jansen vom Department for Social Anthropology der University of Manchester, die mir geholfen haben, die Vorläufer meines Promotionsprojektes auf die Beine zu stellen. In allen Phasen dieses Prozesses wusste ich Christian Beck, Esther Joas, Sarah Reinhard, Renate Riedner, Pauline Wagner, Julie Weissmann, meine Eltern und meinen Bruder an meiner Seite – danke! Des weiteren danke ich den Wohngemeinschaften, die so geduldig und unterstützend waren – insbesondere den Mitbewohner*innen in Plan B und der Rumford-WG. Katharina Wolke danke ich für ihren Garten, in dem ich so produktiv arbeiten konnte, wie nirgends sonst. Eine ganze Reihe von Freund*innen und Kolleg*innen hat Vorarbeiten und Teile dieses Buches gelesen, korrigiert und/oder diskutiert: Mein herzlicher Dank gilt Raia Apostolova, Christian Beck, Isabel Dean, Esther Joas, Jenny Künkel, Olga Reznikova, Renate 1 Riedner, Gabriele Riedner, Sarah Reinhard, Katharina Ruhland, Jonathan Schmidt-Dominé, Maria Schwertl, Veit Schwab und Pauline Wagner. Ein Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung hat die materielle Grundlage für diese Arbeit gelegt – vielen Dank an alle Beteiligten. Für Zuschüsse zu den Druckkosten danke ich derselben Stiftung sowie der Graduiertenschule für Geisteswissenschaften Göttingen (GSGG). Für die gemeinsame Arbeit an der vorliegenden Publikation danke ich der edition assemblage und für das Endlektorat Desz Debreceni. Besonderer Dank auch an Petja Dimitrova für die ausdrucksstarke Zeichnung des Covers, die auf einem Foto beruht, dass Trixi Eder bei der Demonstration des DGB zum 1. Mai 2010 in München geschossen hat. Last but not least gilt mein Dank den Betreuer*innen der Dissertation, die diesem Buch zugrunde liegt. Prof. Dr. Moritz Eges treffsichere Kommentare haben mir geholfen, meine Argumente zu schärfen. Keine andere hat mich auf meinen Pfaden durch die Landschaften und Dickichte der Migrations- und Grenzregimeforschung so sehr beeinflusst und motiviert wie Prof. Dr. Sabine Hess – danke. 2 Einleitung Der ‚Tagelöhnermarkt‘ zwischen Ausbeutung, Rassismus und Widerstand Als ich mit einem Rucksack voll mehrsprachiger Flugblätter zu Arbeitsrechten an der Straßenkreuzung im Münchner Bahnhofsviertel ankam, verweilten schon etwa zehn mir unbekannte Personen auf dem Gehsteig. Sie wirkten unbeteiligt und schienen auf etwas zu warten. Ich setzte mich auf den Bordstein und wartete auf die Personen, mit denen ich mich verabredet hatte, um an diesem Vormittag im März 2010 einen Infotisch aufzustellen. Nach einigen Minuten und abschätzenden Blikken wechselten einige der Wartenden die Straßenseite. Wer waren diese Leute, wieso hielten sie sich hier auf? Wir beäugten uns gegenseitig, bis ich einem der Wartenden die Flugblätter anbot – er nahm ein türkischsprachiges – und etwas unbeholfen fragte: „Nasılsın?“ – „Wie geht’s?“ Weil wir keine gemeinsame Sprache hatten, hörte das Gespräch hier auch schon auf. Schließlich kamen die Erwarteten und brachten alles mit, was wir brauchten, um den Infotisch aufzubauen: einen Tapeziertisch, weitere Flugblätter und kopierte Zeitungsartikel über Werkvertragsarbeiter aus der Türkei, die in München gegen ihre Arbeitgeber vor Gericht gegangen waren, weil diese sie um ihren Lohn betrogen hatten. Wir wollten Flugblätter verteilen, mit Passant*innen sprechen, türkischsprachige migrantische Arbeiter*innen über ihre Rechte informieren und ihnen Unterstützung anbieten. Wir, das waren fünf Personen, die bei der Initiative Zivilcourage aktiv waren. Die Initiative war eine Gruppe von Personen, die sich etwa zwei Jahre zuvor im Zusammenhang mit der Unterstützung von den genannten Werkvertragsarbeitern kennengelernt hatten. Ich selbst hatte im Rahmen des Ausstellungsprojekts Crossing Munich zu dem Unterstützer*innenkreis gefunden und eine Forschung zusammen mit Philipp Zehmisch zur Aushandlung transnationaler Realitäten der Werkvertragsarbeit in München und Istanbul durchgeführt (Riedner, Weinzierl & Zehmisch, 2009; Riedner & Zehmisch, 2009). Danach hatte ich beschlossen, sowohl weiter in diesen Zusammenhängen aktiv zu bleiben, wie auch meine Promotionsforschung hier anzusiedeln. Eine 3 Handvoll Personen war mit dabei: Zwei Aktivisten, die in den 80ern aus der Türkei nach Deutschland gekommen waren, zwei weiße1 deutsche Erwerbslose, die sich gegen Ungerechtigkeit engagieren wollten, und drei weiße deutsche Studierende, die wie ich zu diesen Arbeitskämpfen mehr oder weniger zufällig hinzugestoßen waren. In den nächsten Jahren sollten sich immer wieder neue Personen der Gruppe anschließen, während andere sich nicht mehr beteiligten. Nachdem es Anfang 2010 kaum noch etwas zur Unterstützung der 47 Werkvertragsarbeiter zu tun gab, hatten wir uns entschieden, einen Infostand im Münchner Bahnhofsviertel aufzustellen, um weiteren um ihren Lohn betrogenen Arbeiter*innen unsere Unterstützung anzubieten. Im Münchner Bahnhofsviertel werden viele Geschäfte von türkisch- oder arabischsprachigen Personen betrieben und hier befinden sich auch mehrere Moscheen (Özkan, 2015). Wir wählten einen Freitag Vormittag, weil zu diesem Zeitpunkt viele Menschen die Moscheen besuchen oder einkaufen gehen und das Viertel sehr belebt ist. Noch bevor alles aufgebaut war, kamen mein türkischsprachiger Kollege, die Wartenden und ich ins Gespräch. Sie stünden hier, weil sie Arbeit suchten. Arbeitgeber*innen kämen hier vorbei, um ihnen einen Job anzubieten und sie meist auch gleich mitzunehmen. Sie kämen aus Bulgarien und könnten seit dem EU-Beitritt 2007 jederzeit legal nach Deutschland kommen und sich hier aufhalten. Um dokumentiert arbeiten zu können, müssten sie aber erst eine Arbeitsgenehmigung beantragen oder mit Gewerbeschein arbeiten. Sie berichteten von ihren Erfahrungen und ihrem Ärger mit Lohnbetrug, vorenthaltenem Wohnraum und Obdachlosigkeit, von Arbeitslosigkeit, Armut und Perspektivlosigkeit in ihrem Herkunftsort Pazarjik, leeren Versprechungen von Seiten der EU und alltäglichen Polizeikontrollen. Sebahattin Angelov2 1 Ich setze den Begriff ‚weiß‘ kursiv, um seinen gesellschaftlichen Konstruktionscharakter hervorzuheben. ‚Schwarz‘ schreibe ich groß, um darauf zu verweisen, dass ich den Begriff nicht als rassifizierende Bezeichnung, sondern in Anschluss an antirassistische Bewegungen benutze, in der sich rassistisch Markierte die Bezeichnungen ‚Schwarz‘ bzw. ‚Black‘ mit emanzipatorischem Ziel angeeignet haben, wie zum Beispiel die Black Panthers oder die Initiative Schwarzer Deutscher (ISD). 2 Alle Namen wurden zum Zwecke der Anonymität geändert. Ich verwende erfundene Vor- und Nachnamen, da die alleinige Nennung des Vornamens im Deutschen den Höflichkeitsregeln widerspricht und die Benannten tendenziell abwertet bzw. machthierarchisch unter der Autorin ansiedelt. 4 hatte seinen Finger bei einem Arbeitsunfall verloren, Pembe Kirilova war obdachlos und suchte Arbeit, Yasar Kristovs Bruder war wegen UBahn-Fahrten ohne Ticket im Gefängnis. Zwei Polizisten kontrollierten unsere Gesprächspartner*innen, uns aber nicht. Als wir die Polizisten fragten, ob racial profiling3 der Kontrolle zu Grunde liege, erklärten sie: Hier käme es eben zu viel Kriminalität und eigentlich wollten wir doch dasselbe – Probleme lösen. Bald zog ein Gewitter auf. Etwa 20 Arbeiter*innen kamen unserer Einladung nach, uns in den nur zwei Häuserblöcke entfernten Räumen eines von einem Freund aus der antirassistischen Szene betriebenen, temporären Stadtteilprojekts des städtischen Theaters Münchner Kammerspiele unterzustellen und dort weiter zu diskutieren. Ab diesem Tag sollte die Initiative Zivilcourage mindestens einmal wöchentlich einen Treffpunkt – ein (temporäres) Workers’ Center (Benz, 2014)4 – in diesen und nach deren Abriss in anderen, nahegelegenen Räumen anbieten. 3 Mit dem Begriff des racial profiling wird versucht, rassistische Maßnahmen der Polizei zu thematisieren und auf ihre Verbreitung hinzuweisen. Sebastian Friedrich und Johanna Mohrfeldt (2012) definieren racial profiling folgendermaßen: „‚Racial Profiling‘ bezeichnet die Erstellung eines Verdächtigenprofils, bei dem rassifizierte Merkmale wie Hautfarbe, Haarfarbe oder religiöse Symbole (in der Regel in Zusammenwirkung mit Faktoren wie Gender, Klasse, Alter) maßgeblich handlungsleitend für polizeiliche Maßnahmen wie Kontrollen, Durchsuchungen, Ermittlungen und/oder Überwachung werden“. 4 Die Sozial- und Politikwissenschaftlerin Martina Benz (2014) hat eine Studie über Worker Centers in den USA geschrieben, in der sie die ganz unterschiedlichen Kontexte darstellt, in denen Worker Centers entstanden sind, und auch deren unterschiedlichen Organisationsweisen vorstellt. Einige entstanden durch unabhängige Organisierung migrantischer Arbeiter*innen oder Afro-americans (ebd.: 14). Manche wurden von religiösen Gruppen initiiert, andere von Gewerkschaften und wieder andere von rechtlichen oder sozialen Beratungsstellen. Sie haben gemeinsam, dass sie einen Ort bieten, an dem Arbeiter*innen zusammenkommen können. Das Magazin wildcat hat Workers’ Centers als „community-based“ beschrieben, „wobei diese Community über die Herkunft, territorial oder über eine bestimmte Arbeitssituation bestimmt sein kann, Überschneidungen inklusive“ (o.V., 2007). Dies ist vor allem für Arbeiter*innen mit diskontinuierlicher Beschäftigung von Vorteil. Manche Worker Centers, wie das Ponoma Day Labour Center (Calderon et al., 2003), dienen auch als Treffpunkt von Arbeitssuchenden und potenziellen Arbeitgeber*innen, die sich registrieren und verpflichten, Mindeststandards wie zum Beispiel einen bestimmten Lohn einzuhalten. In den meisten Wor- 5 In diesem Buch geht es um die lokalen Auseinandersetzungen um EUinterne Migration, um den selbstorganisierten Arbeitsmarkt und insbesondere für die Versuche des Regierens, die in diesen Auseinandersetzungen eine Rolle spielten. Ziel der folgenden Einleitung und des ersten Kapitels ist es, meine Analyseperspektive und Herangehensweise transparent zu machen und zu diskutieren. Warum nehme ich diesen Ort und diese Situation als Ausgangspunkt? Nicht nur, weil hier die erste Begegnung mit prekarisierten Arbeiter*innen bulgarischer Staatsbürgerschaft (und somit Unionsbürgerschaft) stattfand, ich in den nächsten Jahren fast jede Woche hier Zeit verbrachte und in Konflikte um diesen sozialen Raum eingebunden war, er also einen zentralen Platz in meiner Forschungspraxis einnahm … ‚Tagelöhnermarkt‘ als Einheit? … sondern auch, um darauf aufmerksam zu machen, dass gerade die Konzentration auf einen Ort und eine dort verortete soziokulturelle Formation die Gefahr birgt, diese als eine geschlossene Einheit wahrzunehmen und Verbindungen und Verhältnisse, die über sie hinausgehen oder sie durchqueren, zu vernachlässigen. Im dritten Kapitel werde ich beschreiben, wie die Deutung dieser sozialen Formation als Einheit es erst ermöglichte, sie als Skandal, als Fremdkörper, Störfaktor im Viertel und als Sicherheitsbedrohung wahrzunehmen. Die öffentliche Aufmerksamkeit fokussierte dabei auf die Anwesenheit von Gruppen wartender, rassistisch markierter Männer auf dem Gehsteig und benannte die Formation als ‚Tagelöhnermarkt‘ oder ‚Arbeiterstrich‘. Erst dann wurde sie der städtischen Politik zum Problem, das „gelöst“ werden ker Centers stehen Auseinandersetzungen um vorenthaltene Löhne im Mittelpunkt, neben „Bildung, Schulung, Sprachtraining und Beratung“ (o.V., 2007), aber es geht auch um „die Organisierung von politischen Kampagnen“, etwa „gegen die Verschärfungen der Einwanderungsgesetzgebung“, denn oftmals sind es migrantische Arbeiter*innen, die sich in den Worker Centers aufhalten und organisieren (vgl. ebd.). Das von der Initiative Zivilcourage in Koalition mit migrantischen Arbeiter*innen gegründete temporäre Workers’ Center in München ist meines Wissens nach das einzige in Deutschland. Im Unterschied zu der Schreibweise der Worker Centers in den Vereinigten Staaten wird es mit einem Genitiv-S geschrieben – Workers’ Center –, um die Idee auszudrücken, dass es ein Zentrum von Arbeiter*innen und nicht für Arbeiter*innen sein soll. 6 sollte. Die Erfindung und Vereinheitlichung der Figur ‚Tagelöhnermarkt im Münchner Bahnhofsviertel‘ und die folgenden Kämpfe um ihre Deutung – darum, wie über ihn gesprochen und gedacht werden konnte – war direkt und indirekt verknüpft mit den weiteren Praktiken der verschiedensten Akteure – vom Münchner Stadtrat, über die Polizei, Funktionsträger in städtischen Ämtern, Geschäftsleute im Bahnhofsviertel bis hin zu Politiker*innen auf Bundes- und EU-europäischer Ebene. Die Frage drängt sich auf: Wie haben Wissenspraxen, inklusive meiner eigenen, die soziale Formation und die sie betreffenden und mitkonstituierenden hegemonialen Diskurse5 verändert? Meine wissenschaftliche Wissenspraxis werde ich unter dem Schlagwort „Konflikt als Methode“ im ersten Kapitel kritisch reflektieren. Hier möchte ich nur kurz und als Vorgriff zum dritten Kapitel auf die Frage eingehen: Welche Rolle hat die Initiative Zivilcourage bei der Entdeckung des ‚Tagelöhnermarktes‘ – der Sichtbarmachung der Praktiken von EU-Migrant*innen6 auf den Straßen des Südlichen Bahnhofsviertels mit der Kategorie ‚Tagelöhnermarkt‘ – und auch bei den folgenden Aushandlungen des Diskurses zu dieser neu geschaffenen Figur gespielt? Erst versuchten wir (als Initiative Zivilcourage), die Situation der Arbeiter*innen unter dem Stichwort ‚Tagelöhnermarkt‘ öffentlich zu machen, wobei wir so oft wie möglich Interviews mit EU-Migrant*innen an Journalist*innen vermittelten7. Wir waren die ersten, die die Bezeichnungen ‚Tagelöhner*innen‘ 5 Als Diskurse bezeichne ich im Anschluss an den späteren Michel Foucault Macht-Wissen-Komplexe, die nicht nur einschränken, sondern auch konstituieren, was sag- und denkbar ist und in die Aushandlungen von ganz konkreten Wirklichkeiten eingebunden sind. Während die Vorstellung eines ‚diskursiven Wunschkonzerts‘ à la ‚Sprache schafft Realität‘ zu kurz greift, ist Denken und Handeln, Praxis und Sprache doch aufs Engste miteinander verwoben (vgl. Weissmann, 2011: 14 ff.). 6 Mit dem Begriff EU-Migrant*innen bezeichne ich Migrant*innen mit Unionsbürgerschaft. Meine Definition der Konzepte ‚Migration’ und ‚Migrant*in’ ist im Unterkapitel zum ‚Tagelöhnermarkt’ als rassistische Figur, das Teil der Einleitung ist, zu finden. 7 Der Entschluss, die öffentliche Aufmerksamkeit durch Pressearbeit zu suchen, entstand im Rahmen von gemeinsamen Treffen und Gesprächen mit EU-Migrant*innen. Während einzelne Arbeiter*innen lieber nicht an die Öffentlichkeit gehen wollten, setzte sich bald die Meinung durch, dass Medienberichte über ihre Lebens- und Arbeitsverhältnisse und auch persönliche Porträts von Arbeiter*innen dazu beitragen könnten, die Situation zu verbessern. Gleichzeitig zu den strategischen Überlegungen, dass Politiker*innen oder an- 7 und ‚Tagelöhnermarkt‘ nutzten. Als wir dann mit Medienberichten konfrontiert waren, die unsere Repräsentation auf noch skandalisierendere und viktimisierendere Art und Weise aufgriffen, schwenkten wir um und betonten, dass die prekarisierten Arbeiter*innen durchaus Jobs fänden, Geld verdienten und hart arbeiteten. Erst seit etwa 2014 versuchen wir uns dezidiert von diesem individualisierenden und leistungsideologischen Blick zu lösen und zu vermitteln, dass die migrantischen Arbeiter*innen konstitutiver Teil des Viertels und in die sozialen und ökonomischen Verhältnisse Münchens eng eingebunden sind (egal ob sie lohnarbeiten oder nicht). Dabei benutzen wir heute oft den Begriff ‚selbstorganisierter Arbeitsmarkt‘, um der Viktimisierung und Skandalisierung durch die Ausdrücke ‚Tagelöhnermarkt‘ oder ‚Arbeitertstrich‘ entgegenzuwirken und die agency der Personen zu betonen, die hier auf Arbeitgeber*innen warten, Freund*innen treffen, Neuigkeiten austauschen, einfach nur Zeit totschlagen oder sich aus anderen Gründen hier aufhalten. Eigentlich scheint es mir aber grundsätzlich unzutreffend, den ‚Tagelöhnermarkt‘ als eine Einheit zu begreifen, egal unter welchem Namen. Dies wird deutlich daran, dass es unmöglich ist, seine Ränder zu definieren. Wer gehört dazu? Nur die Personen, die hier gerade tatsächlich auf Arbeitgeber warten, oder auch diejenigen, die sich dort treffen, auf den Mikro-Bus nach Bulgarien warten oder einfach nur ‚spazieren gehen‘8? Wo hört er auf und wo fängt er an? Ist es nur an der Ecke Goethe-/Landwehrstraße, oder auch in den benachbarten Straßenzügen? Der ‚Tagelöhnermarkt‘ lässt sich nicht eindeutig fassen, weder räumlich noch zeitlich, noch in Bezug auf die Aufenthalts- und Arbeitsverhältnisse oder die Nationalitäten, das Alter, Geschlecht oder gar die Zahl der Arbeitssuchenden und der anderen Personen, die sich hier aufhalten. Die Ansammlung sozioökonomischer Beziehungen und Praktiken bildet keine klar definierbare und umgrenzbare Entität, sondern, um mit Dedere Entscheidungsträger so auf die Situation aufmerksam würden und den Forderungen nach Arbeit, Wohnraum, einem selbst-betriebenen Café und weniger Polizeirepression nachkommen würden, entstand die Motivation dafür, mit Journalist*innen und anderen öffentlichen Akteuren zu sprechen, meiner Meinung nach, auch aus der Wut über die Verhältnisse, die so ausgedrückt und geteilt werden konnte. 8 Mit ‚gezmek‘ wurde von den türkischsprechenden Arbeiter*innen eine beliebte Freizeitbeschäftigung bezeichnet, die in etwa mit ‚spazieren gehen‘ oder ‚um die Häuser ziehen‘ korrespondiert. 8 leuze und Guattari (1997) zu sprechen, vielmehr eine nicht abzählbare, nicht zu definierenende Assemblage von Praxen und Affizierungen, die ständig im Werden begriffen und weder eingrenzbar noch gänzlich zu kontrollieren ist.9 Die Vorstellung eines ‚Tagelöhnermarktes‘ geht mit mehreren kategorischen Festschreibungen einher. Zum einen werden die Personen, die sich hier aufhalten, als ‚Tagelöhner‘ identifiziert. Ich benutze hier die maskuline Form, weil allgemein – auch in wissenschaftlicher Literatur (vgl. Özkan, 2015; Richter, 2015) – angenommen wird, dass nur Männer10 der ‚Tagelöhnerei‘ nachgehen, während die dazugehörigen Frauen im Bahnhofsviertel um Geld betteln oder ‚daheim‘, also in Bulgarien, auf die Kinder aufpassen. Es sei eine feste Gruppe von Männern, die hier jeden Tag stehe, um für einige Stunden Arbeit zu finden. Meiner Erfahrung nach warten sowohl Männer wie auch Frauen hier auf Arbeit. So haben auch die vier Frauen, deren Migrationsgeschichte ich im zweiten Kapitel erzählen werde, hier schon Arbeit gesucht und gefunden. Auch habe ich nie von sozialen Bindungen zwischen Personen, die im Bahnhofsviertel auf dem Gehsteig stehen und Arbeit suchen und den im Bahnhofsviertel bettelnden Frauen erfahren. Im Gegenteil haben sich lohnarbeitende oder nach Lohnarbeit suchende Personen öfters gegenüber den bettelnden Frauen bzw. gegenüber dem Betteln als Erwerbstätigkeit abgegrenzt, dieses moralisch abgewertet und so – mit den hegemonialen Normen der „Arbeitsgesellschaft“ (Hirsch, 2015; vgl. auch Lessenich, 2013; Moser, 1993) konform gehend – ihre Subjektivierung als ‚rechtschaffene‘ Erwerbstätige unterstrichen. Die Vorstellung, der ‚Tagelöhnermarkt‘ sei eine klar definierte Einheit, ging auch mit der Annahme einher: Einmal ‚Tagelöhner‘, immer ‚Tagelöhner‘. Tatsächlich stellt der an dieser Kreuzung selbstorganisierte Arbeitsmarkt aber keine „Endstation Arbeiterstrich“ dar, wie die Schlagzeilen der Zeitschrift Focus (Rohrer, 2013) und der Süddeutschen Zeitung (Öchsner, 2013) im Jahr 2013 nahelegten, sondern für viele Lohnabhängige eher eine Zwischenstation und dies nicht nur im zeitlichen, sondern auch im geografischen Sinne. Die ‚Tagelöhner‘ halten sich nämlich zu anderen Zeiten auch an anderen Orten in der Stadt auf. Wenn ich 9 Zu den Begriffen des Werdens, der Affizierung und der Assemblage vgl. Deleuze & Guattari, 1997; Tsianos & Pieper, 2011. 10 Wenn ich von Frauen und Männern spreche, möchte ich Trans- und genderqueere Personen mit einschließen. 9 mich auf den Münchner Straßen und in öffentlichen Verkehrsmitteln in München bewege, treffe ich regelmäßig Personen, die ich von der Kreuzung im Südlichen Bahnhofsviertel und vom Workers’ Center her kenne. Öffentlich wahrgenommen werden sie allerdings nur als ‚Tagelöhner‘ am ‚Tagelöhnermarkt‘ und so werden sie auch auf diese Identität reduziert und an dieser Kreuzung verortet. Dass sie aber auch über den selbstorganisierten Arbeitsmarkt hinaus Teil der Stadtgesellschaft sind, wird so ausgeblendet. Desweiteren geht die Vorstellung des ‚Tagelöhnermarktes‘ auch mit kategorischen Festschreibungen in Bezug auf ihr Arbeitsleben einher: ‚Tagelöhner‘ suchen Tagesjobs und sind darauf angewiesen, dies hier zu tun. Aber tatsächlich haben nicht wenige der hier anzutreffenden Personen auch längerfristige Arbeitsverhältnisse und weitere Strategien der Arbeitssuche. Das unzutreffende, aber hegemoniale Bild des ‚Tagelöhnermarktes‘ als männlich, abgegrenzt und auswegslos zeigt, dass viel Wissen über den ‚Tagelöhnermarkt‘ produziert wird, ohne sich für die Perspektive, die sozialen Realitäten und Subjektivierungen der ‚Tagelöhner*innen‘ zu interessieren. Die diskursive Vereinheitlichung trägt auch zur Abgrenzung dieser sozialen Formation bei. ‚Tagelöhnermarkt‘ als Außen? Die Vorstellung, dass der selbstorganisierte Arbeitsmarkt in sich abgeschlossen ist und klare Grenzen hat, geht auch mit einem Ausschluss einher. Es handelt sich nicht nur um eine Grenzziehung zwischen verschiedenen Teilen der Stadtgesellschaft, sondern auch um eine Grenzziehung zwischen ihrem Innen und Außen. Katrin Lehnert spricht mit Loïc Wacquant von einem „Kolumbus-Syndrom“ (Wacquant, 2008: 76, zit. n. Lehnert, 2009: 110), wenn Teile der Gesellschaft mit Hilfe von Kategorien abgespalten werden: „Aus einer Mittelschichtsperspektive werden neue defizitäre Problemgruppen entdeckt (das ‚Außen‘), die sich von einer als einheitlich gedachten Gesellschaft (dem ‚Innen‘) unbemerkt abgekoppelt zu haben scheinen.“ (Lehnert, 2009: 110) 10 Soziale Probleme sind dann nicht mehr Teil der Gesellschaft, sondern von ihr abgespalten (ebd.). Lehnert spricht zwar von der Gefahr, die in akademischen Analysekategorien wie ‚Prekariat‘ liegt, die Kritik ist aber auch auf nichtwissenschaftliche Wissenspraxen zu übertragen. Auch der ‚Tagelöhnermarkt‘ wird tendenziell als abgetrennte Einheit dargestellt, die außerhalb der Stadtgesellschaft liegt. Er wird als ein Außen der Münchner Stadtgesellschaft imaginiert, befindet sich aber tatsächlich nicht nur geografisch, sondern auch im sozialen und ökonomischen Sinn inmitten der Stadtgesellschaft und inmitten Europas. So hat die Arbeit, die die Arbeitssuchenden hier finden, eine zentrale Funktion: Sie bauen Häuser, reinigen Gebäude oder arbeiten in den Supermärkten. Außerdem konsumieren sie alltäglich in den Cafés, Imbissen und Supermärkten des Bahnhofsviertels und andernorts in München. Zudem gibt es nicht wenige Vermieter*innen, die hohe Profite aus ihrer Notlage schlagen. Zum Beispiel kam es 2010 zu einem Skandal, weil etwa 500 Personen in 55 Zimmern mit Mieten von teils über 1000 Euro pro Zimmer in einem Arbeiterwohnheim der Firma A1 in der Untersbergstraße wohnten11. Wenn eine fragt, wo und wie die Arbeiter*innen Teil der Stadtgesellschaft sind, merkt sie schnell, dass der ‚Tagelöhnermarkt‘ eben nicht als ein abgetrenntes Phänomen außerhalb der Stadtgesellschaft, als Fremdkörper, zu begreifen ist. Und trotzdem herrscht die Auffassung, dass die EU-migrantischen Arbeiter*innen und der von ihnen aufgesuchte Arbeitsmarkt nicht zur Stadtgesellschaft gehören, sondern ‚Andere‘, ‚Fremde‘ sind. Die Aufspaltung in ein imaginiertes ‚Innen‘ und ‚Außen‘ geht mit deren Bewertung als ‚gut‘ und ‚schlecht‘ einher und spricht der als ‚Außen‘ bestimmten Einheit die Daseinsberechtigung ab. In dieser Arbeit untersuche ich schwerpunktmäßig, wie dieses ‚innere Außen‘ hergestellt und zum Objekt, zur Grundlage und zum Effekt von Versuchen des Regierens12 wird. Dafür gilt es, über eine Analyseperspektive, die die hegemonialen Vorstellungen vom ‚Tagelöhnermarkt‘ seiner Realität gegenüberstellt und als ‚falsch‘ herausstellt, hinauszugehen, denn sie greift zu kurz. Es geht mir nicht darum, welche Darstellung wahr ist und welche moralische Bewertung zutrifft, oder nicht. Es 11 Die Situation wurde Ende 2009 im Münchner Stadtrat thematisiert (vgl. Sozialreferat, 2009). 12 Auf den Begriff der ‚Versuche des Regierens‘ gehe ich weiter unten ein. 11 stellt sich vielmehr die Frage, wie es zu diesen hierarchisierten Gleichzeitigkeiten von ‚Innen‘ und ‚Außen‘ kommt und wie sie produktiv werden. Wie werden Trennung und hierarchische Ungleichheit zwischen dem ‚Innen‘ und ‚Außen‘, dem ‚Eigenen‘ und dem ‚Anderen‘ hergestellt und ausgehandelt? ‚Tagelöhnermarkt‘ als rassistische Figur Der ‚Tagelöhnermarkt‘ wird sowohl im Medien- wie auch im kommunalpolitischen Diskurs als Störfaktor repräsentiert, wobei diese Markierung zahlreichen verschiedenen Logiken folgt. Zum einen folgt sie, trotz Unionsbürgerschaft der Akteure, immer noch der Nationalität. Ein extremes Beispiel stellt das folgende Zitat des Besitzers eines Hotels im Bahnhofsviertel in der Süddeutschen Zeitung vom 4. Juni 2010 dar: „Goethestraße sauber halten. Deshalb keine Bulgaren und Rumänen, die sind nix, ich rufe Polizei, muss man wegmachen, schmutzig alle, aber Polizei sagt, kann man nicht wegschmeißen in Heimat, ist EU, Bulgarien. Leider.“ (Rühle, 2010)13 Der nationalstaatlichen Logik, dass Migrant*innen als Ausländer*innen aus dem Staatsgebiet entfernt werden sollen, bzw. sich nur im Ausnahmefall im nationalen Territorium aufhalten dürfen, wird die freie Mobilität und somit erschwerte Entfernbarkeit der EU-europäischen Migrant*innen zum Problem. Dieser Konflikt zwischen national-staatlicher Exklusionslogik und EU-europäischer14 Zugehörigkeit bzw. liberaler Bewegungsfreiheit ist diesem Buch zentral und führt zu der Frage, 13 Dabei kommt nicht nur der Rassismus des Hotelbesitzers, sondern auch der des Journalisten zum Ausdruck, der sozusagen in einem Rassismus zweiten Grades den ehemaligen Gastarbeiter, auch durch die fehlerhafte deutsche Grammatik gekennzeichnet, als rassistisches Mangelwesen beschreibt. 14 Mit den Begriffen ‚EU-europäisch‘ und ‚EU-Europa‘ (statt ‚europäisch‘ und ‚Europa‘) möchte ich deutlich machen, dass die EU nicht dasselbe ist wie Europa, weder im geografischen, noch im historischen und politischen Sinne. Aufgrund von Lesbarkeit habe ich mich gegen die sich derzeit durchsetzende Schreibweise ‚EUropa‘ entschieden (vgl. etwa Wissel, 2015). Als Teil seiner Analyse der EU als koloniales Projekt bezeichnet der ungarische Soziologe József Böröcz die sprachliche Gleichsetzung der ‚EU‘ mit ‚Europa‘ als „synecdoché 12 welche neuen und alten Grenzziehungen unter diesen Umständen vorgenommen werden. Hierfür werde ich die Analyse des marxistischen Philosophen Etiénne Balibars (2010) zum national-sozialen Staat heranziehen, die zeigt, wie der keynesianische Sozialstaat aufs Engste mit Nationalismus und Rassismus verbunden ist. Immer wieder werde ich auf Prozesse stoßen, in denen sich die staatsrassistischen Figuren des/r ‚Ausländer*in‘, ‚Migrant*in‘ und des ‚Fremden‘ mit der leistungsideologischen Figur des ‚Sozialschmarotzens‘ zu den Begriffen des ‚Sozialtourismus‘ und auch der ‚Armutszuwanderung‘ verschränken. Verschiedene wissenschaftliche Ansätze können helfen, diesen spezifischen „Assemblagen des Rassismus“ (Tsianos & Pieper, 2011) näher zu kommen. Die aktuellen rassismuskritischen Debatten beruhen auf den grundlegenden Analysen, dass Rassismen sich nicht auf individuellen Hass und seine Übersetzung in ‚fehlgeleitetes‘ institutionelles Handeln reduzieren lassen, sondern soziale (Macht-)Verhältnisse darstellen, die von angeblichen gesellschaftlichen Einheiten (‚Rassen‘, ‚Nationen‘, ‚Kulturen‘, ‚Wertegemeinschaften‘) aus- bzw. einschließen. Sie reagieren auf heterogene, sich in kontingenter Bewegung befindende gesellschaftliche Verhältnisse mit Vorstellungen und Praktiken von (moralischer) Ordnung, Normalität und Homogenität (vgl. Bojadžijev, 2008; Giroux & Goldberg, 2006; Goldberg, 2002; Lentin & Titley, 2011). Rassistische (Wissens-)Praktiken definieren, was normal und was nicht normal, erwünscht und unerwünscht, was fremd und was eigen, was Innen und was Außen ist. Indem Rassismen Menschen in ungleiche Verhältnisse zueinander setzen, regulieren sie auch den Zugang zu ökonomischen und symbolischen Ressourcen (vgl. Hall, 2000; 2004). Es geht in der Rassismusforschung nicht nur um Sprache, sondern auch um materielle Umstände und die Veränderung von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen. Rassismen, so die neuere Rassismusforschung, durchziehen nicht zuletzt auch die Körper und die Subjektivierung der Akteure (vgl. Papadopoulos & Sharma, 2008). Es wurde beispielsweise untersucht, wie die Ideen des ‚Westens‘, der ‚Moderne‘ oder der ‚Aufklärung‘ – untrennbar verknüpft mit Gegenbildern wie „dem Rest der Welt“ (Hall, 1994), dem „Orient“ (Said, 1979), ‚Primitivität‘ oder ‚Unterentwicklung‘ – Teil der kolonialen, kapitalistischen und paternalistischen Projekte sind und auch den heutigen Gesellschaftsverhältnissen representation (where the part stands for the whole, conveniently ignoring, hence excluding and occluding, the rest)“ (Böröcz, 2001: 8). 13 und Subjektivierungen zugrunde liegen (vgl. Balibar & Wallerstein, 2014; Dietze, Brunner & Wenzel, 2010; Fanon, 1966). In seinem Buch The racial state (2002) hat der südafrikanische Philosoph Theo Goldberg gezeigt, wie die Entstehung und die heutigen Transformationen des modernen Staates nicht von Prozessen der Rassifizierung zu trennen sind. Unter dem Schlagwort des methodologischen Nationalismus erklären die U.S.-amerikanische Kulturanthropologin Nina Glick Schiller und andere Kulturwissenschaftler*innen, wie die Vorstellung von Gesellschaft mit dem Nationalstaat zusammengeschweißt ist und Gesellschaft in nationalen Containern gedacht wird (vgl. Wimmer & Glick-Schiller, 2003). Diese Vorstellung geht mit der Normalisierung von Sesshaftigkeit einher. Migration wird in diesem Denkrahmen gewöhnlich als grenzüberschreitende Bewegung zwischen zwei Staaten definiert und als problematische Ausnahme gesehen, die von der Norm der Sesshaftigkeit abweicht. Migrant*innen sind dann zu integrierende, zu rettende oder abzuschiebende Ausländer*innen, die anhand von Defiziten (sprachlich, kulturell, ökonomisch, etc.) gedacht werden (vgl. Hess, Binder & Moser, 2009). Die Kategorie ‚Migrant*in‘ transportiert Andersheit, Fremdheit und auch Bedrohung und trägt so eine wichtige Funktion in der aktuellen Konjunktur des Rassismus. In der Figur der „Armutszuwanderung“ verschränkt sich die Kategorie ‚Migrant*in‘ mit der Kategorie ‚Roma‘ und somit mit antiziganistischem Rassismus, der ebenfalls das angebliche Nomadentum, also die Nicht-Sesshaftigkeit problematisiert und auf den ich im dritten Kapitel näher eingehen werde. Es gibt gerade in neoliberalen Zeiten aber auch einen positiven Bezug auf Mobilität und transnationale Vernetzung, wie etwa durch die Förderung von Mobilität im Studium durch Programme wie Erasmus und auch durch positive Bezugnahmen auf die EU-europäische Freizügigkeit deutlich wird. So wird in neueren Spielarten des Rassismus Gesellschaft nicht allein anhand von nationalen Abgrenzungen und das ‚Wir‘ nicht nur entlang von ‚race‘ oder ‚Kultur‘ definiert. Diese als Neo-Rassismen (vgl. Dietze, 2009: 24), postliberal (vgl. Tsianos & Pieper, 2011) oder auch als racial neoliberalism (vgl. Lentin & Titley, 2011) bezeichneten Rassismen affirmieren Diversität positiv. Es sind die illiberalen Minderheiten, die westlichen Werten der Aufklärung, des Leistungswillens, der Emanzipation und sexuellen Toleranz angeblich nicht entsprechen, die in diesen Rationalitäten auf Ablehnung stoßen (vgl. Lentin & Titley, 2011; Puar, 2007; Tsianos, 2014). 14 In Bezug auf den antimigrantischen Rassismus stellt sich die Frage: Welche Mobilität gilt als Migration und wer wird als Migrant*in problematisiert und regiert? Oder in Bezug auf die EU-migrantischen Arbeiter*innen: Wie werden aus mobilen Unionsbürger*innen, die ihre Freizügigkeit wahrnehmen, Armutszuwander*innen, die den Sozialstaat und den sozialen Frieden in den Stadtteilen bedrohen? Im öffentlichen Diskurs scheint hier eine Art common sense zu herrschen, dass Migration mit Wohnortwechsel und der Überschreitung von Staatsgrenzen zu tun hat. Nicht alle, auf die diese Kriterien zutreffen, werden aber als Migrant*innen kategorisiert bzw. migrantisiert, man denke nur an ‚Expats‘ oder den ‚Jetset‘. Gleichzeitig können Personen, die in Deutschland geboren wurden und hier leben, durchaus als Migrant*innen gelten – so kann die von der staatlichen Demografie etablierte Kategorie ‚Migrationshintergrund‘ von den Eltern geerbt werden. Ich grenze mich also von einer Migrationsforschung ab, die Migration als eigenständiges soziologisches Phänomen begreift, sozusagen Migrant*innenforschung betreibt und damit Teil der aktuellen Konjunktur des Rassismus und der Versuche, Migration zu regieren, ist. Ist dann aber nicht allein schon die Rede von der ‚Migration‘ und ‚Migrant*innen‘ notwendigerweise problematisch? Wäre es eine Lösung, auf die Bezeichnung ‚Migrant*in‘ zu verzichten? Meiner Meinung nach würde es nicht helfen, den Begriff nicht mehr zu verwenden, denn dann entstünde die Gefahr, eben jene realen Prozesse und Verhältnisse zu übersehen, die das Migrant*in-Sein produzieren. Stattdessen gilt es, Migration als politisches Aushandlungsfeld zu begreifen und in diesen Aushandlungen Position zu beziehen. Ich möchte die Perspektive also umdrehen und Migrant*innen mit Sandro Mezzadra (2015) für die Zwecke dieses Buches definieren als jene, deren Mobilität rassistisch problematisiert und zur Grundlage ihrer Ausbeutung und Dominanz gemacht wird – kurz: Migration = Mobilität + Rassismus. Das am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt Universität angesiedelte Berliner Labor Migration stellt auch in Bezug auf den wissenschaftlichen Diskurs die Diagnose, dass „der Migrationsbegriff bei genauerem Hinsehen schnell unscharf wird“ (Lehnert & Lemberger, 2014; vgl. auch New Keywords Collective, 2016). Es gelte, Migration als Teil der Gesellschaftsordnung zu begreifen, somit Gesellschaftsforschung zu migrantisieren und im Gegenzug Migrationsforschung zu entmigrantisieren, d. h. den „Fokus weg von den migrantischen 15 Subjekten und Räumen“ (Lehnert & Lemberger, 2014: 45) und vorzugsweise „hin zu den Techniken und Institutionen ihrer Beherrschung“ (ebd.) zu lenken. In diesem Sinne definiere ich auch den selbstorganisierten Arbeitsmarkt als migrantischen bzw. migrantisierten Raum. Nicht, weil er von Personen geprägt ist, die Staatsgrenzen langfristig überschritten haben, sondern weil es gerade das Mobil-Sein, das NichtVon-Hier-Sein der ‚Tagelöhner*innen‘ ist, das neben ihrer Armut und angeblich fehlender Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt als Grundlage der Problematisierungen herangezogen wird, die ‚Tagelöhner*innen‘ als Bedrohung erscheinen lässt. Anders ausgedrückt ist die Migrantisierung der ‚Tagelöhner*innen‘ Grundlage dafür, sie zum Objekt von spezifischen antimigrantischen und migrationsregulierenden Versuchen des Regierens zu machen15. Wie an diesem Beispiel schon deutlich wurde, spielen bei den Aushandlungen der scheinbar so selbsterklärenden und neutralen Kategorien ‚Migrant*in‘ und ‚Migration‘ neben Rassifizierung, und Kulturalisierung auch Klassismus eine wichtige Rolle. Die Rede von der Migration ist also extrem unscharf, umkämpft und kann sicherlich als einer der Hauptschauplätze der aktuellen Auseinandersetzungen um Rassismus und soziale Verhältnisse bezeichnet werden. Verkompliziert wird dies noch einmal dadurch, dass immer mehr nicht nur zwischen Sesshaftigkeit, Mobilität und Migration, sondern im Zuge postliberaler Artikulationen des Rassismus auch zwischen guten und schlechten Migrant*innen unterschieden wird. In Bezug auf EU-interne Migration tut sich zudem der Sonderfall auf, dass die Grenzen von nationalem Territorium und Bürgerschaft teilweise mit den EU-Außengrenzen, den Grenzen des Schengener Raumes und der Unionsbürgerschaft in Konflikt treten. In dieser Arbeit kann ich anhand von mehreren Teilanalysen nachverfolgen, wie aus der ‚Mobilität‘ von freizügigen Unionsbürger*innen in einem Prozess der Migrantisierung ‚Armutszuwanderung‘ wird, und was das mit Rassismus und Klassenverhältnissen und Transformationen von Staatlichkeit und Bürgerschaft zu tun hat. 15 Wenn antimigrantischer Rassismus also eine Grundlage meines Forschungsansatzes darstellt, behaupte ich nicht, dass andere Formen des Rassismus keine Rolle spielen, wie etwa Antiziganismus oder nicht (vorwiegend) auf Mobilität beruhende rassifizierende Zuschreibungen von Schmutz, Sexualität, Hautfarbe, etc. Insbesondere das dritte Kapitel zeigt, wie höchst flexibel und vielfältig die untersuchten „Assemblagen des Rassismus“ (Tsianos & Pieper, 2011) in Bezug auf den ‚Tagelöhnermarkt‘ und die ‚Armutszuwanderung‘ waren. 16 Zusammenfassend lässt sich an dieser Stelle sagen, dass ich mich nicht für die Aushandlungen um und am selbstorganisierten Arbeitsmarkt interessiere, um mehr über die bulgarischen Migrant*innen oder den ‚Tagelöhnermarkt‘ zu erfahren16, sondern, um zu einer rassismustheoretisch informierten, intersektionalen Analyse und Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse und Auseinandersetzungen in München, Deutschland und der EU beizutragen. Hier spielt die Frage nach der Produktion von Differenz, wie in der aktuellen historischen Konjunktur zwischen Innen und Außen unterschieden wird und mit welchen Praktiken, Institutionen und Versuchen des Regierens sich diese Vorstellungen verschränken, eine große Rolle. Die lokalen Auseinandersetzungen um EU-Migration geben, so meine These, einen gleichzeitig sehr partiellen und tiefgehenden Einblick in die aktuellen Verschiebungen, Brüche und Kämpfe des Rassismus. 16 Auch wenn ich mich in dieser Arbeit nicht auf sie beziehe, sondern mich eher von ihnen abgrenze, weil es dezidiert nicht in meinem Interesse liegt, über die migrantischen Arbeiter*innen und den selbstorganisierten Arbeitsmarkt soziologisches Wissen zu produzieren, möchte ich hier auf die sozialwissenschaftliche Forschungslandschaft zu day laborers und day labor markets, die vor allem in den USA und auch in Japan seit etwa 15 Jahren recht belebt ist, verweisen. Beispielsweise gibt es Forschungen über die informellen Organisationsweisen von Tagelöhner*innenagenturen (Bartley & Roberts, 2006), zu Versuchen, ein day labor center in Denver zu etablieren (Camou, 2009) und zu Arbeitsverhältnissen von day laborers in New York und Strategien, diese z.B. durch Worker Center zu verbessern (Theodore, Valenzuela & Meléndez, 2006). Der Soziologe Damian T. Williams (2009) hat enthnografisch dazu geforscht, wie day laborers ihre Arbeitssuche gestalten und wie der Arbeitsmarkt auf der Mikroebene organisiert ist. Eine weitere Studie hat mit quantitativen und qualitativen Methoden die Arbeiter*innen, die ökonomische Nachfragesituation und die räumlichen Dimensionen der day labor markets in Tokio und Los Angeles miteinander verglichen (Valenzuela, Kawachi & Marr, 2002). In seinem Artikel Day Labor Work in der Zeitschrift Annual Review of Sociology von 2003 gibt der Soziologe und Stadtplaner Abel Valenzuela (2003) einen Überblick über die Literatur zu day labor bis zu diesem Zeitpunkt. 17 ‚Tagelöhnermarkt‘ in der Arbeitsgesellschaft Wie bereits deutlich wurde, wird der selbstorganisierte Arbeitsmarkt auch in Bezug auf die mit ihm in Zusammenhang stehenden Arbeitsverhältnisse immer wieder als ein Außen, eine Ausnahme und eine Gefahr für die Münchner Bevölkerung dargestellt. Auf der einen Seite, wie im dritten Kapitel zu lesen sein wird, ist dann die Rede von der ‚Endstation Arbeiterstrich‘ und von ‚modernen Sklaven‘, während die deutschen Arbeitnehmer*innen von ‚Dumpinglöhnen‘ bedroht seien. Auf der anderen Seite wird den ‚Tagelöhner*innen‘ oft jede Verbindung zum Arbeitsmarkt abgesprochen – sie gelten dann als ‚unqualifizierte Migrant*innen‘ ohne Perspektive auf dem Münchner Arbeitsmarkt. Die Kategorie ‚Armutszuwanderung‘, als sogenannte ökonomische Migration von der angeblich nicht ökonomischen Sphäre der Flucht getrennt, ist Ausdruck eines paradoxalen vermeintlichen Außen im liberalökonomischen Sinne: ‚Armutszuwanderer‘ stehlen gleichzeitig ‚den Deutschen‘ die Arbeitsplätze und leben als ‚Sozialtouristen‘ von ‚unseren Steuergeldern‘. Der Begriff Armutszuwanderung ist, wie ich zeigen werde, im Zeitrahmen meiner Forschung erst zu einer Kernfigur des Regimes der EU-internen Migration und Arbeit avanciert. Eine Frage, die in den Auseinandersetzungen zu den ‚Tagelöhner*innen‘ stark umkämpft war, lautete: Sind sie Arbeiter*innen, oder nicht? Mit anderen Worten: Sind sie erwerbstätig oder zumindest erwerbsfähig? Die Antwort bestimmte nicht nur über den symbolischen Ein- bzw. Ausschluss in die Bevölkerung, sondern auch über den Zugang zu bürgerschaftlichen Rechten – so ist beispielsweise der Anspruch auf grundsichernde Leistungen (Hartz IV) an die Erwerbstätigeneigenschaft gebunden. Wie diese Frage ausgehandelt wurde, werde ich im dritten Kapitel in Bezug auf den Kampf um die Deutung des ‚Tagelöhnermarktes‘ im öffentlichen Diskurs analysieren, sie wird aber auch in den Aushandlungen mit Polizei und Zoll (Kapitel 4), dem Wohnungsamt (Kapitel 5), am Europäischen Gerichtshof (Kapitel 6) und in den Konflikten mit Ausländerbehörde und Jobcenter (Kapitel 7) eine Rolle spielen. Die Aufmerksamkeit dafür, wie die Figur der ‚Arbeitnehmer*in‘ umkämpft wurde, wird mich nicht zuletzt zu der Frage nach den aktuellen Transformationen des Sozialstaates führen, die neben den Prozessen der Europäisierung und (Re-)Nationalisierung auch von der Umwandlung des 18 keynesianischen, die (nationale) Bevölkerung absichernden Wohlfahrtssystems zum aktivierenden workfare-Regime (vgl. Peck, 2001) geprägt sind17. Hier möchte ich nur herausstellen, dass die Debatte, ob die ‚Tagelöhner*innen‘ – oder auch generell die ‚Armutszuwander*innen‘ – Arbeiter*innen seien, auf einem Konsens darüber beruhte, was Arbeit bedeutet. Der Begriff der Arbeit war kaum umstritten, sondern fast durchgehend entsprechend der Normalitätsvorstellung in der ‚Arbeitsgesellschaft‘ als sozialversicherungspflichtige, ganztägige Lohnarbeit, die mitunter den Wert einer Person bestimmt, definiert. Die zentrale These der wissenschaftlichen Debatten zur Arbeitsgesellschaft lautet, dass die Figur der ‚Arbeit‘ zum Maßstab gesellschaftlicher und staatlicher Normalitätsvorstellungen, Politiken und Praktiken geworden ist (vgl. Lehnert, 2009; Lessenich, 2013; Hirsch, 2015). Arbeit gilt als Figur, um die gesellschaftliche Prozesse kreisen und die die Normalität und Subjektivierungen bestimmt. Sie geht einher mit der „politische[n] Vision vom Arbeitslosen als Schuldigen und vom Sozialhilfebetrug als Sozialmissbrauch (anstatt als solidarischen Rechtsanspruch in einer demokratisch verfassten politischen Gemeinschaft)“ (Hirsch, 2015: 87). Politökonomischer Hintergrund ist, so der Münchner Philosoph Michael Hirsch, dass die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit wegen technologischen Fortschritten zwar immer weiter abnehme, die gesellschaftlich erwartete Arbeitszeit aber nicht für alle reduziert werde, sondern vielmehr „die individuelle Erwerbstätigkeit und die Schaffung von Arbeitsplätzen zum Imperativ erhoben wird“ (ebd.). Statt die Reduzierung der Arbeitslast für alle zu begrüßen, avanciert die unweigerlich entstehende Arbeitslosigkeit zur Schuld der Einzelnen. Auch hier findet sich 17 Die als workfare bezeichnete Sozialpolitik bindet soziale Leistungen an die Bedingung, dem Leistungsimperativ zu folgen. In Deutschland macht der Slogan der Hartz IV-Reform „Fordern und Fördern“ diese Logik deutlich. Statt anzuerkennen, dass Arbeitslosigkeit strukturell bedingt ist, werden die vermeintlich ‚leistungsunwilligen‘ Einzelnen zur Ursache erklärt. Ziel ist die Aktivierung von Leistungspotential. Ausgeschlossen werden diejenigen, die dem Leistungsimperativ nicht Folge leisten (können). Im Unterschied dazu werden in der national-sozialen Logik der Exklusion primär jene von sozialen Leistungen ausgeschlossen, die nicht Staatsbürger*innen sind. Das Thema workfare und aktivierender Sozialstaat wird in den folgenden Kapiteln immer wieder aufgegriffen, um dann im Kapitel 7 ausführlicher behandelt zu werden. 19 wieder ein angebliches Außen, das definierender Teil der Gesellschaft ist: „Im heutigen postfordistischen Arbeitsregime sind auch die ‚Überflüssigen‘ und ‚Überzähligen‘ Teil der Arbeitsgesellschaft, und zwar sowohl objektiv wie subjektiv. Objektiv, indem sie zu Objekten der Politik der ‚Wiedereingliederung‘ des aktivierenden Sozialstaates werden; subjektiv, indem sie mental Teil der Arbeitsgesellschaft und ihrer Normalitätserwartungen bleiben.“ (ebd.: 19) Die diskursanalytischen Überlegungen zur sich verändernden Rolle der Figur der Arbeit sind notwendig, um die aktuellen Versuche des Regierens zu verstehen – insbesondere, wenn versucht wird, durch Aktivierung zu regieren. Sie dürfen aber nicht die Frage nach den materiellen Ausbeutungsverhältnissen verdecken. Tagelöhnermarkt als Teil globaler Ausbeutungsund Klassenverhältnisse Auch wenn meine Forschung für eine genauere Analyse der Arbeitsverhältnisse der EU-Migrant*innen, mit denen wir im Workers’ Center zusammenarbeiteten, nicht ausgelegt war, weil ich nicht an deren Arbeitsplätzen und während ihrer Arbeitszeit forschte, kann ich im zweiten Kapitel ein Schlaglicht auf den Arbeitskampf von vier Reinigungsarbeiter*innen werfen und diesen auch in eine Beschreibung der Arbeits- bzw. Ausbeutungsverhältnisse18, denen ich im Rahmen meiner Arbeit mit der Initiative Zivilcourage begegnet bin, einbetten. Es zeichnet sich ein sehr diverses Bild von Arbeitsverhältnissen ab, das keinesfalls auf die in den Medien skandalisierten Schreckensmeldungen von extrem niedrigen Löhnen, komplett fehlenden Arbeitsrechten und Zwangsver18 Ich verwende die Begriffe Arbeits- und Ausbeutungsverhältnisse weitgehend synonym. Hintergrund dafür ist die marxsche Analyse, dass Lohnarbeit im Kapitalismus immer auf der Ausbeutung von Arbeitskraft beruht. Von ‚Arbeitsverhältnissen‘ spreche ich meist dann, wenn die Kritik an der Ausbeutung oder die Kapitalismusanalyse nicht im Vordergrund steht, z. B. wenn ich Ansätze oder Kämpfe rezipiere, die sich nicht gegen Lohnarbeit positionieren, sondern nur gegen prekäre oder ‚überausbeutende‘ Lohnarbeit. 20 hältnissen zu vereinfachen ist. Die Arbeitsverhältnisse der EU-migrantischen Arbeiter*innen19 sind aber trotzdem sehr prekär: Es handelt sich meist um Jobs im Bau- und Reinigungsgewerbe für etwa acht bis fünfzehn Euro die Stunde (brutto), mit mehr oder weniger dokumentierten Arbeitsverträgen oder auch als (schein-)selbstständige Einpersonenunternehmen. Bis 2014 mussten die neuen Unionsbürger*innen im Rahmen der Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit in der Regel eine Arbeitserlaubnis beantragen, was undokumentierte Arbeitsverhältnisse förderte. Für die Arbeitgeber*innen sind letztere auch heute noch von Vorteil, weil sie sich Sozialabgaben sparen, die immerhin bis zu 40 Prozent der Lohnkosten ausmachen. Die Arbeiter*innen arbeiten oft nur einige Stunden oder Tage für einen oder eine Arbeitgeber*in, manchmal auch längerfristig, bevor sie wieder einen neuen Job suchen. Lohnbetrug ist zwar nicht die Regel, aber durchaus an der Tagesordnung – sei es, dass der/die Arbeitgeber*in gar nicht zahlt oder der/die Arbeitnehmer*in über unbezahlte Überstunden, versteckte Akkordarbeit und ‚geschönte‘ Arbeitszeitabrechnungen um ihren Lohn betrogen wird. Welche Ansätze gibt es, um diese Arbeitsverhältnisse zu analysieren? Sowohl in manchen Medienberichten als auch aus einer (unzureichenden) 19 Ich nutze den Begriff ‚EU-migrantische Arbeiter*innen‘ als zentrale Bezeichnung für die Personen, deren Kämpfe im Zentrum dieser Arbeit stehen. So möchte ich auf ihre (in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen stets neu ausgehandelte) Positionierung im kapitalistischen Produktionsprozess und damit gesellschaftlichen Kräfte- und Konfliktverhältnissen hinweisen. ‚Arbeiter*innen‘ sind auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft oder, wenn sie nicht erwerbstätig sind, auf staatliche Transferleistungen oder Unterstützung durch soziale Netzwerke angewiesen. Mit dem Begriff ‚Arbeiter*innen‘ möchte ich aber keine Vorstellungen einer ‚Arbeiterklasseneinheit‘ aufrufen oder mich auf einen ‚Hauptwiderspruch‘ beziehen. Politische Subjekte als ‚Arbeiter*innen‘ zu bezeichnen, geht allzu oft mit einem orthodox-marxistischen, strukturalistischen Klassenbegriff einher, der sowohl Selbstbezeichnungen übergeht wie auch übersieht, dass Klasse stets etwas in Bewegungen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen Gemachtes und keine vorgegebene Struktur ist (vgl. etwa Balibar & Wallerstein, 2014). Stattdessen gehe ich von sehr vielfältigen und historisch situierten Prozessen der Vergesellschaftung aus, die auf unterschiedlichste Weisen entlang von gender, class, race und weiteren Differenzkategorien bzw. sozialen Verhältnissen umkämpft sind. Vgl. auch das Unterkapitel Selbstorganisierter Arbeitsmarkt als intersektionelle und überdeterminierte Formation und Carstensen, Heimeshoff & Riedner i.E. 21 kapitalismuskritischen Perspektive gilt der ‚Tagelöhnermarkt‘ als Sinnbild des ‚Raubtierkapitalismus‘: ein Abstellgleis für nackte Arbeitskraft, die völlig dem Gutdünken der Arbeitgeber*innen bzw. dem Bedarf des Arbeitsmarktes ausgeliefert ist. Die ‚Tagelöhner‘ sind dann „moderne Arbeitssklaven, frei verfügbar“ (SZ vom 7.10.2012) oder „Freiwild für betrügerische Subunternehmer“ (SZ vom 24.8.2010). Der selbstorganisierte Arbeitsmarkt kann aber auch aus weniger reißerischer Perspektive als Ausbeutungstechnologie analysiert werden. Er gewährleistet einen hohen Mehrwert, weil die Arbeitskraft extrem flexibel einzusetzen ist und somit keine Kosten verursacht, wenn sie nicht gebraucht wird. Außerdem müssen sich die Arbeitgeber*innen um die Gesundheit und das Wohlergehen der einzelnen Arbeiter*innen keine Sorgen machen, weil sie, wenn eine*r krank wird, sich gleich wieder eine*n andere*n Arbeiter*in holen können. Auch der Begriff der Überausbeutung ist hier anzuwenden – nicht nur, weil die Löhne oft unterhalb des Durchschnittslohns liegen, sondern auch, weil der Preis der Arbeit den Preis der Reproduktion der Arbeit unterschreitet (vgl. Friedrich & Zimmermann, 2015)20. Den Lohnabhängigen bleibt nicht genug Geld, um langfristig gesund zu bleiben, sie sind oft obdachlos und ohne Krankenversicherung. Solche unsicheren Arbeitsverhältnisse werden heute oft als prekär bezeichnet. Auf die Begriffe der Ausbeutung, Überausbeutung, Prekarität und Prekarisierung werde ich im zweiten Kapitel zurück kommen. Bei solchen Analysen, egal ob sie von (Über-)Ausbeutung oder Prekarität sprechen, bleibt aber zu bedenken, dass es in mehrfacher Hinsicht vereinfachend ist, den ‚Tagelöhnermarkt‘ auf die einseitig vermachtete Beziehung zwischen Unternehmer*in und Lohnarbeiter*in zu reduzieren. So kann der Arbeitsmarkt nicht verstanden werden, ohne nach der Rolle insbesondere der staatlichen Versuche des Regierens zu fragen. Die Migrationsforscherin Bridget Anderson etwa stellt einen klaren Zusammenhang zwischen Migrationskontrollen und Prekarisierung her: 20 Ich danke Jonathan Schmidt-Dominé für die Hinweise, dass der Überausbeutungsbegriff auch deswegen problematisch ist, weil bei der Berechnung des Durchschnittlohns oft ein nationaler Maßstab angelegt wird und weil das, was als ‚bloße Reproduktion‘ und ‚lebensnotwendig‘ gilt, nicht überall gleich ist. Zudem blendet der Begriff tendenziell aus, dass auch eine ‚durchschnittliche‘ Ausbeutung Körper nicht schont und auf unbezahlte Reproduktion setzt. 22 „rather than a tap regulating entry, immigration controls might be more usefully conceived as constructing certain types of workers, and facilitating certain types of employment relations, many of which are particularly suited to precarious work.“ (Anderson, 2007) Im Laufe der Arbeit werde ich immer wieder auf die Frage zurückkommen, inwiefern die Ausbeutungsverhältnisse im Kontext des selbstorganisierten Arbeitsmarktes mit (sozial-)rechtlichen Ausschlüssen und den Assemblagen des Rassismus, die die Arbeitssuchenden markieren und ihren sozialrechtlichen Ausschluss legitimieren, verknüpft sind. Aus materialistisch-staatstheoretischer Perspektive geht der nationalsoziale Staat als Kompromiss zwischen nationaler Bürgerschaft und Kapital mit dem (graduellen) Ausschluss von Arbeiter*innen, die nicht zu den Staatsbürger*innen gehören, einher. Der Ausschluss bestimmter Gruppen von Arbeiter*innen von gewissen Rechten stratifiziert den Arbeitsmarkt und ermöglicht eine „Desorganisation [...], weil die Kopplung sozialer Rechte an die Staatsbürgerschaft – die ‚soziale Staatsbürgerschaft‘, wie Balibar es nennt – die in diesem Prozess stattfindet, die Nationalisierung der Arbeiterklasse materiell fundiert.“ (Karakayalı & Tsianos, 2002: 263) Die Nationalisierung der Arbeiterklasse ist Grundlage für die Migrantisierung eines anderen Teils der Arbeiter*innen. In der Diskussion mit Immanuel Wallerstein legt Balibar dar, wieso nicht nur zwischen Staaten des Zentrums und der Peripherie, sondern auch innerhalb der Staaten, in denen sich ein national-sozialer Kompromiss bilden konnte, ein „duales Proletariat“ (Balibar, 1998: 217) entsteht, das mit „zwei Reproduktionsweisen“ (ebd.) einhergeht: Für die Staatsbürger*innen ist die Reproduktion (mehr oder weniger) durch den Sozialstaat in die kapitalistische Produktionsweise integriert, für die von der Staatsbürgerschaft Ausgeschlossenen wird die Reproduktion „ganz oder teilweise vorkapitalistischen Reproduktionsweisen (oder besser gesagt: Reproduktionsweisen, die durch den Kapitalismus dominiert und entstrukturiert werden und nicht auf freier Lohnarbeit basieren); sie stehen in direktem Zusammenhang mit den Phänomenen 23 [...] der destruktiven Ausbeutung der Arbeitskraft und der rassischen Diskriminierung.“ (ebd.) Im Falle der EU-Migrant*innen heißt dies, dass ihr weitgehender Ausschluss aus dem nationalen Sozialsystem, die unsicheren Arbeitsverhältnisse und die niedrigen Löhne dazu führen, dass sie oftmals versuchen müssen, ihre Reproduktion (dazu gehört Essen, Schlafen, Sorgearbeit, soziale Beziehungen und Krankenversorgung) weitgehend außerhalb der kapitalistischen Kreisläufe von Konsum, Sozialversicherung und Lohnarbeit selbst zu organisieren – oder darauf verzichten müssen, was krank macht und langfristig tötet. In Serhat Karakayalıs und Vassilis Tsianos skizzenhaftem Versuch „das Migrationsregime der Bundesrepublik Deutschland und seine Transformation unter rassismusanalytischen Gesichtspunkten kritisch zu rekonstruieren“ (Karakayalı & Tsianos, 2002), sind es nicht nur die Migrationskontrollen, sondern die rassifizierten Linien folgende „Trennung von Lohnarbeit und Staatsbürgerschaft“ (ebd. 264) generell, die (wenn wir ihre Analyse etwas vereinfachen) zu einer „ethnisierten Unterschichtung der eingewanderten Arbeitskraft“ (ebd. 246), zur „Segmentierung der Arbeitskraft“ und zur „rassistische[n] Hierarchisierung von Lebenschancen“ (ebd. 246) führen. Sie beziehen sich dabei auf einen prominenten Rassismusforscher, Robert Miles, der Rassifizierung und Rassismus definiert als: „ideological forces which, in conjunction with economic and political relations of domination, located certain populations in specific class positions and therefore structured the exploitation of labour power in a particular ideological manner.“ (Miles, 2000: 141) Eine solche Perspektive erlaubt zu fragen, wieso genau diese Arbeiter*innen ihre Arbeitskraft am selbstorganisierten Arbeitsmarkt verkaufen. Es wird sich zeigen, dass der ‚Tagelöhnermarkt‘ und die Ausbeutungsverhältnisse der Lohnabhängigen, die hier Arbeit suchen und finden, ohne den Rassismus, der die Arbeitssuchenden markiert und abwertet, ebenso wenig zu erklären sind, wie ohne eine Untersuchung des spezifischen rechtlichen Status der Unionsbürgerschaft und Freizügigkeit und deren konkrete Umsetzung in München. 24 Die Segmentierung des Arbeitsmarktes hilft nach Tsianos und Karakayalı zudem zu erklären, wieso die Arbeiter*innen sich nicht als Arbeiterklasse konstituieren und gemeinsam gegen ihre (Über-)Ausbeutung zur Wehr setzen: „Die Ethnisierung könnte demnach bestimmt werden als ein konstitutives Element der Klassenbildung und zwar nicht auf der Ebene der Klasse als Produktivkraft, sondern in Bezug auf das kapitalistische (Staats)Regime, das in der strukturellen Desorganisation der Beherrschten besteht.“ (ebd.: 263) Und auch nach Immanuel Wallerstein erweist sich „der Rassismus [...] bei der Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems als hilfreich. Dank seiner Existenz können die Vergütungen für einen Großteil der Arbeiterschaft viel geringer ausfallen, als es auf der Basis von Verdienst und Leistung zu rechtfertigen wäre.“ (Wallerstein, 1998: 46) Die von Wallerstein mitbegründete Weltsystemtheorie weitet den Blick über den einzelnen Staat hinaus aus, denn kapitalistische Verhältnisse seien nur global zu erklären. Die Erschließung neuer Märkte, neuer Rohstoffe und günstiger Arbeitskraft in den peripheren, teils noch nicht kapitalistisch erschlossenen Regionen gehöre seit dem 16. Jahrhundert zur Funktionsweise des Kapitalismus und verändere die Lebensweisen und sozialen Strukturen in der Peripherie, was zu Migration führe, sowohl vom Land in die Städte oder in die industrialisierten Regionen, wie auch in die Länder des sogenannten kapitalistischen Zentrums. Im zweiten Kapitel wird sich zeigen, dass auch die Lebensrealitäten der EU-migrantischen Arbeiter*innen sich ohne einen Blick auf die Verhältnisse in Bulgarien und die Beziehungen zwischen Bulgarien, der EU und Deutschland bzw. München nicht erklären lassen. Es gilt aber genau hinzusehen, denn Gesellschaften sind nicht klar zwischen Peripherie und Zentrum aufgeteilt, sondern werden von immer komplexeren Differenzierungen durchkreuzt. An dieser Stelle erscheint mir das Konzept der differenzierten Inklusion produktiv, das beschreibt, dass die heutige Gesellschaft durchkreuzt und durchquert ist von verschiedensten Linien der differenzierten Inklusion, die 25 Ausbeutungsverhältnisse multiplizieren (vgl. Casas-Cortes et al., 2014; Mezzadra & Neilson, 2013). Es verweist auf die Gleichzeitigkeit von Innen und Außen, indem es nicht, wie oft üblich, davon ausgeht, dass Entrechtung und Ausgrenzung zu Ausschluss führt, sondern zu spezifischen Formen von Einschluss in einer stratifizierten, zonierten, vermachteten Gesellschaft. Es stellt einen Vorschlag dar, von Einschluss statt von Ausschluss zu sprechen – aber von einem fragmentierten Einschluss. Die Vorstellung eines einheitlichen, homogenen Bevölkerungskörpers wird so untergraben. Der Begriff der differenzierten Inklusion hilft, einen detaillierteren Blick auf die Verhältnisse im Kontext des selbstorganisierten Arbeitsmarktes zu werfen – nicht nur in Hinsicht auf die zwischen Ein- und Ausschluss changierende gesellschaftliche Situation der bulgarischen Arbeiter*innen, mit denen wir im Workers’ Center vor allem zusammen arbeiteten, sondern auch auf die vermachtete Vielfalt der gesellschaftlichen Positionierungen, in denen sich Akteure im Kontext des selbstorganisierten Arbeitsmarkt befanden. In Kapitel 4 gehe ich so etwa darauf ein, wie ein azerbaijanischer Staatsbürger, dessen Visum abgelaufen war und der am selbstorganisierten Arbeitsmarkt Anschluss gefunden hatte, Asyl beantragte, um wenigstens ein Dach über dem Kopf und Verpflegung zu haben. Seine bulgarischen Begleiter beschwerten sich, dass die Option Asylantrag für sie spätestens seit dem EU-Beitritt Bulgariens nicht mehr existierte. Ein ehemaliger Werkvertragsarbeiter aus der Türkei, der für einige Zeit ohne Papiere in München lebte, erklärte, dass der Stundenlohn im Bahnhofsviertel gesunken wäre, seitdem so viele ‚Bulgaren‘ ihre Arbeitskraft hier anböten. Diese und weitere Beispiele in dieser Arbeit zeigen, dass es statt dem vermeintlich klar abgegrenzten Außen vielfältige fragmentierte Formen des Einschlusses gibt und wie dabei rechtlich und rassistisch differenzierte Gruppen unterschiedliche Interessen haben können, so dass es zumindest schwieriger – aber keineswegs unmöglich! – ist, sich gemeinsam zu organisieren. Differenzierte Inklusion heißt nicht nur, dass Grenzen durchlässig sind und filtern, sondern beinhaltet eine Aussage über das Innen und Außen im Kapitalismus, das über die rein rechtliche Aufspaltung hinausgeht, Prozesse der Normierung und Subjektivierung mit einbezieht, die Frage nach den Widersprüchen des Kapitalismus stellt und so die analytische Perspektive auf ein abstrakteres Niveau ausweitet. 26 Sandro Mezzadra (2011) spricht davon, dass kapitalistische Verhältnisse gleichzeitig auf dem Streben, gesellschaftliche Verhältnisse gänzlich zu erschließen bzw. in Wert zu setzen, und der grundlegenden Notwendigkeit eines Außen, das in Wert gesetzt werden kann, bestehen. Oder in anderen Worten: Die kapitalistische Dynamik als soziales Verhältnis sei darauf angewiesen, dass es ein Außen gibt, das angeeignet, ausgebeutet und kommodifiziert werden kann: „Let me briefly elaborate on the proposed definition of capitalism. First of all it may seem paradoxical. While the first element of the definition (capital as ‚social relation‘) points to a ‚constitutive outside‘ (we could define it with Marx: ‚labor as not capital‘), the second element (‚endless accumulation of capital‘) has been presented as a ‚totalizing‘ norm. I think that it is worth maintaining this paradox, since it lies at the core of modern capitalism and it makes up its contradictory and dynamic nature. Capital must totalize itself (that means, it must organize the whole fabric of society, politics, culture, etc. according to its norms, to the imperative of its ‚endless accumulation‘ and valorization), and at the same time this attempt to totalize itself cannot but be partial, since the existence of a ‚constitutive outside‘ is a necessary condition for its valorization.“ (Mezzadra, 2011: 159) Die materiell und rechtlich differenzierte Inklusion der EU-migrantischen Arbeiter*innen und der Antagonismus zwischen ihrer diskursiven Einhegung als Arbeiter*innen und (Unions-)Bürger*innen auf der einen Seite und Ausgrenzung in das angebliche Außen der Gesellschaft – als ‚Schwarzarbeiter‘, ‚Überflüssige‘ oder ‚Armutszuwanderer‘ – auf der anderen Seite, lässt sich so als Teil kapitalistischer Vergesellschaftung verstehen21. 21 Wenn der populäre Soziologe Mike Davis die Slums der Weltmetropolen als außerhalb der Gesellschaft darstellt (vgl. M. Davis, 2007), Robert Castel in seinen einflussreichen soziologischen Arbeiten zu sozialem Ausschluss und Prekarität eine „Zone der Entkoppelung“ (Castel & Dörre, 2009) festmacht oder das Münchner Sozialreferat sogenannten Armutszuwander*innen jede ‚Perspektive‘ in München abspricht (siehe Kapitel 5) – greift dies analytisch also zu kurz. Ohne auf die politische Theorie hier weiter eingehen zu können, denke ich, dass die These, dass die Reproduktion kapitalistischer Verhältnisse auf ihrer Expansion aufbauen und somit immer neue ‚Außen‘ und neue Grenzlinien produzieren, eine differenziertere Analyse ermöglicht. Auch die extremste Ar- 27 Eine zentrale Frage, die sich immer wieder stellt, wenn wir versuchen, den ‚Tagelöhnermarkt‘ zu analysieren, ist aber bis jetzt unberücksichtigt geblieben: Handelt es sich tatsächlich nur um eine Ausbeutungs- und Ausgrenzungstechnologie oder vielmehr (auch) um einen widerständigen Raum? Selbstorganisierter Arbeitsmarkt als widerständiger Raum und Ausbeutungstechnologie zugleich Nicht nur die extreme Ausbeutung ihrer Arbeitskraft, ökonomische Unsicherheit und die Versuche der Polizei, den ‚Tagelöhnermarkt‘ zu vertreiben und einzudämmen, bestimmen die Lebens- und Arbeitsrealitäten der migrantischen Arbeiter*innen, sondern ihre alltäglichen Praktiken in sozialen Netzwerken gestalten diesen sozialen Raum mit. Die migrantischen Arbeiter*innen sind ständig in Auseinandersetzungen um Lohn, Arbeitsbedingungen und auch ihre bloße Anwesenheit im öffentlichen Raum, verwickelt. Ein Arbeitskampf von vier Frauen und ihr transnationales eigenwilliges Migrationsprojekt wird Thema des zweiten Kapitels sein. Im vierten Kapitel werde ich darauf eingehen, wie Polizei, Zoll und andere Akteure versuchen, die ‚Tagelöhner‘ zu vertreiben, dabei aber regelmäßig das Nachsehen haben. Auch verschiedene Versuche, EU-Migrant*innen durch die Hetze gegen sogenannte Armutszuwanderung, Verschärfungen des Freizügigkeitsgesetzes und den Ausschluss von arbeitssuchenden Unionsbürger*innen vom Recht auf ein Existenzminimum (siehe Kapitel 7) inkl. Unterkunft (siehe Kapitel 5) abzuschrecken und so von einem Aufenthalt etwa in Deutschland abzuhalten, blieben erfolglos. In ihrer relationalen Theorie des Rassismus plädiert Manuela Bojadžijev für einen Wechsel der Perspektive: Es gelte, von den Kämpfen der Migration auszugehen (also quasi Antirassismusforschung statt Rassismusforschung zu betreiben), um so Rassismus und Kapitalismus nicht als übermächtig und starr erscheinen zu lassen, sondern als gesellschaftliche Auseinandersetzungen: mut ist aus einer solchen Perspektive als Teil der kapitalistischen Gesellschaft zu begreifen. Dies macht menschliches Elend nicht weniger skandalös, sondern schärft den Blick auf seinen gesellschaftlichen Zusammenhang. 28 „Die Konjunkturen des Rassismus hängen nicht nur von seiner internen Reproduktionsfähigkeit ab. Seine Reorganisation und Entwicklung ist entscheidend geprägt von denen, die sich gegen ihn zur Wehr setzen. Zur Bestimmung der Konjunkturen lassen sich folglich die Kämpfe gegen Rassismus zum Ausgangspunkt nehmen. Rassismus ist selbst eine Form der sozialen Auseinandersetzung, in welcher er sich erneuert und zur komplexen Form kapitalistischer Entwicklung beiträgt.“ (Bojadžijev, 2008: 47) Auch der selbstorganisierte Arbeitsmarkt kann nicht nur einseitig als Ausbeutungstechnologie, sondern muss auch als Artikulation von Kämpfen der lebendigen Arbeit22 gegen ihre Kommodifizierung und Regulierung verstanden werden. Er kann nicht als Abstellgleis nackter Arbeitskraft begriffen werden, sondern auch die Strategien und Praxen der Arbeiter*innen müssen in den Blick genommen werden. Der selbstorganisierte Arbeitsmarkt und die ihn bedingenden Regime der EU-internen Migration sind nicht alleine Werkzeuge des Kapitals, die fragmentierte Reservearmeen schaffen sollen, um Ausbeutungsverhältnisse zu verschärfen. Den ‚Tagelöhnermarkt‘ alleine als Ausbeutungstechnologie zu betrachten, folgt deterministischen Ansätzen, die soziale Formationen als passives Produkt von Ausbeutungs- und Regierenstechnologien sehen. Ein solcher Funktionalismus wurde insbesondere orthodox-marxistischen Analysen von Migration vorgeworfen. Migration jedoch „lässt sich nicht aus Kosten-Nutzen-Rechnungen ableiten und im Sinne einer Reservearmee steuern“ (Hess & Tsianos, 2004: 8). Ist der selbstorganisierte Arbeitsmarkt dann also viel eher widerständiger Raum als Ausbeutungstechnologie? Ich möchte argumentieren, dass er beides zugleich ist und gerade die konkrete Artikulation dieses Spannungsfelds Einblick in die kapitalistische Gesellschaftsformation gibt. Auch so ist die widersprüchliche Gleichzeitigkeit von Innen und Außen zu verstehen: Die Ware Arbeitskraft ist nicht von ihrem Gegenstück der lebendigen Arbeit zu trennen. Auch wenn immer wieder versucht wird, Menschen auf ihre Arbeitskraft zu reduzieren – z. B. durch restriktive Politiken der ‚Arbeitsmigration‘ oder die Idee der EU-europäischen 22 Der marxsche Begriff der „lebendigen Arbeit“ betont, dass Arbeitskraft nie völlig zur Ware werden kann und so nie gänzlich zu bestimmen ist, weil sie immer mit lebendigen Körpern, mit Menschen, mit Vielfalt verbunden ist (Hielscher & Riedner, 2015). 29 ‚Marktbürgerschaft‘ – kommen nicht nur Arbeitskräfte ‚rein‘, sondern auch Menschen23. In den Worten des ehemaligen griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis: „That economic concept of the labour input as radically different to all other inputs and labour as the only commodity that can never be fully commodified was to me – and still remains to this day – Marx’s biggest contribution to our way of conceptualizing the political economy we live in. So when he was writing that labour is the ‚living, form-giving fire‘ that lends value to commodities, he was not just being poetic, he was being at his highest level of economic analysis.“ (SkriptaTV, 2013)24 Die Handlungsmacht und politische Zentralität der migrantischen Arbeiter*innen in der Produktion der sozialen Formation des selbstorganisierten Arbeitsmarkts zu betonen, bedeutet nicht, im liberalen Sinne zu behaupten, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied ist, sondern die Kämpfe der Arbeiter*innen als eigenwilligen Part in antagonistischen Verhältnissen zu begreifen. Die soziale Formation des selbstorganisierten Arbeitsmarkts ist also durch eine weitere Gleichzeitigkeit zu beschreiben: Es handelt sich nicht nur um eine Ausbeutungstechnologie, sondern auch um einen Raum der (Arbeits-)Kämpfe, die im antagonistischen Verhältnis zu den Verwertungsprozessen und zu den Versuchen der Kontrolle und des Regierens stehen, oder diesen im deleuzianischen Sinne entfliehen bzw. über diese hinausgehen25. Ich schlage also vor (wie es Moritz Ege nach der Lektüre eines ersten Entwurfes dieser Einleitung treffend formuliert hat), 23 Ich beziehe mich hier auf die „humanistisch gesinnte“ (Bojadžijev & Karakayalı, 2007: 210) Aussage, die Max Frisch im Rahmen einer Debatte zu Migration in den 1960er Jahren in der Schweiz getroffen hat: „Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen“ (Frisch, 1965: 100). 24 Yanis Yaroufakis zitiert hier die folgenden Worte aus den Grundrissen von Karl Marx: „Labour is the living, form-giving fire; it is the transitoriness of things, their temporality, as their formation by living time“ (Marx, o.J.). 25 Mit politischen Praktiken, die über die Versuche des Regierens hinausgehen und ihnen entfliehen, setze ich mich im zweiten Kapitel noch einmal unter dem Stichwort der „imperceptible politics“ auseinander (vgl. Papadopoulos, Stephenson & Tsianos, 2008). 30 „das vermeintliche Außen als gewissermaßen systemisch produzierten oder doch zumindest systemisch relevanten Bestandteil von Kapitalismus zu verstehen, der (a) neue Objekte der Verwertung darstellt, (b) so etwas wie eine Reservearmee, (c) lebendige Arbeit, die darin nicht aufgeht.“ (Ege, 2015a) In dieser Arbeit geht es um die komplexen Auseinandersetzungen in München, in denen die EU-migrantischen Arbeiter*innen zu Objekten der Verwertung und des Regierens gemacht werden, aber gleichzeitig für ein besseres Leben kämpfen. Selbstorganisierter Arbeitsmarkt als intersektionelle und überdeterminierte Formation Eine weitere Schärfung der Perspektive scheint mir noch nötig, die durch die vorhergehenden Überlegungen schon vorbereitet wurde. Wenn eine die alltäglichen und transnationalen Praktiken der EU-migrantischen Arbeiter*innen als Arbeitskampf und den selbstorganisierten Arbeitsmarkt als Ausbeutungsinstrument versteht, dann übersieht sie schnell, dass sich die Gesellschaft nicht auf einen Antagonismus zwischen ‚ökonomischen‘ Faktoren und den Kämpfen gegen Ausbeutung reduzieren lässt. Die EU-migrantischen Arbeiter*innen sind aber nicht nur von Versuchen betroffen, Profit zu maximieren und auch bei ihren Kämpfen handelt es sich nicht nur um solche, die gegen Ausbeutung kämpfen, sondern es geht auch um andere Formen der Unterdrückung und Dominanz, wie etwa die Kontrolle ihrer Mobilität und paternalistische Machtverhältnisse. Mit Demo-Slogans wie „Wir möchten nicht wie Hunde behandelt werden“ oder „Wir sind keine schlechteren Menschen“ wenden sie sich gegen Rassismus und Ausgrenzung. Der Satz „Ich bin gekommen, um selbstständig zu sein“, mit dem Nadka Eseva im Rahmen eines gemeinsamen Fotoprojektes an die Öffentlichkeit ging, handelt nicht nur von ökonomischer Selbstständigkeit, sondern auch von dem Ausbruch aus ihrer Ehe und dem prekären Leben in Bulgarien (vgl. Riedner, 2011). Auch die Versuche des Regierens der EU-Migrant*innen machen aus einer rein ökonomischen Perspektive nicht immer Sinn. So wird die soziale Formation des selbstorganisierten Arbeitsmarkts nicht nur durch Interventionen, die ökonomischen Rationalitäten folgen, 31 sondern beispielsweise auch durch sicherheitspolitische Praktiken beeinflusst. Nicht zuletzt kulturanthropologische Beschäftigungen haben auf die Verschränkung von Wirtschaftsweisen mit anderen Bereichen menschlicher Kultur hingewiesen26. So weist der US-amerikanische Kulturanthropologe Michael Burawoy mit seinen Studien darauf hin, dass Produktion noch nie rein ökonomisch bestimmt war: „the process of production contains political and ideological elements as well as a purely economic moment“ (Burawoy, 1983: 587). Die Vorstellung einer rein ‚ökonomischen‘ Sphäre und die damit einhergehenden Unterscheidungen zwischen dem Politischen, dem Sozialen und dem Ökonomischen ist eine liberale Abstraktion, die nach Raia Apostolova auch den dynamischen Differenzierungen zwischen guten, politischen und schlechten, ökonomischen Flüchtlingen und zwischen guten, im ökonomischen Sinne produktiven Migrant*innen und schlechten, nichtproduktiven Migrant*innen zu Grunde liegt und so die politischen Widersprüche des Kapitalismus zwischen lebendiger Arbeit und Kapital verschleiert (Apostolova, 2015). Es gilt also, kein ökonomistisch vereinfachtes Verständnis von sozialen Verhältnissen einzunehmen. Rassistische und sexistische Machtverhältnisse werden in ökonomistischen Ansätzen oft darauf verkürzt, dass sie Arbeiterklassen spalteten und so einen gemeinsamen Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung erschwerten. Diese Machtverhältnisse sind dem Kapitalismus aber nicht nur funktional, sondern haben auch eigene Dynamiken. Eine solche Kritik an orthodox-marxistischen Perspektiven wurde in mehreren Zusammenhängen formuliert. In Étienne Balibars viel zitierten Essay zu „Klassen-Rassismus“ (Balibar, 1998) konstatiert dieser etwa eine „Heterogenität der histo26 Dieses Buch wurde auch als Doktorarbeit im Fach Kulturanthropologie geschrieben. Ich habe mich dazu entschieden, für diese Publikation nur jene fachinternen Bezüge und Debatten herauszustreichen, die für eine fachfremde Leser*innenschaft uninteressant sind. Nicht nur, weil ich meine Positionierung in der problematischen Geschichte des Vielnamenfachs der „Volks-“ bzw. „Völkerkunde“ oder „(Europäischen) Ethnologie“, die eng mit kolonialen und volkstümelnden Kräften verstrickt ist, transparent machen möchte. Sondern auch, weil mir manche Debatten für die Auseinandersetzung zu kritischer, situierter Wissenspraxis und sozialen Verhältnissen, die über das Fach hinaus gehen, durchaus relevant erscheinen. Dieses Buch ist also auch als Versuch zu verstehen, ausgewählte kulturanthropologische Debatten in eine größere kritische Öffentlichkeit einzubringen. 32 rischen Formen, die das Verhältnis von Rassismus und Klassenkampf angenommen hat“ (ebd.: 248), so dass „die schlichte Idee nicht haltbar ist, dass der Rassismus gegen das ‚Klassenbewusstsein‘ eingesetzt wird“ (ebd.: 250, Hervorhebung im Original). Allen voran waren es aber feministische Stimmen, die dem orthodox marxistischen Credo von der grundlegenden Bedeutung der Produktionsverhältnisse als ‚Unterbau‘, auf denen die gesellschaftlichen Verhältnisse als ‚Überbau‘ erst sekundär erwuchsen, widersprachen. Die Unterordnung und Ausbeutung von Frauen sei nicht bloß eine Nebenwirkung des Kapitalismus, sondern eine eigenständige Form der Unterdrückung. Deshalb werde die Emanzipation der Frauen sich auch nicht automatisch als Nebenprodukt der sozialistischen Revolution ergeben, sondern müsse schon auf dem Weg dorthin aktiv eingefordert und verwirklicht werden. In mehrheitlich von weißen Frauen geprägte feministische Strömungen wiederum intervenierten Schwarze Frauen: Rassismus als Herrschaftsform müsse mit in die Analyse geholt werden (vgl. Combahee River Collective, 1982; Davis, 1981; hooks, 1990). Mit Konzepten wie triple oppression (vgl. Viehmann u.a., 1991) und Intersektionalität (vgl. Hess, Langreiter et al., 2014) sollte die Verschränkung der verschiedenen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse analysiert werden. So gilt es auch in der vom ‚Tagelöhnermarkt‘ ausgehenden Analyse von Regimen der Lohnarbeit und der EU-internen Migration, rassistische ebenso wie sexistische, paternalistische und heteronormative Machtverhältnisse mit zu reflektieren. Am selbstorganisierten Arbeitsmarkt und in den gesellschaftlichen Verhältnissen, deren Teil er ist, stehen Lohnabhängige im Konflikt mit Arbeitgeber*innen. Die Verhältnisse sind aber nicht alleine durch den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit zu erklären, sondern in vielerlei Hinsicht überdeterminiert. Mit dem Begriff der Überdeterminierung, wie auch mit den verwandten Konzepten der historischen Konjunktur und der Artikulation greife ich auf den postmarxistischen Werkzeugkasten zurück, wie er unter anderem von Louis Althusser, Etienne Balibar und Stuart Hall geprägt und auch in neueren kulturanthropologischen Ansätzen weiter entwickelt wurde (vgl. Bojadžijev, 2008; Ege, 2015b). Es handelt sich um Versuche, deterministische und ökonomistische Verständnisse von Gesellschaft zu überwinden. 33 Das Konzept der historischen Konjunktur, das ursprünglich von Antonio Gramsci geprägt wurde (vgl. Ege, 2015b; Hall & Massey, 2012), geht davon aus, dass gesellschaftliche Verhältnisse ständig ausgehandelt werden und sich in ihren Transformationen nicht vorhersehen lassen, dass aber gleichzeitig gewisse Eigenheiten, Kräfteverhältnisse, MachtWissens-Komplexe und Widersprüche typisch sind für spezifische Momente. Nach Lawrence Grossberg handelt es sich bei einer historischen Konjunktur um „einen historischen Moment, der definiert ist durch eine Anhäufung/Kondensierung von Widersprüchen, durch eine Fusion verschiedener Strömungen oder Umstände“ (Grossberg, 2007: 140, zit. n. Ege, 2015b: 75). Suart Hall betont das Krisenhafte an Konjunkturen: „A conjuncture is a period when different social, political, economic and ideological contradictions that are at work in society and have given it a specific and distinctive shape come together, producing a crisis of some kind. [...] A conjuncture can be long or short: it’s not defined by time or by simple things like a change of regime – though these have their own effects. As I see it, history moves from one conjuncture to another rather than being an evolutionary flow.“ (Hall & Massey, 2012: 55) Als Beispiele nennt er die historische Konjunktur der Nachkriegszeit, die u.a. vom Wohlfahrtsstaat dominiert war, und die in der Krise der 1970er Jahre ihren Anfang nehmende neoliberale Konjunktur (vgl. ebd.). Das Verhältnis von konkreten sozialen Verhältnissen, Situationen oder (diskursiven) Praktiken, die unter dieser Perspektive ebenfalls als kontingent konzeptionalisiert werden, und ihren historischen Konjunkturen wird durch den Begriff der Artikulation ausgedrückt. Die partikularen Situationen und konkreten lokalen Verhältnisse artikulieren historischen Konjunkturen; sie sind nicht deren notwendiges Ergebnis und gleichzeitig nicht ohne diese zu erklären. Stuart Hall bezeichnet mit dem Begriff Artikulation, „eine Verbindung oder eine Verknüpfung, die nicht in allen Fällen notwendig als ein Gesetz oder Faktum des Lebens gegeben ist, aber die bestimmte Existenzbedingungen verlangt, um überhaupt aufzutreten; eine Verknüpfung, die durch bestimmte Prozesse aktiv auf- 34 recht erhalten werden muss, die nicht ‚ewig‘ ist, sondern ständig erneuert werden muss, die unter bestimmten Umständen verschwinden oder verändert werden kann, was dazu führt, dass die alten Verknüpfungen aufgelöst und neue Verbindungen – Re-Artikulationen – geschmiedet werden.“ (Hall, 2004: 65) Wenn ich im Folgenden davon spreche, das sich A und B in C artikulieren, dann möchte ich damit vor allem ausdrücken, dass B kein notwendiges Ergebnis von A und B war – dass es auch anders hätte kommen können. Der Begriff der Überdeterminierung drückt in diesem Sinne aus, dass konkrete Verhältnisse und Situationen nicht durch einen einzelnen Faktor (oder auch durch verschiedene Faktoren) hinreichend erklärt werden können, sondern dass verschiedene Faktoren zusammentreffen und situativ ausgehandelt werden, so dass konkrete Artikulationen der historischen Konjunkturen als unvorhersehbare Effekte der unterschiedlichsten Faktoren und situativ-kontingenter Aushandlungsprozesse immer überdeterminiert sind. Nach Manuela Bojadžijev dient der Begriff der Überdeterminierung dazu, „den Verlauf der Geschichte weder objektiv, gelenkt durch ökonomische Prozesse, noch subjektiv als intentionale Tat eines Individuums oder Kollektivs zu konzipieren“ (Bojadžijev, 2008: 272). Die relationale Autonomie von Migration und Arbeiter*innen Anfang der 2000er wurde mit der These der Autonomie der Migration in der deutschsprachigen Migrationsforschung und in antirassistischen Debatten ein operaistisches Argument stark gemacht und dabei ausgeweitet (Bojadžijev & Karakayalı, 2007). Der italienische Operaismus (vgl. Balestrini & Moroni, 2002; Wright, 2005) war gegen den orthodox-marxistischen Determinismus angetreten und hatte die These der Arbeiterautonomie aufgestellt: Änderungen der Produktions- und Gesellschaftsverhältnisse werden von den Kämpfen der Arbeiter*innen vorangetrieben (vgl. Bojadžijev, Karakayalı & Tsianos, 2003; Malo de Molina, 2004a). Die Perspektive der Autonomie der Migration erfüllt die Forderungen, sowohl 35 Ökonomismus wie auch Determinismus zu überkommen, indem sie a) von den Kämpfen als treibende Kraft ausgeht und b) die Migration weder von push-und-pull-Faktoren getrieben sieht, noch auf den Antagonismus zwischen lebendiger Arbeit und Kapital reduziert. Die Autonomie der Migration postuliert die Migration als treibende Kraft gesellschaftlicher Entwicklungen: „[M]igration is autonomous, meaning that – against a long history of social control over mobility as well as a similarly oppressive scholarly thought – migration has been and continues to be a constituent power throughout the formation of modern polity.“ (Tsianios, 2007: 162) Diese Analyseperspektive erlaubt, die gesellschaftlichen Verhältnisse der Migration mit denen der Arbeit zu verknüpfen und Migrant*innen als Träger*innen von Arbeitskraft zu konzeptualisieren: „Migration ist nicht kontrollierbar, weil die Ware Arbeitskraft einen spezifischen Unterschied zu allen anderen Waren aufweist. Die Träger der Ware, hier die MigrantInnen, lassen sich nicht auf genau diese Funktion reduzieren, oder anders gesagt: Der Migrant ist kein homo oeconomicus.“ (Karakayalı, 2008: 152) Aber sie schreibt sie nicht auf die Rolle der Lohnarbeiter*innen fest. So untersucht Manuela Bojadžijev in der Windigen Internationalen (Bojadžijev, 2008) nicht nur Streiks in den Fabriken, sondern auch Kämpfe um Kindergeld oder bezahlbaren Wohnraum. Und Serhat Karakayalı (2008) zeigt in den Gespenstern der Migration, dass auch das Regieren der Migration nicht auf ökonomische Rationalitäten zu reduzieren ist. Leider haben aber viele aktuelle Forschungen zum europäischen Migrations- und Grenzregime, die sich auf die Perspektive der Autonomie der Migration beziehen, den Ausgangspunkt der Arbeiterautonomie und die Frage nach kapitalistischen Verhältnissen aus den Augen verloren. Sie sind in ihrer Kritik an funktionalistischen und orthodox-marxistischen Analysen, die Grenzen und Migrationskontrolle auf Werkzeuge des Kapitals reduzieren, über das Ziel hinausgeschossen und haben es verpasst, weiterführende Analyseansätze zu kapitalistischen Verhältnissen in die Analyse mit einzubeziehen. Ein solchermaßen eingeengte 36 Perspektive trägt nicht nur wenig zu einem Verständnis der aktuellen Konjunkturen des Kapitalismus bei, sondern reifiziert diesen sogar (vgl. Mezzadra, 2011). Ich möchte mit Sandro Mezzadra dafür plädieren, eine solche „theoretische Polarität“ aufzubrechen: „Einerseits versuchen von den Cultural Studies beeinflusste ForscherInnen aufzuzeigen, wie migrantische Hybridität und Handlungsmacht essentialistische Identitätsdiskurse destabilisieren; andererseits existiert, was ich sehr grob ‚ökonomischer Ansatz‘ genannt habe, welcher die Ausbeutung hervorhebt. Ausbeutung ist in diesem Ansatz der Schlüssel zur Situation der MigrantInnen. Mensch könnte sagen, es gibt auf der einen Seite ein negatives Bild der MigrantInnen – als ausgebeutetes Subjekt, und auf der anderen Seite gewissermaßen ein positives Bild: MigrantInnen als kulturelle Avantgarde der Gegenwart, als diasporische Subjekte, ‚KosmopolitInnen von unten‘. Ich glaube, diese theoretische Polarität muss überwunden werden.“ (Mezzadra, 2010) In der vorliegenden Arbeit versuche ich, über diese theoretischen Kurzschlüsse hinauszukommen, indem ich mich an den Wurzeln der Perspektive der Autonomie der Migration in der postoperaistischen Figur der Arbeiter*innenautonomie reorientiere und das Konzept der differenzierten Inklusion verwende. Es gilt, aus einer Perspektive der Kämpfe heraus über Determinismus und Ökonomismus hinaus zu gelangen, und trotzdem die Frage nach den aktuellen kapitalistischen Verhältnissen nicht aus den Augen zu verlieren. Die Frage nach dem Regieren Ich nehme den ‚Tagelöhnermarkt‘ und die Kämpfe der EU-migrantischen Arbeiter*innen im mehrfachen Sinne zum Ausgangs- und Anknüpfungspunkt meiner Arbeit, aber nicht zu ihrem Objekt. Zum einen waren die Straßenzüge, an denen die Arbeitssuchenden sich aufhalten, ganz konkret der Ausgangspunkt für meine aktivistischen und akademischen Tätigkeiten und Kontakte. Zum anderen ist es aus wissensreflexiver Perspektive interessant, den Diskurs zum ‚Tagelöhnermarkt‘ zu untersuchen. Darin kann ich auch meine eigene Involvierung reflektieren. Und schließlich veranlasst die Auseinandersetzung mit dem 37 selbstorganisierten Arbeitsmarkt als sozialer Formation, vereinfachte Vorstellungen aufzugeben und von verschiedenen Gleichzeitigkeiten auszugehen. Es handelt sich um ein doppelten Antagonismus: Der selbstorganisierte Arbeitsmarkt ist mitten in der Gesellschaft und in sie verwobener Teil – die Vorstellung, er sei außerhalb, einheitlich, abgeschlossen, anders, fremd ist aber gleichzeitig eine Grundlage seiner Existenz. Zudem ist er gleichzeitig Arbeitskampf und Ausbeutungstechnologie und somit tief in die Widersprüche des Kapitalismus verstrickt. Von diesem komplexen Verständnis des selbstorganisierten Arbeitsmarktes ausgehend interessiere ich mich aber vor allem für die Versuche des Regierens, die am ‚Tagelöhnermarkt‘ aufeinandertreffen und die EU-migrantischen Arbeiter*innen zum Objekt haben. Versuche des Regierens definiere ich hier hilfsweise und in Anschluss an foucauldianische Ansätze als die vielfältigen Praktiken, Strategien und Rationalitäten, die menschliches Verhalten zu ändern, verbieten, lenken oder fördern suchen, um „wünschenswerte Zustände“ (Rose, 2000: 10) wie zum Beispiel Sicherheit, Freiheit, Wirtschaftswachstum, Gesundheit oder Stabilität zu erreichen (vgl. Foucault, 1987; Lemke, 1997; Pieper & Gutiérrez Rodríguez, 2003; Rose, 2000). Hilfreich erscheint mir auch das Konzept von policy, wie es in der anthropology of policy, insbesondere von Susan Wright und Cris Shore (2011), ausbuchstabiert wurde: „Policies are not simply external, generalised or constraining forces, nor are they confined to texts. Rather, they are productive, performative and continually contested. A policy finds expression through sequences of events; it creates new social and semantic spaces, new sets of relations, new political subjects and new webs of meaning.“ (Shore & Wright, 2003, 2011: 1) Mit Michel Foucault gehe ich davon aus, dass Versuche des Regierens untrennbar mit spezifischen Macht-Wissen-Komplexen zusammenhängen, das heißt, mit verschiedenen Rationalitäten und Vorstellungen von der Welt, ihren Problemen und möglichen Lösungen. Von Versuchen des Regierens spreche ich, um zu betonen, dass diese nie genau das erreichen, was sie anstreben (falls sie ein definiertes Ziel haben), sondern Teil von Aushandlungsprozessen und Auseinandersetzungen sind. 38 Den Staat verstehe ich mit dem marxistischen Theoretiker Nicos Poulantzas, als kontingente, materielle Verdichtung von Kräfteverhältnissen, also weder als unabhängigen Akteur noch als Instrument in der Hand der herrschenden Klasse, sondern als „sowohl Kristallisationspunkt als auch Ort der Klassenauseinandersetzungen“ (Karakayalı & Tsianos, 2002: 262), der eine relative Autonomie besitzt. Versuche des Regierens gehen aber nicht nur auf Staatsapparate (vgl. Althusser, 1977) zurück, sondern auf eine Vielfalt von Akteurskonstellationen aus (internationaler) Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft, etc. und sind in einem foucauldianischen Machtverständnis auch nicht auf die Praktiken individueller Akteure – seien es Personen oder Institutionen zu reduzieren. Michel Foucault macht verschiedene, an spezifische historische Konjunkturen geknüpfte Technologien des Regierens aus. Er wendet sich gegen eine juridische Konzeption von Macht und die Repressionshypothese, die Regieren nur als Unterdrückung, Verbot und Beschränkung begreifen lassen und betont die produktiven Aspekte des Regierens (vgl. Foucault, 1983; Lemke, 1997: 99ff., 129ff.). Ich greife unter anderem auf sein Konzept der Biopolitik zurück, denn es hilft, die Fragmentierung des Sozialen, die zwischen guten und schlechten Teilen der Gesellschaft unterscheidet (vgl. Lemke, 1997: 134f.; Pieper, Atzert, Karakayalı & Tsianos, 2011), ins Auge zu nehmen. Nach Michel Foucault (1999) versuchen biopolitische Technologien des Regierens, das Leben der Bevölkerung zu fördern – auch, indem sie im Sinne des Schutzes des Lebens nicht-lebenswertes Leben konstruiert, abspaltet und ‚sterben lässt‘. Foucault verkürzt dies auf die Formel „Leben machen und sterben lassen“ (Foucault, 1999; vgl. auch Pieper & Gutiérrez Rodríguez, 2003). Die Bio-Macht hat nach Foucault zwei Pole: die Disziplinierung der Körper und die Regulierung der Bevölkerung (vgl. Foucault, 1987). Mit dem Begriff der Disziplinierung beschreibt er, wie Institutionen wie z.B. Schule, Gefängnis oder Fabrik „Wahrnehmungsformen und Gewohnheiten“ (Lemke, 1997: 73f.) konstituieren und strukturieren, mit dem Ziel der effektiven Nutzung und optimalen Kontrolle der Körper (vgl. ebd.). Die Regulierung des Bevölkerungskörpers hingegen strebt nach „der Sicherheit des Ganzen […] nicht durch individuelle Dressuren, sondern durch ein globales Gleichgewicht“ (Foucault, 1999: 288). Ein weiteres foucauldianisches Konzept ist die Gouvernementalität, die Verquickung des Regierens mit Technologien der Selbstführung (vgl. Lorey, 2012; Pieper & 39 Gutiérrez Rodríguez, 2003). Es erlaubt, das Verhältnis von Subjektivierung und Staat bzw. Machttechnologien in den Blick zu nehmen. Die produktive Bio-Macht und ihre Technologien grenzt er von der negativ-restriktiven Souveränitätsmacht ab, die über Verbote und Rechte auf Rechtssubjekte zugreift und ihnen Produkte, Güter und Dienste (vgl. Lemke, 1997: 135) entzieht und ihre Handlungsräume beschneidet. Dadurch wendet er sich gegen die Repressionshypothese, die nur letztere greifbar macht. In Anschluss an Foucault ist viel Aufmerksamkeit darauf gerichtet worden, wie neoliberale Regierenstechnologien unternehmerische Individuen herstellen (wollen) (vgl. etwa Bröckling, 2013; Lanz, 2009; Rose, 2000). Neoliberales Regieren sucht das rationale Prinzip für die Regulierung und die Begrenzung des Regierungshandelns nicht mehr in der natürlichen Freiheit, die es zu respektieren gilt, sondern findet es in einer künstlich arrangierten Freiheit: „in dem unternehmerischen und konkurrenziellen Verhalten der ökonomisch-rationalen Individuen“ (Lemke, 1997: 236). Loïc Wacquants Analysen der Rolle der Sicherheitsapparate, vor allem der Gefängnisse in den USA, betonen dagegen die zentrale Rolle des Strafens im neoliberalen Regieren. Bigo (2008) zeigt, wie sich das Feld der Sicherheitspolitik – bzw. die „Politiken der Unsicherheit“ transformiert bzw. transnationalisiert und spricht von „globalized (in)security“. Im zweiten Kapitel werde ich näher auf Isabel Loreys Theorie der Prekarisierung als gouvernementaler Regierenstechnologie, die soziale Sicherheit zu minimieren sucht, eingehen. Die Verschiebung der Skalen und Akteure sowie das Netzwerkhafte aktueller Formen der Macht wird auch in den Debatten zu governance aufgegriffen, auch wenn diese oft im Positivismus verharren und politikberatende Perspektiven einnehmen. Governance wird als Versuch gehandelt, Probleme unter Einbeziehung bzw. Schaffung eines Netzwerks an gesellschaftlichen Akteuren unterschiedlicher Ebenen zu lösen. Es geht dabei um die Einbindung vielfältiger Interessen unter der Vorstellung, dass eine pragmatische Einigung und effektive Lösung innerhalb des abgesteckten Rahmens möglich ist, wobei tiefgreifendere Antagonismen ausgeblendet werden (vgl. Shore, 2009; Walters, 2004). In Anschluss an den poststrukturalistischen Denker Gilles Deleuze wird zudem noch die Regierungstechnologie der Kontrolle ausgemacht, die auf Fragmentierung, Sortierung und Modularisierung beruht (vgl. Deleuze, 1992; Kurz, 2012; Walters, 2006). 40 Bis hierher habe ich anhand der Figur des ‚Tagelöhnermarktes‘ und der sozialen Formation des selbstorganisierten Arbeitsmarktes eine rassismus- und kapitalismusanalytisch informierte Perspektive der Kämpfe entwickelt, die ökonomistische und deterministische Ansätze zu überwinden sucht. Aus dieser Perspektive möchte ich nun nach den Versuchen des Regierens in einer Reihe von Aushandlungszonen fragen. Fragestellung und Ausblick auf die Kapitel In diesem Buch geht es darum, wie EU-interne Migration in München regiert wurde und in welchen Prozessen die Verhältnisse der EU-internen Migration und die Versuche, sie zu regieren, ausgehandelt wurden. Ich möchte so auch einen Beitrag zum Verständnis des aktuellen Migrations- und Grenzregimes leisten, der aber schon alleine deswegen nicht mehr als ein Fragment eines größeren kritischen Wissensprojektes sein kann, weil die Auseinandersetzungen um EU-Migration nicht isoliert, sondern nur in ihrem Verhältnis zu den Kämpfen um (Flucht-)Migration in die EU hinein und zu weiteren sozialen Dynamiken und Antagonismen verstanden werden können27. Ich frage also: Welche Versuche des Regierens waren in die lokalen Auseinandersetzungen um den ‚Tagelöhnermarkt‘ und die EU-interne Migration in München involviert? Welche Akteure, Diskursfiguren, Konfliktlinien und Praktiken ließen sich erkennen? Zu welchen Brüchen und Transformationen kam es und wie entstanden Probleme, Begriffe, Rationalitäten und Praktiken in den Auseinandersetzungen um die EUinterne Migration? Inwiefern haben sich Rassismen artikuliert und wie haben sie sich mit Ausbeutungs- und Machtverhältnissen verschränkt? Welche Rolle spielten Europäisierungs- und (Re-)Nationalisierungsprozesse dabei? Wie wurde EU-interne Migration in München regiert? Ich bin in meiner Forschung den verschiedensten Versuchen des Regierens des ‚Tagelöhnermarkts‘ und der EU-internen Migration begegnet. 27 Hier möchte ich die Forschungen von Veit Schwab (University of Warwick) und Raia Apostolova (Central European University) erwähnen, die die kategoriale Trennung zwischen ‚Flucht‘ und ‚Arbeitsmigration‘ in den Blick nehmen. Unsere gemeinsamen Diskussionen haben viel zu der vorliegenden Arbeit beigetragen und ich kann es kaum erwarten, ihre Dissertationen zu lesen. 41 In den sieben Kapiteln dieser Arbeit werde ich auf einige dieser Auseinandersetzungen näher eingehen und Transformationsprozesse nachvollziehen. Die jeweiligen Aushandlungszonen sind an unterschiedlichen Orten, auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichen Zeiträumen angesiedelt. Es ist nicht das Ziel dieser Arbeit, direkte kausale Verhältnisse zwischen den verschiedenen Prozessen nachzuweisen. Die Kapitel sind also in keiner speziellen konsekutiven oder kausalen Folge zu lesen; sie stehen vielmehr nebeneinander – auch wenn immer wieder Verschränkungen, Resonanzen und Verbindungen deutlich werden. Sie tragen zu verschiedenen Debatten bei und können durchaus auch einzeln gelesen werden. Nach dem ersten Kapitel, in dem ich mit Konflikt als Methode meine forscherische Herangehensweise vorstelle und reflektiere, beschreibe ich im zweiten Kapitel einen im Jahr 2014 ausgefochtenen Arbeitskampf vierer Reinigungsarbeiterinnen sowie ihr über zwanzigjähriges transnationales Migrationsprojekt zwischen München und der Provinzhauptstadt Pazarjik in Bulgarien. Der gerichtliche und außergerichtliche Kampf der vier Frauen um vorenthaltene Löhne ermöglicht den Blick auf ihre Arbeitsverhältnisse im Reinigungsgewerbe und die (Un-)Möglichkeit gerichtlicher Auseinandersetzung. Aus der Perspektive ihrer Kämpfe gehe ich kurz auf die Transformation der gesellschaftlichen Verhältnisse im postsozialistischen Bulgarien und auf die sie betreffenden Transformationen des europäischen Migrationsregimes ein. So werden die Auseinandersetzungen um EU-interne Migrant*innen in München historisch, sozial und ökonomisch kontextualisiert. Im dritten Kapitel analysiere ich, wie die hegemoniale Deutung des ‚Tagelöhnermarkts‘ zwischen den Jahren 2010 und 2013 umkämpft und verschoben wurde. Dabei untersuche ich 23 Medienartikel zum ‚Tagelöhnermarkt‘ oder ‚Arbeiterstrich‘ in München und kontextualisiere sie mit Ereignissen und anderem diskursivem Material. Zuerst zeichne ich den Kampf um Hegemonie anhand der Schlüsselereignisse nach, wobei es auch um die Rolle meiner eigenen Wissenspraktiken als Aktivistin der Initiative Zivilcourage gehen wird. In einem zweiten Schritt untersuche ich die Medienberichte als „Assemblage des Rassismus“ (Tsianos & Pieper, 2011) und „Spektakel des ‚Anderen‘“ (Hall, 2004) auf rassistische Stereotypen und Logiken. Bemerkenswert ist, dass hier zugleich alte, brachiale Stereotypen des Rassismus zum Ausdruck kamen, die mit Hautfarbe, Hygiene, etc. argumentierten, und subtilere, flexiblere, 42 postliberale Formen des Rassismus. So betonen liberale Stimmen, dass die meisten ‚Tagelöhner*innen‘ erfolgreich nach Arbeit suchten, es aber trotzdem eine ‚Schattenseite‘ gäbe, die es zu bekämpfen gelte. Ich werde diese Assemblage des Rassismus analysieren und nachverfolgen, wie sie zu einer „urbanen Panik“ (Tsianos & Pieper, 2011) geführt haben, die zur Grundlage für repressive und konservative Versuche des Regierens wurde. Im vierten Kapitel geht es dann um practices of security (vgl. Bigo, 2002; Fassin, 2012), die den ‚Tagelöhnermarkt‘ und die ‚Tagelöhner*innen‘ zum Sicherheitsproblem gemacht haben. Welche konkreten Sicherheitspraktiken und -diskurse lassen sich erkennen und was sind ihre Effekte? Zum Ausgangspunkt nehme ich eine Zollrazzia am ‚Arbeiterstrich‘ im Oktober 2013, während der die Kontrollierten mit neongrünen Armbändern markiert wurden. Diese Razzia war ein direkter Effekt der im zweiten Kapitel beschriebenen „urbanen Panik“ (Tsianos & Pieper, 2011), die auch ranghohe konservative Politiker alarmiert hatte. Praktiken der Polizei und des Zolls gehörten aber auch zum Alltag des selbstorganisierten Arbeitsmarkts. Polizeibeamt*innen kontrollierten Personalien, verhafteten Personen, erteilten Platzverweise, forderten zum Gehen auf oder zeigten einfach nur Präsenz. Zudem schaue ich mir anhand des städtischen Sicherheitsberichts von 2013 und weiterer städtischer Dokumente an, wie die Kommunalpolitik den ‚Tagelöhnermarkt‘ und ‚Armutszuwanderung‘ als Sicherheitsproblem rahmte. Es zeigt sich, dass den Sicherheitsbeamt*innen und Kommunalpolitiker*innen der ‚Tagelöhnermarkt‘ als Gefahr für den ‚sozialen Frieden‘ und die ‚positive Diversität‘ des Bahnhofsviertels gilt und wie diese Zuschreibungen und Versuche des Regierens Hand in Hand greifen. Es zeigt sich auch, wie die Problemdefinitionen umkämpft wurden und die Lösungsversuche schwankten. Ich argumentiere, dass es zu kurz greift, die Sicherheitspraktiken als repressiv zu betrachten, sondern dass nach ihrer Produktivität zu fragen ist. Sie siebten aus, „dämm[t]en ein“ (Interview mit Polizeibeamten), sorgten für rassistisch definierte Ordnung und Sauberkeit im öffentlichen Raum und koproduzierten Deutungsmuster und urbane Raumordnungen. Im fünften Kapitel geht es darum, was passiert, wenn obdachlose Unionsbürger*innen in München ihre Unterbringung in eine städtische Notunterkunft beantragen, wie die Trennlinie zwischen ‚unseren‘ Obdachlosen und obdachlosen Nicht-Münchner*innen kommunal 43 ausgehandelt wird, welche Politiken und Praktiken damit einhergehen und wie diese wiederum die Lebens- und Arbeitsverhältnisse der EUMigrant*innen beeinflussen. Die städtischen Akteure haben in der Obdachlosenpolitik viel Handlungsspielraum und in den letzten Jahren haben tiefgreifende Auseinandersetzungen stattgefunden, so dass sich die kommunalen Rationalitäten gut nachvollziehen lassen. Ich untersuche einige Schlaglichter: Konflikte beim Antrag auf Notunterbringung, interne Dienstanweisungen des Amtes für Wohnen und Migration, die Argumentationsmuster des Leiters dieses Amtes sowie Berichte und Beschlussentwürfe, die im Münchner Stadtrat diskutiert wurden. Ich zeichne damit eine knappe Genealogie der Münchner Wohnungslosenpolitik gegenüber Unionsbürger*innen zwischen den Jahren 2006 und 2014 und analysiere sie auf ihre vorherrschenden Rationalitäten. Verschiedene Logiken stehen in Aushandlung und verschränken sich: Das Aktivierungsparadigma des workfare, die Versicherheitlichung der ‚Armutszuwanderung‘, Konstruktionen der Münchner Stadtbürgerschaft und die Suche nach humanitären Notlösungen. Im sechsten Kapitel geht es um die Aushandlungen des Anspruchs nichterwerbstätiger Unionsbürger*innen auf Sozialleistungen vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH). Der EuGH hat zwischen 1998 und 2015 eine Reihe von 13 Urteilen gefällt, die maßgeblich daran beteiligt waren, dass auch nicht erwerbstätige Unionsbürger*innen Anspruch auf Sozialleistungen haben können. Die Forderung nach einer sozialen Union schien zeitweise einen mächtigen Unterstützer gefunden zu haben und in Reichweite gerückt zu sein. Statt soziale Rechte als Grundrechte zu etablieren, folgte die Rechtsprechung allerdings eher den Prinzipien der Aktivierung und der Verhältnismäßigkeit. Der Siegeszug des Begriffs ‚Sozialhilfebetrug‘ um das Jahr 2013 – angetrieben durch die populärnationalistischen Debatten in den Mitgliedsstaaten – sollte die Kräfteverhältnisse und Diskurskonstellationen dann aber kräftig in Richtung nationaler Wohlfahrtssouveränität verschieben. Das siebte Kapitel geht von einer Stellungnahme des Deutschen Städtetages vom Januar 2013 aus, die vor der Bedrohung des ‚sozialen Friedens‘ in den Städten durch die ‚Armutszuwanderung‘ warnte. Das Papier des Städtetages, das urbane soziale Verhältnisse rassifizierte und skandalisierte, hat sowohl die sogenannte Armutszuwanderungsdebatte in den Medien wie auch einen Gesetzgebungsprozess eingeleitet, der zur Verschärfung des Freizügigkeitsgesetzes/EU im Jahr 2014 führen sollte. Es 44 problematisierte nicht die Armut von EU-Migrant*innen, sondern die sogenannte ‚Armutszuwanderung‘ als Problem und Bedrohung. Anschließend untersuche ich anhand von verschiedenen Konflikten mit Ausländerbehörde und Jobcenter sowie anhand von Interviews mit Vertretern dieser Behörden, die im Zeitraum 2012-2013 stattgefunden haben, wie die EU-europäischen und deutschen Regelungen von Freizügigkeit und Unionsbürgerschaft in die kommunale Amtspraxis hineinwirkten, wie sie sich brachen und wie sie von den kommunalen Akteuren ausgelegt wurden. Ich zeige, wie diese kreativ mit dem Widerspruch zwischen nationalstaatlicher Exklusion und EU-europäischer Inklusion umgingen, indem sie den Fluchtlinien des workfare folgten und aus der Unionsbürgerschaft eine Aktivierungs-, Selektions- und Abwehrtechnologie machten. In der Zusammenschau dieser sieben Kapitel erlaubt diese Arbeit in konkreten Auseinandersetzungen verwurzelte Einblicke in die Turbulenzen und Widersprüche der aktuellen gesellschaftlichen Transformationen, wie sie im EU-europäischen Projekt und in den urbanen Migrationsregimen ihren Ausdruck finden. Es zeigt sich, wie verschiedene Akteure des Regierens auf die Bewegungen der freizügigen EU-Migration reagieren und versuchen, Migration und urbane Bevölkerung auch ohne Kontrolle an nationalen Außengrenzen zu regieren. Bis hierher habe ich am Beispiel der Aushandlungen am und um den ‚Tagelöhnermarkt‘ die Perspektive, das Interesse und die Felder der vorliegenden Arbeit umrissen sowie einige zentrale Konzepte eingeführt. Bevor ich also anhand von konkretem ethnografischen Material in die Debatten eintauche, stellt sich noch die Frage nach den Methoden und der Methodologie dieses Forschungsprojektes. 45 46 Konflikt als Methode – Ein Ansatz zwischen Wissenschaft und Aktivismus Ethnographic research revisited „Imagine yourself suddenly set down surrounded by all your gear, alone on a tropical beach close to a native village, while the launch or dinghy which has brought you sails away out of sight.“ (Malinowski, 2002: 45) Wenn ich am Anfang dieser Arbeit beschreibe, wie ich alleine, nur mit Flyern bewehrt, auf einem Bordstein im Bahnhofsviertel saß und es zur ersten unbeholfenen Kommunikation mit EU-migrantischen Arbeiter*innen kam, spiele ich an auf den Mythos der ethnografischen ‚Begegnung mit dem Fremden‘ à la Bronislaw Malinowski, den sogenannten ‚Vater der Feldforschung‘, dessen hier zitierte Ankunftsszene nicht nur von Generationen kulturanthropologischer Erstsemester*innen gelesen, sondern auch in vielen Einleitungen ethnografischer Texte reproduziert wurde. Dieses stilistische Mittel enthält nicht nur ein Augenzwinkern, ich möchte damit auch die Ambivalenzen und Fallstricke einer ethnografischen, insbesondere einer eingreifend-ethnografischen Forschung zum Thema machen und exotisierende Lesegewohnheiten zum Stolpern bringen. Malinowski, wie den von ihm beeinflussten Generationen, ging es um eine möglichst dichte und genaue Beschreibung ‚fremder Lebenswelten‘, bzw. in seinen damaligen Worten, des ‚Stammeslebens‘. Er sah sich erst einmal vielfältigen Schwierigkeiten gegenüber: „I was quite unable to enter into any more detailed or explicit conversation with them at first. I knew well that the best remedy for this was to collect concrete data, and accordingly I took a village census, wrote down genealogies, drew up plans and collected the terms of kinship. But all this remained dead material, which led no further into the understanding of real native mentality or behaviour, since I could neither 47 procure a good native interpretation of any of these items, nor get what could be called the hand of tribal life.“ (ebd.: 46) Ethnografische Forschung besteht nach dieser Darstellung zum einen aus der Erhebung von konkreten Daten über die erforschte Gruppe, zum anderen aus Kommunikation. Ziel ist es, die ‚eingeborene Mentalität‘ bzw. das ‚Stammesleben‘ zu verstehen. Auch heute geht es oft noch darum, die ‚Mentalität‘ oder das Verhalten von ‚fremden Kulturen‘ authentisch und echt zu beschreiben. Dieses Wissen ist gefragt. Im Frühjahr 2016 erreichte mich über den Verteiler des ethnologischen Instituts der Ludwig-Maximillians-Universität die Anfrage einer christlichen Wohlfahrtsorganisation, die für eine Fortbildung in der Flüchtlingsarbeit eine*n Ethnolog*in mit Expertise über „Reaktionsmuster, Erziehungsstile, Wertesysteme, Kommunikationsstile, Verhältnis Mann/Frau, Fluchtgründe, Fluchtrouten“ in Bezug auf Syrien und Irak suchte. Im Sommer 2010 wurde ich von der Caritas München angefragt, ob ich eine Auftragsforschung zum ‚Tagelöhnermarkt‘ machen könne. Ziel war, mit dieser Forschung das Thema ‚Tagelöhnermarkt‘ kommunalpolitisch auf den Tisch zu bringen und so auch die Finanzierung einer neuen Beratungsstelle anzustoßen. Nach einigem Hin und Her schrieb ich ein Angebot, welches schließlich abgelehnt wurde. Ob der Grund dafür darin lag, dass ich vor allem die Perspektiven und Forderungen der Arbeiter*innen festhalten wollte, war nicht mehr herauszufinden. Die gleiche Stelle beteiligte sich 2012 an einer Forschungsreise, deren Ergebnis der Reisebericht „Die Koffer sind schon gepackt – Viele Bulgaren streben nach München“ (Caritas, Malteser & Männerfürsorge, 2012) war. Der Bericht zeichnet ein düsteres Bild der Lebensverhältnisse der Roma in Bulgarien und deutet diese als „Zwänge zur Arbeitsmigration nach München“ (ebd.: 27). Einige Details dieses Berichts zeigen, dass Kulturen auch hier als Container, zwischen denen nur in historischen Ausnahmefällen und unter Zwang ein Austausch stattfinden kann, betrachtet werden. So zeigt der Bericht das Foto eines Kindes mit blonden Haaren vor dem Hintergrund einer ungeteerten Straße und kommentiert es wie folgt: „Beim Anblick einiger blonder und blauäugiger Kinder im Roma Viertel drängt sich bei uns der Verdacht auf, dass es sich hierbei nicht um 48 Relikte aus den Kreuzzügen handelt, sondern viel mehr die Prostitution dahinter steckt.“ (ebd.: 24) Auch Malinowski wäre mit einer solchen Aussage wohl nicht einverstanden gewesen, da sie sich für die Sichtweise der Bewohner*innen nicht interessiert, sondern alleine anhand von Beobachtungen (Augenund Haarfarbe) und ethnisierenden sowie heteronormativen Vorannahmen darauf schließt, dass der mutmaßlich blonde Vater des Kindes aus dem Westen (als Kreuzzügler oder Freier) kommen müsse und nicht Teil der Roma-Community sein könne. Der Grund für den Austausch zwischen den biologischen Elternteilen unterschiedlichen Phänotyps könne nur Gewalt bzw. ökonomische Not sein. Gemeinsam ist diesen Repräsentationen und Forschungsanfragen zu einzelnen Nationalitäten, zu dem ‚Tagelöhnermarkt‘ oder zu dem ‚Roma Viertel‘ aber, dass sie sich für eine abgegrenzte soziokulturelle Formation interessieren und über diese objektives Wissen produzieren möchten, indem sie an einem Ort forschen, der mit der erforschten Gruppe verschmolzen wird. Die Forschenden nehmen eine Position außerhalb der fremden Einheit ein, auf die sie ihr Forschungsinteresse richten. Forscher*innen und Forschungsobjekte kommen aus zwei getrennten Welten und haben keinen Einfluss aufeinander. Spätestens mit der sogenannten Krise der Repräsentation und der writing-culture-Debatte ist es innerhalb des Faches der Kulturanthropologie zu einer Kritik solcher Wissenspraktiken gekommen (vgl. Clifford & Marcus, 1986; Hymes, 1972; Tyler, 1987). Dabei ging es nicht nur um Fragen, wie und mit welchen Methoden Kulturen bzw. soziale Formationen und Verhältnisse zutreffend dargestellt werden können. Insbesondere feministische und postkoloniale Kritiken haben herausgestellt, dass Wissenschaften im Allgemeinen und die Kulturanthropologie im Speziellen zu kolonialen, nationalistischen, paternalistischen und dichotomen Konstruktionen des ‚Fremden‘ und des ‚Eigenen‘, des ‚Westens‘ und des ‚Orients‘ beigetragen haben und dies auch immer noch tun (vgl. Restrepo & Escobar, 2005; Stacey, 1988). Auch die Kulturanthropologinnen Sabine Hess und Maria Schwertl (2013) haben sich in die Debatte um kulturanthropologische Methoden eingemischt. Sie sehen neben dem ethnologischen Feldbegriff noch drei weiter methodologische Probleme des Ethnografierens: erstens den Prozess des ‚Othering‘ – die Konstruktion des Anderen, des Fremden. Damit einher ginge ein „theoretischer 49 und methodischer Kulturalismus, welcher kulturell homogene Gruppen imaginiert und essenzialisierend festschreibt“ (Hess & Schwertl, 2013). Zweitens kritisieren sie das Herausschreiben der „Beobachtungseffekte“ (ebd.) aus ethnografischen Texten: Eingriffe, die schon alleine durch die Anwesenheit des Forschenden geschähen, würden selten thematisiert. Dies ist eng verknüpft mit dem dritten Problem: Indem ethnografisches Schreiben ein kohärentes Narrativ vom auktorialen Selbst konstruiert, würden die vielfachen Begegnungen und Erfahrungen des Forschungsprozesses vereinfacht sowie Komplexität und körperliche Erfahrungswelten reduziert. Die Problematik ethnografischer Konstruktion fassen sie folgendermaßen zusammen: „Ethnografien übersetzen im Forschungsprozess unmittelbar Erlebtes, Gehörtes, Gesehenes, Empfundenes in eine Argumentation, die sich auf Grundannahmen und Konventionen innerhalb der (Europäischen) Ethnologie genauso beziehen wie auf andere gesellschaftliche Normierungen und (hegemoniale) Anrufungen.“ (ebd.) Aus diesen Überlegungen ergeben sich die folgenden Fragen: Wie kann eine ethnografische Forschung aussehen, die sich nicht auf eine klar abgegrenzte Gruppe an einem Ort konzentriert, soziokulturelle Figurationen nicht in Container steckt, verräumlicht und kulturalisiert, sondern globale Verbindungen und transnationale Machtverhältnisse mit einbezieht? Wie können Ethnograf*innen mit ihren Forschungspartner*innen zusammenarbeiten, statt Forschungsobjekte bzw. Informant*innen zu instrumentalisieren? Wie können ethnografische Forscher*innen den eigenen Blick in den vermachteten Aushandlungsfeldern situieren und sich nicht als objektiven „gaze from above“ (Haraway, 1988) aus den Situationen hinaus schreiben? Wie kann die Konstruktion des auktorialen Selbst und des Feldes transparent gemacht werden? Um diese Fragen zu bearbeiten, muss ich das Rad nicht neu erfinden. Es gibt zahlreiche neuere methodische und konzeptuelle Ansätze, wie 50 ethnografisches Forschen aussehen kann. Zum einen wurden neue Forschungsrichtungen gesucht – weg von einem ‚studying down‘, hin zu einem „studying up“ (Nader, 1969) oder „studying through“ (Shore & Wright, 1997: 14). Mit gesteigertem Interesse an Prozessen der Globalisierung versuchen auch immer mehr Anthropolog*innen, die Lokalisierung von Feld und Kultur zu überwinden, indem sie im Sinne einer „global ethnography“ (Burawoy, 2000) die Verschränkungen, Konnektivitäten und Wechselwirkungen zwischen Lokalem und Globalem in den Fokus nehmen und konkrete soziale Formationen nicht mehr nur rein lokal denken, sondern immer auch schon global und in Bewegung (vgl. Weissmann, 2011). Für die Forschungspraxis kann das heißen, zu reisen, statt an einem Ort zu bleiben: „traveling not dwelling“ (Hess, 2005: 26). George Marcus spricht von einer „multisited ethnography“ (Marcus, 1995), Gisela Welz von „moving targets“ (Welz, 1998). Es geht aber nicht nur darum, dass soziale Formationen und Dynamiken sich bewegen und nicht auf einen geografischen Raum festzunageln sind. Vielmehr müssen auch translokale und globale Verbindungen und Wechselwirkungen mit lokalen Situationen nachvollzogen werden, um aus ihnen Sinn zu machen. Zudem kann eine solche Forschungsperspektive und -praxis, die ihr potenzielles Feld soweit erweitert, dass sie ohne Zweifel niemals alles erfassen kann, sichtbar machen, dass ethnografische Repräsentation immer konstruiert ist – Produkt der kreativen Entscheidungen der Forschenden, die Verbindungen folgen und neue knüpfen, bruchstückhaft wahrnehmen, von ihren eigenen Vorannahmen, Interessen und Begehren geleitet. Aus der Kritik der Ethnografie und besonders des Feldbegriffs zu lernen, bedeutet also mehr, als an mehreren Orten und reisend zu forschen. Im Folgenden möchte ich auf die ethnografische Regimeanalyse, auf der ich meinen methodologischen Ansatz aufbaue, eingehen. Sie versucht, „die Konstruktivität gezielt zu nutzen“ (Hess & Schwertl, 2013). Regime als ontologisches Konzept28 Von den Aufbrüchen in der ethnografischen Forschungsmethodologie ausgehend hat die transdisziplinäre Forschungsgruppe des Projekts 28 Vorarbeiten zu den in diesem Kapitel ausgeführten Überlegungen finden sich in Riedner & Weissmann, 2013 und in Riedner, 2014. 51 TRANSIT MIGRATION29 (vgl. TRANSIT MIGRATION Forschungsgruppe, 2007) die ethnografische Migrations- und Grenzregimeanalyse entwickelt, die, wie der Name schon sagt, Regime analysiert. Mit der Forschungsgruppe begreife ich Regime als Aushandlungsfelder, in denen die verschiedensten Praktiken und materielle und diskursive Strukturen interagieren: „Unter Regime verstehen wir also ein Ensemble von gesellschaftlichen Praktiken und Strukturen – Diskurse, Subjekte, staatliche Praktiken – deren Anordnung nicht von vorneherein gegeben ist, sondern das genau darin besteht, Antworten auf die durch die dynamischen Elemente und Prozesse aufgeworfenen Fragen und Probleme, zu generieren.“ (Karakayalı & Tsianos, 2007: 14) Diese Aushandlungsfelder sind nicht allein lokal zu erklären, sondern stehen in Verbindung und im Verhältnis zu Diskursen, Prozessen und Konstellationen, die räumlich weit vernetzt sind. Ein Regime beinhaltet sowohl die Versuche des Regierens wie auch Auseinandersetzungen um sie und Widerstandsbewegungen gegen sie. Weil der Regimebegriff Konflikte, Machtdynamiken und Veränderung betont, kann ich mit ihm gut nach politischen Auseinandersetzungen in ihrer Komplexität, Widersprüchlichkeit und Kontingenz fragen30. Aus der Regimeperspektive betrachtet sind die erforschten Realitäten ständig ausgehandelt und als Aushandlungsfelder sowohl von sedimentierten Konzepten und Materialitäten wie auch von Brüchen, Unfällen und improvisierten Reparaturarbeiten durchzogen: „It is [...] a mix of implicit conceptual frames, generations of turf wars among bureaucracies and waves after waves of ‚quick fix‘ to emergencies, triggered by changing political constellations of actors. The 29 Die aus diesem Forschungsprojekt (und anderen kritischen, antirassistischen Projekten) entstandenen wissenschaftlichen Zusammenhänge, vor allem das Netzwerk für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung (kritnet) und die hier entwickelten Perspektiven, Haltungen und Analysen haben mein Promotionsprojekt nachhaltig beeinflusst. 30 Ich bevorzuge den Regimebegriff deswegen auch gegenüber anderen ontologisch-methodologischen Konzepten wie Assemblage (vgl. Ong & Collier, 2005; Schwertl, 2015), actor-network (vgl. Latour, 2005) oder space (vgl. Massey, 2005). 52 notion of a migration regime allows room for gaps, ambiguities and outright strains: the live of a regime is a result of continuous repair work through practices.“ (Sciortino, 2004: 32) Ethnografische Regimeanalysen nutzen dabei intensiv foucauldianische Begriffe wie Technologien des Regierens, Subjektivierung oder das Dispositiv, das relativ eng an dem Begriff des Regimes liegt. In Dispositiven verknüpfen sich nach Michel Foucault Machttechnologien (vgl. Lemke, 1997: 137), die aus diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken und Vergegenständlichungen (z. B. Dokumente oder Gebäude) sowie deren Verhältnis zueinander bestehen. In Bezug auf Subjektivierung hat Foucault diskutiert, wie Menschen zu spezifischen Subjekten (gemacht), also subjektiviert werden und wie Subjekte in ihre eigene Subjektivierung eingreifen können (vgl. Foucault, 1983, 1992). Um Veränderung und Prozesse des Werdens denken zu können, macht der Regimebegriff unter anderem Anleihen bei Gilles Deleuze und Félix Guattari, die eine ständige Bewegung zwischen der Territorialisierung und Deterritorialisierung von Dynamiken, ein Hin und Her zwischen Verfestigung in „gekerbte“ und Verflüssigung in „glatte Räume“ beobachten (Deleuze & Guattari, 1997): „Die Kerbung ist ein Vorgang, bei dem der gelebte Raum reterritorialisiert, d. h. zählbar, regierbar und planbar gemacht wird. Dagegen beinhaltet der transnationale Raum Momente der Deterritorialisierung, in denen die MigrantInnen jenen oben beschriebenen Verengungen gleichsam ‚fliehen‘. Diese Flucht und die institutionalisierten Versuche, die Flucht zu ‚Binden‘, sie zu regulieren und in Bahnen zu lenken, konstituieren den Raum der Migration. Deterritorialisierung hängt auf diese Weise intrinsisch mit Reterritorialisierung zusammen.“ (Tsianos & Karakayalı, 2008: 331) Wichtig erscheint mir zudem noch der (post-)operaistische, (post-)marxistische Dreh des Regimebegriffs, der gesellschaftliche Antagonismen als Hintergrund sozialer Dynamiken begreift und die Kämpfe der (migrantischen) Arbeiter*innen als deren Erstbeweger setzt (vgl. das Unterkapitel Die relationale Autonomie von Migration und Arbeiter*innen der Einleitung). Das hier skizzierte Verständnis von Veränderung ermöglicht, politische (Widerstands-)Praxis nicht auf das Stellen von 53 Forderungen durch eine sich in Relation zum Staat identifizierende Gruppe zu reduzieren, sondern auch (Alltags-)Praktiken des Entziehens und Entfliehens als politisch zu begreifen, worauf ich im dritten Kapitel noch näher eingehen werde. Wie schon deutlich geworden ist, fußt der Regimebegriff auf einem radikal sozialkonstruktivistischen Standpunkt: Kategorien wie ‚Migration‘ sind den Regimen nicht vorausgesetzt, sind keine objektive Abbildung von Wirklichkeit, sondern werden in komplexen Verflechtungszusammenhängen gesellschaftlich ausgehandelt. Sie können nicht nur als Produkt dieser Aushandlungen betrachtet werden, sondern „Wissen wirkt“ (Riedner, 2014). Dies wurde auch unter dem Stichwort ‚Performativität‘ von Judith Butler – etwa in Hinsicht darauf, wie die gesellschaftlichen Vorstellungen von Geschlecht (gender) das ‚Körpergeschlecht‘ (sex) diskursiv erzeugt (Butler, 2010) – beschrieben (vgl. Riedner, 2014; Riedner & Weissmann, 2013). Weiter oben ist schon die Wirkmächtigkeit der Figur des ‚Tagelöhnermarkts‘ und der Begriffe des ‚Feldes‘ und der ‚Kultur‘ deutlich geworden. Hier möchte ich noch ein weiteres Beispiel nennen: Das ‚Individuum‘ bzw. die liberale Vorstellung, individuelle Personen seien die zentralen willentlich handelnden Entitäten, die durch ihre Handlungen die Welt verändern, ist ein liberales Konstrukt, das auch in den von mir untersuchten Regimen wirkmächtig ist. „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“, so begründete der Leiter des Amtes für Wohnen und Migration die restriktive Unterbringungspolitik in München im Interview. Es gilt, eine Forschungsperspektive zu entwickeln, die sichtbar macht, dass Subjekte von Affizierungen, Affekten und Ideen geprägt sind und dass sie in ihrer Subjektivierung stetig Teil gesellschaftlicher Prozesse sind – Aushandlungslinien durchziehen sie und gehen über sie hinaus (vgl. Pieper; Panagiotidis & Tsianos, 2009). Wenn Wissen wirkt, kann auch der bzw. die Forscher*in sich nicht aus den Aushandlungsfeldern bzw. Regimen hinausziehen, sondern ist Teil von ihnen. Im Sinne neuerer, radikal konstruktivistischer oder neomaterialistischer Ansätze (vgl. Casas-Cortés, 2009: 93) gilt es dann, das notwendige Wirken nicht nur als Nebenprodukt des Forschens, das es möglichst zu vermeiden gelte, um das Forschungsergebnis nicht zu verfremden, zu betrachten, sondern zu einem proaktiven, reflexiven Umgang mit dem unvermeidlichen Wirken zu finden (vgl. Casas-Cortés, 2009; Escobar, 2007; Riedner & Weissmann, 2013; Weissmann, 2011). Die 54 beiden Soziologen John Law und John Urry bringen dies mit der Idee der ontological politics auf den Punkt: „First, we argue that social inquiry and its methods are productive: they (help to) make social realities and social worlds. They do not simply describe the world as it is, but also enact it. Second, we press some of the implications of this claim. In particular, we suggest that, if social investigation makes worlds, then it can, in some measure, think about the worlds it wants to help to make. It gets involved, in other words, in the business of ‚ontological politics‘.“ (Law & Urry, 2004: 390 f.) Die ethnografische Regimeanalyse Das Forschungsinteresse der ethnografischen Regimeanalyse im radikal konstruktivistischen Sinne gilt der Produktivität und nicht der Wahrheit von Konzepten und der Aushandlung von multiskalaren Realitäten. Dabei wird auch die eigene Forschungs- und Wissenspraxis in den Aushandlungsfeldern produktiv, in denen sich der oder die Ethnograf*in positioniert. Erkenntnistheoretisch muss die Wissenspraxis der Regimeanalyse dann nicht nur als beschreibendes, sondern auch als produktive Tätigkeit begriffen werden, die das eigene ‚Feld‘ mit produziert: „Es handelt sich um ein radikal konstruktivistisches Unterfangen, eine erkenntnistheoretisch angeleitete Praxis der Konstruktion von Elementen und Akteuren und um ihr In-Beziehung-Setzen in einem von den Forschenden selbst imaginierten, konstruierten Raum.“ (Hess & Tsianos, 2010: 253) Welche Methoden kommen dabei aber konkret zur Anwendung? Sabine Hess und Vassilis Tsianos schlagen für die Analyse von Grenzregimen einen „heuristischen Methodenmix“ vor, „bestehend aus einer ‚symptomatischen Diskursanalyse‘, ethnografischer teilnehmender Beobachtung und Gesprächen an verschiedenen Orten sowie verschiedenen Formen von fokussierten Interviews“ (ebd.). 55 In ähnlicher Weise habe auch ich verschiedene qualitative Methoden angewendet. Etwas über ein Jahr (2010-2011) habe ich mit dezidiertem Forschungsinteresse bei der Initiative Zivilcourage mitgearbeitet und regelmäßig ein Forschungstagebuch geschrieben. Weitere zwei Jahre, während derer ich schwerpunktmäßig als Aktivistin mit der Initiative Zivilcourage aktiv war, habe ich spontan an bestimmten Situationen, die für meine Forschung besonders relevant schienen und unter ethischen Gesichtspunkten unproblematisch waren, als Forscherin teilgenommen und Aufzeichnungen gemacht. Zwar habe ich mir durch die alltägliche Kommunikation mit türkischsprachigen Menschen (vor allem im Workers’ Center) und einem einmonatigen Sprachkurs in Istanbul Türkischkenntnisse auf Anfänger*innenniveau angeeignet, für detaillierte Gespräch und Interviews auf Türkisch war ich aber trotzdem auf Übersetzung angewiesen. In den Jahren 2010 bis 2013 habe ich fünfundzwanzig qualitative, offene Interviews mit verschiedenen Akteuren, denen ich in den Aushandlungen begegnet bin, geführt und fast alle auf Band aufgenommen, transkribiert und symptomatisch ausgewertet. Zudem habe ich an öffentlichen Veranstaltungen teilgenommen, von denen ich auch Audioaufzeichnungen gemacht habe, und Medienberichte sowie weiteres diskursives Material gesammelt, wie zum Beispiel policy-papers auf Stadt-, Bundes- und EU-Ebene31. Der innovative Einsatz der ontological politics besteht aber meiner Meinung nach weniger aus den Methoden an sich, sondern darin, wie sie im Sinne des Konzepts des Regimes und der sich so ergebenden Erkenntnisinteressen eingesetzt und verstanden werden. Verlassen wird nicht nur die Vorstellung des verräumlichten, in Gänze erklärbaren, lokalisierten ‚Feldes‘, sondern auch der Standpunkt des/der forschenden Beobachter*in. Der/Die Forscher*in wird zum aktiven Teil in den Prozessen des world making und konstruiert dabei auch das eigene Forschungsfeld mit. 31 Auf Interviews, Audioaufzeichnungen von Veranstaltungen, Tagebuchnotizen und schriftliches Forschungsmaterial, das nicht öffentlich zur Verfügung steht, verweise ich im Fließtext unter Angabe relevanter Details (z.B. in welchem Monat und Jahr das Interview stattgefunden hat). Ich habe sie, auch aus Gründen der Anonymität, aber nicht in die Literaturliste aufgenommen oder extra aufgelistet. Das Forschungsmaterial ist bei mir passwortgeschützt hinterlegt. 56 Perspektive der Kämpfe und Konflikt als Methode Als der Polizist in der Anfangsszene zu mir als Aktivistin sagte, dass wir doch dasselbe wollen, nämlich Probleme lösen, wies ich diese Behauptung zwar vehement ab, es blieben aber Fragen: Was nehme ich als akademische Wissensproduzentin (und als Aktivistin der Initiative Zivilcourage) als Problem wahr – aus welcher Perspektive, aus wessen Perspektive? Worin sehe ich die Lösung dieser Probleme und wie komme ich zu diesen Lösungsstrategien? Zwar sind die Perspektiven einzelner Polizeibeamter sicher nicht zu verallgemeinern, im Kapitel zu den practices of security am ‚Tagelöhnermarkt‘ wird sich aber trotzdem zeigen, dass die sicherheitsrechtlichen Akteure tendenziell eine Perspektive des Regierens ‚von oben herab‘ einnehmen und dabei die Arbeiter*innen als Gefahr für die öffentliche Sauberkeit, Sicherheit und Ordnung begreifen, repressiv bekämpfen oder als Opfer von kriminellen Menschenhändlern retten wollen. Wo liegt der Unterschied zwischen den Problemdefinitionen aus der Perspektive des Regierens und denen der Initiative Zivilcourage bzw. mir als Wissenschaftler*in? Was ist der Unterschied zwischen Perspektiven des Regierens und Perspektiven der Kämpfe? An dieser Stelle möchte ich auf die These der Autonomie der Migration zurückkommen und sie mit Serhat Karakayalı als Untersuchungsperspektive begreifen. Dieser schreibt im Schlussteil seines Buches Gespenster der Migration: „Vor dem Hintergrund meiner Arbeit erscheint es sinnvoller, Autonomie der Migration nicht als Unabhängigkeit von etwas – Strukturen, Machtverhältnissen etc. – zu konzeptionalisieren, sondern als eine Untersuchungsperspektive, welche die der Migration eigenen Konfliktfelder und -formen in den Blick nimmt. Eine derart verstandene Perspektive ermöglicht es, in den Kämpfen um Migration den methodologischen und politischen ‚Nationalismus‘ zu verlassen und sich in der Politik der Migration auf die konkreten Praktiken der klandestinen transnationalen Migrant*innen zu stützen anstatt auf die durch sie vermeintlich verursachten ‚Probleme‘ oder auf das Leiden der MigrantInnen an den prekären Lebens- und Arbeitsverhältnissen in der Migration.“ (Karakayalı, 2008: 258) 57 Es gilt also, von den Praktiken der Migrant*innen auszugehen, statt von den Versuchen, sie zu problematisieren und zu regieren, um aus der Perspektive der ersteren die letzteren analysieren zu können. Desweiteren beziehe ich mich auf Sandro Mezzadra und Brett Neilson, die in ihrem Buch Border as Method (2013) vorschlagen, die Grenze als epistemologische Sichtweise zu verwenden. Sie meinen damit, dass es durch die Aufmerksamkeit auf Verschiebungen, Konflikte und Brüche gelingen kann, falsche Vereinheitlichungen wahrzunehmen, zu analysieren und anzugreifen: „[T]o approach the border as a method means to suspend, to recall a phenomenological category, the set of disciplinary practices that present the objects of knowledge as already constituted and investigate instead the processes by which these objects are constituted.“ (Mezzadra & Neilson, 2013: 17) Es handelt sich um eine geschickte Doppelbewegung, denn die Fokussierung auf Konflikte um Grenzen ist sowohl im epistemologischen Sinne (Grenzen von Kategorien und Diskursen), wie auch im ganz praktischen Sinne zu verstehen: „the border is for us not so much a research object as an epistemological viewpoint that allows an acute critical analysis not only of how relations of domination, dispossession, and exploitation are being redefined presently but also of the struggles that take shape around these changing relations. The border can be a method precisely insofar as it is conceived of as a site of struggle. As we have already stressed, it is the intensity of the struggles fought on borders around the world that prompts our research and theoretical elaborations.“ (ebd.: 16 f.) Dem Buch Border as Method ist zudem die These zentral, dass Grenzen sich trotz der aktuellen Transformationen des national-sozialen Staates nicht auflösen, sondern rekonfigurieren und multiplizieren (ebd.). Ich habe eine Perspektive der Autonomie der Migration, der Grenze und des Konflikts eingenommen, indem ich mich ganz konkret mit den Kämpfen und Praktiken der migrantischen Arbeiter*innen positioniert habe und so in Konflikte mit den Versuchen des Regierens und 58 den von ihnen gezogenen Grenzen (sowohl im kategorialen, rechtlichen wie auch territorialen Sinne) gekommen bin. So bin ich auf Brüche, Widersprüche und produktive Auseinandersetzungen gestoßen, die ich dann in meiner Analyse nachverfolgen konnte. Bevor ich konkreter auf meine Forschungspraxis und die Spannungsfelder, in denen sie sich bewegt hat, eingehe, möchte ich noch der Frage nachgehen, inwiefern es denn überhaupt möglich ist, zu wählen, welche Perspektive ich einnehme. Schließlich bin ich nicht in der Situation der EU-migrantischen Arbeiter*innen. Meine gesellschaftliche Positionierung ist sogar eher mit den Polizist*innen oder städtischen Entscheidungsträger*innen zu vergleichen: weiß, deutsche Staatsbürgerschaft, bürgerlich. Kann ich da überhaupt eine Perspektive der Kämpfe, eine Perspektive der Migration einnehmen? Ich sage nicht, dass ich die bestehenden Macht-, Sozialisierungs- und Erfahrungsunterschiede wegwischen und die Perspektive einer Subalternen/Migrantin einnehmen kann – wohl kann ich aber versuchen, an den Kämpfen teilzunehmen und eine Perspektive der Kämpfe der Migration einzunehmen. Wenn Arturo Escobar, Kulturanthropologe in Kalifornien und Eduardo Restrepo, der als Kulturwissenschaftler in Bogota arbeitet, über das „project of border thinking“ als epistemische Perspektive nachdenken, stellen sie klar, dass es für sie nicht zwingend von den jeweiligen gesellschaftlichen Positionierung und eigenen Privilegien abhängt, ob eine solche Perspektive eingenommen werden kann: „From the modernity/coloniality perspective it is possible to talk about (non-Eurocentric) epistemic perspective(s) that can be occupied by a host of social actors in many geopolitical locations and in multiple ways; in this way, it is not the identity of the subject that matters most, but the subject’s ability to inhabit a border space of thought and practice. It could perhaps be claimed that, historically and socially, subaltern groups are more attuned to this epistemic perspective and are thus more likely to occupy effectively the spaces of transformation (the borders of the modern colonial world system), but of course no identity guarantees a politics or a perspective, and non-subaltern actors might find the project of border thinking enabling.“ (Restrepo & Escobar, 2005: 113) Wie aber kann ich eine solche Perspektive der Kämpfe, der Grenze, der Autonomie der Migration einnehmen? Situierung geht sicherlich zuerst 59 einmal mit Selbstreflexion einher – die eigenen Positionalitäten zu befragen, deutlich zu machen und von ihnen aus zu sprechen. Gleichzeitig handelt es sich auch um eine aktive Entscheidung, was für ein Wissen wir aus welcher Perspektive produzieren möchten. Hier möchte ich auf feministische Debatten zur Situierung von Wissen rekurrieren, die die Idee von der „Perspektive der Autonomie“ und „Grenze als Methode“ ein wenig greifbarer machen. Die feministische Wissenschaftlerin Donna Haraway kritisiert den „god trick“ eines „Blickes von überall und nirgends“ als paternalistische Machttechnik und schlägt situiertes Wissen als Gegenprojekt vor, das Partialität statt Transzendenz beansprucht: „Feminist objectivity is about limited location and situated knowledge, not about transcendence and splitting of subject and object” (Haraway, 1988: 583). Die feministische Kritik geht davon aus, dass Wissen immer einen Ort hat, immer verkörpert ist. Oder in den evokativen Worten von Marta Malo de Molina: „Nein, meine Herren: Das Denken durchzieht immer den Körper, und daher handelt es sich stets um ein situiertes, involviertes Denken, das von einer Seite her Aufstellung nimmt. Die Frage ist also, von welcher Seite her nehmen wir Aufstellung? Oder was dasselbe ist, mit wem denken wir? Mit den Arbeitskämpfen, den Dynamiken der Konfliktualität und der sozialen Kooperation, den Frauen, den Verrückten, den Kindern, den lokalen Gemeinschaften, den unterdrückten Gruppen, den selbstorganisierten Initiativen ...“ (Malo de Molina, 2004b: 4) Meiner Meinung nach kann eine Perspektive der Kämpfe nur aus der bewussten, positionierten Teilnahme an Kämpfen heraus entstehen. Dort, wo sie diesen Bezug verliert, weist sie bestenfalls ins Leere. Ein*e Wissensproduzent*in, die annimmt, sich aus den erforschten Aushandlungen heraushalten zu können (und zu sollen), kann nur aus einer Perspektive des Abstands (und Regierens) auf ihr Forschungsobjekt blicken, und nicht mit emanzipativen und widerständigen Bewegungen aus der Perspektive des geteilten Kampfes. Was heißt es aber für eine Wissenspraxis, an Kämpfen teilzunehmen? Selbstverständlich gibt es verschiedenste Möglichkeiten, in einen Kampf involviert zu sein. Kann z. B. eine Diskursanalyse, die kein Verlassen des Schreibtisches verlangt, aus der Perspektive der 60 Kämpfe an Aushandlungen teilnehmen? Meiner Meinung nach ist auch eine solche ‚rein‘ diskursive Teilnahme denkbar. Auch diskursive Praktiken wirken subjektivierend, körperlich und materiell. Zentral ist vielmehr, dass der/die Wissensproduzent*in sich einmischt in dem Sinne, dass sie vor ihrer notwendigen Teilnahme nicht flieht, sondern sie anerkennt und nutzt. Sie tritt so aus der geschützten Position des wissenschaftlichen Abstands heraus, tritt in Kommunikation und macht sich so auch verletzlich. Auch wenn es also andere Möglichkeiten gibt, teilzunehmen, habe ich mich doch für die konkrete Teilnahme vor Ort und innerhalb der Beziehungsgeflechte als die zentrale Methode meiner Wissenspraxis entschieden. Denn in meiner Erfahrung wurde es durch die konkrete Teilnahme an und Begleitung in Konflikten einfacher, die Perspektive der Kämpfe einzunehmen. Dies ergänzt sich gut mit der ethnografischen Forschungsmethode. Ethnografisch forschen, teilnehmend beobachten heißt, mit dem eigenen Körper Teil konkreter Situationen zu sein und in diesen zu handeln, zu interagieren und zu kommunizieren. Der ethnografischen Regimeanalyse ist die These zentral, dass Brüche und Ambivalenzen der hochkomplexen und stets umkämpften Regime nur konkret und emisch erfahren werden können. Nur durch „Lokalisierung […] Involviert-Werden […] Selbst-Erleben [… und] Vertrautwerden“ (Hess & Tsianos, 2010: 256 f.) sei es möglich, „die Vielzahl der Akteure zu ermitteln“ (ebd.), „die konflikthafte Genese und Implementierung des Grenzregimes aus einer Multiakteursperspektive“ (ebd.) zu analysieren und die „immense Kluft zwischen Theorie, ‚Papier‘ und Praxis“ (ebd.) zu reflektieren, erklären Vassilis Tsianos und Sabine Hess. Als Methode bietet dies also eine gute Grundlage für eine im feministischen Sinne situierte Wissensproduktion. Ich habe die Involvierung beim Wort genommen und bin noch einen Schritt weiter gegangen. Im Sinne einer Perspektive der Kämpfe und der Grenze als Methode habe ich während meiner ethnografischen Forschung nicht nur als Beobachterin teilgenommen, die ihr notwendiges Wirken zwar reflektiert aber auch versucht, es zu minimieren, sondern mich auch nicht gescheut, selbst aktiv zu werden und in Konflikte zu geraten. Im Gegenteil, ich habe versucht, mich tatsächlich auch an Konflikten und Kämpfen direkt zu beteiligen. In diesen konkreten Konflikten konnte ich nicht mehr neutral 61 bleiben, oder diesen Anschein erwecken und war gezwungen, mich sichtbar zu positionieren. In den Konflikten, und auch in Interviews und beim Lesen von policy papers, konnte ich gleichzeitig beobachten, wie leicht ich mich in die Perspektive des Regierens, die von den Beamt*innen eingenommen wurde, die mir in Bezug auf bürgerliche Sozialisierung, Habitus und Sprache oft sehr nahe waren, hineinversetzen konnte.32 Auch, wenn ich als Aktivistin der Initiative Zivilcourage an kommunalen Gesprächen teilnahm, handelte es sich oft um einen Drahtseilakt, in dem ich beobachten konnte, wie mir meine Sozialisierung die Perspektive des Regierens näher legte als die der Kämpfe. Doch auf dieser Grundlage konnte ich diese Perspektive auch besser kritisieren, ihr entgegentreten und teilweise strategisch auf sie eingehen. Der Versuch, aus der Perspektive der Kämpfe auf die Versuche des Regierens zu schauen, diese zu verstehen, zu beschreiben und gleichzeitig mit den Kämpfen an der Grenze situiert zu bleiben, durchzieht diese Arbeit. Erst, indem ich im Zuge von Auseinandersetzungen – ich begleitete Arbeiter*innen in Konflikten gegenüber Arbeitgeber*innen, Ämtern, Polizei und Geschäftsleuten im Bahnhofsviertel – auf sie stieß, wurde ich auf viele Grenzziehungen, ihre Brüche und Ambivalenzen, die Logiken des Regierens und die Handlungsmöglichkeiten in den Aushandlungen mit diesen aufmerksam. Diese konkreten, individuellen Konflikte habe ich dann durch Recherchen und Interviews kontextualisiert und bin dabei ausgewählten Konfliktlinien gefolgt. Auch in Interviews mit kommunalpolitischen Akteuren habe ich aber meine Positionierung nicht versteckt, sondern meine Interviewpartner*innen eher konfrontiert und mit ihnen diskutiert. In der Verschriftlichung bin ich dann von konkreten Konfliktsituationen ausgegangen und habe einzelne Trajektorien über sie hinausgehend verfolgt. Das zweite Kapitel beginnt mit einer konfliktiven Szene vor dem Arbeitsgericht und bettet diese in das transnationale Migrationsprojekt der vier Kläger*innen ein. Das dritte Kapitel geht von Hegemoniekämpfen um den öffentlichen Raum im Bahnhofsviertel und die mediale Deutung des ‚Tagelöhnermarktes‘ aus und führt zu aktuellen Konjunkturen des (postliberalen) Rassismus. Das vierte Kapitel nimmt, wie erwähnt, seinen Ausgang bei den Protesten gegen eine Zollrazzia und landet bei der Sicherheits- und 32 Hier ist zu beachten, dass es sich bei diesen oft um Personen handelte, die Migration, Diversität etc. durchaus befürworteten und sich als fortschrittlich und liberal begriffen. 62 Ordnungspolitik der Stadt München gegenüber ‚Armutszuwanderung‘. Den weiteren Kapiteln sind verschiedene konflikthafte Situationen im Wohnungsamt, der Ausländerbehörde und im Jobcenter zentral. Die Auswahl der Aushandlungsfelder, über die ich schreibe, ist kontingent, könnte auch anders sein: Ich habe sowohl in der konkreten Forschungssituation, wie auch in der Analyse und Verschriftlichung (mehr oder weniger bewusst) entschieden, wohin ich meine Aufmerksamkeit richte und welchen Trajektorien ich folge. So sind sehr spezifische, situierte und kontingente Repräsentationen der realen Aushandlungsfelder entstanden. Es ist aber noch in einem weiteren Sinne von radikalem Konstruktivismus zu sprechen. Wie jede Forscherin habe ich die Aushandlungsfelder beeinflusst. Indem ich Konflikt als Methode gewählt habe, habe ich mich aktiv und bewusst an den Aushandlungen und Konflikten beteiligt. Viele der Situationen und Zusammenhänge, über die ich schreibe, hätte es ohne mein Zutun in dieser Form nicht gegeben. Mit diesem intervenierenden Ansatz möchte ich zu den Debatten um die ethnografische Regimeanalyse und die ihr zu Grunde liegenden epistemologischen, ontologischen und methodologischen Überlegungen beitragen. Im Zuge der noch jungen Debatte zur ethnografischen Regimeanalyse – auch in der Kulturanthropologie – ist noch kaum dezidiert auf die Dimension des eingreifenden Forschens eingegangen worden (vgl. Riedner, 2014), es gibt im Fach aber sehr wohl Ansätze der involvierten Forschung. Wie ethnografisches Forschen und kulturanthropologische Wissensproduktion aktiv und wirksam werden können, wurde immer wieder diskutiert – wovon mehrere Sammelbände zeugen (vgl. Binder et al., 2013; Hale, 2008; Hymes, 1974; Lem & Leach, 2002; Smith, 1999). Hier sei nur die zusammenfassende Darstellung der beiden Kulturanthropologinnen Setha M. Low und Sally Engle Merry erwähnt, die in ihrer Einleitung der Ausgabe Engaged Anthropology – Diversity and Dilemmas der Zeitschrift Current Anthropology zahlreiche Spielarten engagierter Social Anthropology aufzählen: Neben „social critique“ auch „sharing and support“, „teaching and public education“, „collaboration“, „advocacy“ und „activism“ (Low & Merry, 2010: 204). Die Möglichkeiten des Wirkens während der Forschung reichen ihnen zufolge von „alltäglichen Praxen der Teilens, Unterstützens und der persönlichen Interaktion“ (ebd.: 207, Übersetzung der Autorin), dem Ausführen der Ziele von lokalen Organisationen oder sozialen Bewegungen und ihrer Unterstützung durch Organisierungsversuche bis hin zum Erstellen 63 von Expertisen und Übersetzungsarbeiten (vgl. ebd.: 210). Auf der einen Seite gibt es Ansätze, die über ihre Forschungspraxis wirken und die erforschten Gruppen unterstützen möchten, auf der anderen Seite lässt sich eine akademische Präferenz für Ansätze feststellen, die sich – wenn auch kritisch – in ihren Elfenbeinturm zurückziehen und eine direkte Involvierung, in der sie sich auch die Hände schmutzig machen könnten, eher ablehnen (vgl. kritisch dazu Hale, 2006; Shukaitis & Graeber, 2007). Die meisten bisherigen Versuche der „engaged anthropology“ haben die Involvierung in Konflikte und Kämpfe aber meines Wissens nach nicht explizit zur Grundlage der eigenen Ontologie und Methodologie gemacht. Auf einen Ansatz, der Wissensproduktion und Aktivismus ganz grundlegend miteinander verbindet, bin ich in der Tradition der militanten Untersuchung in sozialen Bewegungen gestoßen (vgl. etwa kolinko, 2002; FelS, 2011; arranca!-Redaktion, 2008). Auf die militante Untersuchung wurde schon von vielen politischen Projekten Bezug genommen (vgl. Malo de Molina, 2004b; precarias a la deriva, 2007; Shukaitis & Graeber, 2007). In einer militanten Untersuchung, so schreibt Gigi Roggero, ist „the production of knowledge [...] in the same moment the production of subjectivity and the agency, of common practices and languages, and the construction of a political self-organization.“ (Roggero, o.J.: 1). Handelt es sich bei meiner Promotionsforschung also um eine militante Untersuchung? Mit Teilnahme, Wissensproduktionen und Reflexionen habe ich mich zwar sicherlich in Organisierungsprozesse eingebracht, trotzdem möchte ich die vorliegende Untersuchung nur bedingt als militante Untersuchung bezeichnen, da sie doch ein in der Wissenschaft positioniertes Projekt blieb, das als solches von mir individuell geplant und umgesetzt wurde. So blieb die Beziehung zu meinen Forschungspartner*innen in gewissem Maße eine ausbeuterische, weil ich aus den gemeinsamen Tätigkeiten Mehrwert in Form von einer Doktorarbeit und Distinktionsgewinn (nicht nur) im gesellschaftlich anerkannten Feld der Wissenschaft gezogen habe. So steht auf diesem Buch mein individueller Name – so habe ich die gemeinsame (Wissens-)Praxis für mich persönlich in Wert gesetzt. Ein Projekt, in das verschiedene Personen gemeinsam Arbeit und Ideen einbringen, 64 dient mir als Akademikerin als Stufe in der Karriereleiter, die ich alleine erklimme. Als Wissenschaftler*in konnte ich den Widerspruch zwischen den ungleichen Macht- und Ausbeutungsverhältnissen und dem Versuch, diese zu überwinden sowie niemanden zum Objekt zu machen, nicht gänzlich auflösen, weil er Teil der gesellschaftlichen Verhältnisse ist, in denen wir uns bewegen. Diese Widersprüche verbieten den Versuch einer (möglichst) emanzipatorischen und kritischen wissenschaftlichen Praxis nicht, aber sie müssen immer wieder neu analysiert und die Schlussfolgerungen konsequent umgesetzt werden. Nicht alle meine Tätigkeiten im Zusammenhang mit den Kämpfen der EU-migrantischen Arbeiter*innen standen dabei unter dem Schirm der wissenschaftlichen Arbeit, sondern meine akademischen Praktiken waren vielmehr ein verknüpfter Teilbereich einer Assemblage aus Tätigkeiten, die in verschiedensten Diskursen und Zusammenhängen positioniert waren. Neben diesem Buch und wissenschaftlichen Artikeln hat es so etwa noch viel mehr diskursive Interventionen gegeben. Zu welchen Widersprüchen, Herausforderungen und Konvergenzen es in dieser Verschränkung von akademischer und aktivistischer Arbeit und den damit einhergehenden Beziehungen in vermachteten, ungleichen gesellschaftlichen Verhältnissen gekommen ist, möchte ich im Folgenden genauer reflektieren. Verhältnis Wissenschaft und Aktivismus? Eine Perspektive der Kämpfe einzunehmen und sich aktiv an den erforschten Aushandlungsfeldern zu beteiligen, heißt nicht, sich unüberlegt und unreflektiert in Gemengelage von Konflikten und Machtverhältnissen zu werfen mit dem Ziel, so wirksam wie möglich zu sein. Auch und gerade eine Forschungspraxis, die aktiv intervenieren möchte, verlangt nach der Auseinandersetzung mit den Anforderungen, Positionierungen, Widersprüchen und Ungleichheiten, in denen geforscht wird. Dabei möchte ich nicht a priori zwischen den Bereichen der Wissenschaft und des Aktivismus unterscheiden. Sehr wohl gibt es aber Unterschiede zwischen Infrastrukturen, Handlungsmodi, Gütekriterien und Wissensordnungen (vgl. Hutta et al., 2013). Nach Jasbir Puar handelt es sich nicht um konzeptuelle Unterschiede: 65 „What interests me is how to ... attend to the historically hierarchical relations of the two realms. Differing institutional spaces may entail different forms of output, media, and energy, but that does not then reduce to an easy equivalence of those differences to conceptual ones.“ (Greyser, 2012: 841) Diese Unterschiede machten sich während meiner Forschung durchaus bemerkbar. So bin ich zum Beispiel auf Seiten des Aktivismus auf Kritik an wissenschaftlicher Praxis gestoßen. Meine erste Forschungsanfrage bei einer aktivistischen Gruppe in Berlin wurde abgelehnt mit der pragmatischen Begründung, dass die Zusammenarbeit mit Wissenschaftler*innen einfach zu viel Zeit koste und keinen Mehrwert verspreche. Sie hätten sich entschieden, die vielen Anfragen aus dem wissenschaftlichen Feld abzulehnen. Dies hatte mit einem Mangel an Kapazitäten zu tun, verwies aber auch darauf, dass die Zusammenarbeit mit Wissenschaftler*innen für sie keinen hohen Stellenwert hatte. Auch die Initiative Zivilcourage bekam immer wieder Anfragen, sowohl von Kulturproduzent*innen als auch von Wissenschaftler*innen und Studierenden. Viele wollten uns als Zugang zu den Arbeiter*innen benutzen. Wir sagten nie direkt zu oder ab, sondern telefonierten erst mit ihnen. Wenn sie zum einen eine Perspektive der Kämpfe einzunehmen schienen, also auf der Seite der Arbeiter*innen zu stehen schienen und sie nicht als Problem betrachteten, sondern sich für ihre Probleme interessierten, und zum anderen auch bereit waren, direkt im Workers’ Center mitzuarbeiten, dann luden wir sie ein. Manchmal haben wir Wissensproduzent*innen auch direkt eingeladen und ihnen erst einmal eine Aufgabe wie ein auszufüllendes Formular oder ein Gespräch mit einem oder einer Arbeitgeber*in aufgetragen oder ließen sie einfach mit am Tisch sitzen und beobachteten, wie sie sich dabei verhielten. Manche waren brüskiert und lehnten eine solche Arbeit ab, andere trauten sich nicht, aber manche machten sich auf Anhieb nützlich. Manche kamen von selbst und auf Augenhöhe mit Arbeiter*innen in die Kommunikation, andere rutschten unruhig auf ihrem Stuhl herum und drängten darauf, dass wir ihre Fragen übersetzten, die oft weitgehend den Stereotypen des hegemonialen Diskurses folgten. Die Kritik an Wissensproduzent*innen geht über eine reine Kapazitätenfrage hinaus. Während einer Tagung in Berlin im Jahr 2010 berichteten die Frauen einer Gruppe, die gegen Gentrifizierung eintrat, dass es 66 geradezu einen Hype um ihre Projekte gegeben habe, sie die Forschungsanfragen kaum bewältigen hätten können. Zum einen kritisierten sie, dass viele der Forscher*innen mit hohen Erwartungen an zeitliche Ressourcen kämen und z. B. keine eigenen Dolmetscher*innen mitbrächten, zum anderen, dass die Forscher*innen extrem selten ihre Produkte zurückspiegelten. Am schwerwiegendsten erschien mir aber die Kritik, dass bei vielen akademischen Wissensprojekten das Forschungsdesign und die Forschungsfragen schon im Vorhinein feststanden und keine Bereitschaft bestand, hier kollaborativ und/oder an Fragen zu forschen, die für die Aktivitäten der Gruppe direkt von Bedeutung wären. Auch in der Initiative Zivilcourage machten wir die Beobachtung, dass Wissensproduzent*innen allzu oft kein kollaboratives Verständnis ihrer Arbeit hatten, sondern die Initiative und die Arbeiter*innen als Objekte verstanden, auf die sie ihre vorgefertigten Fragen und auch Antworten projizierten. Nach Jan Simon Hutta, der zur LGBT Bewegungen in Brasilien geforscht hat und in diesen auch aktiv war, stellen die aktivistische und die akademische Praxis grundlegend ganz unterschiedliche Anforderungen: „Von der aktivistischen Praxis ergeht oftmals die Anforderung, dass ich mich klar in dem aktivistischen Diskurs positioniere, wo mit bestimmten Begriffen ganz selbstverständlich und ungebrochen agiert wird – sei es ‚Homophobie‘ oder ‚Vulnerabilität‘. Andererseits ergeht von der wissenschaftlichen Seite – zumindest im Kontext der kritischen Debatten, in denen ich mich bewege, – eine Anforderung, Dinge permanent zu hinterfragen und sich klar auf der Seite von Kritik zu positionieren. Es scheint in beiden Feldern den Wunsch nach einer klaren und daher scheinbar unangreifbaren oder gar moralisch höherwertigen Position des Sprechens und Handelns zu geben. Die sich jeweils durch Affirmation bzw. Kritik bestimmt – im Aktivismus: ‚Ich agiere, also bin ich!‘, und in der kritischen Wissenschaft: ‚Ich kritisiere, also bin ich!‘“ (Hutta et al., 2013: 155) Ähnliche Spannungsfelder haben sich auch während meiner Forschung immer wieder ergeben. Dies wird unter anderem im dritten Kapitel zu den medialen Aushandlungen der Deutung des ‚Tagelöhnermarkts‘ deutlich, in denen ich als Aktivistin manchmal strategisch Leistungslogiken bediente, indem ich die Nützlichkeit der Arbeiter*innen betonte, 67 auch wenn ich auf wissenschaftlicher Ebene genau diese Nützlichkeitslogiken analysierte und kritisierte. Doch auch die aktivistischen Zusammenhänge reflektierten, welche Effekte ihre Konzepte und Analysen hatten. Eine klare Trennung zwischen Aktivismus-Agieren und Wissenschaft-Kritisieren war in den Zusammenhängen, in denen ich mich bewegt habe, nicht aufrechtzuerhalten. Ich habe diese Spannungsfelder als Bereicherung empfunden, weil sie mich davon abgehalten haben, unkritisch Kategorien und Argumentationen zu reproduzieren, die im jeweiligen Moment wirkmächtig erschienen, oder mich ganz ohne direkten Bezug zu konkreten Auseinandersetzungen in theoretischen Abstraktionen zu ergehen. Auch für Jan Simon Hutta stellt sich, mit Verweis auf Donna Haraway (1997, 2007), die feministisches Wissen „im ‚beschmutzende[n]‘ Feld der action“ (Hutta et al., 2013: 201, Hervorhebung im Original) situiert, „die Paradoxalität als Potenzial und politische Notwendigkeit heraus“ (ebd.: 156). Zu Konflikten zwischen ‚Agieren‘ und ‚Kritisieren‘ kam es in meiner Forschung weniger in Bezug auf die Form der Wissensproduktion, wohl aber ganz konkret in Bezug auf die Frage, ob ich meine Zeit und Energie auf die Arbeit im Workers’ Center, oder auf die akademische Arbeit verwendete. Dies ging solange gut, wie sich die beiden Bereiche überschnitten, die aktivistische Arbeit also gleichzeitig auch Forschungsarbeit darstellte. Auch ein intervenierendes Promotionsprojekt besteht aber nicht nur aus aktivistischer Feldforschung, sondern auch aus vielen Stunden des Lesens, Denkens und Schreibens am Schreibtisch, während im Workers’ Center Zeit und Kapazitäten immer knapp waren. Die Entscheidung, wie viel Zeit andere Aktivist*innen und ich hier verbrachten, hatte ganz konkrete Auswirkungen auf die Lebensverhältnisse und auch die körperliche Situation anderer Menschen. Die Betreiber der Räume, in denen wir uns trafen, knüpften deren Nutzung an die Bedingung, dass eine Person von der Initiative Zivilcourage dabei war. Wir hatten nie unsere eigenen Räume. Dies hieß, dass allzu oft Personen auf die Straße gehen mussten, wenn ich aufbrach, um in der Bibliothek an meiner Doktorarbeit zu schreiben. Nach Abschluss der ethnografischen Forschung, und vor allem, seitdem ich mich in der Verschriftlichungsphase befinde, habe ich meine Arbeit mit der Initiative Zivilcourage zeitlich streng eingegrenzt und begleite beispielsweise kaum noch Personen zu Terminen auf die Ämter. Diese Entscheidung treffe ich 68 jedes Mal wieder neu, und sie ist immer schwierig, wenn ich im Workers’ Center beispielsweise einer obdachlosen Person gegenüber sitze und weiß, dass sie mit meiner Begleitung um vieles größere Chancen hätte, wieder ein Dach über dem Kopf und soziale Leistungen zu bekommen. Diese Entscheidungen waren, zumindest zu einem gewissen Maße, Bedingung dafür, dass ich dieses Buch schreiben konnte. Hier gerieten die konkreten Anforderungen des Aktivismus und der Wissenschaft aneinander. Natürlich besteht dieses Spannungsfeld nicht nur zwischen diesen beiden Bereichen. So kann ich das Workers’ Center auch abschließen, weil ich keine Lust mehr habe, weil ich mich mit Freund*innen treffe, ohne akademischen Mehrwert in der Bibliothek Texte studieren möchte oder einer anderen Erwerbsarbeit nachgehe. Es geht mir hier auch nicht um eine ethische und moralische Diskussion um Privilegien. Ich sehe keinen Sinn darin, soziale Verhältnisse in Privilegien zu vermessen, wobei die mit Privilegien einhergehende Schuld durch Aktivismus abgeglichen werden müsse. Meiner Meinung nach geht es vielmehr darum, sich gemeinsam gegen oder für etwas zu organisieren und dabei einen aktiven Umgang mit bestehenden Machtungleichheiten und sozial-ökonomischen Unterschieden zu finden, der auf gegenseitigem Respekt, Augenhöhe und dem Kampf gegen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse beruht. Eine allgemeine Lösung dieses Spannungsfeldes habe ich nicht gefunden, vielmehr bin ich mit diesen Konflikten und Entscheidungszwängen immer situativ umgegangen. Dies hieß auch, dass ich in manchen Fällen dann doch Personen zu Terminen begleitete, dass ich fast durchgängig mindestens jede zweite Woche im Workers’ Center mitarbeitete, aber mich auch mal für zwei Monate aus der konkreten aktivistischen Arbeit zurückzog. Neben diesen konkreten Konflikten ist aber auch zu betonen, dass nicht nur meine aktivistischen Tätigkeiten meine Forschung informiert haben, sondern mein Forschungsprojekt auch immer wieder die aktivistische Tätigkeit zurück gefüttert hat. So war meine akademische Arbeit nicht nur in Form von direkt handelnder aktivistischer Teilnahme ‚nützlich‘ für den Aktivismus. Interviews haben zu Bekanntschaften geführt, an die ich dann im Rahmen des Aktivismus anknüpfen konnte. Des weiteren kam es immer wieder zu Feedbackloops, Kurzschlüssen zwischen Wissensproduktion und aktivistischer Verwertung, die oft eine sehr viel kürzere Zeitspanne aufwiesen, als wenn erst die veröffentlichten wissenschaftlichen 69 Arbeiten zu Rate gezogen worden wären. Zum Beispiel nutze ich das in den letzten Monaten verfasste sechste Kapitel während der Verfassung des vorliegenden ersten Kapitels dazu, mit der Initiative Zivilcourage eine Kampagne gegen den Ausschluss von Obdachlosen aus den städtischen Notunterkünften zu planen. Und heute morgen [29.01.2016] habe ich eine leitende Angestellte der Stadt München angerufen, um sie zu fragen, ob es neue Pläne gäbe, einen privaten Sicherheitsdienst am ‚Tagelöhnermarkt‘ öffentlich zu finanzieren und davor noch kurzerhand im Entwurf des dritten Kapitels nachgelesen, wieso die Argumentation und die Praktiken der Auftraggeber des Sicherheitsdienstes rassistisch sind. Manchmal war es mir aus forschungsethischen Gründen unmöglich, Wissen weiterzugeben. Etwa, wenn mir als Doktorandin eine interne Dienstanweisung vertraulich überlassen wurde, die für die Arbeit der Initiative Zivilcourage sehr nützlich gewesen wäre. Aus Gründen der Forschungsethik kann ich in der vorliegenden Arbeit auch nicht alles Wissen und alle Erfahrungen, die ich als Aktivistin gemacht habe, einfließen lassen. Meine Teilnahme an kommunalpolitischen Treffen, in denen ich mich nicht als Forscherin zu erkennen gab, thematisiere ich nicht. Insbesondere zu den Aushandlungen um eine Anlaufstelle für EU-Migrant*innen hätte ich sehr Spannendes zu erzählen, habe mich aus forschungsethischen Gründen aber dagegen entschieden. Interna der Initiative Zivilcourage und Details der Strategien und Praktiken der EU-migrantischen Arbeiter*innen thematisiere ich zwar schon alleine deswegen nicht, weil diese von meinem Forschungsziel her uninteressant sind, aber auch, weil ich hier vieles Wissen erlangt habe, ohne als Forscher*in erkennbar gewesen zu sein. Eine Ausnahme stellen konfliktive Situationen in den Ämtern dar, in denen ich nur das Einverständnis der Personen einholte, die ich begleitete, und die Sachbearbeiter*innen, denen ich so begegnete, nicht immer über meine Forschung aufklärte. Neben diesen Fragen zum Verhältnis von Wissenschaft und Aktivismus im Forschungsprozess, stellt sich auch die Frage, wie die aus dem Forschungsprojekt resultierenden Publikationen wirken und wirken sollen. Migrationspolitik ist extrem eng mit den Migrationswissenschaften verknüpft, wie Joshua Hatton (2011) in seiner Promotion zur Migrationsund Flüchtlingsforschung im Vereinigten Königreich herausstellt. Wie kann ich verhindern, dass das von mir produzierte Wissen für Versuche des Regierens genutzt wird? Oder möchte ich mit meiner Kritik strategisch in Versuche des Regierens intervenieren? Sicherlich kann ich 70 nicht vermeiden, dass die publizierte Arbeit von Akteuren des Regierens gelesen wird, gerade auch auf kommunaler Ebene, auf der viele Akteure von meiner Arbeit wissen. Ich kann nur versuchen, ein Wissen zu produzieren, dass sich den Versuchen des Regierens versperrt und den Bewegungen zuarbeitet. So habe ich mich gezielt dagegen entschieden, Wissen über die EU-Migrant*innen zu produzieren. Dies stellt diese Arbeit aber vor ein Dilemma: Regime der EU-Migration zu analysieren, ohne die Handlungen der EU-Migrant*innen einzubeziehen, lässt leicht ein einseitiges, unidirektionales, vom Regieren gesteuertes Bild entstehen, wenn es doch gerade um die Kämpfe, Konflikte und Transformationen gehen sollte. Wie kann ich also die Kämpfe der Subalternen und der sozialen Bewegungen miteinbeziehen, dabei aber vermeiden, ein von Versuchen des Regierens nutzbares Wissen über sie zu produzieren? Auch aus dieser Sicht ist der Versuch zu verstehen, eine Perspektive der Kämpfe einzunehmen und Konflikt als Methode einzusetzen. So kann ich konfliktive Schnittstellen thematisieren, ohne ‚über‘ die EU-internen Migrant*innen zu schreiben. Dies stellt aber auch eine Gratwanderung dar, wie insbesondere am zweiten Kapitel deutlich wird, in dessen Zentrum ein Arbeitskampf und das Migrationsprojekt einer Gruppe von Frauen stehen. Auch hier versuche ich, die Schreibperspektive mit den Migrantinnen zu positionieren und nach Antagonismen, Widersprüchen und politischen Handlungsstrategien zu fragen, statt aus einer Perspektive des Regierens ihre Praktiken mit soziologische Kategorien zu erfassen. Diese Dissertation ist als Versuch zu verstehen, Teil eines größeren Zusammenhangs, einer Wolke an Kämpfen zu werden. Mit ihr möchte ich Versuche des Regierens analysieren, um so sowohl zu Debatten in der Kulturanthropologie und den kritischen Migrationswissenschaften beizutragen wie auch zu sozialen, antirassistischen Bewegungen – wobei beide Bereiche auch hier nicht klar voneinander abgegrenzt sind. Die (urbanen) Kämpfe von EU-internen Migrant*innen zeichnen sich dadurch aus, dass sie noch kaum auf der Tagesordnung sichtbar-werdender sozialer Bewegungen sind und auch von wissenschaftlicher Seite bisher wenig thematisiert wurden (für Ausnahmen vgl. etwa Alberti, 2017; Bouali, 2018; Buckel, 2013; Deneva, 2014; Hielscher, 2013; Richter, 2017; Schoenes & Schultes, 2014; Van Baar, 2012). Auch der rassistische Diskurs zur ‚Armutszuwanderung‘ und die Kämpfe um soziale Rechte für Unionsbürger*innen erfahren wenig Aufmerksamkeit. Es gibt wenig 71 Problematisierungen, die von der hegemonialen Sichtweise abweichen, kaum Angebote kritischer Perspektiven, fast kein geteiltes Wissen, wodurch soziale Bewegungen, akademische Debatten und auch situative Strategien inspiriert und kritisiert werden könnten. Indem ich diese Leerstelle zu füllen helfe, möchte ich zu den Kämpfen der EU-internen Migration beitragen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Verschränkung von Wissenschaft und Aktivismus – zwei Felder, die zwar nicht a priori zu unterscheiden sind, aber durchaus unterschiedliche Anforderungen stellen – immer mit Spannungen verbunden ist, aber genau deswegen auch hoch produktiv sein kann. Aktivistische Forscher*innen werden sich zwar immer die Finger schmutzig und sich angreifbar machen, sie haben aber auch das Potenzial nahes, immanentes und relevantes Wissen zu produzieren. Grundlage dafür ist aber auch die kritische Analyse und der konsequente Umgang mit ungleichen Macht- und Ausbeutungsverhältnissen im Forschungsprozess und darüber hinaus. Konflikt als Methode ist gleichzeitig Forschungsmethode, die ein situiertes Wissen verspricht, wie auch konkretes world making. Indem ich Konflikt als Methode vorschlage, möchte ich einen Beitrag zu methodologischen und theoriepolitischen Debatten leisten und zu neuen Formen der (akademischen) Wissensproduktion beitragen, die versuchen, aus der Kritik der Wissenschaften zu lernen. 72 Justice for Janitors? Unwahrnehmbare und sichtbarwerdende Kämpfe gegen Prekarisierung, Ausbeutung und Migrationskontrolle33 Vor dem Arbeitsgericht Es geht um 2.374 Euro. Vier Reinigungsarbeiterinnen aus Bulgarien haben ihren ehemaligen Arbeitgeber auf vorenthaltenen Lohn verklagt. In wenigen Minuten beginnt der erste Gerichtstermin vor dem Arbeitsgericht München und die vier Klägerinnen werden ihrem ehemaligen Arbeitgeber entgegentreten. Ihre Anwesenheit vor Gericht war zwar nicht ausdrücklich verlangt, aber die vier hatten sich trotzdem dazu entschlossen, gemeinsam mit Unterstützerinnen am Prozess teilzunehmen, um ihrer Klage Nachdruck zu verleihen. Spannung lag in der Luft, aber nichtsdestotrotz unterhielten wir uns und lachten. Das Sicherheitspersonal, das uns schmunzelnd durch die Sicherheitsschleuse lotste, wirkte auf mich überrascht und vielleicht sogar erfreut, einer Gruppe von acht scherzenden Frauen in den sterilen Hallen des Arbeitsgerichts zu begegnen. Das gemeinsame Lachen brach mit der Ernsthaftigkeit der Situation und entzog sich der Ehrfurcht, die die Institution Gericht gebietet. Im Vorraum trafen wir die Anwältin. Sie fragte die Klägerinnen auf Türkisch, ob sie gegebenenfalls mit einem Vergleich einverstanden wären. Ihrer Einschätzung nach würde der Richter vorschlagen, dass der Unternehmer einen Teil des eingeklagten Betrages zahlen und die Frauen die Klage einstellen sollten. Diese stimmten zu und äußerten, dass sie das Geld dringend bräuchten. 33 Eine frühere Version dieses Kapitels wurde in der Zeitschrift movements – Journal für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung veröffentlicht (Riedner, 2015). 73 Die Verhandlung Dann betraten wir den Gerichtssaal. Auf der einen Seite des Raumes, die etwas erhöht und von einem raumbreiten Tisch vom Rest des Raumes abgegrenzt war, saß schon der Richter. Die Anwältin der Klägerinnen in schwarzer Robe und der Angeklagte Dr. Goffmann, der sich selbst verteidigte, schauten von zwei einzelnen Tischen schräg zu ihm auf. Neben dem Unternehmer saß die Objektleiterin der Schule, in der die Frauen gereinigt hatten – sie war die direkte Vorgesetzte der vier Klägerinnen. Wir setzten uns in die Stuhlreihen, die für Zuschauer*innen aufgestellt waren, neben eine Journalistin des bayerischen Rundfunks, die am vorherigen Tag schon ein Interview mit den Kläger*innen geführt hatte. Ich begleitete die Klägerinnen Nadja Bozhkova, Zümbül Eseva, Bozhurka Chavdarova und Nonka Angelova im Rahmen unserer Tätigkeiten für die Initiative Zivilcourage. Meine Beziehung zu den Klägerinnen, die ich zum Zeitpunkt der Gerichtsverhandlung schon seit mehr als drei Jahren kannte, geht über eine beratende und unterstützende Funktion hinaus. Wir haben in den letzten Jahren zusammen gelacht, getanzt und geweint. Die vier Frauen und einige weitere Freundinnen, von denen Penka Radkova und Tanja Mihaylova mit zum Prozess gekommen sind, halten eng zusammen und unterstützen sich gegenseitig im Alltag. Ihre Wohnverhältnisse schwanken zwischen Obdachlosigkeit und höchst beengten Arrangements, die oft extrem überteuert sind und nicht selten eine Gegenleistung für Sex- und/oder care-Arbeit für Männer darstellen. Sie arbeiten meist im Reinigungsgewerbe, oft handelt es sich um kurzfristige Gelegenheitsjobs, die von Perioden der Arbeitssuche unterbrochen sind. Ihr soziales Netzwerk setzt sich vor allem aus alten Freund*innen, Kolleg*innen und Verwandten aus der bulgarischen Stadt Pazarjik zusammen. Der selbstorganisierte Arbeitsmarkt auf den Straßen des Münchner Bahnhofsviertels ist einer ihrer Treffpunkte. Auch die Allianz mit der Initiative Zivilcourage ist Teil ihres sozialen Umfeldes. Ich bin voll tiefer Bewunderung für die Frauen, die sich trotz der widrigen Umstände ihren Kampfgeist und ihr Lachen erhalten haben. Gleichzeitig bleibt unsere Beziehung auch eine ungleiche, was immer dann deutlich wird, wenn ich gerade keine Zeit habe, mit bürokratischen Angelegenheiten zu helfen. Ebenfalls offensichtlich wurde dies, als Penka Radkova, gerade obdachlos, bei einer Preisverleihung für die Initiative Zivilcourage früher gehen musste, um sich einen Schlafplatz 74 zu suchen, während ich blieb, um den Preis in Empfang zu nehmen, Sekt zu trinken und mich anschließend in meinen privaten Wohnraum zurückzuziehen. Mit einem Mal ging alles sehr schnell. Der Richter legte kurz den Klageinhalt dar und bat den Arbeitgeber um Stellungnahme. Dieser, ein weißer Mann um die 60 Jahre im Rollstuhl, erklärte mit ruhiger Stimme, er könne sich die Forderungen nicht erklären, „weil wir nachweisen können, dass wir jede gearbeitete Stunde gezahlt haben“. Sein nüchterner und eloquenter Auftritt würde auf mich wohl glaubhaft wirken, wäre ich nicht von der Darstellung der Klägerinnen überzeugt und wüsste, dass ein solcher Betrug gängige Praxis in der Reinigungsbranche ist. Das Verhalten des Unternehmers Dr. Goffmann wurde kontrastiert von Geflüster, Kichern und Handyklingeln im Zuschauerraum. Wir flüsterten uns Kommentare zu über den Unternehmer und die Objektleiterin. Immer wieder versuchte ich, mit einigen Worten das Geschehen ins Türkische zu übersetzen. Dann wandte sich der Richter verärgert an uns im Zuschauerbereich und erklärte, es handele sich um ein Gerichtsverfahren und die Zuhörenden hätten sich still zu verhalten. Ich übersetzte, was er gesagt hatte und wir verstummten. Erst nach kurzem abwartendem Schweigen unter dem strafenden Blick des Richters verstand ich, dass er eine Antwort erwartete. Ich sagte in verhalten herausforderndem Ton „Ja, verstanden.“ - und kam mir dabei vor wie in der Schule. Das letzte Mal hatte mich ein Lehrer auf diese Art und Weise zurechtgewiesen, als ich mich im Unterricht ‚fehl benahm‘. Im Gegensatz zu unserem offensichtlich unpassenden Benehmen brachte Dr. Goffmann sein kulturelles Kapital ganz im Sinne der impliziten Verhaltensregeln des Gerichtssettings zur Geltung. Er lehnte die Forderungen der Klägerinnen nicht nur rundweg ab, sondern stellte auch mit verschiedenen Mitteln ihre Glaubwürdigkeit in Frage. Die Stundenzettel seiner ehemaligen Angestellten nannte er „Notizen, die sehr durcheinander sind“. Sie hätten zudem den Hausmeister verärgert, weil sie während der Arbeitszeit herumgesessen seien. Dann bezeichnete er sie als „verschworenen Familienclan“ und nannte wie nebenbei ein Beispiel, durch das deutlich wurde, was er inhaltlich mit der Bezeichnung „Clan“ verband. Seine Firma hätte eine der Frauen weiter beschäftigen wollen, um ihr „noch eine Chance zu geben“. Diese habe aber abgelehnt mit der Begründung, sie könne sich ihrer Familie - sprich: ihrem „Clan“ - „nicht widersetzen“, sie müsse sich diesem „beugen“. 75 Zum Ende der Verhandlung kündigte der Richter entgegen der Ersteinschätzung der Anwältin an, zu einer Beweisaufnahme einzuladen, da keine Einigung in Sicht sei. Er war sichtlich verärgert: Eine der zwei Parteien mache sich hier der Falschaussage schuldig und er werde nicht zögern, diese strafrechtlich zu verfolgen. Nach etwa 15 Minuten war der Gerichtstermin beendet. Danach trafen sich die Klägerinnen, ihre Begleiterinnen und die Anwältin zu einem kurzen Gespräch im Eingangsbereich des Gerichtsgebäudes. Die Anwältin schätzte die Lage sehr kritisch ein, da der Arbeitgeber und die Objektleiterin glaubwürdig aufträten und die Klägerinnen wenig belastbare Beweise hätten. Außerdem hätten wir uns durch unser auffälliges Verhalten im Gerichtssaal beim Richter jetzt schon unbeliebt gemacht. Wenn die Frauen ihre Anklage nicht glaubhafter machen könnten als der Arbeitgeber seine Verteidigung, müssten sie nicht nur mit einer Niederlage und dem Verlust des ausstehenden Lohns rechnen, sondern gar mit strafrechtlichen Konsequenzen. Die Klägerinnen waren erbost, denn Dr. Goffmann habe dreist gelogen. Er habe sie beleidigt und beschämt. Sie würden die Klage auf keinen Fall fallen lassen. Fragestellung In diesem Kapitel geht es um die Kämpfe der vier Klägerinnen und ihrer Freund*innen. Die Gerichtsverhandlung ist nur ein Ausgangspunkt: Seit Anfang der 1990er Jahre leben die Frauen ein transnationales Leben – mit den, entgegen und über die staatlichen Regulationen und die Interessen der Unternehmen hinaus. Ihre Kämpfe eröffnen Einblicke in aktuelle Prozesse der Prekarisierung von Ausbeutungsverhältnissen, die anhand der Arbeitsverhältnisse im Reinigungsgewerbe und im Kontext des ‚Tagelöhnermarktes‘ skizziert werden sollen, und in die Transformationen des Migrationsregimes zwischen Deutschland und Bulgarien seit den frühen 1990er Jahren. Dabei knüpfe ich an den weiten Arbeitsbegriff neuerer kulturanthropologischer Ansätze an, die an Aushandlungen gesellschaftlicher Transformationen im Feld der Arbeit interessiert sind (vgl. Götz et.al., 2010; Hess & Moser, 2003). Der Münchner Kulturanthropologin Irene Götz zufolge geht es um einen Arbeitsbegriff, 76 „der kreative, eigensinnige Praktiken der Akteurinnen und Akteure in ihrer Verwobenheit mit gouvernementalen Regulationsstrukturen von Arbeit und Nicht-Arbeit einbezieht und insbesondere [um] Wandlungsprozesse, wie sie sich mit den Begriffen vom Fordismus zum Postfordismus oder auch mit Hilfe der Konzepte Flexibilisierung, Subjektivierung und Prekarisierung analysieren lassen.“ (Götz, 2011: 88) Der Fokus dieses Kapitels liegt auf den „kreative[n], eigensinnige[n] Praktiken“ (ebd.), auf den Kämpfen der Migration und der Arbeit und darauf, wie diese in Aushandlung treten mit Prozessen der Prekarisierung, Rassifizierung und Ausbeutung. Ich zeige auf, dass die Arbeitskämpfe nicht von denen der Migration und von sozialen Kämpfen zu trennen sind, und gehe darauf ein, wie Konzeptualisierungen der Prekarisierung und Analysen von Ausbeutungsverhältnissen einander ergänzen können. Dabei nehme ich Bezug auf theoretische Debatten, die Prekarisierung als gouvernementale Regierenstechnologie diskutieren (vgl. Lorey, 2012; Papadopoulos, Stephenson & Tsianos, 2008) und in den – unter dem Namen EuroMayday34 bekannten – sozialen Bewegungen der Prekären der 2000er Jahre ihren Ausgang nahmen. Darauf aufbauend werfe ich die Frage auf, inwiefern die Differenzierung zwischen imperceptible politics (unwahrnehmbare Politiken) und representational politics (sichtbarwerdende Politiken) (vgl. Papadopoulos, Stephenson & Tsianos, 2008; Tsianios, 2007) hilfreich ist, um die aktuellen Kämpfe der EU-Migrant*innen gegen Prekarisierung, Kontrolle und Ausbeutung, die teilweise über den (Sozial-)Staat hinausgehen, aus kulturanthropologischer Perspektive zu verstehen. Als erstes möchte ich aber noch einmal auf die Szene vor Gericht zurückkommen, um genauer zu betrachten, wie die Frauen hier versuchen, der Rassifizierung und 34 Der Euromayday ist ein transnationaler Organisierungsversuch, der auf die Krise der traditionellen Gewerkschaftsbewegungen reagierte, in dem er von der Prekarisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse ausging und nach neuen, kreativen Widerstandsmöglichkeiten und Formen der Kollektivierung der Prekären suchte (vgl. Birkner & Mennel, 2006; Casas-Cortés, 2009; Frassanitos-Netzwerk, 2005). Der traditionelle Arbeiterkampftag des Ersten Mais wurde als (Euro-)Mayday umgetauft. Von Mailand, wo im Jahr 2001 die erste MayDayParade stattfand, breitete sich die Bewegung auf bis zu 40 europäische Städte aus (vgl. Hamm & Sutter, 2010). Ein Archiv der EuroMayDay-Bewegung findet sich auf http://www.protestmedia.net. 77 der disziplinierenden Zurückweisung auf ihre untergeordnete Rolle als Arbeiter*innen zu begegnen. Rassistische Anrufungen vor Gericht In der Szene vor Gericht wurde das ungleiche Verhältnis zwischen Arbeiterinnen und Unternehmer sowohl (re-)produziert wie auch angegriffen. Auf der einen Seite ermöglichte das Gericht als Staatsapparat den Frauen, ihren ehemaligen Arbeitgeber dazu zu zwingen, ihnen gegenüberzutreten und ihn im Sinne des Vertrages über den Verkauf ihrer Arbeitskraft dafür verantwortlich zu machen, dass er ihnen Lohn vorenthalten hatte. Auf der anderen Seite wurden sie mit Dynamiken konfrontiert, die die Ungleichheit des Verhältnisses perpetuierten und das Einfordern ihrer Arbeitsrechte erschwerten. Die Frauen wurden vor Gericht als Angehörige des (migrantischen) Lumpenproletariats angerufen, weil sie sich während der Verhandlung nicht so verhielten „wie es sich gehört“. Weil wir miteinander geflüstert und gelacht hatten, statt der Autorität des Gerichts zu lauschen, weil die Frauen kein Deutsch sprachen, weil sie ein Kopftuch trugen und weil sie Forderungen stellten, die auf handschriftlichen Notizen und mündlichen Aussagen beruhten, entsprach ihr Auftritt vor Gericht dem bürgerlichen Habitus nicht. Das Arbeitsgericht kanalisierte den Arbeitskampf in die Raster der Rechtsform sowie des bürgerlich-disziplinierten und deutschsprachigen Settings, innerhalb dessen ihr - bzw. unser - Auftreten als ungenügend und ungehörig markiert wurde. Das souveräne Auftreten des Arbeitgebers hingegen wurde seitens des Gerichts honoriert. Dass die Situation auch von rassistischen Logiken und Machtverhältnissen geprägt war, lässt sich an der Verwendung des Begriffs „Clan“ festmachen, mit dem der Beklagte die Klägerinnen und ihr Verhalten während des Arbeitsverhältnisses markierte. Das Wort „Clan“ steht als rassistische, antiziganistische Kennzeichnung in der Nähe von Vorstellungen der „Mafia“, organisierter Kriminalität und Bildern „vormoderner“ Gesellschaft (vgl. End, 2014). Dr. Goffmann untergrub die individuelle Vernunft und Freiheit der Frauen, indem er eine Art vormodernen Gruppenzwang skizzierte, der vom „Clan“ ausginge und dem die Individualität der Einzelnen unterläge. Er legte dem Gericht nahe, es habe sich um einen geschickt eingefädelten Betrugsversuch gehandelt - quasi um organisierte Kriminalität. Sein rechtschaffenes Unternehmen und 78 die liberalen Werte der Individualität, Vernunft und Freiheit sehe er von einer kriminellen Clanstruktur bedroht. Der Unternehmer stellte sich so in einer Art Opfer-Täter-Umkehr indirekt selbst als Opfer dar35. Gleichzeitig versteckten sich in dieser Täter-Opfer-Analogie auch sexistische Logiken, indem die Frauen als Opfer patriarchaler Clanstrukturen dargestellt wurden. Verschiedene Studien haben in den letzten Jahren aufgezeigt, wie Frauen in der Migration eher als Opfer von Kriminalität und vormodernen Familienstrukturen, denn als Akteure gesehen werden (vgl. Andrijašević, 2007; Bahl & Ginal, 2009; Bahl, Ginal & Hess, 2010). Darüber hinaus waren die rassistischen Artikulationen, die in der Gerichtsverhandlung zum Ausdruck kamen und insofern sie hier als Gefahren für die persönliche Freiheit, die Emanzipation der Frau und das Selbstunternehmertum konstruiert wurden, typisch für die aktuellen Formationen des postliberalen Rassismus, in denen die liberalen Werte der ,aufgeklärten‘ westlichen Gesellschaft vermeintlich durch illiberale Minderheiten, Fremde, Andere in Gefahr gebracht werden (vgl. Lentin & Titley, 2011; Tsianos & Pieper, 2011). Durch diese flexibilisierten rassistischen Dynamiken, die sich mit dem ungleichen sozialen Verhältnis zwischen den Subproletarierinnen und dem Unternehmer mit bürgerlichem Habitus verschränkten, wurde die Machtposition des Unternehmers vor Gericht gestärkt, während der Widerstandsversuch der Arbeiterinnen sogar davon bedroht war, strafrechtlich verfolgt zu werden. Der rassifizierende Blick des Unternehmers auf seine Angestellten war mir schon zuvor aufgefallen. Als ich die Telefonnummer des Unternehmens im Internet suchte, stieß ich auf seine Internet-Präsenz, in der sich Kontinuitäten kolonialer Blickregime und exotisierender Fantasien von weiblicher, rassifizierter Hausarbeit zeigten. Konkret handelt es sich um das Intro der Website, mit dem Dr. Goffmann potenzielle Kundschaft und andere Besucher*innen begrüßt. Es zeigt eine Figur – den Griff eines Staubwedels? – mit weißem Bastrock – die Haare des Putzwerkzeugs? –, die sich im Takt gedämpfter Tangomusik wiegt. Die Figur ist aus dunkelbraunem Holz, poliert und phallusförmig. Oberhalb von 35 Diese Strategie der Opfer-Täter-Umkehr wurde noch deutlicher, als der Beklagte für den nächsten Verhandlungstermin Polizeischutz für die Objektleiterin beantragte, da diese angeblich während des hier beschriebenen Termins von Seiten der Klägerinnen bedroht worden sei. Die Anwältin der Klägerinnen konnte belegen, dass es sich dabei um eine Lüge handelte, die offenbar als gezielter Versuch der Diffamierung der Klägerinnen dem Gericht gegenüber wirken sollte. 79 dieser ist eine Grafik einmontiert mit großen roten, geöffneten Lippen, zwischen denen zwei sehr weiße Schneidezähne über einer rosa Zunge zu sehen sind. Während sich die augenlose, aber durch den Mund als Gesicht markierte Grafik dem Betrachter zuwendet, weisen die hochhackigen Stiefel, die unterhalb des Bastrocks als schwarze Piktogramme zu erkennen sind, nach rechts. Durch diese Drehhaltung wird der kokette Ausdruck der wiegenden Bewegung noch verstärkt. Bildlich hat der Unternehmer sein Angebot also auf eine historisch entstandene kulturelle Imagination von einer guten Putzkraft als weiblich (sexy, verfügbar, ohne Verstand oder gar aktiven Blick) und Schwarz (primitiv, tanzend, weiße Zähne im lächelnden Mund) abgestimmt – wohl ohne dies selbst zu reflektieren oder zu intendieren, aber nichtsdestotrotz in der Folge der subkutanen Kontinuitäten kolonialer Blickregime, Macht- und Ausbeutungsverhältnisse. Denken wir die Analyse der Ausbeutungs- und Machtverhältnisse in diese Richtung konsequent weiter, entsteht ein Bild von sexualisierten, rassifizierten Marionetten, die nach den Interessen des Kapitals tanzen. Doch dieses Szenario stimmt nicht mit der Realität des Arbeitskampfs von Nadja Bozhkova und ihren Freundinnen, die sich gegen ihre (Über-)Ausbeutung wehrten, überein. Es stellt gesellschaftliche Verhältnisse als zu determiniert dar und unterschlägt, dass diese ein Effekt ständiger antagonistischer Aushandlungen sind. Die Arbeiterinnen lassen sich nicht auf das Bild der Marionetten, noch auf den Gegenentwurf des betrügerischen Clans, aber auch nicht auf Vorstellungen von Klägerinnen im bürgerlichen Rechtsstaat beschränken. Representational und Imperceptible Politics Indem sie vor Gericht gingen, beschritten Nadja Bozhkova und ihre Freundinnen zum einen den staatlich vorgegebenen Weg, um ihre Rechte einzuklagen und ihren Lohn einzufordern. Ziel des Arbeitskampfes war, dass der Unternehmer den vereinbarten Lohn auszahlt. Das Gericht und die staatlich garantierten Arbeitsrechte stellten ein Instrument dafür dar, dieses Ziel durchsetzen zu können. Um es nutzen zu können, mussten die Frauen als Subjekte sichtbar werden, das heißt, sich in die staatlichen Raster der Anerkennung als Subjekt einpassen, um so rechtlich wahrgenommen zu werden. Dies wurde nicht erst während der Gerichtsverhandlung, sondern bereits dann 80 zum Problem, als wir Gerichtskostenhilfe beantragten. Der Zugang zu Prozesskostenhilfe stellte für die Klägerinnen eine Bedingung dar, um überhaupt vor Gericht gehen zu können, da sie ihre Anwältin sonst nicht hätten bezahlen können. Prozesskostenhilfe muss mit einem mehrseitigen Antrag – der als Vorlage nur auf Deutsch zur Verfügung steht – beantragt werden. Als Nachweis der Angaben verlangt die zuständige Stelle eine Reihe von Papieren, zum Beispiel Einkommensnachweise, Kontoauszüge, Mietverträge.36 Die Lebensrealität der Klägerinnen produzierte aber nicht all diese Papiere. Nicht alle der vier Klägerinnen hatten ein Konto, geschweige denn einen schriftlichen Mietvertrag oder gar eine (lückenlose) Dokumentation ihres Einkommens oder überhaupt ein Einkommen – schon alleine deswegen, weil sie nicht durchgängig und nicht immer dokumentiert Geld verdienten. Wir sandten die wenigen vorhandenen Papiere und einen erklärenden Brief ein, aber dies reichte noch nicht aus, um das Problem zu lösen. Bei einer Klägerin äußerte die zuständige Rechtspflegerin schriftlich den Verdacht, dass das „Einkommen aus [sic] Minijob kaum ausreichend für Lebenserhaltungskosten, Mietkosten“ sei, die Klägerinnen also falsche bzw. unvollständige Angaben machten. Wegen eines zu geringen Einkommens – sprich: Armut – verdächtigte sie diese also des Betrugs und wollte den Antrag ablehnen. Erst nach einem langwierigen Telefonat, in dem ich ihr erklärte, dass die prekären Lebensrealitäten der Antragstellenden eben über ihre Vorstellungen eines ‚normalen‘ Lebens hinaus gingen, dass es sich hier um ein Leben ‚von der Hand in den Mund‘ handelte, ließ sie sich von der tatsächlichen Bedürftigkeit und somit dem Anspruch auf Prozesskostenhilfe überzeugen. Die Antragstellenden mussten neben den vorhandenen Papieren nur noch eine eidesstattliche Bezeugung der Hilfebedürftigkeit einreichen. Staatliche Leistungen wie Prozesskostenhilfe zu beantragen, ist für Personen, die (Amts-)Deutsch nicht gut beherrschen und außerhalb der Papiere produzierenden ‚Normalität‘ stehen, also extrem schwierig. Sie müssen erst als anerkannte Subjekte wahrnehmbar werden und sich so in das Raster des „double-r-axiom“ (Papadopoulos, Stephenson & Tsianos, 2008: xiv) einpassen, beziehungsweise die Anerkennung ihrer Lebensform aus der Perspektive des Regierens erstreiten. 36 Diese und ähnliche Papiere sind nicht nur Voraussetzung für Gerichtskostenhilfe, sondern auch für viele andere staatliche Leistungen wie die Grundsicherung für Arbeitssuchende, Sozialhilfe, Notunterbringung, etc. 81 Als „double-r-axiom“ benennen Dimitris Papadopoulos, Vassilis Tsianos und Niamh Stephenson (2008) in ihrem Buch Escape Routes – Control and Subversion in the Twenty-first Century die Kopplung von Rechten und Repräsentation, die das Fundament staatlicher Souveränität darstellt. Subjekten, die der Nationalstaat einer anerkannten sozialen Gruppe zugeordnet hat, teilt er entsprechend ihrer Zuordnung Rechte zu: „[I]n the process of the expansion and consolidation of the nation state, exclusion is not the primary concern; rather what solidifies the centrality of the state in modern sovereigntly is a form of differential inclusion of certain social groups through granting rights (social, civil and political).“ (ebd.: 5) Die Zugehörigkeit von Individuen zum Staat wird auch als Bürgerschaft gefasst, an die Bürgerschaftsrechte geknüpft sind. Bürgerschaft geht im Umkehrschluss immer auch mit Grenzen und mit Souveränität einher: „This is the predicament of citizenship. It feeds from the power of sovereignty to erect and maintain borders – borders that it cannot ultimately fully control. Citizenship cannot be thought outside of sovereignty and control.“ (Papadopoulos & Tsianos 2013: 183) Weil Bürgerschaft also immer schon auf Ausschluss beruht und nicht von der „Desorganisation der Beherrschten“ (Karakayalı & Tsianos, 2002: 263) zu trennen ist, habe ich mich dagegen entschieden, den Begriff der acts of citizenship von Engin Isin und Greg Nielsen (2008) zu nutzen. Statt von Vornherein politische Kämpfe, die sich auch an den Grenzen und außerhalb von bürgerschaftlichen Feldern und (in)formellen Gesellschaftsverträgen bewegen, auf das Feld der citizenship zu begrenzen, konzeptionalisiere ich sie lieber mit den Autor*innen von Escape Routes als imperceptible und representational politics (Papadopoulos, Stephenson & Tsianos, 2008: xv). Representational politics bezeichnet in diesem Rahmen die klassische Form des Stellens von Ansprüchen auf Anerkennung und/oder Ressourcen und/oder Rechte einer sich in Relation mit dem Staat identifizierenden Gruppe. Es geht dabei nicht unbedingt um bürokratische Praktiken, sondern darum, aus der Perspektive des staatlichen Regierens sichtbar zu werden, um Politik im liberaldemokratischen Verständnis. Beispiele für representational politics sind 82 Petitionen, Rechte und Anerkennung fordernde Demonstrationen, aber auch andere Ausdrucksweisen, die Subjekte identifizieren und in deren Namen Forderungen an den Staat stellen. Klassisches Beispiel sind die Forderungen nach Gleichberechtigung von Frauen, Homosexuellen, Menschen mit Behinderung oder Migrant*innen – die Liste lässt sich noch viel weiter führen. Auch wir versuchten, Aufmerksamkeit zu erregen, um die widerfahrene Ungerechtigkeit und die Forderungen der Arbeiterinnen an die Öffentlichkeit zu bringen und so auch den Druck auf den Arbeitgeber zu erhöhen. Neben der Klage vor dem Arbeitsgericht, die sich direkt an den Staat adressierte und Arbeitsrechte einforderte, veranstalteten wir ein Pressegespräch, an dem einige interessierte Journalist*innen teilnahmen. Doch diese erklärten, erst berichten zu können, sobald ein Gerichtsurteil vorläge, denn der Beklagte habe gedroht, sie wegen Rufschädigung rechtlich zu belangen. Die Autor*innen des Buches Escape routes argumentieren aber auch, dass die identitäre Festschreibung und Sichtbarwerdung im Zuge von representational politics dem Interesse des heutigen Regierens entsprechen, weil sie greifbare Subjekte schaffen und sozial-flexible Soziabilitäten einschränken. Zudem seien representational politics angesichts postnationaler und post-liberaler Versuche des Regierens, die nicht mehr auf dem Double-R-Axiom des national-sozialen Staats beruhen, nur noch eingeschränkt wirkmächtig. Neben den representational politics prägen sie den Begriff der imperceptible politics of escape. Diese „unwahrnehmbaren Politiken des Entfliehens und sich Entziehens“ (vgl. auch Lorey, 2011) sehen sie als wichtigste Form des Widerstands in Zeiten der postliberalen Technologien des Regierens, wie der gouvernementalen Regierungstechnologie der Prekarisierung, auf die ich weiter unten noch eingehen werde. Hier möchte ich argumentieren, dass sich auch die Praktiken der Frauen nicht auf die representational politics beschränken ließen, sondern darüber hinausgingen. Schon allein dadurch, dass wir Spaß hatten und im Gerichtsgebäude gemeinsam lachten, entzogen wir uns der Disziplinierung und den Subjekt-Anrufungen vor Gericht vielmehr, als dass wir an ihnen scheiterten. Dies wurde noch unterstützt dadurch, dass wir kollektiv auftraten und gegenseitige Unterstützung übten. So erteilten wir dem Bild der disziplinierten Erwerbstätigen eine Absage. Gleichzeitig drehten wir als kollektiver Akteur auch das rassifizierte Bild des „Familienclans“ um. Statt als passive Opfer die Erzählung 83 des Unternehmers zu untermalen, wurden wir als selbstbewusste, fröhliche Frauen aktiv. Unsere eigenwilligen Praktiken stellten sich also sowohl der Disziplinierung und rassistischen Markierung vor Gericht wie auch der Viktimisierung durch den Arbeitgeber entgegen. Dies geschah aber ohne Intention oder politische Botschaft, sondern bloß aus dem Verlangen heraus, über diese Ordnung hinauszukommen und sich nicht zu stummen, passiven Besucherinnen machen zu lassen. Durch unser Lachen verließen wir das Feld der Politik des Sichtbar-Werdens, die Forderungen an den Staat stellt und durch Sichtbarkeit Erfolg hat, und entwichen in unwahrnehmbare Politiken, in „produktive Subjektivierungsprozesse, in denen [ ], ein überschüssiges Potential an Affektivität und Soziabilität produziert wird, das es ermöglicht, den normativen Strukturierungen zu entfliehen.“ (Pieper, Panagiotidis & Tsianos, 2011) Gleichzeitig war das Ziel der Klage gegen den Arbeitgeber aber nicht, den Versuchen des Regierens vor Gericht zu entgehen, das war sozusagen ein überschüssiges Nebenprodukt, sondern, den vorenthaltenen Lohn einzuklagen. Ob es in Bezug auf dieses Ziel für die Frauen hilfreich (etwa weil wir unberechenbar wirkten) oder doch eher kontraproduktiv war, sich nicht gänzlich an die erwarteten Umgangsformen zu halten, kann schwer festgehalten werden. Nach einigen Monaten Verhandlungen nahmen beide Parteien jedenfalls ein Vergleichsangebot des Richters an und die Klägerinnen erhielten etwa die Hälfte des ursprünglich geforderten Geldes. An die Öffentlichkeit konnten wir mit diesem Ergebnis nicht gehen, da es ja immer noch zu keinem rechtskräftigen Urteil gekommen war. Im Folgenden möchte ich genauer auf den Arbeitskampf der Frauen eingehen. Ich bette ihn in die Arbeitsverhältnisse im Reinigungsgewerbe und in den Kontext des Tagelöhnermarkts ein und frage, inwiefern die Begriffe der Prekarisierung und Ausbeutung zu ihrem Verständnis weiterhelfen. Es stellt sich heraus, dass die Arbeitskämpfe der Frauen nicht getrennt von ihrem Migrationsprojekt zu verstehen sind und auch die Frage nach den imperceptible politics wird wieder eine Rolle spielen. Mehr arbeiten für weniger Lohn?! Migrantische Arbeit im Reinigungsgewerbe 84 Der Arbeitskampf der Frauen ist Teil der aktuellen Entwicklungen im Reinigungsgewerbe als Teil des Niedriglohnsektors und der migrantisch geprägten Segmente des Arbeitsmarktes. Zum einen schwächt die relative Entrechtung migrantischer Lohnabhängiger ihre Verhandlungsstärke gegenüber den Arbeitgeber*innen. Dies trifft zwar ganz besonders bei aufenthaltsrechtlich illegalisierten Personen zu, die durch ihren Status erpressbar werden, weil der*die Arbeitgeber*in sie bei der Polizei anzeigen kann, oder auch bei migrantischen Arbeitnehmer*innen, deren Aufenthaltsgenehmigung an ihre Arbeitsvertrag gebunden ist, denn sie müssen das Land verlassen bzw. in die Illegalisierung abtauchen, wenn ihnen gekündigt wird. Doch auch Unionsbürger*innen haben gegenüber von Inländer*innen weniger Rechte. Ihr Zugang zu sozialen Leistungen wird zunehmend erschwert, wie ich in Kapitel 5 bis 7 diskutiere. Bulgarische und rumänische Staatsbürger*innen durften zudem bis zum 1. Januar 2014 nur mit Arbeitserlaubnis arbeiten, ihre Arbeitnehmer*innenfreizügigkeit war noch eingeschränkt.37 Die Ausschlüsse von Migrant*innen gehen aber über das Rechtliche hinaus und sind tief in rassistischen Praktiken verwurzelt. Insbesondere die Einsprachigkeit der Behörden in einer mehrsprachigen Gesellschaft führt zu erschwerten Bedingungen. Dazu kommen weitere Formen des institutionellen Rassismus, die Migrant*innen tendenziell schnell des ‚Sozialschmarotzens‘, der Wegnahme von Arbeitsplätzen etc. verdächtigen. Schon die polizeiliche Anmeldung, die Voraussetzung für ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis ist, wird (EU-) Migrant*innen oft verweigert, wie noch deutlich werden wird. 37 Die Arbeitserlaubnis-EU musste bei der Zentralen Auslands- und Fachvermittlung (ZAV) für einen konkreten Arbeitsplatz beantragt werden. Die ZAV prüfte, ob es bevorrechtigte Bewerber*innen (Inländer*innen und auch Unionsbürger*innen aus älteren Mitgliedsstaaten) gab und ob die Arbeitsstelle das geltende Arbeitsrecht (z.B. den Tariflohn) erfüllte. Fachkräfte mit Hochschulabschluss mussten bei entsprechend qualifizierter Beschäftigung keine Arbeitserlaubnis-EU beantragen. Seit der Aufhebung der Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist es für Arbeitssuchende tendenziell einfacher, eine dokumentierte Arbeit zu finden. Ich frage in dieser Arbeit aber nicht zentral nach dieser Einschränkung, ihrer Effekte und ihrer Rolle in den Aushandlungen des Regierens der EU-internen Migration. Sie wird im Folgenden nur gelegentlich eine untergeordnete Rolle spielen. 85 Es ist aber nicht nur die besonders Migrant*innen betreffende Politik der Entrechtung und der rassistischen Sonderbehandlung, sondern dazu kommen eine Reihe politischer Instrumente zur Liberalisierung der Arbeitsmärkte, die allesamt zu einer Verschärfung von Ausbeutungsverhältnissen führen. Der Ausbau des Niedriglohnsektors durch die Förderung von flexiblen Arbeitsverhältnissen in Form von Leiharbeit, Minijobs, (Schein-)Selbstständigkeit und Werkverträgen (vgl. Keller, Schulz & Seifert, 2012; Riedner & Zehmisch, 2009; Schröder, 2015) sowie der Abbau von Arbeitsrechten und die neoliberale Umstrukturierung des Sozialwesens zur aktivierenden workfare-Politik (vgl. Hirsch, 2015; Peck, 2001; Wacquant, 2011) verunsichern Arbeits- und Lebensverhältnisse, erhöhen Profitspannen und betreffen einen Großteil der Bevölkerung. Private Unternehmen wie auch öffentliche Einrichtungen lagern anfallende Reinigungsarbeiten seit den 1970er Jahren zunehmend an private Reinigungsunternehmen aus und entledigen sich so der direkten Verantwortung und arbeitsrechtlichen Verpflichtungen gegenüber den Lohnabhängigen. Die preisgünstigsten Angebote bekommen den Zuschlag für die ausgelagerten Reinigungsaufträge; es entsteht ein harter Wettbewerb – ein race to the bottom. Reinigungsunternehmen haben kaum eine andere Möglichkeit als die Lohnschraube anzuziehen, um im Wettbewerb zu bestehen und ihren Profit zu maximieren. Denn die Personalkosten machen mit bis zu 87 Prozent den größten Anteil der Ausgaben der Betriebe aus, wie eine im Jahr 2005 veröffentlichte Studie zeigt (vgl. Gather et al., 2005). Um die Lohnsenkungen zu begrenzen, gibt es seit 2007 einen tariflichen Mindestlohn. Doch garantiert der im Reinigungsgewerbe geltende Mindestlohn von 9,31 Euro brutto (Stand 2014), der bei Vollzeitarbeit einem Netto-Monatsgehalt von etwa 1000 Euro pro Monat entspricht, in München kaum einen guten Lebensstandard. Zudem wird auch dieser Mindestlohn systematisch unterschritten. Im Rahmen meiner Arbeit im Workers’ Center habe ich regelmäßig Arbeiter*innen dabei unterstützt, gegen Lohnbetrug vorzugehen. Dabei sind mir auch in anderen Branchen des Niedriglohnsektors, zum Beispiel in der Baubranche, eine Reihe von Strategien der Unternehmen begegnet, die Löhne zu senken, etwa durch versteckte Akkordarbeit (wenn die Stundenzahl pro Fläche oder Stückzahl festgesetzt wird), durch unbezahlte Probe- und Überstunden oder durch gefälschte Abrechnungen. 86 Immer wieder waren die Arbeitgeber*innen auch einfach nicht mehr zu finden. Es ist festzuhalten, dass die Bandbreite der Arbeitsverhältnisse von im Niedriglohnbereich arbeitenden Unionsbürger*innen weiter gefasst ist, als die öffentlich werdenden Berichte von fast ausnahmslos undokumentierten, extrem ausbeuterischen Verhältnissen glauben machen.38 Zum einen gehen nicht alle Arbeitsverhältnisse über den gesellschaftlich akzeptierten Grad der Ausbeutung hinaus, zum anderen sind nicht alle Arbeitsverhältnisse undokumentiert. Neben den regulären sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungen mit Arbeitserlaubnis und selbstständigem Kleinunternehmertum gibt es nicht nur gänzlich informelle, mündliche Arbeitsverträge39, sondern auch eine große Bandbreite dazwischen. Wichtig ist hier herauszustellen, dass weder formalisierte Beschäftigungsverhältnisse vor Lohnbetrug gefeit noch informelle Beschäftigungsverhältnisse automatisch überausbeutend sind. Die Arbeitnehmer*innen wechseln oft den Arbeitsplatz - sei es, weil sie kündigen oder weil sie gekündigt werden; die Fluktuation ist also insgesamt sehr hoch. Immer wieder finden Arbeiter*innen aber auch längerfristige Anstellungen mit festen Arbeitszeiten. Den üblichen 38 Auch in meiner Forschung liegt ein Bias vor, da im Workers’ Center der Initiative Zivilcourage und in anderen Beratungsangeboten natürlich diejenigen Arbeiter_innen vermehrt Unterstützung suchen, die betrogen wurden. In Bezug auf den selbstorganisierten Arbeitsmarkt kann ich nur die Arbeitsverhältnisse, die mir während meiner Arbeit im Workers’ Center begegneten, umreißen. Das Bild von den Arbeitsverhältnissen, das ich aus der Erfahrung im Workers’ Center heraus zeichnen kann, ist deswegen sicherlich ein einseitiges, weil Arbeitnehmer*innen, die mit ihrem Arbeitsverhältnis zufrieden waren, keinen Grund hatten, unsere Unterstützung zu suchen und Dienstag vormittags tendenziell auch arbeiteten. Von Arbeitsverhältnissen, mit denen die Arbeiter*innen zufrieden waren, erfuhr ich nur, wenn ich direkt nach vergangenen Arbeitsverhältnissen fragte oder mich mit von früher bekannten Personen über ihre aktuelle Lohnarbeit unterhielt. Für eine genauere Analyse der Arbeitsverhältnisse war meine Forschung, wie in der Einleitung erwähnt, nicht ausgelegt. Dazu wäre es unter anderem sinnvoll gewesen, am Arbeitsplatz zu forschen. 39 Auch wenn informellen Arbeitsverhältnissen im Diskurs zu Migration meiner Ansicht nach überdurchschnittlich viel Aufmerksamkeit gewidmet wird, sind sie selbstverständlich kein Alleinstellungsmerkmal migrantischer Arbeit, sondern auch unter Lohnabhängigen mit deutschem Pass weit verbreitet. 87 Stundenlohn schätze ich auf 8 bis 15 Euro (brutto) ein. Oft handelt es sich um schwere körperliche Gelegenheitsarbeiten, die wenig oder keine Ausbildung benötigen und deswegen spontan anzuwerben und auch zu kündigen sind. In einer Art Zirkulationsverfahren können Arbeitgeber*innen ihre ungelernten Kräfte abstoßen, sobald diese etwa den verabredeten Lohn verlangen, und haben aufgrund des großen Angebots schnell neue Arbeitskraft zur Hand. Arbeitsverhältnisse bestehen oft nur für einige Wochen oder Monate. Die Arbeitsplatzmobilität kann auf der anderen Seite aber auch als Verhandlungsstärke der Arbeiter*innen betrachtet werden, worauf ich später noch zurückkommen werde (vgl. Alberti, Holgate & Tapia, 2013). Viele Arbeiter*innen fanden aufgrund ihrer Türkischkenntnisse Zugang zu türkischsprachigen ökonomischen Netzwerken, die vor allem von ehemaligen „Gastarbeiter*innen“ im Laufe der letzten Jahrzehnte aufgebaut wurden. Oft arbeiten Subunternehmen den größeren Reinigungsunternehmen zu und es entstehen schwer nachvollziehbare Ketten an Sub-Sub-Subunternehmen. Dies trägt zur Stratifizierung der Arbeitsverhältnisse bei, so dass die Beschäftigten an einem Arbeitsplatz verschiedenen Chefs unterstellt sind und sich schwieriger kollektiv organisieren können. In diesem Kontext haben Nadja Bozhkova und ihre Freundinnen Anfang 2014 - direkt nach dem Wegfall der Einschränkung der Freizügigkeit für bulgarische und rumänische Staatsbürger*innen - für knappe sechs Wochen in einem öffentlichen Münchner Gymnasium als Reinigungskräfte gearbeitet. Ohne weitere Subunternehmen waren sie direkt bei dem Unternehmen Dr. Goffmann sozialversicherungspflichtig dokumentiert angestellt. Sie putzten Klassenräume, Büros, Toiletten und Gänge und arbeiteten so lange, bis die vorgegebene Fläche gereinigt war. Die Stundenzahl vermerkten sie auf einem Notizzettel. Mitte Februar endete dann das Arbeitsverhältnis im Zuge der Auseinandersetzung um die Höhe der Lohnzahlungen. Das Unternehmen hatte nämlich weniger Stunden abgerechnet, als die Arbeiterinnen auf ihren Stundenzetteln vermerkt hatten. Vereinbart hatten sie den tariflichen Mindestlohn von 9,31 Euro pro Stunde brutto. Gezahlt wurde aber nicht pro gearbeiteter Stunde, sondern für eine festgesetzte, pauschale Stundenzahl pro Fläche. So wurden an neun Tagen nur vier Stunden abgerechnet, während die 88 Frauen jeweils sechs Stunden notiert hatten.40 Zudem erhielten sie für die ersten drei Tage und die letzte Woche gar keine Bezahlung. Nadja Bozhkova und Bozhurka Chavdarova wurden so von 166 notierten Stunden nur 96 ausgezahlt. Auch die rechtlich zustehenden Zuschläge für Nacht- und Feiertagsarbeit wurden nicht beglichen. Das Unternehmen hatte unter dem Deckmantel von ‚Probezeit‘ bzw. unbezahlter Vorableistung und durch versteckte Akkordarbeit Lohnkosten eingespart. Aber Nadja Bozhkova und ihre Freund*innen ließen sich das nicht gefallen. Zuerst leisteten sie am Arbeitsplatz Widerstand, indem sie gemeinsam arbeiteten, statt alleine, und Pausen machten. So kam es schon während der Arbeitszeit zu Konflikten. Nonka Angelova, die gar keinen Vertrag hatte, berichtete, wie ihr die Objektleiterin eines Tages Hausverbot erteilte, sie beleidigte und ihr den ausgestreckten Mittelfinger zeigte, weil sie ihren Freund*innen bei der Arbeit geholfen hatte. Nachdem die Frauen im Zuge der Auseinandersetzungen um ihren Lohn die Arbeit verloren hatten, riefen sie das Unternehmen mehrmals an und suchten das Büro des Unternehmens persönlich auf, um ihren Lohn einzufordern. Als dies zu keinem Erfolg führte, suchten sie sich Verbündete und kamen in das Workers’ Center. Auf Grundlage ihrer Stundenzettel und des tariflichen Mindestlohns überschlugen wir die ausstehenden Beträge von etwa 700 Euro brutto pro Person. Ich sollte den Arbeitgeber anrufen und das Geld einfordern. Die Gesprächspartner*innen, die sich dort meldeten, wirkten auf mich durchweg sehr hilfsbereit und eloquent. Sie versicherten, das Unternehmen sei rechtschaffen, eben „keine dieser Hinterhoffirmen“, und die Angelegenheit würde selbstverständlich geklärt. Tatsächlich schickten sie uns auf unsere Aufforderung hin die Lohnabrechnungen der Frauen zu. Auf Grundlage dieser Abrechnungen, des Mindestlohn- und Rahmentarifvertrages und der Stundenzettel der Frauen erstellten wir Geltendmachungen - schriftliche Zahlungsaufforderungen mit Angabe der Stundenzahlen und des ausstehenden Betrages. Die versprochene Stellungnahme wurde über zwei Monate lang Woche für Woche hinausgeschoben. Wir blieben hartnäckig, fragten jede Woche telefonisch nach, erhielten 40 Nach Aussage der Anwältin der Klägerinnen ist dies gängige und sogar transparente Praxis im Reinigungsgewerbe, hat aber im Falle von Klagen normalerweise keinen Bestand vor Arbeitsgerichten. 89 aber bis auf aufschiebende Worte keine weitere Reaktion. Schließlich entschieden sich die Frauen, vor Gericht zu gehen.41 Inzwischen hatten sie schon längst neue Arbeit gefunden. Zümbül Eseva und Bozhurka Chavdarova reinigten KIK und EDEKA Filialen, während Nadja Bozhkova Reinigungskraft bei Karstadt war. Sie arbeiteten für eine Subunternehmerin, die für verschiedene Auftraggeber*innen tätig war. Auch hier waren sie nicht ganz zufrieden, weil sie unbezahlte Überstunden leisten mussten. Diesmal wollten sie aber (noch) nicht gegen die Arbeitgeberin vorgehen, weil sich die Überstunden in Grenzen hielten. Ausbeutung und Überausbeutung Dem marxistischen Verständnis von Ausbeutung folgend, verstehe ich das Verhältnis zwischen Unternehmer und Lohnarbeiterinnen als ein antagonistisches.42 Dr. Goffmann zahlt nur einen Teil des Wertes, der durch die Arbeit der Lohnabhängigen entsteht, als Lohn sowie indirekten Lohn in Form von Sozialabgaben an die Arbeiter*innen aus. Um seinen Profit zu steigern, liegt es in seinem Interesse, die Lohnkosten zu senken. Im Interesse der Arbeiterinnen liegt es hingegen, möglichst viel für den Verkauf ihrer Arbeitskraft zu erhalten - bzw. in diesem Fall mindestens so viel wie eben anfangs und im Rahmen der staatlichen Tarifvereinbarung vereinbart worden war. Eine andere Konfliktlinie in Ausbeutungsverhältnissen läuft entlang der Produktivität und Effizienz der Arbeitskraft. Auch bei den Frauen ging es schon während der Arbeitszeit um die Frage, wie viel Fläche sie in wie viel Zeit reinigen sollten und wie viele und wie lange ihnen Pausen zustanden. Ein Vorteil des Marxschen Konzepts von Ausbeutung ist, dass es ein soziales Verhältnis beschreibt, in das die Widersprüche und die Widerständigkeit der 41 In vielen Fällen haben wir außergerichtlich Löhne eingetrieben. Zum Beispiel erhielten vier Arbeiter, die Münchner U-Bahnhöfe gereinigt hatten und insgesamt Euro 4.309,50 forderten, von dem Subunternehmer über 3.000 Euro ausgezahlt. Die Zahlung folgte auf unsere telefonischen und schriftlichen Zahlungsaufforderungen, die sich über mehrere Wochen erstreckten. 42 Der Kampf für bessere Arbeitsverhältnisse wird dann erst ein Kampf gegen Ausbeutung an sich, und nicht gegen zu viel Ausbeutung, wenn es sich um einen Kampf handelt, der sich ganz grundsätzlich gegen die Verhältnisse der Lohnarbeit richtet. 90 Lohnarbeiter*innen schon eingeschrieben sind. Zudem wird durch eine solche Perspektive, die Ausbeutungsverhältnisse nicht als Ausnahme, sondern als Grundlage kapitalistischer Arbeitsverhältnisse begreift, der Analysefehler vermieden, dass Ausbeutung eine Ausnahme sei, die nur Arbeitsmigrant*innen, andere ‚Randgruppen‘ oder besonders skandalöse Arbeitsverhältnisse betrifft. Um aber genauer zu analysieren, in welchen Ausbeutungsverhältnissen die EU-migrantischen Arbeiterinnen gearbeitet haben, möchte ich auf die Begriffe der Überausbeutung und Debatten zur Prekarisierung zurückgreifen, die ich in der Einleitung schon angeschnitten habe. Nach Étienne Balibar ist die „permanente Tendenz zur Überausbeutung“ (Balibar, 1998: 216) Kennzeichen kapitalistischer Produktionsprozesse, die darauf angewiesen sind, die Profitrate immer weiter zu steigern. Überausbeutung gerät dabei aber leicht in ein Spannungsfeld mit der „rationellen Organisation der Ausbeutung“ (ebd.) etwa „wenn die Masse der Arbeiter auf einem sehr niedrigen Lebens- und Qualifikationsniveau gehalten oder wenn es keine Sozialgesetzgebung und demokratische Rechte gibt, die anderswo zur organischen Bedingung der Reproduktion und des Einsatzes der Arbeitskraft geworden sind.“ (ebd.) Sebastian Friedrich und Jens Zimmermann (2015) haben vorgeschlagen, den Begriff der Überausbeutung explizit in Bezug auf die Arbeitsverhältnisse von Migrant*innen zu verwenden. Die mit Rassismus verschränkte Form von Überausbeutung43 funktioniere „nur, wenn es Diskurse sowie juristische, politische und ökonomische Praktiken gibt, die ‚migrantische Arbeitskraft‘ formieren und ihre Ausbeutung ‚unter dem Schnitt‘ legitimieren. [...] Rassismus als soziale Praxis [...] sedimentiert sich in spezifischen Formen kapitalistischer Ausbeutung.“ (ebd.) 43 Sie definieren Überausbeutung als „eine intensivere Ausbeutung der Arbeitskraft durch Verringerung der Produktionskosten. Entweder, indem ein im Verhältnis zum gesellschaftlichen Durchschnitt geringerer Lohn gezahlt wird oder indem die Arbeitszeit im Verhältnis zum gesellschaftlichen Durchschnitt verlängert wird“ (Friedrich & Zimmermann, 2015). 91 Während es auf der einen Seite zu kurz griffe, Migrationsregime und Rassismus als Werkzeuge in den Händen des Kapitals und Lohnabhängige als nackte Arbeitskraft zu analysieren, heißt dies nicht, dass es keinen Zusammenhang zwischen Regimen der Migration und Ausbeutungsverhältnissen gibt. Auch dies wird deutlich an der Geschichte und den Arbeitsverhältnissen der vier Frauen. Sie mussten auch deswegen relativ schlechte, überausbeutende Jobs annehmen, weil ihre Verhandlungsstärke durch die rassistische Strukturierung des Arbeitsmarkts und des öffentlichen Diskurses, durch Ausschlüsse von staatlichen Leistungen und die Illegalisierung ihrer Arbeit über Jahre geschwächt wurde.44 Prekarisierung als Technologie des Regierens und Quelle von Widerstand Der aktuelle Prozess der Verunsicherung von Arbeits- (und Lebens-) verhältnissen wird auch als Prekarisierung bezeichnet. In der weit gefächerten Forschungslandschaft zu den Stichworten Prekarität, Prekarisierung und Prekariat beziehe ich mich weniger auf die soziologischen Kategorisierungen des einflussreichen französischen Soziologen Robert Castel (2000, 2009), die im deutschsprachigen Bereich vor allem durch Klaus Dörre und seine Kolleg*innen (vgl. z.B. Brinkmann et al., 2006) bekannt geworden sind und die Gesellschaft in verschiedene Grade der Verunsicherung einteilen, sondern auf Versuche, Prekarisierung als antagonistisches Feld zwischen Technologien des Regierens und den überschüssigen Praktiken der Arbeiter*innen zu konzeptionalisieren. Wird der Begriff Prekarität oder insbesondere die Zuschreibung ‚Prekariat‘ als soziologische Kategorie zur Erklärung gesellschaftlicher Verhältnisse verwendet, droht er soziale Grenzen zu verschleiern (vgl. Lehnert, 2009: 27). Dies lässt sich exemplarisch festmachen an den Unterschieden zwischen der sozialen Positionierung der migrantischen Reinigungsarbeiterinnen und der sozialen Verhältnisse der Akademiker*innen (inklusive mir), die sie begleiten. Dass sowohl die Klägerinnen als ungelernte EU-migrantische Reinigungskräfte wie auch ich als Nachwuchsakademikerin mit Promotionsstipendium von Prekarisierung betroffen sind, 44 Es spielen sicherlich auch weitere Faktoren eine Rolle, wie die Segmentierung des Arbeitsmarktes und auch der Zugang zu Weiterbildungsmöglichkeiten. 92 ändert kaum etwas daran, dass sie als Angehörige des migrantischen Subproletariats und ich als weiße, deutsche Bildungsbürgerin doch über sehr unterschiedliche ökonomische, soziale und kulturelle Ressourcen, gesellschaftliche Handlungsmöglichkeiten und Zukunftsperspektiven verfügen. Trotzdem erscheint mir die Frage interessant, welche Widersprüche sich in prekarisierten Verhältnissen auftun und welche Bündnisse und Widerstandsformen entstehen. Dabei orientiere ich mich an Forschungen zu und aus der EuroMayDay-Bewegung und vor allem an der Arbeit der Sozialwissenschaftlerin Isabel Lorey, die in Jahr 2012 das Buch Die Regierung der Prekären veröffentlicht hat. Sie spricht sich dagegen aus, Prekarität im Sinne Castels (2000) – oder auch im Sinne von Richard Sennett kulturpessimistischen Warnung vor der „Zersetzung des Charakters“ (Sennett, 1998) – „allein als Bedrohung und Unsicherheit“ (Lorey, 2012: 60) zu konzipieren, denn im „Modus der Abweichung“ (ebd.) sei es nicht möglich, die Prozesse der Prekarisierung treffend zu analysieren. Dem hingegen gelte es zu fragen: „In welcher Weise wird […] soziale Unsicherheit gegenwärtig zu einem Bestandteil gesellschaftlicher Normalität?“ (ebd.: 60). Zudem argumentiert sie, dass Prekarität an sich nicht neu sei, sondern viel eher nur für einen Teil der Bevölkerung – nämlich den männlichen, sesshaften, heterosexuellen und weißen Teil – im Sozialstaat des Fordismus durch soziale Absicherung entschärft worden sei (vgl. auch Götz, 2012). Lorey unterscheidet zwischen drei Dimensionen des Prekären: Das Prekärsein, die Prekarität und die Prekarisierung. Beim Prekärsein – in Anlehnung an Judith Butlers „precariousness“ (Butler, 2006) – geht es um die „Gefährdetheit von Körpern, nicht nur weil sie sterblich, sondern gerade weil sie sozial sind“ (Lorey 2012, 26). Das Prekärsein lässt sich also nicht als individuelles, sondern nur als soziales, geteiltes Phänomen begreifen. Bei der zweiten Dimension des Prekären, der Prekarität, handelt sich um „gesellschaftliche Positionierungen der Unsicherheit“ (ebd.: 26), als Effekt gesellschaftlicher Macht- und Ungleichheitsverhältnisse, die mit Rasterungen, Aufteilungen und Prozessen des Othering einhergehen. Die dritte Dimension ist eine dynamische: Prekarisierung als „biopolitische Gouvernementalität“, der es darum gehe, Absicherung soweit wie möglich zu minimieren und Prekarität zu maximieren – „an der Schwelle noch tolerierbarer sozialer Verletzbarkeit“ (ebd.: 88). Nach Michel Foucault definiert Lorey biopolitische Gouvernementalitat als „die strukturelle Verstrickung zwischen der Regierung eines Staats und den 93 Techniken der Selbstregulierung in modernen okzidentalen Gesellschaften“ (ebd.: 39). Diese Form des Regierens sei entstanden, „als das Leben in die Politik eintrat” (Lorey, 2007), mit dem Beginn der Biopolitik des späten 18. und 19. Jahrhunderts. Die biopolitische Gouvernementalität normalisiert Prekarisierung und geht mit Neoliberalismus einher, während der liberale Sozialstaat darauf beruht hat, Prekarität zu bekämpfen – auch durch den Ausschluss der als Gefahr stilisierten besonders prekären Anderen: „Im Neoliberalismus befindet sich Prekarisierung nun in einem Normalisierungsprozess, in dem zwar liberale Ordnungsmuster der Prekarität modifiziert weiterbestehen, aber so, dass das existenzielle Prekärsein sich nicht mehr gänzlich durch die Konstruktion bedrohlicher Anderer verschieben und als Prekarität abwehren lässt; es artikuliert sich vielmehr in der individualisierten gouvernementalen Prekarisierung der neoliberal Normalisierten.“ (Lorey 2012, 28) Neben der Aufmerksamkeit für Soziabilitäten und Versuche des Regierens erlaubt Loreys Theorie des Prekären zudem, gesellschaftliche Widersprüche und Antagonismen in die Analyse mit einzubeziehen. Sie macht nachvollziehbar, wie Flexibilität sowohl Ausbeutungsmodus und Widerstandsstrategie sein kann und weist darauf hin, das Arbeitskraft durch unbezahlte care-Arbeit reproduziert wird, die kapitalistische Wirtschaftsweisen stabilisiert, aber auch gleichzeitig Ausgangspunkt für Praktiken des Entziehens und des Widerstands ist. Hier trifft sich ihre Theorie des Prekären mit dem Konzept der imperceptible politics. Auch Vassilis Tsianos warnt davor, Prekarität im Sinne Castels als soziologische Kategorie zu verwenden und verweist auf den Exzess, der von jenem kategorialen soziologischen Zugriff eben nicht erfasst und vereinheitlicht werden kann, sondern über ihn hinausgeht: „In order to avoid just another apolitical sociological category, we need to focus on the ruptures, blockades, and the lines of flight which are immanent in the configuration of precarious labour. [...] Today’s emergent social subjectivities cannot be described as one unified social actor with the same position in production and the same characteristics.“ (Tsianos, 2008: 198) 94 Doch wie entsteht dieser Überschuss genau? Wie ist politische Praxis möglich, die sich nicht im Sinne der representational politics als Subjekt kategorisiert und Rechte fordert? Nach Isabel Lorey ist die „Voraussetzung für die Entfaltung einer solchen konstituierenden Macht [...] die gemeinsame Verweigerung und der gemeinsame Exodus, nicht um in der Negation oder der dekonstruktiven Infragestellung zu verweilen, sondern um Neu-Zusammensetzungen erfinden zu können.“ (Lorey, 2012: 134) Die Potenzialität, Prekarisierung als Regierungstechnologie zu unterwandern, entstehe durch „die permanenten singulären Verweigerungen, die kleinen Sabotagen und Widerständigkeiten des prekären Alltags“ (ebd). Für Tsianos entsteht der Überschuss der imperceptible politics of escape genau in den prekarisierten Situationen, in denen sich die fordistischen Sicherungssysteme zurückgezogen haben und die Ausbeutungsverhältnisse so verschärft sind, dass weder Lohn noch soziale Leistungen das Überleben, ein gutes Leben und/oder Soziabilität ermöglichen und die Menschen in diesem ‚gap‘ produktiv werden: „[T]here is nothing mystical about this excess of sociability and subjectivity; it arises in specific conditions; i.e. when there is an unbreachable gap between the conditions of work and its remuneration, a gap with which people have to live. And by investing in this incommensurable gap, people create an excess to the work they do. People mobilise social and personal investments in order to produce (e.g. social relations, networks, ideas) – some of this is entailed in the ‚final product‘, but much remains outside of it.“ (Tsianios, 2007: 190) Mir geht es hier weder darum, Prekarisierung, Armut und die alltäglichen Praktiken und Kämpfe in solchen Verhältnissen zu glorifizieren, noch möchte ich behaupten, dass extreme Verarmung notwendig ist, um im Sinne der imperceptible politics politisch zu handeln, sondern ich möchte die alltäglichen Praktiken des Sich-Entziehens, der Mobilität und der gegenseitigen Unterstützung als politische Praktiken aufzeigen. Die ethnografische Forschung der Sozialwissenschaftlerin Gabriella Alberti (2014) zu migrantischen Arbeiter*innen im Londoner Hotelgewerbe ist meiner Meinung nach ein Beispiel dafür, wie escape als politische Praxis 95 wahrgenommen werden kann, ohne sie zu idealisieren. Sie zeigt, wie sich migrantische Arbeiter*innen gegen schlechte Arbeitsbedingungen wehren, indem sie Arbeitsplätze und lokale Arbeitsmärkte verlassen. Ihre These ist, dass sich in der Exit-Strategie – der „transnational exit power“ (ebd.: 1) – Arbeiter*innenmacht ausdrücke, welche die Annahme, dass migrantische Arbeiterinnen schlechte Arbeitsbedingungen akzeptieren müssen, zurückweise. „[M]igrants in this study, drawing on their circuits of trans-local connections, appeared to find effective ways to overcome these constraints and improve their harsh working lives through their occupational and geographical mobility.“ (Alberti, 2014: 13) Gleichzeitig würden Migrationskontrollen migrantische Arbeiter*innen besonders anfällig für unsichere und kurzfristige Jobs machen. So macht auch Alberti auf die Widersprüche und Spannungsverhältnisse aufmerksam, die in der Mobilität der Arbeit zum Ausdruck kommen: „migrants’ mobility and temporariness appear to constitute a double terrain of control and resistance against the precarious conditions of life and work“ (Alberti, 2014: 14, Hervorhebung im Original). Der Widerstand käme auch darin zum Ausdruck, dass die Arbeiter*innen sich nicht nur an ökonomischen Rationalitäten ausrichteten, sondern ihre Praktiken an sozialen Bindungen oder Sympathien für bestimmte Orte orientierten und so unberechenbar blieben. Was hat dies nun mit dem Arbeitskampf und den sozialen Verhältnissen der Klägerinnen zu tun? Loreys Theorie des Prekären erlaubt erstens, ihre Arbeits- und Lebensverhältnisse in der aktuellen historischen Konjunktur zu kontextualisieren und die unsicheren und von Mangel geprägten Lebensverhältnisse der EU-migrantischen Arbeiter*innen nicht als Ausnahme, sondern als Norm in der heutigen Gesellschaft zu begreifen. Außerdem schärft die konzeptuelle Unterscheidung zwischen Prekär-Sein, Prekarität und Prekarisierung den Blick auf Versuche des Regierens und ihre Effekte. So ist die Verunsicherung der Arbeitsverhältnisse der vier Frauen durch die Deregulierung des Arbeitsmarktes und den Ausbau des Niedriglohnsektors in den Kontext der Prekarisierung zu setzen. Gerade im Bau- und Reinigungsgewerbe wurde Lohnarbeit durch die Förderung von Selbstständigkeit und Leiharbeit in den letzten Jahren durch Gesetzesänderungen aktiv verunsichert. Diese sind von 96 Techniken der Selbstregulierung, etwa der Anrufung des „unternehmerischen Selbst“ (Bröckling, 2013), durchkreuzt, aber nicht auf diese zu begrenzen. Die Frage, welche Rolle die gouvernementale Prekarisierung in den Regimen der Arbeit und Migration in München spielen, wird später in dieser Arbeit noch vertieft Thema sein. So werde ich in den Kapiteln 5 bis 7 thematisieren, wie die Gestaltung des Zugangs zu sozialen Leistungen für Unionsbürger*innen von der Prämisse geprägt ist, soziale Leistungen nicht mehr als Grundrecht, sondern als Aktivierungswerkzeug für erwerbsfähige Individuen zu betrachten. Drittens erlaubt dieser Analyserahmen, nach widerständigen Praktiken zu fragen, ohne sie auf Politiken des Sichtbarwerdens zu reduzieren und gleichzeitig für die Ambivalenzen der Politiken der Konstituierung und des Entgehens zwischen Exzess und kapitalistischer Aneignung aufmerksam zu sein. Vor diesem Hintergrund möchte ich die Arbeitskämpfe der vier Frauen und ihrer Freundinnen im Kontext ihres transnationalen Migrationsprojekts verorten. Transnationale Migrationsprojekte Die Schwestern Nadja Bozhkova und Bozhurka Chavdarova, zwei der Klägerinnen, und ihre Freundinnen führen seit über zwanzig Jahren ein transnationales Leben zwischen Pazarjik und München, wobei die kurzen Aufenthalte in Bulgarien meist zur Erholung dienen - denn ihr Leben in München ist, wenn sie gerade keine Arbeit und keinen Wohnraum haben, oft noch entbehrungsreicher als in Pazarjik. Sie sind heute beide um die 50 Jahre alt. Anfang der 1990er Jahre war Nadja Bozhkovas Schwester Nonka Angelova als erste aufgebrochen. Nonka Angelova kam als Touristin nach München und suchte sich eine undokumentierte Arbeit in einer Gärtnerei. Zuvor hatten sie über Jahre hinweg Autoteile und Gemüsekonserven produziert, aber nachdem die Fabriken mit dem Ende der realsozialistischen bulgarischen Volksrepublik dicht machten, gab es für sie in Pazarjik keine Arbeit mehr. Dazu kam, dass sie aufgrund ihrer Diskriminierung als Angehörige der türkischen Minderheit in Bulgarien ihre Jobs als erste verloren hätten, so erzählte mir Nadja Bozhkova in einem Interview. Staatliche Unterstützung habe es so gut wie keine gegeben, dafür aber ein Darlehen bei der Bank, dessen Rückzahlung sie zusätzlich belastete. Ihre Freundin Zümbül Eseva 97 folgte Nonka schnell und kam ebenfalls nach München. Nadja Bozhkova blieb erst zurück, um sich um ihre Kinder zu kümmern. Sie lebte in einem Haushalt mit ihrer Freundin Penka, während der Vater der Kinder meist abwesend war, viel trank und „nicht einmal ein paar Socken“ zum Lebensunterhalt beisteuerte. Als Penka Radkova als Letzte der Freundinnen die Arbeit in der Fabrik verlor, übernahm sie die Erziehungsarbeit von Nadja Bozhkovas Kindern und diese folgte ihren Freundinnen und ihrer Schwester nach München. Sie erinnert sich gern an ihre erste 24-stündige Busfahrt von München nach Pazarjik zurück, da sie diese als ein großes Abenteuer wahrgenommen hatte. Bozhurka Chavdarova und ihre Tochter Danka kamen später nach. Dies alles geschah nicht in einem luftleeren Raum, sondern in den geopolitischen Verschiebungen der postsozialistischen Transformationen bzw. kapitalistischen Restrukturierungen in Bulgarien und des umkämpften Projekts EU. Bis 1991 war Bulgarien eine realsozialistische Volksrepublik, in der (offiziell) Vollbeschäftigung herrschte. Mit deren Ende näherte Bulgarien sich schnell der EU an. Innerhalb von zehn Jahren öffnete Bulgarien seine Märkte für die EU und passte seine Gesetze an die Vorgaben der EU an. Dies beinhaltete die Rationalisierung und Privatisierung der zuvor zentral gesteuerten Staatsbetriebe und die Restrukturierung der Sozialsysteme nach dem marktwirtschaftlichen Vorbild des Westens. Diese neoliberale Umstrukturierung führte zum Wegfall vieler Arbeitsplätze. „In most eastern European countries, privatization accompanied by redundancies and the introduction of hard budget constraints has resulted in large-scale job losses.“ (Van der Hoeven & Sziraczki, 1997: 10,) so stellt eine von der International Labour Organization (ILO) publizierte Studie fest, die die Konsequenzen von Privatisierungspolitiken auf die Arbeitsmärkte in „developing countries and transition economies“ (ebd.), u.a. in Bulgarien, untersucht hat. Die Klägerinnen und ihre Freundinnen gehören zu den über 50.000 Personen, die in den ersten postsozialistischen Jahren ihre Arbeit in der Lebensmittelproduktion verloren haben (vgl. ebd.).45 Gleichzeitig stie45 Die Statistik der ILO gibt an, dass von 107.300 Arbeitsplätzen vor dem Ende des Realsozialismus in der Lebensmittelproduktion (food manufacturing) 1996 nur noch 55.600 übrig waren (vgl. International Labour Organisation 2001). 98 gen die Lebenshaltungskosten dramatisch an. Nadja Bozhkova erzählte, dass Grundnahrungsmittel inzwischen etwa für den gleichen Preis zu kaufen wären wie in Deutschland, während die Löhne immer noch viel niedriger seien. Viele Menschen konnten in den 2000er Jahren ihre Stromrechnungen, die im Zuge der Privatisierung der Energieversorgung enorm gestiegen waren, nicht mehr zahlen. Die Sozialwissenschaftlerin Mariya Ivancheva spricht von einer „permanente[n] Krise [...], die die neoliberale Austeritätspolitik der aufeinanderfolgenden Regierungen in Bulgarien bereits einige Zeit vor der Weltwirtschaftskrise von 2008ff. eingeführt hatte.“ (Ivancheva, 2014: 72) Zwei Millionen Bulgar*innen, die ihren Lebensunterhalt in Bulgarien nur mehr schwer bestreiten konnten, nutzten die Escape-Option (vgl. ebd). Sie machten sich auf und suchten Arbeit und ein besseres Leben in wirtschaftlich besser gestellten geopolitischen Regionen, meist in den wohlhabenderen älteren EU-Mitgliedsstaaten oder auch in die sich im Aufschwung befindenden südlichen EU-Länder, wo insbesondere im Bau und in der Landwirtschaft Arbeit zu finden war. Der Anthropologe Noel David Nicolaus bezeichnet die „Zunahme und Neuausrichtung innereuropäischer Migrationsbewegungen im Rahmen der Krise“ auch als „basisdemokratische Einforderung jenes Freizügigkeitsrechts […], das nach wie vor eines der Kernelemente der Unionsbürgerschaft bildet“ (Nicolaus, 2014: 116). Gleichzeitig wurde durch diesen Exit der Massen die aufgrund der Krise angespannte soziale Lage sicherlich entspannt. In Bulgarien haben sich die sozialen Konflikte dann aber trotzdem in einer Protestwelle ausgedrückt (vgl. Ivancheva 2014), die an dem Zorn über erhöhte Energiekosten im Winter 2012/2013 entflammten. Auch Nadja Bozhkova und ihre Freund*innen machten sich auf den Weg in ein neues, transnationales Leben. Von den Transformationen der deutschen, bulgarischen und EU-europäischen Versuche, Migration zu regieren, ließen sie sich dabei nicht beirren. Den rechtlich-politischen Entwicklungen des Migrationsregimes zwischen Deutschland, der EU/ EG und Bulgarien - vom Eisernen Vorhang zum Visa-Regime (1993) über die eingeschränkten Einführung der Freizügigkeit im Zuge des EU-Beitritts (2007) bis zur Aufgabe dieser Einschränkungen (2014) - begegneten sie mit Anpassungen ihrer Migrationsstrategien. Ihre sozialen 99 und politischen Rechte waren im Vergleich zu deutschen Bürger*innen immer eingeschränkt, wenn auch in unterschiedlichen Ausformungen und Graden der Entrechtung. Im Laufe der Jahre passte Nonka Angelova, die schon seit den frühen 1990er Jahren und als erste der Freundinnen in München lebte, in die verschiedensten aufenthaltsrechtlichen Kategorien: Asylbewerberin, Touristin mit Dreimonatsvisum, ‚Illegale‘ und (zunächst eingeschränkt) freizügige Unionsbürgerin erst ohne und dann mit Daueraufenthaltsrecht.46 Anfang der 90er hatte sie Asyl beantragt. Der Status als Asylbewerberin verpflichtete sie, in einem Lager zu wohnen und die Residenzpflicht einzuhalten; zudem erhielt sie grundsichernde Leistungen. Später konnte sie kein Asyl mehr beantragen, bekam aber relativ leicht ein Tourismus-Visum für jeweils drei Monate. Sie durfte in dieser Zeit wohnen, wo sie wollte, hatte aber keinen Anspruch auf Wohnraum oder andere staatliche Leistungen. Wenn das Tourismus-Visum nicht verlängert wurde, ging sie manchmal über die grüne Grenze. Als aufenthaltsrechtlich illegalisierte Migrantin musste sie vor Polizeikontrollen auf der Hut sein und hatte auch keinen Anspruch auf soziale Leistungen. In allen drei Kategorien durfte sie offiziell nicht arbeiten - trotzdem arbeitete sie. In der Sylvesternacht 2006/2007 wurde sie im Zuge des EU-Beitritts Bulgariens dann schließlich Unionsbürgerin. Die Einführung der Freizügigkeit gilt heute als eine der größten Legalisierungsaktionen der letzten Jahre, da viele Migrant*innen, die sich bisher mit Touristenvisa oder ohne Aufenthaltserlaubnis im EU-Territorium aufhielten und oft lohnarbeiteten, nun keine Aufenthaltserlaubnis mehr benötigten. Sie erhielten zudem das kommunale Wahlrecht (bei Anmeldung des Wohnsitzes). Auf das transnationale Leben von Nonka Angelova und ihren Freundinnen hatte dies aber keine große Auswirkung - sie hatten ihre Bewegungsfreiheit ja zuvor schon ausgeübt.47 Ihre neuen sozialen Rechte, zum Beispiel als Arbeitnehmerinnen aufstockend Hartz IV zu beantragen, nahmen sie, soweit ich weiß, nicht wahr. 46 Das Daueraufenthaltsrecht erwarb sie, weil sie schon mehr als fünf Jahre ihren rechtmäßigen Aufenthalt in München hatte und diesen nachweisen konnte. 47 Wie ich schon mehrfach herausgearbeitet habe, stellen die rechtlichen Regelungen eben nur eine Komponente der lebensweltlichen Aushandlungsprozesse dar. Trotzdem haben neue Gesetze Effekte, die auch in der Lebensund Arbeitsverhältnissen der Migrant*innen zu spüren sind. 100 Entfliehen und Fordern Das transnationale Migrationsprojekt von Nadja Bozhkova und ihren Freund*innen im Kontext der kapitalistischen Strukturanpassung im postsozialistischen Bulgarien stellt gleichzeitig einen Teil ihres Kampfes für ein besseres Leben und eine Grundlage der Ausbeutung ihrer Arbeitskraft dar. Ihre Flexibilität und Hartnäckigkeit kann gleichzeitig als Anpassungsfähigkeit, als Widerstand und als Praxis des Escape aufgefasst werden, die sich nicht nur gegen die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse wehrt, sondern gleichzeitig zu ihr beiträgt. Aus dem einzelnen Arbeitskampf mit Dr. Goffmann wurde ein Glied in einer Kette an Arbeitskämpfen, aus der Ausnahme ein kontinuierlicher Kampf um bessere Lebens- und Arbeitsverhältnisse. Sie nutzten dabei sowohl die Strukturen des Klassenkompromisses im national-sozialen Staat, indem sie vor dem Arbeitsgericht im Namen ihrer Arbeitsrechte Klage erhoben, und gingen darüber hinaus. Die unwahrnehmbaren Politiken schließen Strategien des Sichtbar-Werdens und Forderungen-Stellens nicht aus, wie ihre Klage gegen Dr. Goffmann zeigt. Die Klage war auch nicht der einzige Moment, in dem sie sich an den Staat wandten. So habe ich Nadja Bozhkova und Penka Radkova kennengelernt, als sie an der gewerkschaftlichen Demonstration zum 1. Mai 2010 teilnahmen. Beide haben sich im Anschluss an einem Fotoprojekt beteiligt, das in der Ausstellung münchen PREKÄR mündete (vgl. Riedner, 2011). Nadja Bozhkova ließ sich in diesem Kontext mit einem Schild in der Hand fotografieren, auf dem „Ich bin gekommen, um selbstständig zu sein“ stand. Während die Arbeiter*innen Forderungen nach einem selbstständigen und abgesicherten Leben und nach sozialen Rechten an die Stadt, Deutschland und die EU richteten, ließen sie sich gleichzeitig in ihren unwahrnehmbaren alltäglichen Kämpfen nicht aufhalten. Durch ihre gegenseitige, reproduktive Unterstützung im Alltag, ihre Flexibilität bei der Arbeitssuche und ihre territoriale Mobilität erfüllten sie zum einem die unternehmerische Nachfrage nach billiger, flexibel verfügbarer Arbeitskraft, ließen sich aber nicht auf diese reduzieren. Genauso wenig erfüllten sie das Wunschbild der EU-europäischen Mobilitätsregimes, in dem mobile Unionsbürger*innen gut ausgebildet sind und arbeiten, während Personen ohne formelle Ausbildung und Arbeitsplatz in den von Austerität und Krise gebeutelten ‚Herkunftsländern‘ bleiben. 101 In diesem Kapitel habe ich die in der Einleitung geforderte Analyseperspektive verfeinert, die die Frage nach den kapitalistischen Verhältnissen mit einbezieht, dabei aber deterministische und ökonomistische Ansätze überwinden möchte und sich mit den Kämpfen positioniert. Ausgehend von einem Arbeitskampf und dem Migrationsprojekt von Nadja Bozhkova und ihren Freundinnen habe ich den Antagonismus zwischen den unwahrnehmbaren und sichtbarwerdenden politischen Praktiken der EU-Migrant*innen und den Technologien der Prekarisierung und (Über-)Ausbeutung im Reinigungsgewerbe, den sich transformierenden Migrationspolitiken und der neoliberalen Restrukturierung Bulgariens in den Blick genommen. Zumindest ansatzweise ist deutlich geworden, wie es zu den extrem prekären und (über-)ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen kommt. Im folgenden Kapitel geht es wieder zurück zum ‚Tagelöhnermarkt‘, diesmal aber nicht, wie in der Einleitung, um relativ abstrakt über verschiedene Analyseperspektiven zu diskutieren, sondern ich begebe mich tief in das diskursive Dickicht der Kämpfe um die Deutung des ‚Tagelöhnermarktes‘, um erstens nach den Akteuren, Konflikten und Transformationen des Diskurses zu fragen und zweitens zu analysieren, in welcher spezifischen Assemblage sich hier Rassismen artikulieren. In den Kapiteln 4 bis 7 werde ich dann auf Grundlage der bereits entwickelten Perspektive der Kämpfe auf die gesellschaftlichen Antagonismen der Prekarisierung und der Migration und der nun folgenden Rassismusanalyse, Schlaglichter auf spezifische, umkämpfte Regierensweisen werfen, in denen sich Rassismen, Versuche des Regierens (des Sozialen, der Migration und der Bürgerschaft) sowie Ausbeutungsverhältnisse verschränken. 102 Kampf um Deutung – Der ‚Tagelöhnermarkt‘ zwischen Ärger, Endstation und Sprungbrett „Was, in München?!“ Vor 2010 hat der „Tagelöhnermarkt“ nicht existiert. Zwar kamen schon länger vor allem türkischsprachige Arbeitssuchende in das Südliche Bahnhofsviertel, um in den lokalen Geschäften und Unternehmen einen Job zu finden, wie ein türkischer ehemaliger Werkvertragsarbeiter berichtete. Und auch Arbeitssuchende aus Pazarjik trafen sich hier schon seit Jahren, um auf dem Gehsteig, in Cafés und an anderen (halb-)öffentlichen Orten auf Arbeitgeber*innen zu warten, Kontakte zu knüpfen, Neuigkeiten auszutauschen und Zeit zu verbringen.48 Sie wurden jedoch im öffentlichen Diskurs nicht wahrgenommen und die Figur des ‚Tagelöhnermarktes‘ und die Figur der ‚Tagelöhner‘ waren als Bezeichnung für die Personen, die mit dem Zweck der Arbeitssuche auf dem Gehsteig stehen und den Ort, an dem sie dies regelmäßig in Gruppen tun, noch nicht erfunden. So schreibt der Spiegel im Jahr 2006 in dem Artikel Wie ein Stück Fleisch zwar, dass es „Tagelöhner“ auch in München gebe, nennt aber als einzigen Treffpunkt die offizielle Vermittlungsstelle der Arbeitsagentur für Tagesjobs bei der Münchner Großmarkthalle (vgl. Deggerich, 2006). Anfang 2010 meldeten sich einige EU-Migrant*innen, die sich regelmäßig im Bahnhofsviertel aufhielten, dann aber öffentlich zu Wort und die Medien - und mit ihnen die Öffentlichkeit und auch die Kommunalpolitik - entdeckten den ‚Tagelöhnermarkt‘. „Was, in München?!“ - so reagierten viele Personen, denen ich von dem selbstorganisierten Arbeitsmarkt berichtete, ungläubig und die Nachricht hatte im öffentlichen Diskurs der wohlhabenden bayerischen Landeshauptstadt durchaus Nachrichtenwert. So liegen mir für die Zeit zwischen Juni 2010 und September 2013 19 Medienberichte vor, in denen vom „Tagelöhnermarkt“ bzw. vom „Arbeiterstrich“ im Südlichen Bahnhofsviertel die Rede ist. 48 In Anlehnung an das letzte Kapitel ließe sich fragen, ob ihre Praktiken als imperceptible politics gedeutet werden können. 103 In diesem Kapitel möchte ich anhand der Medienartikel und den mit ihnen verknüpften Diskursereignissen zeigen, wie die Figur „Tagelöhnermarkt“ entdeckt, umkämpft und kategorisiert wurde. Die Analyse teilt sich in zwei Schritte: Zuerst zeichne ich die zeitlichen Entwicklungen des Mediendiskurses als Kampf um Hegemonie49 vertikal nach, indem ich die Medienberichte mit Akteuren, Ereignissen und Konflikten rund um den selbstorganisierten Arbeitsmarkt kontextualisiere. Welche Diskursereignisse waren prägend? Wessen Stimme und Perspektive hat sich wann und wie öffentlich Gehör verschafft? Ich gehe also auch hier wieder von den Kämpfen aus. Die Medien begreife ich dabei als relativ autonome Akteure, ihre Berichte aber auch als Artikulation der aktuellen Konjunkturen des Rassismus. Es wird sich nämlich zeigen, dass es in den Hegemoniekämpfen um den ‚Tagelöhnermarkt‘ auf vielfältigste Weisen um die Repräsentation von Differenz geht. Die sich immer wieder verschiebende Linie zwischen ‚Uns‘ und den ‚Anderen‘ – zwischen denen, die sich legitim im Münchner Bahnhofsviertel aufhalten, und jenen, die ‚hier nicht hingehören‘ – ist Produkt dieser Aushandlungsprozesse. Deswegen analysiere ich in einem zweiten, horizontalen Analyseschritt den Gesamtkorpus der Zeitungsartikel als Repräsentationsregime in Anlehnung an Stuart Hall (2004) auf verschiedene Formen der rassistischen Stereotypisierung. Es ist ein zentrales Anliegen dieses Buches, ein Beispiel dafür zu geben, wie Rassismus als soziales Verhältnis die Gesellschaft, in der wir leben, ganz grundlegend mitprägt. Rassismus bleibt nicht auf der sprachlichen Ebene, sondern greift tief in Gesellschaftsverhältnisse und ihre Aushandlungen ein. In diesem Kapitel 49 Mit dem Begriff der Hegemonie beziehe ich mich auf den marxistischen Denker Antonio Gramsci, der mit diesem Konzept zu verstehen suchte, wieso die Beherrschten sich beherrschen lassen und oft sogar freiwillig in ihre Beherrschung einwilligen. Dies sei nicht alleine auf physischen Zwang, sondern auch auf den „aktiven Konsens der Regierten“ (Gramsci, 1991) zurückzuführen. Dazu gehören ganz grundlegende Weltanschauungen, Wahrheiten, Subjektivierungen und Deutungen sozialer Verhältnisse. Hegemonie muss ständig hergestellt werden und ist umkämpft. Eine große Rolle bei der Aushandlung von Hegemonie gibt Gramsci dabei den Intellektuellen, zu denen er auch die Bürokrat*innen, Journalist*innen, Anwält*innen etc. zählt (vgl. Buckel, 2013: 18). Das Konzept der Hegemonie lässt sich gut mit der foucauldianischen Machtanalyse verbinden und erscheint mir für die Analyse der Aushandlungen der Deutung des ‚Tagelöhnermarktes‘ geeignet, da die Verschiebungen und Vermachtungen im Diskurs mit seiner Hilfe gut erfasst werden können. 104 interessiere ich mich aber explizit für die Ebene der Repräsentation und beschränke mich auf die Teilfragen, wie die konkreten Aushandlungen sich auf den Mediendiskurs auswirken und wie sich Rassismus in diesem artikuliert. Endstation, Sprungbrett oder Ärger? Der Kampf um die Deutung der Figur ‚Tagelöhnermarkt‘ Für den Zeitraum zwischen Juni 2010 und September 2013 habe ich 19 Medienberichte in Tageszeitungen, Magazinen und Fernsehformaten gefunden, die ‚Tagelöhner‘, den ‚Tagelöhnermarkt‘ oder den ‚Arbeiterstrich‘ im Münchner Bahnhofsviertel erwähnen. Diese bilden den Korpus für die folgenden Analysen. Auch wenn sich der Diskurs zu den ‚Tagelöhnern im Bahnhofsviertel‘ nur künstlich von anderen Diskursbereichen – wie z.B. den zu ‚Betteln im Bahnhofsviertel‘, ‚Armutszuwanderung‘ oder ‚Ausbeutung von Wanderarbeitern‘ – abtrennen lässt, fokussiere ich aber trotzdem auf Presseberichte zum ‚Tagelöhnermarkt‘, weil sie die komplexe Entwicklung in einem überblickbaren Rahmen aufzeigen und weil ich die Erfindung und die Kämpfe um die hegemoniale Deutung der Figur ‚Tagelöhner im Bahnhofsviertel‘ besonders gut nachverfolgen kann, da ich in diesem Zeitraum an den Aushandlungen teilgenommen habe. Außerdem spielt die Berichterstattung zum ‚Tagelöhnermarkt‘ in den lokalen Regimen durchaus eine wichtige Rolle, wie sich unter anderem daran gezeigt hat, dass Lokalpolitiker*innen immer wieder auf Medienberichte reagiert haben und auch in Interviews oder bei Treffen oft auf diese Bezug genommen haben. Um die Hegemoniekämpfe zum Thema ‚Tagelöhner im Bahnhofsviertel‘ nachvollziehen zu können, geht es im Folgenden also um die Fragen: Wie und aufgrund welcher Ereignisse hat sich die Berichterstattung im Laufe der Jahre 2010 bis 2013 verändert? Über was wurde berichtet, was wurde problematisiert? Welche konkurrierenden Erzählungen gab es bzw. wie und von wem wurden Probleme und Lösungsmöglichkeiten unterschiedlich definiert? Wer kam zu Wort, wann und wie? Welche Stimmen wurden ausgeschlossen? Ich mache sechs verschiedene Phasen aus, die jeweils von spezifischen Diskursereignissen eingeleitet und geprägt wurden. Zum ersten Mal wurden die Arbeitssuchenden und ihr Treffpunkt in dem Artikel 105 Probebohrungen im Biotop der Süddeutschen Zeitung vom 4. Juni 2010 (Rühle, 2010) erwähnt. Anlass der Entdeckung des ‚Arbeiterstrichs‘ war, dass sich das Theater Münchner Kammerspiele das Bahnhofsviertel für ihr alljährliches Stadtteilprojekt ausgesucht hatte, wohl aufgrund der auch im Artikel hervorgehobenen Besonderheiten dieses ‚Biotops‘: Multikulturalität, türkische Gemüsehändler, Prostitution und der ‚Arbeiterstrich‘. Auf diesen wurden die Journalist*innen deshalb aufmerksam, weil in den Räumen des Theaterprojekts das Workers’ Center der Initiative Zivilcourage Raum gefunden hatte. Kaum hatte das Projekt gestartet, „da setzte sich die bulgarische community hier fest“50, so die Darstellung des Artikels, der auch die Bezeichnung des „Arbeiterstrichs“ in den lokalen öffentlichen Diskurs einführte: „An der Ecke Goethe-Landwehrstraße gibt es einen Arbeiterstrich, jeden Morgen um halb sechs stehen dort an die 150 Bulgaren und hoffen, dass irgendein Bauunternehmer kommt und einige von ihnen brauchen kann. Diese Bulgaren sind die modernen Arbeitsnomaden, keiner von ihnen wurde mit Apfel, Banane und Birne am Hauptbahnhof empfangen [wie die im Artikel zuvor erwähnten Gastarbeiter*innen in den 1960er Jahren, Anmerkung der Autorin], keiner hat auf sie gewartet, sie ergattern, wenn sie Glück haben, einen bis drei Jobs im Monat, das meiste auf Ausbeutungsbasis, schwarz. Alexander hat im Februar seinen rechten Zeigefinger verloren [...].“ (Rühle, 2010, Anmerkung durch die Autorin) Das Narrativ vom ‚Arbeiterstrich‘ wird dann aber nicht weiter vertieft, sondern dient vielmehr dazu, die Charakterisierung des Hauptbahnhofviertels zu unterstreichen: Das „eigentliche Zentrum Münchens“ sei „provisorisch“, „[d]er reinste urbane Wildwuchs“, die „schillerndste, großstädtischste Ecke Münchens“ und das „Areal, durch das schon immer das Fremde in die Stadt kam“ (ebd.). Diese fulminante Charakterisierung des Viertels artikuliert in ihrem exotisierend-rassistischen Zungenschlag nicht nur die postkolonialen, orientalistischen Bilder von Little Istanbul, wie das Viertel umgangssprachlich auch genannt wurde, sondern sie gibt auch einen ersten Eindruck vom Kampf um die Hoheit 50 Die ‚bulgarische community‘ wird hier metaphorisch mit hartnäckigem Schmutz gleichgesetzt und abgewertet. Mehr zum Hygienediskurs folgt im zweiten Teil des Kapitels. 106 auf der Straße. Von Sauberkeit phantasierende Aufwertungsprojekte stehen der eigensinnigen Präsenz der subalternen Arbeitssuchenden entgegen, die sich trotz allen Gegenwindes weiter hier treffen und aufhalten. (Sub-)kulturelle Projekte wie das Stadtteilprojekt der Kammerspiele wie auch die mediale Betonung der Urbanität des Viertels können dabei als die typischen Vorboten der Gentrifizierung verstanden werden. Ein wichtiger Akteur, dessen Ziel es war, die öffentliche Aufmerksamkeit auf die urbanen Qualitäten des Bahnhofsviertels zu lenken und die Gegend somit aufzuwerten, war der Verein Südliches Bahnhofsviertel. Lokale Gewerbetreibende hatten ihn im Jahr 2010 gegründet. Der Stadtteil sollte „durch ein innovatives und aktivierendes Management in verschiedener Hinsicht gefördert werden“ (Südliches Bahnhofsviertel e.V., 2016a).51 Die Citymanager dachten sich einen Slogan aus, um den „angeschlagenen Ruf“ des Viertels zu verbessern: „Das Südliche Bahnhofsviertel: Münchens Puls in die Welt“ (Südliches Bahnhofsviertel e.V., 2016b). Auf seiner Webseite erklärt der Verein die Marketingstrategie folgendermaßen: „Das Bahnhofsviertel ist geprägt durch ein dichtes Nebeneinander verschiedener Nutzungen, Branchen und Bevölkerungsgruppen – hier ist Raum für Großstadtflair und Multikultur genauso wie für innovative Start-Up-Unternehmen und exklusive Hotels. Die spezifischen Qualitäten und Potenziale des Viertels überlagern sich mit der Dominanz der Sexshops und Spielhallen. [...] Ziel des Projektes ‚Südliches Bahnhofsviertel‘ ist es, im Vorgriff auf die anstehenden Veränderungen die vorhandenen spezifischen Qualitäten des Viertels zu stärken und das Viertel für die Zukunft ‚fit‘ zu machen. [...] Ziel ist es, den authentischen Charakter, die Viertelidentität herauszuarbeiten und durch die Entwicklung einer Marke kommunizierbar zu machen.“ (ebd.) Insgesamt spielte das städtische Aufwertungsprojekt, das in den Tätigkeiten des Vereins seinen deutlichsten Ausdruck fand, auch eine nicht 51 Sie knüpften dabei an den Image-Feldzug des städtischen Pilotprojekts Südliches Bahnhofsviertel an, das für seinen innovativen Ansatz 2007 mit dem Bayerischen City- und Stadtmarketingpreis geehrt wurde, indem sie die Strategien des ‚Citymarketings‘ und ‚Quartiersmanagements‘ weiterführten. 107 zu vernachlässigende Rolle in den Aushandlungen um die Präsenz der Arbeitssuchenden im Viertel.52 Die erste Erwähnung des ‚Arbeiterstrichs‘ in dem SZ-Artikel zum Kammerspieleprojekt wurde medial aber erst einmal nicht wieder aufgegriffen. Aber schon acht Monate nach den Probebohrungen im Biotop kam es zur zweiten und eigentlichen Entdeckung des ‚Tagelöhnermarktes‘, die die zweite Diskursphase einläutete. Die Beratungsstelle für Sans-Papiers der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) und gewerkschaftlich organisierte bulgarische Arbeiter*innen53 luden Anfang August 2010 zu einer Pressekonferenz ein, die die Aufmerksamkeit der Medien auf die Probleme der Tagelöhner lenken sollte. Sie stellten eine Resolution vor, die auf dem von Arbeiter*innen mit der Initiative Zivilcourage gemeinsam verfassten Flugblatt für die Demonstration am 1. Mai 2010 beruhte (vgl. Initiative Zivilcourage, 2010). Die Teilnahme an dieser Demonstration und das begleitende Flugblatt waren der erste Versuch von EU-migrantischen Arbeiter*innen in Zusammenarbeit mit der Initiative Zivilcourage, in der Öffentlichkeit sichtbar zu werden. Das Narrativ, das wir für das Flugblatt erarbeitet hatten, sollte für die folgende Entwicklung des Mediendiskurses erst einmal prägend sein. Im direkten Anschluss an die Pressekonferenz zitierte der einseitige SZ-Artikel Eingewandert, ausgegrenzt vom 8. August 2010 aus der Resolution: 52 Die Imagekampagne führte auch zu mehreren Presseartikeln – z.B. Reizende Gegend aus der SZ vom 02.12.2012 (Handel, 2012) und Bahnhofsviertel: 14 Geschichten aus dem Schmelztiegel aus der tageszeitung (tz) vom 14.03.2015 (Huber & Gebharst, 2015). Da in ihnen der ‚Tagelöhnermarkt‘ jedoch nicht direkt genannt wird und sie auch außerhalb des Analysezeitraums liegen, wurden sie nicht in den Analysekorpus aufgenommen. 53 Zwischen 2010 und 2011 waren fast 400 bulgarische Arbeiter*innen der Gewerkschaft ver.di beigetreten. Hintergrund war die Zusammenarbeit der Initiative Zivilcourage mit der Sans-Papiers-Beratungsstelle des Fachbereichs 13 Besondere Dienstleistungen. Bis Ende 2012 war der Mehrzahl dieser Arbeiter*innen die Mitgliedschaft von Seiten der ver.di jedoch wieder gekündigt worden. Als Grund wurde angegeben, dass Mitgliedsbeiträge ausgeblieben seien. Ich habe mich dagegen entschieden, näher auf die Zusammenarbeit mit der ver.di einzugehen, da dies den Rahmen des Buches gesprengt hätte. 108 „Wir leben hier teilweise unter entsetzlichen Bedingungen. Oft ohne Wohnung, Essen, Wasser und medizinische Versorgung. [...] Um zu überleben und unsere Familien zu ernähren, sind wir gezwungen alle möglichen schlecht bezahlten und unsicheren Jobs anzunehmen.“ (Tibudd, 2010) Mit Ahmed Maksud stellte der Artikel einen „Vertreter eines neuen Typs Einwanderer“ (ebd.) vor, „der legal nach Deutschland kommt, dem die Umstände das Leben schwer machen – und für [den] sich keine Behörde zuständig fühlt“ (ebd.). Hauptprotagonistin des Artikels stellte jedoch die Leiterin des Fachbereichs 12 der Dienstleistungsgewerkschaft dar, die auf die prekäre Situation und die Ausgrenzung, denen die Arbeiter von verschiedenen Seiten begegneten, aufmerksam machte. Gute zwei Wochen später veröffentlichte die SZ die erste Reportage vom ‚Tagelöhnermarkt‘ mit dem Titel Lohn und Leid (24.8.2010). Eine eindrückliche Fotografie, die eine sich in Schaufenstern spiegelnde, auf der Straße stehenden Gruppe von Menschen zeigt54, sollte den ‚Tagelöhnermarkt‘ repräsentieren (vgl. Bacher, 2010). Anhand von Schicksalen und Originalzitaten von Arbeitssuchenden – die somit zum ersten Mal in München öffentlich zu Wort kamen – porträtierte der Artikel die „Hoffnungen“ (ebd.) der neuen Einwanderer. Er zeigte die „Suche nach dem Glück“ (ebd.) aus der (imaginierten) Perspektive der ‚Tagelöhner‘. Auch wenn die „Forderung, die Einschränkung der Freizügigkeit aufzuheben“ (Tibudd, 2010), sowie die „Verpflichtung öffentlicher Stellen, […] sich um die Angelegenheit zu kümmern“ (ebd.) aus der Resolution wiedergegeben wurden, fällt in diesen ersten Artikeln auf, dass die Klagen von EU-Migrant*innen deutlich mehr Raum bekamen als ihre Forderungen. In Lohn und Leid z.B. wurden die Arbeitssuchenden folgendermaßen zitiert: „Wir stehen hier wie Tiere“ (Bacher, 2010) und: „Wenn wir keine EU-Bürger wären, dann könnten wir wenigstens Asyl beantragen“ (ebd.), während ihre Forderungen gänzlich unerwähnt blieben. Beide Artikel skandalisieren den Alltag des ‚Tagelöhnermarktes‘ und die ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse, beschreiben die rechtliche Situation (allerdings fehlerhaft) und erwähnen auch die Diskriminierung der Arbeitssuchenden als Angehörige der türkischen Minderheit in Bulga54 Diese Fotografie und weitere aus derselben Reihe werden sich in diversen SZ-Artikeln wiederfinden und im Analyseteil noch näher betrachtet werden. 109 rien. Das Problem stelle – so die Analyse der Journalist*innen – das fehlende Eingreifen des Staates dar, bzw. „dass sich niemand zuständig fühlt“ (Tibudd, 2010), sowie die ausbeuterische Praxis von kriminellen Arbeitgeber*innen. Nach diesen ersten Artikeln, die das Phänomen entdeckt, definiert und gedeutet hatten, entflammte das Interesse am ‚Tagelöhnermarkt‘, der als Skandal im wohlhabenden München wahrgenommen wurde. Bei der Initiative Zivilcourage häuften sich Anfragen von Journalist*innen, da wir als Expert*innen und Mittelspersonen zu den Arbeitssuchenden galten. Es folgten Berichte, die den zwei zitierten SZ-Artikel ähnelten, nur dass sie weniger direkt von der Pressearbeit der Allianz der EU-migrantischen Arbeiter*innen mit ver.di und Initiative Zivilcourage geprägt waren. Sie beschrieben den Alltag am ‚Tagelöhnermarkt‘ und porträtierten einzelne Arbeitssuchende und deren Probleme. In der TV-Kurzsendung Die dunkle Seite Deutschlands als Teil der Abendschau des Bayerischen Rundfunks trat Ahmed Maksud im Oktober 2010 als Protagonist auf („Die dunkle Seite Deutschlands“, 2010). Im Juni 2011 strahlte der Deutschlandfunk die Sendung Auf dem Arbeiterstrich („Auf dem Arbeiterstrich“, 2011) aus und im Oktober 2011 titelte die Münchner Obdachlosenzeitschrift BISS: Suche Arbeit! Unterwegs mit bulgarischen Tagelöhnern (Hoffinger, 2011). Im Oktober 2011 erschien in der SZ die preisgekrönte Reportage: Scheißegal, ich mache alles (Reinsberg, 2012), die vom Alltag auf dem selbstorganisierten Arbeitsmarkt erzählt und dabei mit einer Vielzahl von wörtlichen Zitaten arbeitet: „Irgendwas versautes“ (ebd.) sagt Hristo zu der Frage, was seine Tattoos bedeuten. „Alle funf Minute [sic]“ (ebd.) kämen Polizisten vorbei. „Arbeit mit Geld: gut. Arbeit ohne Geld: schlecht“ (ebd.) und eben: „Scheißegal, was für ein Job, ich mache alles“ (ebd.). Neben diesen viktimisierenden Zitaten, die die Sprecher*innen auf ihre Grundbedürfnisse reduzieren, mit Tieren gleichsetzen und als dem Arbeitsmarkt hilflos ausgesetzt darstellen, sind jedoch auch eine Reihe von Statements enthalten, die politische Analyse, Humor und Wut zum Ausdruck bringen. So spielt die Aussage „Wir müssen auf den Straßen Europas gut aussehen“ (ebd.) humorvoll mit Sauberkeitsdiskursen und Vermarktungszwang. Direkt an die Lesenden richtet sich folgende wütende Frage: „Was ist das für ein Land, in dem du arbeitest, kein Geld kriegst und dann von der Straße gejagt wirst?“ (ebd.). Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Artikel, auch wenn sie 110 auch immer wieder viktimisierende und stereotype Töne anschlugen, die prekarisierten Lebens- und Arbeitsverhältnissen und die Probleme der EU-Migrant*innen an die Öffentlichkeit brachten und diese auch selbst zu Wort kommen ließen. Dies sollte sich bald ändern. Einen deutlich anderen Akzent setzte schon der Artikel Münchens Tagelöhner – ein Leben im Schatten aus dem Münchner Merkur vom Februar 2012 (Hampel, 2012), in dem ich den Beginn der vierten Phase ausmache. Dies war der erste Artikel, in dem Vertreter*innen von Kommune, Polizei und Zoll als Betroffene zu Wort kamen. Die Problemdefinition fing an, sich zu drehen. In der dritten Phase, die sich teils mit der zweiten und den darauffolgenden zeitlich überschneidet, ging es nicht mehr um die Probleme der Arbeitssuchenden, sondern um die Arbeitssuchenden als Problem: „Bei der Stadt hat man das Problem erkannt – und erste Schritte unternommen“ (ebd). Aus der Perspektive der Kommune ging es um die „Grenzen ihrer Aufnahmefähigkeit“ (ebd.), wobei die Aufnahmefähigkeit von Hilfsangeboten, des Sozialhilfesystems und des Wohnungsmarktes gemeint waren. Die Benennung von Lösungen erfolgte aber immer noch in Bezug auf die Probleme und Forderungen der Arbeitssuchenden: „Es fehlt eine zentrale Anlaufstelle für die bulgarischen und rumänischen Tagelöhner“ (ebd.). Die ‚Tagelöhner‘ selber kamen in diesem Artikel aber nicht zu Wort und die illustrierenden Fotografien unterstreichen das ungleiche Verhältnis und Blickregime: Während Savas Tetik, aktiv bei der Initiative Zivilcourage, auf einem großformatigen Porträt direkt in die Kamera schaut (Untertitel: „Bei jedem steckt eine Geschichte dahinter“ – Savas Tetik kämpft um Gerechtigkeit für Tagelöhner“), wurden die ‚Tagelöhner‘ durch ein Bild von drei Silhouetten von Menschen mit Schutzhelm, die sich gegen das Gegenlicht der Sonne beim Arbeiten auf einer Baustelle abzeichnen, symbolisiert (Untertitel: „Schuften auf dem Bau: Viele werden von Subunternehmern beschäftigt – manchmal ohne Lohn“) (ebd.). Der ehrenamtliche Helfer ‚kämpft‘, während die Tagelöhner als Opfer von Ausbeutung ‚schuften‘. Ein ähnliches Blickregime prägte eine Reihe von Artikeln, die die Arbeit von Ehrenamtlichen und Sozialarbeiter*innen in den Vordergrund rückten: Auf der Suche nach dem Glück titelte am 20. Juni 2013 der Münchner Merkur (Hampel, 2013). Der Anlass für den Artikel war die Eröffnung des von der Arbeiterwohlfahrt getragenen und vom städtischen Referat für Arbeit und Wirtschaft finanzierten Infozentrums Migration und Arbeit, die als das Ergebnis lang andauernder Versuche gesehen 111 werden kann, die Forderung nach einem Aufenthaltsraum umzusetzen, die bereits in dem erwähnten Flyer vom Mai 2010 formuliert worden war.55 In dem Artikel von Hampel (2013) wurde den bulgarischen Münchner*innen, die das Thema des Artikels bilden, nicht nur Sprechposition und Expert*innenstatus, sondern auch ein persönlicher Name verweigert. Während sie anonym mit „die Frau“ (ebb.), „der Mann“ (ebd.), das „Ehepaar“ (ebd.) oder „ein Mitglied“ (ebd.) bezeichnet wurden, wurden die zwei „Berater“ des städtischen Sozialprojekts namentlich genannt.56 Am 22. August 2013 berichtete die SZ über „[d]ie Straßenarbeiter“, wobei hier nicht nur die Arbeitssuchenden gemeint waren, sondern in einem Wortspiel auch Mitglieder bzw. „Helfer“ der Initiative Zivilcourage, die mangels eines Raumes – das Haus, in dem die Kammerspiele die Zentrale ihres Stadtteilprojektes aufgebaut hatten, war im Rahmen der Aufwertung des Viertels inzwischen abgerissen worden – zwischenzeitlich auf der Straße arbeiteten (vgl. Risel, 2013a). Der Bericht entstand aus Anlass einer Pressemitteilung der Initiative Zivilcourage, die zu einem Infostand einlud. Sein Untertitel lautete: „Die Initiative Zivilcourage kümmert sich im Bahnhofsviertel um Menschen, die auf dem ‚Arbeiterstrich‘ schuften. Weil das Haus abgerissen wird, in dem die Helfer einen Raum hatten, sitzen sie nun selbst auf der Straße.“ (ebd.) Den zentralen Erzählstrang in den letzten drei Artikeln bildeten die Aktivitäten von Ehrenamtlichen und Sozialarbeiter*innen, während die EU-migrantischen Arbeiter*innen nicht zu Wort kamen. Bis zu diesem Zeitpunkt verknüpften sich die verschiedenen Erzählstränge in unterschiedlichen Gewichtungen und wurden kontextualisiert 55 Bis zum Sommer 2015 sollte das Infozentrum aber keinen geeigneten und bezahlbaren Raum finden, um neben dem Beratungsangebot auch einen Aufenthaltsraum anbieten zu können. Wie schon im ersten Kapitel erwähnt verzichte ich aus forschungsethischen Gründen darauf, auf die Aushandlungen, die zu der Eröffnung des Aufenthaltsraumes führten, näher einzugehen. Hier gebe ich nur, sozusagen als Nebenprodukt der Analyse des ‚Kampfes um Deutung‘, einen kleinen Einblick. 56 Einer von ihnen war der Leiter des Stadtprojekts, der in dem Artikel aus dem Münchner Merkur vom 25./26. Februar 2012 noch als Mitglied der Initiative Zivilcourage aufgetreten war. 112 von (selten korrekten) Informationen z.B. zur rechtlichen Lage von Bulgar*innen in Deutschland, zur Diskriminierung von Minderheiten in Bulgarien und zu Statistiken der Ein- und Abwanderung. Festhalten lässt sich, dass die EU-migrantischen Arbeiter*innen in Koalition mit der Initiative Zivilcourage und auch mit gewerkschaftlichen Akteuren den medialen Diskurs anfangs stark prägen konnten. Die bis hierher analysierten Artikel, in denen Arbeiter*innen zu Wort kommen, sind so auch als (relativ autonome) Produkte ihrer representational politics zu lesen. Erst durch ihre Intervention im Jahr 2010 kam die Figur ‚Tagelöhnermarkt‘ in den öffentlichen Diskurs. Die Artikel problematisierten die extrem ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse und den entbehrungsreichen Alltag am ‚Tagelöhnermarkt‘. Der Versuch, die Probleme der Arbeitssuchenden darzustellen und ihrer Repräsentation und ihren Forderungen eine hegemoniale Stellung im Diskurs zu geben, gelang aber nur teilweise. Dagegen wirkten zum einen die Tendenz der Medien, rassistischen Blickregimen zu folgen. Sie ließen eher die ‚sich kümmernden‘ Personen als ‚Expert*innen‘ zu Wort kommen, als die EU-migrantischen Arbeiter*innen selbst über ihre Situation berichten. Und wenn diese zu Wort kamen, dann hatten ihre Worte oftmals eine rein ausschmückende und keine tragende Funktion. Der strukturelle Rassismus artikulierte sich zudem auch hier nicht nur in den Blickregimen, sondern auch schon in rassistischen Stereotypen, die ich im zweiten Teil dieses Kapitels analysieren werde. Bis Anfang 2013 wurde der Münchner ‚Tagelöhnermarkt‘ noch als ein sehr lokales, spezifisches Phänomen wahrgenommen. Spätestens die sogenannten ‚Armutszuwanderungsdebatte‘ etablierte einen bundesweiten Diskurs, in den die lokale Figur ‚Tagelöhnermarkt‘ eingebettet wurde. Dieser Medienhype zur ‚Armutszuwanderung‘ wurde im Januar 2013 von der im siebten Kapitel thematisierten Stellungnahme des Deutschen Städtetags (mit) ausgelöst und u.a. von dem Wahlkampfslogan der CSU ‚Wer betrügt, der fliegt‘ angefacht (vgl. Roßmann, 2013).57 Im Zuge dieser ‚Debatte‘ kons57 Die Debatte drehte sich auch darum, welche Konsequenzen die Einführung der vollen Arbeitnehmer*innenfreizügigkeit für bulgarische und rumänische Staatsbürger*innen am 1. Januar 2014 haben würde (sie mussten dann keine Arbeitserlaubnis mehr beantragen). Im siebten Kapitel werde ich näher auf das Positionspapier des Städtetages eingehen und nachvollziehen, welche Effekte es auf die Gesetzgebung hatte. 113 tituierte sich der Begriff der ‚Armutszuwanderung‘ als hegemoniale Bezeichnung für das neu entdeckte Problem der Migration aus Bulgarien und Rumänien.58 Schwerpunktmäßig drehte sie sich um die Frage, ob es sich bei den ‚Armutszuwanderer*innen aus Südosteuropa‘ um ‚Sozialleistungstourist*innen‘ oder um ‚steuerzahlende‘ Erwerbstätige handelte, die etwas zur ‚deutschen Wirtschaft‘ beitrugen. Der bundesweite Diskurs soll hier aber nicht im Vordergrund stehen; vielmehr geht es mir darum zu zeigen, welche Effekte er in der lokalen Berichterstattung hatte. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint der SZ-Artikel Arbeitsmigranten aus Osteuropa – Endstation „Arbeitsstrich“ (Öchsner, 2013) vom 10. Februar 2013 prägnant, der offenbar anlässlich des Städtetagpapiers geschrieben wurde und mit jenem Foto vom ‚Arbeiterstrich‘ illustriert war, welches auf Anlass der Reportage Lohn und Leid (Bacher, 2010) entstanden war. Die Hauptaussage des Artikels lautete: „Bund, Länder und Kommunen suchen nun nach Lösungen“ (Öchsner, 2013). Diese Aussage wurde mit einigen Hintergrundinformationen zur „humanitäre[n] Katastrophe“ (ebd.) in verschiedenen deutschen Städten und zu kommunalen Hilfeprojekten, und mit statistischen Angaben und Aussagen aus dem Städtetagpapier (Deutscher Städtetag, 2013) kontextualisiert. Auch wenn der Münchner ‚Arbeiterstrich‘ bildlich dargestellt wurde, wurde weder er noch München im Fließtext erwähnt. Das Foto vom ‚Tagelöhnermarkt‘ wird hier zum Symbol für ‚Armutszuwanderung‘ beziehungsweise „Arbeitsmigranten aus Osteuropa“. Die Figur des ‚Arbeiterstrichs‘ wurde (noch implizit) verknüpft mit dem neuen Topos der Armutszuwanderung. Inwiefern die im Sommer 2013 folgende Diskursverschiebung (hin zu einer fünften – der wohl turbulentesten – Phase) mit dem bundesweiten Medienhype zusammenhing, ist nicht empirisch nachzuweisen, ich nehme aber einen engen Zusammenhang an. Ende August 2013, etwa ein halbes Jahr nach dem Aufflammen der bundesweiten Debatte zur Armutszuwanderung, schlug jedenfalls eine Bombe in den Mediendiskurs zum ‚Tagelöhnermarkt‘ ein und die Münchner Lokalmedien stimmten in Bezug auf den ‚Tagelöhnermarkt‘ in den bundesweiten Chor der Skandalisierung von ‚Armutszuwanderung‘ ein. Bei 58 Die ‚Debatte‘ beruhte, wie Markus End (2014a) herausgearbeitet hat, in weiten Teilen auf antiziganistischem Rassismus und auf einem verwertungslogischen Konsens, der zwischen den Nützlichen und den Unnützen unterscheidet (vgl. Friedrich, 2014). 114 dieser ‚Bombe‘ handelte sich um eine Petition von „Anwohner[n] und Arbeitnehmer[n] an der Kreuzung Goethestraße / Landwehrstraße“. Federführend gewesen war der CSU-nahe Betreiber des gemeinnützigen Vereins Theatergemeinde (TheaGe), die Theatertickets zu ermäßigten Preisen verkaufte und deren Büro direkt an der zentralen Kreuzung des selbstorganisierten Arbeitsmarktes lag. Unterschrieben hatten 18 Betreiber*innen oder Vertreter*innen der umliegenden Gewerbe – Hotels, die Theatergemeinde, ein Juwelier, eine Apotheke, eine Bank, ein Café, ein Friseur, eine Anwaltskanzlei, ein Döner-Imbiss, ein Supermarkt und die ‚islamische Gemeinde‘. Die Unterzeichnenden forderten eine „Anerkennung der stetig wachsenden Probleme mit illegalen Arbeitsmärkten an unserer Kreuzung“ und drückten die Bereitschaft aus, „jede humane und soziale Lösung zu unterstützen, die dazu beiträgt, dass Menschen nicht von kriminellen Schleppern und Bauunternehmern ausgenutzt und missbraucht werden“. Die Schilderung des zu lösenden Problems fiel brachial aus: das Viertel würde „[V]on stetig wachsenden Mengen von Arbeitern“ „belagert“, „blockiert“, „vermüllt“, es würde „gespuckt“, „uriniert“, und „belästigt“. „Diese Szenerie“ wurde verantwortlich gemacht für „ernsthafte Probleme mit gesundheitsgefährdenden Schädlingen“ und „aggressive Szenen“. Um ein „normales Wohnen und Arbeiten“ möglich zu machen und mit dem Hinweis, „dass auch wir ein Recht haben auf ein humanes und zivilisiertes Leben und Arbeitsumfeld“, forderten die Autor*innen der Petition „koordinierte, konsequente und nachhaltige Gegenmaßnahmen sowohl im Bereich der Sozial- wie auch Polizeiarbeit“, so „dass unsere Kreuzung nicht von einer solchen Szenerie immer mehr in Beschlag genommen wird“. Denn die „aktuellen Verhältnisse“ seien „nicht hinnehmbar und dürfen sich nicht verfestigen“ (ebd.). Ein CSU-Bundestagsabgeordneter und ehemalige Münchner Leiter des Kreisverwaltungsreferats sprang den Geschäftsleuten zur Seite und berief noch in derselben Woche einen Runden Tisch mit Zoll und Polizei ein, bei dem unter anderem schärfere Kontrollen durch diese Institutionen vereinbart wurden, die im vierten Kapitel thematisiert werden. Im direkten Anschluss sprangen die Boulevardblätter Bild und tageszeitung (tz) auf und läuteten damit die fünfte Phase ein. Sie hatten zuvor noch nicht zum selbstorganisierten Arbeitsmarkt berichtet. Am 26. und 28. August 2013 titelten sie: Aufstand gegen Schwarzarbeiter (Bachner, 2013) und Aufstand gegen den Arbeiter-Strich – Müll, Urin und Ärger! 115 Verzweifelter Hilferuf der Geschäftsleute (Costanzo, 2013a). Auch SZ und BR berichteten. Ihr Vokabular unterschied sich nun stark von den bisherigen Berichten zu den Arbeitssuchenden: Ärger mit den Schwarzarbeitern, so die Schlagzeile der SZ (Risel, 2013c) und Ärger um Tagelöhner titelte der BR („Ärger um Tagelöhner - Petition gegen ‚Arbeiterstrich‘, 2013). Am 31. August 2013 brachte die tz noch ein follow-up: Zoll verschärft seine Kontrollen – Kameras und Polizei gegen ‚Arbeiterstrich‘„ (Costanzo, 2013b) und auch der Fokus nahm in dem Bericht Armutszuwanderung in München – Endstation Arbeiterstrich vom 30.10.13 (Rohrer, 2013) noch direkt Bezug auf die Petition. Die Journalist*innen geben in diesen Artikeln vor allem den Unterzeichnenden der Petition das Wort mit Zitaten wie: „Die Schwarzarbeiter betteln, belagern Hinterhöfe, verdrecken Schächte, bieten sogar Frauen zur Prostitution feil!“ (Bachner, 2013). Oder: „Sie übernehmen langsam das Viertel. Und die Behörden lassen uns alleine“ (Bachner, 2013). Städtische Akteure positionierten sich in den Medienberichten gegenüber dem brachial-rassistischen Duktus der Petition eher kritisch und beschwichtigend. Die Sozialreferentin der Stadt München wandte in der tz ein, dass viele Migrant*innen durch die Tagelöhnerei einen „richtigen Job“ fänden; außerdem machten die Behörden „die Erfahrung, dass die Menschen nicht dem Sozialstaat auf der Tasche liegen wollen“ (Siegert, 2013). Auch Zoll und Polizei versuchten gegenüber den Journalist*innen, die Petition zu relativieren. Sie verwiesen auf ihre Machtlosigkeit gegenüber der rechtmäßigen Präsenz der freizügigen Arbeitssuchenden im öffentlichen Raum: „Jeder EU-Bürger kann sich bewegen, wie er möchte“ (Costanzo, 2013a): „[d]as Herumstehen reiche nicht, um sie dingfest zu machen“ (ebd.). Trotzdem übernahmen sie die Problemdefinition der Petition weitgehend. So impliziert das letztere Zitat, dass es schon wünschenswert wäre, „sie dingfest zu machen“ (ebd.), aber es eben (‚leider‘) keine rechtliche Handhabe gäbe. Der Zollsprecher sagte, dass Vertreter des Zolls trotz der schwierigen rechtlichen Lage „präsent [seien], versuchen es einzudämmen“ (Bachner, 2013), denn es handle sich um Schwarzarbeit und Lohn-Dumping. „Mehr Kontrollen würden das Problem aber nicht lösen. „Die Szene würde nur weiterziehen“ (ebd.). Auch die Polizei gab an, die Probleme zwar zu sehen, aber nicht viel tun zu können: „Wir können nur kontrollieren, erteilen Platzverweise“ (ebd.), so ihr Sprecher in der Bild-Zeitung. 116 Die Initiative Zivilcourage erhielt im Rahmen des von der Petition ausgelösten Medienhypes nun sehr wenig Aufmerksamkeit – vor allem verglichen damit, dass sie zuvor als zentrale Ansprechpartnerin in Sachen „Tagelöhnermarkt“ gegolten hatte. In zwei Artikeln wurde ein Mitglied der Initiative Zivilcourage als Experte für die Situation der Betroffenen zitiert, während seine Kritik am Rassismus der Petition unerwähnt blieb: „Ich habe keine Aggression erlebt“ (Costanzo, 2013a) und „sie wollen arbeiten und finden in München auch eine Arbeit“ (ebd.). In der AZ bekräftigte er noch einmal: „Hier finden sie Arbeit, auch wenn der Zugang zum Arbeitsmarkt eingeschränkt ist“ (Siegert, 2013). Besonders auffällig war aber, dass die als „Schwarzarbeiter“ Markierten in den Artikeln zum „Ärger“ im Bahnhofsviertel gar nicht zu Wort kamen. Sie wurden auch nicht mehr individuell porträtiert oder auch nur erwähnt, sondern traten nur noch als gesichtslose Menge in Erscheinung. In der Darstellung der Petition und den von ihr ausgelösten Artikeln war das Problem nicht mehr eines der Arbeitssuchenden, sondern sie selbst stellten das Problem in Form einer Bedrohung des „sozialen Friedens“ dar. Die Gruppe der Geschäftsleute erkämpfte sich mit der Petition eine weithin wahrgenommene Sprechposition, mit der sie die Figur der ‚Schwarzarbeiter‘ als Problem einführten und zur konkreten Gefahr stilisierten. Im vierten Kapitel werde ich zeigen, wie sie – trotz beschwichtigender Stimmen von Seiten der Sicherheitsbehörden – neue repressive Versuche des Regierens aktivierten. Die Stimmen der Arbeitssuchenden wurden aus den Artikeln zur Petition ausgeschlossen. Die Intervention der Geschäftsleute aktivierte den bundesweiten Diskurs zur Armutszuwanderung auf lokaler Ebene. Es verschob damit die bisherige Darstellung des selbstorganisierten Arbeitsmarkts, knüpfte aber auch an die vorhergehende Entdeckung, Erfindung und Skandalisierung der (Probleme der) ‚Tagelöhner‘ an. Nachdem das mediale Interesse am ‚Arbeiterstrich‘ wieder abgeflaut war, wandte es sich erst nach fast zweimonatiger Pause im Oktober 2013 wieder den ‚Tagelöhnern‘ zu. In den im Folgenden erschienenen Artikeln wurde der ‚Tagelöhnermarkt‘ unter dem Themenfeld ‚Armutszuwanderung‘ subsumiert. Sie drehten sich zentral um Obdachlosigkeit und ‚wildes Campieren‘ und nur sekundär um den ‚Tagelöhnermarkt‘. In der SZ-Reportage Tagelöhner in München – Ware Mensch vom 30.10.13 (Risel, 2013b) wurde ein obdachloser Arbeitssuchender begleitet und zitiert. Berichtet wurde über Hristov Jusuf, seinen Unterschlupf und 117 seiner Suche nach Arbeit „für einen Hungerlohn“ (ebd.). Hristof fand sich hier in einer Position der Verteidigung, des Schon-Markiert-Seins wieder, wenn er erklären musste, was er nicht sei: Er sei von der „großen Welle an Ablehnung, die [ihm] … entgegenschlägt, überrascht: ‚Wir sind doch keine Verbrecher.‘ […] ‚Ich bin nach Deutschland gekommen, um zu arbeiten, nicht, um gegen Gesetze zu verstoßen‘“ (ebd.). Nahtlos fügten sich kriminalisierend-skandalisierende Unterüberschriften wie „Jagd nach mutmaßlichen Schwarzarbeitern“ (ebd.) in den Fließtext ein. Im Artikel Gefühlte Unsicherheit (Fuchs, 2013) in der SZ wurden zwar Klagen über „[a]ggressive Bettler, herumlungernde Tagelöhner und mangelnde Sicherheit“ (ebd.) angesprochen – der Polizeipräsident käme auf seinem Rundgang durch das Bahnhofsviertel aber „zu einem anderen Urteil“ (ebd.), es gäbe weniger Verbrechen im Viertel als noch vor zehn Jahren, die Unsicherheit sei eben nur „gefühlt“ (ebd.): „Der Arbeiterstrich und die Bettler seien vor allem ‚soziale Probleme‘, die nicht von der Polizei zu lösen seien“ (ebd.). Eine kleine Notiz mit dem Titel Rassismus-Vorwürfe gegen Zoll in der SZ vom 24. Oktober 2013 (Kastner, 2013) verwies auf einen Versuch von Arbeiter*innen in Koalition mit der Initiative Zivilcourage, gegen den Rassismus, der sich im Anschluss an die Petition auch in neuen Formen der Repression von Seiten der Polizei und des Zolls artikulierte, zu protestieren. Die Erklärung des Zolls zu dem Vorwurf – „Wir wollen den Leuten nichts Böses“ (ebd.) – nimmt dabei mehr Platz ein als die Beschreibung des Vorfalls aus der Sicht der Kontrollierten. Der letzte Artikel in meinem Korpus, Schattendasein aus der SZ vom 25.11.13 (Grundner, 2013), erwähnte ‚Tagelöhner‘ aus Anlass der Räumung eines unerlaubten Zeltlagers am Rande Münchens: „Morgens warten sie im Bahnhofsviertel auf Arbeit, abends verkriechen sie sich am Stadtrand unter Planen und Kartons: Tagelöhner aus Osteuropa“ (ebd.). Neben einem Polizisten und einer Sozialarbeiterin kommt der Leiter des Amtes für Wohnen und Migration als „einer der Ersten, der gesehen hat, was da auf München zurollt“ (ebd.) zu Wort. Er wird uns in der vorliegenden Arbeit noch öfters begegnen. Weder EU-Migrant*innen noch die Initiative Zivilcourage spielen eine Rolle. Mit Ende 2013 beende ich die Materialsammlung. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Deutung des ‚Tagelöhnermarktes‘ und der ‚Tagelöhner‘ stark umkämpft war. Akteure dieser Auseinandersetzung waren die EU-Migrant*innen in Koalition 118 mit der Initiative Zivilcourage und mit Gewerkschaftssekretär*innen, Vertreter*innen der Stadtverwaltung und von Wohlfahrtsorganisationen, Zoll und Polizei sowie lokale Geschäftsleute; außerdem berichteten Journalist*innen in einer relativ autonomen Weise über die Praktiken und Aussagen dieser unterschiedlichen Akteure. Zwei Ereignisse haben den Diskurs besonders nachhaltig beeinflusst: Erstens die öffentliche Anprangerung der Probleme der Arbeitssuchenden am selbstorganisierten Arbeitsmarkt und zweitens die Petition der Geschäftsleute, die den ‚Arbeiterstrich‘ als Problem skandalisiert. Insgesamt erschien es der Koalition aus EU-migrantischen Arbeiter*innen und der Initiative Zivilcourage mit der Zeit immer schwieriger, die Journalist*innen dazu zu bewegen, ihre Perspektiven auf die Problemlagen wiederzugeben. Sie hatten die (relative) Diskurshoheit verloren. Je stärker die Präsenz der migrantischen Arbeitssuchenden als Problem konstruiert wurde, je weiter wurde ihnen ihre Sprechposition entzogen – sie wurden desartikuliert (vgl. Hall, 2004), zum Schweigen gebracht. Auf der Ebene des medialen Diskurses setzten sich ungleiche Machtverhältnisse und Blickregime durch. Auch wenn es in diesem Kapitel dezidiert um den Mediendiskurs geht, möchte ich doch kurz auf die Frage eingehen, inwiefern diese medialen Kämpfe um Deutung den selbstorganisierten Arbeitsmarkt überhaupt direkt berührten. Auf der einen Seite tangierten sie den konkreten Alltag im Bahnhofsviertel nur peripher, die Arbeitssuchenden haben von den deutschsprachigen Zeitungsartikeln meist nicht einmal etwas mitbekommen. Auf der anderen Seite hatte die Berichterstattung direkten Einfluss auf die grundlegenden Entscheidungen über den politischen Umgang der Stadt München mit dem ‚Tagelöhnermarkt‘ und der ‚Armutszuwanderung‘ (siehe Kapitel 4). Sowohl die Gründung des Infozentrums Migration und Arbeit, wie auch vermehrte Kontrollen durch Polizei und Zoll können (auch) darauf zurückgeführt werden, wie die Medien die Initiativen lokaler Akteure aufgriffen (siehe Kapitel 3). Insofern verdeutlicht die Analyse der Auseinandersetzungen das Spannungsfeld, in denen sich die representational politics der Koalition aus EUMigrant*innen und Aktivist*innen der Initiative Zivilcourage (inklusive mir) bewegten: Sie stellten eine wirkmächtige Strategie dar, um die Verhältnisse und insbesondere die Politik der Stadt zu beeinflussen, aber die geschaffenen Figuren liefen gleichzeitig in 119 Gefahr, angeeignet und umgedeutet zu werden. So kann die Figur des ‚Tagelöhnermarktes‘ im Bahnhofsviertel auch als ein Kind der Koalition aus EU-migrantischen Arbeiter*innen und Initiative Zivilcourage und gelesen werden, das bald nicht mehr zu kontrollieren war.59 Doch (relativ) unabhängig von der Berichterstattung setzten die Arbeiter*innen am selbstorganisierten Arbeitsmarkt ihre hartnäckigen alltäglichen Praktiken – ihre imperceptible politics – fort und ließen sich von den Versuchen, den ‚Tagelöhnermarkt‘ als Problem zu definieren und als solches zu lösen, nicht vertreiben. Intersektionale Assemblagen des Rassismus Bis hierhin ging es darum, in welchen Verhältnissen, mit welchen Effekten und von wem der mediale Diskurs zu den ‚Tagelöhnern‘ umkämpft war. Im Folgenden frage ich, wie genau sich Rassismen in der Berichterstattung artikuliert haben: Welchen Logiken und Stereotypen folgten sie? Damit beschränke ich mich bewusst auf eine Analyse des Rassismus auf sprachlicher Ebene (mit einzelnen Bildanalysen), auch wenn dies sowohl materialistischen Analysen von Kräfteverhältnissen, wie auch dem material turn, der auch in der Rassismusforschung angekommen ist (vgl. Papadopoulos & Sharma, 2008), entgegenläuft. Mir erscheint es aber in Hinsicht auf die Frage nach den Versuchen des Regierens in besonderer Weise zielführend, zu analysieren, wie sich Rassismen im medialen Diskurs artikulierten – gerade, weil dieser so eng mit den sozialen Kräfteverhältnissen, Körpern und Subjektivierungen verschränkt war.60 Dazu greife ich auf das Konzept der Assemblagen des Rassismus zurück, mit dem Marianne Pieper und Vassilis Tsianos zum Ausdruck bringen, 59 Noch im März 2017 stellten die Grünen im Stadtrat einen Antrag, „diesen sog. Tagelöhner-‚Strich‘ auf[zu]lösen“ (Die Grünen – Rosa Liste Stadtratsfraktion 2017). 60 Nicht zu vernachlässigen wäre in einer weiterführenden Analyse auch die Vorstrukturierung des Diskurses durch eine weiß, deutsch und mittelständisch (SZ, BR) bzw. auch proletarisch (Boulevardblätter) imaginierte Leserschaft. Gemeinsam mit den imaginierten Adressat*innen richten die Journalist*innen – meist weiß, deutsch, bürgerlich – den Blick auf die nichtweißen, nicht-deutschen, nicht-zeitungslesenden ‚Anderen‘ und berichten über sie. 120 dass verschiedene Rassismen nebeneinander bestehen und sich miteinander verschränken, sich gegeneinander oder wechselseitig verstärken und immer in situ neu verhandelt werden (vgl. Tsianos & Pieper, 2011). Der Mediendiskurs zum „Tagelöhnermarkt“ als lokale, umkämpfte Assemblage des Rassismus gibt Einblick in das „erratische Archipel verschiedener, einander zum Teil überlagernder Formationen“ (Tsianos, 2015: 60) des Rassismus „in den postkolonialen und postmigrantischen Gesellschaften Europas“ (ebd.). Und auch wenn, nach Stuart Hall, „ständig Versuche unternommen [werden], in die vielen potentiellen Bedeutungen des Bildes zu intervenieren und einer davon zu einem privilegierten Status zu verhelfen“, so gilt doch trotzdem: „Bedeutung ‚fließt‘, sie kann nicht endgültig festgeschrieben werden“ (Hall, 2004: 110). Zugleich konnte die Petition ihre Wirkmacht nicht allein aufgrund des Einflusses ihrer Sprecher*innen entfalten. Für das Verdrängen der Stimmen der Tagelöhner aus der Berichterstattung und Markieren des Tagelöhnermarkts als hygienisches und kriminelles Problem war auch entscheidend, dass das rassistische Bilderrepertoire sowie die verknüpften konservativen Logiken und repressiven Praxen schon vorhanden und sagbar waren und nur abgerufen bzw. rekombiniert werden mussten. Bevor ich also die Medienberichte auf rassistische Stereotype untersuche, gebe ich einen kurzen Einblick in aktuelle Debatten der Rassismusforschung. Kolonial bis postliberal – Artikulationen des Rassismus In der Rassismusforschung hält sich die Vorstellung einer zeitlichen Entwicklung des Rassismus vom universellen Rassismus des 18. Jahrhunderts, dem die Idee eines „sich in Stufen vollziehenden Fortschritts der menschlichen Kultur als eines Ganzen“ (Bojadžijev, 2008: 21) zugrunde liegt, über den superioren Rassismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, der die Überlegenheit der europäischen (oder arischen) Völker gegenüber anderer Völker konstruierte, zum differenziellen, oder auch kulturalistischen Rassismus des 20. und 21. Jahrhunderts, der „eng verzahnt [ist] mit den antikolonialen Kämpfen und der säkularen Krise des kapitalistischen Weltsystems Anfang der 1970er Jahre“ (ebd.) und sich in Europa vor allem anhand der Vorstellung von ‚unvereinbaren 121 Kulturen‘ und „um die Migrationsprozesse dynamisiert“ (ebd.; vgl. auch Hall, 2004). Daneben wird auch eine Entwicklung vom biologistischen zum kulturalistischen Rassismus ausgemacht. Ersterer beruht auf der Überzeugung, die Menschheit bestehe aus grundlegend verschiedenen biologischen ‚Rassen‘, die phänotypisch zu erkennen sind und physisch sowie psychisch unterschiedliche Fähigkeiten haben. Er wird dem Kolonialismus, der Sklaverei und auch dem Nationalsozialismus diagnostiziert. Stuart Hall erklärt etwa, Rassismus habe sich zur Zeit der Sklaverei vor allem artikuliert in der Figur der „inhärente[n] ‚Faulheit‘ von Schwarzen, die ‚von Natur aus‘ nur zur Knechtschaft geboren und fähig, gleichzeitig aber sturer Weise unwillig seien, auf eine Art zu arbeiten, die ihrer Natur angemessen und profitabel für ihre Herren war.“ (Hall, 2004: 129) In der Logik des kulturalistischen Rassismus – auch „Neo-Rassismus“ oder „Rassismus ohne Rassen“ (Balibar & Wallerstein, 2014) genannt – ist Differenz demgegenüber nicht von Blut und Genen, sondern von der Sozialisierung bzw. ‚Kultur‘ bestimmt. ‚Kulturen‘ werden dabei gerne mit Religionen, Nationalstaaten oder geographischen Zonen gleichgesetzt. Einflussreich sind Theorien wie der „Kampf der Kulturen“ (Huntington, 1996) oder kulturessenzialistische Begriffe wie der des ‚Kulturkreises‘. Heute artikuliert sich dieser Rassismus vor allen in Problematisierungen von Migration, insbesondere der Migration von Muslim*innen (vgl. Solomos, 2002; Hall, 2004). Der neue Rassismus behaupte „[w]eniger Überlegenheit als Unvereinbarkeit der ‚Eigenen‘ mit den ‚Anderen‘“, stellt Manuela Bojadzijev fest. Dem widerspricht, meiner Einschätzung nach, aber die weit geteilte Überzeugung, der ‚christlich-abendländische Kulturkreis‘ und insbesondere die ‚deutsche Leitkultur‘ seien dem ‚Islam‘ überlegen. An dieser kleinen Unstimmigkeit zeigt sich schon, wie widersprüchlich und pauschalisierend diese Einteilungen sind. So wurden auch schon zu Zeiten der Sklaverei kulturelle Faktoren ausgemacht, wieso Sklaven nicht frei sein könnten und in manchen kolonialen Denksystemen konnten die Kolonisierten zu ‚europäischer Größe‘ erzogen werden. Eine Aufteilung in klar zeitlich abgrenzbare Phasen des Rassismus erscheint mir sehr vereinfachend, da die jeweiligen rassistischen Konjunkturen nicht auf eine dieser Logiken zu beschränken waren, zeitlich über diese Phasen 122 hinauswirken und in jeder Situation spezifisch sind. Um konkrete, umkämpfte Assemblagen des Rassismus analysieren zu können, ist es aber dennoch wichtig, die verschiedenen Spielweisen des Rassismus, die sich in ihnen verschränken, auf ihre Geschichte und Eigenheiten zu befragen. Neuerdings machen diverse Autor*innen auf eine erneute Rekonfiguration rassistischer Konjunkturen aufmerksam. Während die Sozialwissenschaftler*innen Alana Lentin und Gavan Titley vom „racial neoliberalism“ (Lentin & Titley, 2011: 165) sprechen, prägen u.a. Vassilis Tsianos und Marianne Pieper (2011) den Begriff des postliberalen Rassismus. Diese neueren Spielarten des Rassismus produzieren „systematisch Ausgrenzung und Diskriminierung […], ohne sich explizit und vorsätzlich rassistischer Begründungs- und Deutungsmuster zu bedienen“ (Tsianos, 2015: 60). Es handelt sich um „Neo-Rassismen, die sich über eine Rhetorik der ‚Emanzipation‘ und Aufklärung definieren“ (Dietze, 2009: 24) und somit „das Erbe sowohl der Krise des ‚differentiellen Rassismus‘ als auch des gegen ihn artikulierten Antirassismus“ (Tsianos, 2015: 61) antreten. Sie artikulieren sich in der Bekräftigung einer Gesellschaft, die Rassismus überwunden hat und für Diversität und Chancengleichheit eintritt, diese aber an sogenannten westlichen Werten bemisst. Post-rassistische Rationalitäten sind in der Regel nicht mehr gegen Migration, sondern sie geben sich tolerant, weltoffen, rational und emanzipiert – sie differenzieren aber zwischen ‚guten‘ und ‚schlechten‘ Migrant*innen. Im Sinne des neoliberalen Fokus auf das Individuum wird auch ‚Rasse‘ privatisiert (vgl. Giroux & Goldberg, 2006): Das Individuum scheint frei, sich von der angeblich rückständigen Kultur zu befreien und zu einem guten Migranten bzw. einer guten Migrantin zu werden. Bei dieser Freiheit handelt es sich aber um einen Trugschluss, auch weil der Generalverdacht, zurückzufallen, über den Individuen hängen bleibt. Die ‚Anderen‘ sind von dem Generalverdacht betroffen, nicht emanzipiert, aufgeklärt, fleißig, produktiv, vernünftig, rechtschaffen, tolerant, gebildet, fleißig (genug) zu sein, oder in anderen Worten: den ‚westlichen‘ bzw. ‚christlich-abendländischen‘ Werten nicht zu entsprechen. Post-rassistische Rationalitäten feiern Diversität und Vielfalt als gesellschaftliches und wirtschaftliches Potenzial, sehen dieses aber wahlweise von ‚homophoben arabischen Männern‘ (vgl. Puar, 2007; Tsianos, 2015), ‚kopftuchtragenden muslimischen Frauen‘, 123 ‚sozialschmarotzenden Roma‘, ‚kinderreichen afrikanischen Familien‘ oder eben von ‚unqualifizierten Armutszuwander*innen‘ bedroht. Neben der zeitlichen Aufteilung der Konjunkturen des Rassismus gibt es Versuche, regionale Spezifika des Rassismus in Bezug auf (Migration aus) Osteuropa zu erfassen. Die bulgarische Historikerin Maria Todorova wirft einen Blick auf die „historischen Vermächtnisse“ (Todorova, 2004) zwischen den als ‚Westeuropa‘ und ‚Balkan‘ oder ‚Osteuropa‘ bezeichneten Gebilden. Sie untersucht, wie der Balkan als Europas „dunkle Seite“ (ebd: 235) erfunden wurde, wie „eine essentielle Differenz zwischen Stabilität und Rationalität im westlichen Raum und Instabilität und Irrationalität im Balkanraum konstruiert“ (Krause, 2008: 168) wird, wie der Sozialwissenschaftler Johannes Krause feststellt. Anders als der Orient, der als „inkompatibel“ zum Westen imaginiert wird, habe der Balkan, so Todorova, als „unvollständiges Selbst“, „immer das Bild einer Brücke oder einer Übergangszone hervorgerufen: zwischen Ost und West, aber auch zwischen Wachstumsstadien, was eine Etikettierung als ‚halbentwickelt‘, ‚halbkolonial‘, ‚halbzivilisiert‘, ‚halborientalisch‘ usw. nach sich zog.“ (Todorova, 2004: 234) Eine wichtige Rolle in der Analyse des Rassismus gegenüber Migrant*innen aus Osteuropa spielen aktuell Forschungen zu Antiziganismus bzw. Rassismus gegen Roma (vgl. End, 2014; Van Baar, 2012). Beispielsweise wurde der mediale Diskurs in Deutschland mit Schwerpunkt auf die Jahre 2011-2013 von Markus End (2014) und Alltagsdiskurse um Zuwanderung am Beispiel Duisburg-Hochfeld von Bente Gießelmann (2013) auf Stereotype und Sinnstrukturen des Antiziganismus untersucht. Antiziganismus drücke sich in den folgenden Stereotypen aus: Nomadentum, Parasitentum, Sorg- und Disziplinlosigkeit, sexuelle und geschlechtliche Amoralität, Missachtung von Eigentum, Chaos, Schmutz und fehlendes Interesse an Bildung (vgl. End 2014). Die Armut der Roma sei selbstverschuldet, da sie sich nicht um die Zukunft sorgten, sondern im Hier und Jetzt lebten und keine Disziplin hätten. Dabei ist es oft die Verknüpfung der Stereotype, die nach End die antiziganistische Botschaft ausmacht: 124 „Gerade eine Kombination verschiedener Bilder, die für sich genommen jeweils harmlos erscheinen, prägt die derzeitige Darstellung von ‚Roma‘ in den Medien“ (ebd.: 47). Auch wenn sich Rassismen im Sinne von diskursiven Ordnungen, historischen Entwicklungslinien und gesellschaftlichen Aus- bzw. Einschlüssen unterscheiden, überschneiden sich verschiedene Rassismen in konkreten Auseinandersetzungen miteinander. Es wäre zu kurz gedacht, den medialen Diskurs zum „Tagelöhnermarkt“ alleine als antiziganistisch zu bezeichnen – auch wenn er dies sicherlich auch ist. Mit Tsianos und Pieper gehe ich davon aus, dass Rassismen sich in spezifischen, temporären und lokalen Assemblagen artikulieren, die überdeterminiert sind und ständig ausgehandelt werden. Analytisch möchte ich den Fokus also auf die Widersprüche, Uneindeutigkeiten und Überlagerungen in der konkreten rassistischen Assemblage des Mediendiskurses zum sogenannten „Tagelöhnermarkt“ legen. Dazu ist es nötig, ganz konkret die verschiedenen rassistischen Stereotype und Argumentationen aufzuzeigen, die sich in ihm artikulieren. Stuart Halls Repräsentationsregimeanalyse als Werkzeugkasten Im Folgenden möchte ich mich also darauf konzentrieren, wie Rassismus in der Berichterstattung zum ‚Tagelöhnermarkt‘ und den ‚Tagelöhnern‘ zum Ausdruck kommt. Welche Konstruktionen von Differenz erhalten Plausibilität und wie? Wie wird Differenz dargestellt bzw. was wird wie als different dargestellt? Welche Stereotype, Logiken und Figuren lassen sich analysieren? Wie werden die Subjekte und sozialen Ordnungen des selbstorganisierten Arbeitsmarktes im Münchner Hauptbahnhofviertel in den untersuchten Fragmenten des öffentlichen Diskurses dargestellt? Ich konzentriere mich bewusst auf eine Analyse der sprachlichen Ebene (mit einzelnen Bildanalysen)61 und greife auf den Werkzeugkoffer der 61 Nicht zu vernachlässigen wäre in einer weiterführenden Analyse auch die Vorstrukturierung des Diskurses durch eine weiß, deutsch und mittelständisch (SZ, BR) bzw. auch proletarisch (Boulevardblätter) imaginierte Leserschaft. Gemeinsam mit den imaginierten Adressat*innen richten die 125 Cultural Studies, genauer gesagt Stuart Halls Repräsentationsregimeanalyse, zurück. Hall fragt in seinem Essay Das Spektakel des ‚Anderen‘, wieso und wie Differenz repräsentiert wird und arbeitet einige Analysebegriffe heraus, die auch für meine Analyse der Berichterstattung zum ‚Tagelöhnermarkt‘ relevant sind. Anhand einer Analyse von Werbeplakaten und einer historischen Rückschau zeigt er, dass „das Andere“ anhand von vereinfachten, festgeschriebenen (d.h. angeblich unveränderbaren) und als natürlich betrachteten Eigenschaften bzw. Merkmalen dargestellt wird. Die Formen der Repräsentation nennt er Stereotype: „Stereotypisierung reduziert Menschen auf einige wenige, einfache Wesenseigenschaften, die als durch die Natur festgeschrieben dargestellt werden“ (Hall, 2004: 143). Stereotype werden oft erst in der Häufung über viele Diskursfragmente sichtbar - wird einmal ein Schwarzer Mann als besonders sexuell attraktiv oder aktiv dargestellt, kann dies ein Zufall sein, wiederholt sich dies aber immer wieder, schreibt sich das Stereotyp intertextuell in die öffentliche Wahrnehmung ein, so dass schon kleine Hinweise genügen, damit es lesbar wird. Die „Anhäufung und Veränderung von Bedeutung über verschiedene Texte hindurch“ (ebd.:115) bezeichnet Hall als Inter-Textualität. „[D]as gesamte Repertoire an Bildern und visuellen Effekten, durch das ‚Differenz‘ in einem beliebigen historischen Moment repräsentiert wird“ (ebd.) bezeichnet er als Repräsentationsregime. Stereotype funktionieren oft durch doppeldeutige Tropen wie etwa die Begriffspaare Helden/Schurken oder Natur/Kultur. Sie bestehen dann aus binären Bedeutungspaaren: „Diese Zweideutigkeit ist wichtig, denn sie verdeutlicht, dass Menschen, die auf irgendeine signifikante Weise von der Mehrheit verschieden – ‚sie‘ und nicht ‚wir‘ – sind, oft binären Formen der Repräsentation ausgesetzt werden. Sie werden scheinbar durch gegensätzliche, polarisierte, binäre Extreme wie gut/schlecht, zivilisiert/primitiv, hässlich/übermäßig attraktiv, abstoßend-weil-anders/ anziehend-weil-fremd-und-exotisch repräsentiert. Und oft wird von ihnen gefordert, beides zur gleichen Zeit zu sein!“ (ebd.: 111f.) Journalist*innen – weiß, deutsch, bürgerlich – den Blick auf die nicht-weißen, nicht-deutschen, nicht-zeitungslesenden ‚Anderen‘ und berichten über sie. 126 Dabei zieht eine Differenz die andere an, weswegen Hall von einem „Spektakel des ‚Anderen‘“ spricht (ebd.: 108) – ganz im Sinne des Begriffes der Assemblagen des Rassismus. Wie wird Differenz in der Berichterstattung zum ‚Tagelöhnermarkt‘ also repräsentiert, welche Stereotypen lassen sich ausmachen? ‚Schwarzarbeiter‘, ‚Ungeziefer‘, ‚Freiwild‘ – Eine Assemblage des Rassismus Der erste und grundlegende von sechs rassistischen Stereotypen bzw. Tropen im medialen Diskurs zum ‚Tagelöhnermarkt’, ist die Aufteilung in eine ‚In-Group‘ und ‚die Anderen‘: Sie vs. Wir. Diese Gegenüberstellung zeichnet sich vor allem in den Artikeln zur Petition und in der Petition selbst sehr deutlich ab. „Sie sagen: Das ist unser Revier! Aber auch wir Anwohner haben ein Recht auf unsere Kreuzung!“ (Risel, 2013c, Hervorhebung durch Autorin) so wird der Verfasser der Petition in der SZ vom 30.08.13 zitiert. Er fährt fort: „Jetzt geht es um die Frage: Wer hat hier das Sagen?“ (ebd.). Von wem geht die angebliche Bedrohung aus? Der SZ-Artikel zitiert einen Juwelier, der seine Kund*innen nicht mit einer größeren Summe Geld auf die Straße treten lassen wolle: „Vor dem Schaufenster mit dem Schmuck in der Auslage hatte sich eine Gruppe von Männern osteuropäischer Herkunft versammelt. ‚Dunkle Gestalten‘ wie Kinaci sagt, die bedrohlich wirkten“ (Risel, 2013c). Es wäre zwar nichts passiert, „[d]och mittlerweile käme es häufiger zu solchen unangenehmen Szenen“ (ebd.). Hier und in ähnlichen Darstellungen werden die Arbeitssuchenden als „dunkel“ (Risel, 2013c), „geschäftsschädigend“ (Bachner, 2013; Risel, 2013) „aggressiv“ (Siegert, 2013), „bedrohlich“ (Risel, 2013c) und „sehr befremdlich“ (ebd.) dargestellt. Im Gegenzug erklären die Personen, die die Petition unterzeichnet haben, dass sie ihr „Recht […] auf ein humanes und zivilisiertes Leben und Arbeitsumfeld“ bzw. auf ein „normales Wohnen und Arbeiten“ verteidigten und eine „humane und soziale Lösung“ forderten. Diese Zitate bauen eine klare Binarität auf – das imaginierte, normale ‚Wir‘ muss sich der Bedrohung durch die ‚Anderen‘ erwehren. Hier wird auf prototypische Art und Weise deutlich, wie rassistische Stereotypisierung als eine „Praxis der ‚Schließung‘ und des Ausschlusses“ (Hall, 2004: 144), nach Stuart Hall, 127 „das Normale und Akzeptable vom Anormalen und Unakzeptablen ab[trennt], um letzteres dann als nicht passend und andersartig auszuschließen und zu verbannen“ (ebd.). Auf der anderen Seite steht „das ‚Zusammenbinden‘ oder ‚Zusammenschweißen‘ zu einer ‚imaginierten Gemeinschaft‘“ (ebd.). Bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass auch das konstruierte ‚Wir‘ im medialen Diskurs zum ‚Tagelöhnermarkt‘ ein vielfältiges ist, das nicht nur aus weißen Deutschen besteht. Im Zusammenhang mit der Petition wurde immer wieder betont, dass auch (post-)migrantische Hotelbesitzer*innen, Vertreter einer Moschee und der Betreiber des Döner-Imbisses am selbstorganisierten Arbeitsmarkt sich für ‚normale‘, ‚humane‘ und ‚soziale‘ Arbeits- und Wohnverhältnisse aussprächen. Vom ‚Arbeiterstrich‘ gestört fühlten sich im medialen Diskurs auch „arabische Touristen“ (Bachner, 2013) und „[Hotel-]Gäste aus China, Russland oder den USA“ (Risel, 2013c). Schon in dem ersten Artikel Probebohrungen im Biotop zum Projekt der Kammerspiele wurden Vielfalt, Diversität und Buntheit als Merkmale des prosperierenden Bahnhofsviertels dargestellt (Rühle, 2010). Im Sinne der Image-Kampagne des Vereins Südliches Bahnhofsviertel liegen genau im „Großstadtflair“ und der „Multikultur“ des Viertels dessen „spezifische Qualitäten und Potenziale“. (Südliches Bahnhofsviertel e.V., 2016) Die Gemeinschaft der (post-)migrantischen und nicht-migrantischen Geschäftsleute, der Tourist*innen und kaufkräftigen Kund*innen, der das Potenzial wirtschaftlicher Prosperität und einer ‚normalen Nachbarschaft‘ zugeschrieben wird, stellt eine „good diversity“ im Sinne von Alana Lentin und Gavin Titley (2011) dar. Die selbstidentifizierten Angehörigen der ‚good diversity‘ sehen sich bedroht von den Vertreter*innen der ‚bad diversity‘, die in der „Tagelöhner-Mafia“ (Bachner, 2013), den ‚Schwarzarbeitern‘ und dem ‚Arbeiterstrich‘ ausgemacht wird. Nicht nur das bedrohte ‚Wir‘ wird als ein vielfältiges dargestellt, sondern auch die neu ankommenden Migrant*innen werden aufgeteilt in solche, die zu ‚Uns‘ passen und solche, die die angebliche Normalität stören. Ganz zentral waren dem Diskurs Auseinandersetzungen um die Deutung der Arbeitstätigkeit der ‚Tagelöhner‘. Das negative Stereotyp ‚Schwarzarbeiter‘ – auch ‚Opfer von Menschenhandel‘ und/oder ‚Sozialbetrüger*in‘ – wurde der positiven Zuschreibung der ‚nützlichen Arbeiter‘, die zur Allgemeinheit beitragen, gegenüber gestellt. Diese Trope stellt neben der Unterscheidung zwischen ‚Uns‘ und den 128 ‚Anderen‘ das zweite Merkmal des Diskurses zum ‚Tagelöhnermarkt‘ dar. Sowohl die Sozialreferentin wie auch der Vertreter der Initiative Zivilcourage intervenierten in die reißerisch-rassistische Berichterstattung zur Petition mit der Aussage, dass die Arbeitssuche am selbstorganisierten Arbeitsmarkt oft durchaus erfolgreich sei. Im Bayerischen Rundfunk erklärte das Sozialreferat, „dass ein Großteil der Osteuropäer in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen ist – natürlich gebe es aber auch Schattenseiten“ („Ärger um Tagelöhner – Petition gegen ‚Arbeiterstrich‘“, 2013). Die Sozialreferentin betonte zudem, dass die Behörden „die Erfahrung [machten], dass die Menschen nicht dem Sozialstaat auf der Tasche liegen wollen“ (ebd.). Hier werden nicht alle ‚Tagelöhner‘ bzw. ‚Osteuropäer‘ in einen Topf geworfen, sondern im Sinne von Leistungsideologie zwischen den Nützlichen und den Unnützen unterschieden. In diesen leistungsideologischen Spielweisen des postliberalen Rassismus verschränken sich rassistische und chauvinistisch-klassistische Figuren. Es sind allen voraus die illiberal-weil-unproduktiven Anderen bzw. die nicht-deutschen, nicht-weißen Leistungsverweigerer, die als Gefahr für die liberale, vielfältige Gesellschaft gelten. In Prozessen der Überdeterminierung verstärken sich die unterschiedlichen Zuweisungen noch. Die Frage, ob es sich hier nicht viel eher um Klassismus oder Chauvinismus statt um Rassismus handelt, erübrigt sich, denn beide sind nicht voneinander zu trennen sondern überformen sich gegenseitig. Drittens bedient sich rassistische Stereotypisierung auch in den untersuchten Artikeln ganz brachial dem Hygienediskurs (vgl. Sarasin, 2001) und ruft damit besonders deutlich auch antiziganistische Vorurteile auf. Einen Tiefpunkt stellt zum einen das von der Petition eingeführte Bild der „gesundheitsgefährdenden Schädlinge“, die mit dem ‚Tagelöhnermarkt‘ aufgetaucht seien, dar und zum anderen der Untertitel des tzArtikels vom 28. August 2013: „Müll, Urin und Ärger“ (Costanzo, 2013a). Schmutz tritt aber auch schon vor der Petition als Thema auf, nämlich durch die Betonung seiner Abwesenheit. Intertextuell funktioniert die Stereotypisierung hier schon nach dem selben Muster wie in der Petition, denn nur zuvor als ‚schmutzverdächtig‘ markierte Personen müssen als sauber erklärt werden. Während die Tagelöhner in Lohn und Leid „frühmorgens […] trotz nächtlicher Strapazen in nahezu knitterfreier Kleidung, mit Gel in den Haaren und geputzten Schuhen an der Kreuzung stehen“ (Bacher, 2010), trägt „Hussein“ in der preisgekrönten 129 Reportage Scheißegal, ich mache alles vom 07. Oktober 2010 ein „weißes Leinenhemd, das grau melierte Haar ist frisch geschnitten“ (Reinsberg, 2012) und sagt: „Wir müssen auf den Straßen Europas gut aussehen“ (ebd.). Im selben Artikel finden sich auch erste direkte Schmutzallegorien: „Eine Kehrmaschine spritzt die Bürgersteige sauber und die Männer nass, die Bulgaren springen zur Seite. Der Boden, auf dem sie stehen, ist jetzt sauberer als sie selbst.“ (ebd.) Auch in der Ausgabe des BISS vom Oktober 2011 spülte eine Müllabfuhr „den Schmutz der Nacht […] in die Gullys“ (Hoffinger, 2011), während „zwei dutzend Männer […] an der Kreuzung [stehen], und verbeulte Jogginghosen und langärmelige Shirts mit Flecken unter den Armen“ (ebd.) tragen. Nicht nur hier zeichnen sich die Artikel zur Petition durch ihre Deutlichkeit aus, während die Artikel, die nicht direkt mit der Petition in Zusammenhang stehen, die rassistischen Stereotype tendenziell nicht so direkt ausspielen, sondern mit indirekten Metaphern oder Umkehrungen ummanteln. In ihrer Analyse von Alltagsdiskursen um Zuwanderung in DuisburgHochfeld, die einige Parallelen zu den Münchner Verhältnissen aufweisen, spricht Bente Gießelmann von einer „Ethnisierung des Schmutzes“: „Hier geht es nicht nur um eine konkrete Müll-Problematik, sondern um die Verhandlung von Ordnung und Sauberkeit auf einer symbolischen Ebene, die über das Müll-Narrativ funktioniert. Auf einer abstrakteren Ebene wird das Eigene, gekennzeichnet durch disziplinierte Sauberkeit und Ordnung, durch das als deviant markierte Verhalten der (neuen oder länger anwesenden) ‚Fremden‘ bedroht. Insofern findet hier eine ‚Ethnisierung von Müll‘ statt. Inwiefern in einer symbolischen Ordnung Heimat und Sauberkeit gegenüber Zuwanderung und Dreck verknüpft werden und ‚Müll‘ latent auch die (Anwesenheit der) Zugewanderten bezeichnet, liegt nahe und sollte durch weitere diskursanalytische Untersuchungen gezeigt werden.“ (Gießelmann, 2013: 33f.) Nicht nur die Straßen, sondern auch die Körper Arbeitssuchender werden zum Austragungsort des Hygienediskurses (vgl. z.B. Sarasin, 2001). Sie werden mit verunreinigenden Aktivitäten in Verbindung gebracht und so im übertragenen Sinne selbst als Verunreinigung dargestellt. Stuart Hall stellt fest, dass sich viele Stereotype auf Körper – z.B. auf 130 Sexualität, Hautfarbe oder physische Stärke – beziehen: Der „Körper wurde zum diskursiven Ort, über den ein Großteil dieses ‚rassisierten Wissens‘ produziert und in Umlauf gebracht wurde“ (Hall, 2004: 128). In der Petition kommt es so beispielsweise metaphorisch zu einer Gleichsetzung zwischen den Körpern der ‚Schwarzarbeiter‘ und den Körpern der Schädlinge. Außerdem wird das Verhalten der Tagelöhner*innen im medialen Diskurs als beschmutzend dargestellt: „Der Anblick der Männer, die im Pulk auf dem Bürgersteig stehen oder rauchend in Hauseingängen sitzen, sei für diese [Hotelgäste aus China, Russland oder den USA]‚ sehr befremdlich‘“ (Risel, 2013c), so wird eine Hotelbetreiberin in der SZ zitiert. Einige Zeilen später spricht der Geschäftsführer der TheaGe davon, wie die Männer „spuckend vor unserer Tür“ (ebd.) stehen. Zudem werden die Wartenden durchgehend als rauchend beschrieben. Die Bedeutung des Rauchens – im öffentlichen Diskurs stark umkämpft, zwischen nonchalanter Coolness und gesundheitsgefährdender Schwäche – gewinnt hier eindeutig einen abwertenden Touch in Resonanz mit biopolitischen Kampagnen zur Gesundheitsschädlichkeit und Selbstsorge. Auch die Rede von Tattoos, die in fast allen Artikeln auftaucht, reduziert die Subjekte auf ihre Körper und setzt diese in Bezug zu mangelnder Selbstpflege und Hygiene. In dem Artikel Scheißegal, ich mache alles weiß der Analphabet über die Tattoos an seinem Hals nur, dass sie „irgendwas Versautes“ (Reinsberg, 2012) bedeuten. In ähnlicher Weise funktionieren ökonomische Metaphern, die Menschen auf ihre Körperkraft reduzieren: „Alles, was Ilja anbieten kann, ist die Kraft seines Körpers. Seine Arme zum Heben, seinen Rücken zum Schleppen, seine Hände zum Spülen“ (ebd.). Die Reduzierung auf Körper und Analogien zu Schmutz sind nicht nur für rassistische und insbesondere antiziganistische, sondern gleichzeitig auch für klassistische Abwertung typisch. Mangelnde Körperhygiene, Drogenkonsum oder Faulheit werden auch weiß-deutschen Obdachlosen oder Arbeitslosen vorgeworfen (vgl Lehnert 2009). Hier wird wieder deutlich, wie verschiedene Formen der Abwertung und Ausgrenzung in unterschiedlichen Verhältnissen wirkmächtig werden – bzw. wie die Verhältnisse auch zusammenhängen. Eine vierte Spielart des Rassismus besteht auch in den untersuchten Berichten darin, dass die Arbeitssuchenden entkonkretisiert (vgl. Gießelmann, 2013) und entmenschlicht werden. Dies zeigt sich nicht nur dadurch, dass ihre Namen im medialen Diskurs oft nicht genannt werden (während die Namen der ‚Expert*innen‘ immer angegeben werden), 131 sondern vor allem dann, wenn nicht über einzelne Personen, sondern über gesichtslose Kollektive gesprochen wird. In den Zeitungsartikeln zur Petition wird mit Begriffen wie „Zuständen“ (Costanzo, 2013a), „unangenehme Szenen“ (Risel, 2013c) oder eben „Arbeiterstrich“ (Bachner, 2013; Costanzo, 2013a; Siegert, 2013) auf die Präsenz der Arbeitssuchenden verwiesen. In diesem Zusammenhang möchte ich auf zwei Fotografien eingehen, mit denen die Süddeutsche Zeitung fast alle ihrer Artikel zum „Tagelöhnermarkt“ illustriert hat. Damit folge ich dem Beispiel von Stuart Halls Repräsentationsanalyse, der in seiner Analyse von fotografischen Repräsentationen Schwarzer Athlet*innen feststellt: „Zwei Diskurse – der Diskurs der geschriebenen Sprache und der Diskurs der Fotografie – werden benötigt, um die Bedeutung zu produzieren und festzuschreiben“ (Hall, 2004: 111). Der Fotograf Robert Haas hatte die Recherchen zu der Reportage Lohn und Leid (Bacher, 2010) begleitet. Auch weil die Initiative Zivilcourage und ver.di die Recherchen unterstützt und Kontakte vermittelt hatten, hatte er keine Probleme mit dem Zugang zu den Arbeitssuchenden. So konnten ungestellte und dicht wirkende Fotos aus deren Alltag entstehen. Das den Artikel Lohn und Leid (Bacher, 2010) illustrierende großformatige Foto ist ausgeglichen komponiert. Im rechten Fünftel ist ein junger Mann in Trainingsjacke und Jeans seitlich von Kopf bis unterhalb der Hüfte zu sehen. Er hat einen freundlichen Gesichtsausdruck und blickt schräg rechts an dem/der Betrachter*in vorbei. Der Rest des Bildes stellt die spiegelnde Fensterfront des Gebäudes dar, vor der er steht. Das sehr klare, aber von vier Streben fragmentierte Spiegelbild zeigt zum einen den jungen Mann – spiegelverkehrt – und zum anderen fünf weitere Personen, die mit ihm in einer Gruppe zu stehen scheinen. Noch von einem weiteren Mann ist das Gesicht zu sehen. Bei einer der Personen handelt es sich wohl um eine Frau, was an ihrer Statur und einem Pferdeschwanz erkennbar scheint. Das Bild porträtiert gleichzeitig eine Einzelperson und positioniert diese in einer Gruppe. Durch den Spiegeleffekt macht es einen phantomhaften und transparenten Eindruck, als seien die gespiegelten Personen gar nicht präsent. Die Verbildlichung verbindet sich gut mit den Metaphern der ‚Unsichtbarkeit‘ und des ‚Lebens im Schatten‘, wie sie zwar nicht in diesem Artikel, aber in anderen vorkommen. Drei Jahre später illustriert ein weiteres Foto des selben Fotografen, das wahrscheinlich in der selben Situation entstanden ist, den Artikel 132 Endstation „Arbeiterstrich“ (Öchsner, 2013). Diesmal handelt es sich um zwei Männer in Trainingsjacken, die bis unterhalb der Schultern – also näher – abgebildet sind, die rechte Hälfte des Bildes einnehmen und auf der linken noch einmal spiegelverkehrt zu sehen sind. Hier sind sie aber von hinten abgelichtet, nur ihre Hinterköpfe und ein knapp angeschnittenes Profil sind zu sehen. Sie blicken von den Betrachter*innen weg, scheinen sich von ihnen und aus dem Bild heraus zu entfernen. Im Hintergrund, in einigen Metern Entfernung sind fünf weitere Personen verschwommen zu erkennen. Eine Frau ist auf dem Bild nicht zu sehen. Wurde in dem für Lohn und Leid (Bacher, 2010) gewählten Bild eine Person porträtiert und den Betrachtenden näher gebracht, gibt es hier keine Identifikationsfigur mehr, sondern eine anonyme Gruppe, die sich bei großer Nähe gleichzeitig auch abwendet.62 Die Bildsprache in den Artikel der Boulevardpresse zur Petition zeigt die Entmenschlichung noch deutlicher. Auf zwei Fotos, die den tz-Artikel Aufstand gegen den Arbeiter-Strich (Costanzo, 2013a) illustrieren, geht es gar nicht mehr um die Darstellung von einzelnen Personen; die Gestalten auf den Bildern wirken vielmehr nur als Beweismaterial für die ‚Szenerie‘, die direkt neben den Bildern durch die Unterüberschrift „Müll, Urin und Ärger!“ charakterisiert wird. Die Gesichter der jeweils vier bzw. sechs auf dem Gehsteig stehenden und sitzenden Männern sind verpixelt. Die wie Schnappschüsse wirkenden Fotos sind aus einiger Entfernung, wohl aus einem Auto und von der anderen Straßenseite 62 Wie bereits beschrieben, handelt der durch dieses Bild illustrierte Artikel in Reaktion auf das Papier des Städtetages von der bundesweiten Belastung der Kommunen und der humanitären Katastrophe, als deren Ursache die „Arbeitsmigranten aus Osteuropa“ ausgemacht wird; München ist im Fließtext nicht erwähnt, sondern ist nur durch das Foto und seinen Untertitel inhaltlich und intertextuell mit dem Artikel verknüpft. So wird das Foto der Münchner EU-Migrant*innen auf einmal zum Symbol für den (bundesweiten) ‚Arbeiterstrich‘ als Endstation der ‚Armutszuwanderung‘. Der ‚Arbeiterstrich‘ wird dadurch intertextuell mit der hegemonialen, paternalistischen Annahme verbunden, dass die EU-Migrant*innen ‚keine Perspektive‘ in München bzw. Deutschland hätten, dass ihr Migrationsprojekt aussichtslos sei. Auf diese Annahme werde ich in Kapitel 4 bei der Analyse der städtischen Obdachlosenpolitik wieder zurückkommen. Das selbe Symbolfoto wurde dann auch gewählt, um die Artikel Ärger mit den Schwarzarbeitern (Risel, 2013c), Ware Mensch (Risel, 2013b) und Schattendasein (Grundner, 2013) zu illustrieren. 133 aufgenommen. Es entsteht der Eindruck, dass der Fotograf die Fotos unbemerkt von den fotografierten Personen aufgenommen hat. Die fünfte Spielweise des Rassismus, die ich im analysierten Diskurs erkenne, besteht darin, dass Gender und ‚Rasse‘ verknüpft bzw. die Arbeitssuchenden maskulinisiert werden. Das oben erwähnte Foto, das den Artikel Lohn und Leid (Bacher, 2010) illustriert, ist der einzige Moment in meiner Materialsammlung, in dem arbeitssuchende Frauen am „Tagelöhnermarkt“ dargestellt oder erwähnt werden. Es scheint mir daher kein Zufall zu sein, dass auf dem Illustrationsfoto des Artikels Endstation „Arbeiterstrich“, das ja die selbe Situation darstellt im Einklang mit dem hegemonialen Narrativ von den „Tagelöhnern“ keine Frau mehr zu sehen ist. Es avancierte in den folgenden Artikeln quasi zum Symbolbild für den „Tagelöhnermarkt“. Auch im Diskurs zu den „Tagelöhnern“ (und nicht den „Tagelöhner*innen“) verschränken sich rassistische Verhältnisse mit Paternalismus, Heteronormativität und Sexismus. Balibar stellt fest, dass „es letzten Endes absurd [ist], wenn man versucht, Rasse und Rassismus von ihrem Klassen-, Geschlechts- und Religionskontext zu trennen“ (Balibar 2008: 24). Die Darstellung des ‚Tagelöhnermarktes‘ ist auf verschiedene Weise vergeschlechtlicht. Vor allem zeichnet sich der Diskurs durch die Maskierung der Präsenz von arbeitssuchenden Frauen am selbstorganisierten Arbeitsmarkt aus. Nur in dem Artikel mit dem Titel Lohn und Leid ist überhaupt von „Frauen, die an der Kreuzung auf Arbeit warten“ (ebd.) die Rede und hier kommt auch das einzige Mal eine Frau selbst zu Wort – allerdings mit einem Zitat, das rassistische Hygiene- und Viktimisierungsfantasien bedient: „Es bleibt uns nichts anderes übrig, als die Theresienwiese als Klo zu benutzen“ (ebd.). Wenn Frauen in den anderen Artikeln Erwähnung finden, dann als Teil der Familie im Heimatland, für deren Ernährung die männlichen „Tagelöhner“ schuften. Während arbeitssuchende oder arbeitende ‚Tagelöhnerinnen‘ nicht weiter vorkommen, wird die Opferfigur feminisiert. So ist zum Beispiel immer wieder von Frauen die Rede, die sich nicht mehr trauen alleine zur Arbeit zu gehen. Im Bild-Artikel zur Petition werden Frauen als Opfer dargestellt: ‚Schwarzarbeiter“ „bieten Frauen zu Prostitution feil“ und „pöbeln unsere Kassiererinnen an“ (Bachner, 2013). So unterstreicht die vergeschlechtlichte Darstellung das Bedrohungszenario, 134 indem die Arbeitssuchenden maskulinisiert, ihre angeblichen Opfer feminisiert und die arbeitssuchenden Frauen unsichtbar gemacht werden.63 Beim sechsten rassistischen Merkmal des untersuchten Diskurses handelt es sich um die gleichzeitig viktimisierende und kriminalisierende Trope, mit der die Arbeitssuchenden wahlweise als Täter oder als Opfer dargestellt werden. Die ‚Tagelöhner‘ wurden durchgehend als Opfer von Ausbeutung und organisierter Kriminalität konstruiert und gerade in ihrer Eigenschaft als Arbeiter*innen als passiv und abhängig dargestellt. Schon in einem der ersten Artikel wird die Viktimisierung besonders schonungslos deutlich: die Arbeiter seien „Freiwild für betrügerische Subunternehmer, die billige Arbeitskräfte ausnutzen“ (Bacher, 2010). Die Reportage Scheißegal, ich mache alles (Reinsberg, 2012) zielt in die gleiche Richtung: „Arbeiterstrich – so heißt eine Straßenecke mitten in München, an der Billig-Tagelöhner aus Südosteuropa auf einen Job für ein paar Euro warten. Sie sind moderne Arbeitssklaven, frei verfügbar, zu riskanten Tätigkeiten bereit. Und werden oft um ihr Geld betrogen.“ (ebd.) Wenn im Zusammenhang mit der Petition betont wird, die ‚Schwarzarbeiter‘ seien „arme Menschen“ (Bachner, 2013; Costanzo, 2013a; Risel, 2013c), „arme Hunde“ (Siegert, 2013) beziehungsweise „die Ärmsten der Armen“ (Costanzo, 2013a), dient das Adjektiv ‚arm‘ nicht nur als ökonomischer Marker, sondern bezeichnet ihrer Passivität und Bemitleidenswertigkeit: „Die armen Menschen!“ (Siegert, 2013). Und auch die ihnen zugeschriebenen Tätigkeiten verstärken den passiven Eindruck: Sie „warten“ (Costanzo, 2013a; Hampel, 2012), „stehen herum“ (ebd.), „hoffen“ (Bachner, 2013), „lungern herum“ (Bachner, 2013), „schlurfen“ (Reinsberg, 2012), „trudeln ein“ (ebd.), „murmeln“ (ebd.) und „friste[n] ein Leben“ (Tibudd, 2010). Neben Passivität stellt Unwissenheit eine weiteres Merkmal des Stereotyps ‚Opfer‘ dar. Die Arbeitssuchenden 63 Meiner Beobachtung nach warten Frauen zwar tatsächlich seltener als Männer über längere Zeit an der Kreuzung auf Arbeit. Nadja (eine der Frauen, von deren Arbeitskampf und Migrationsprojekt das erste Kapitel handelt), berichtete aber sehr wohl, dass sie hier schon Arbeit gefunden hätten. Wenn ich mich durch das Viertel bewege, treffe ich nicht nur Männer, sondern eben auch Frauen. Sie bewegen sich im Viertel und gehen auch Arbeiten in den Geschäften und Hotels nach. 135 hätten nicht gewusst, worauf sie sich einließen, bevor sie nach München kamen. Sie „[a]rbeiten oft illegal, ohne es zu wissen“ (Bachner, 2013), sie könnten weder Lesen und Schreiben (Reinsberg, 2012), noch die deutsche Sprache sprechen (Hampel, 2012). Als narrative Strategie fällt die argumentative Verknüpfung von Opferdarstellungen mit der Ankündigung oder auch Aufkündigung eines Ultimatums ins Auge: „‚Die tun niemandem etwas, das sind ganz arme Hunde‘“, so wurde ein Hotelchef in der AZ zitiert, „Aber es geht so einfach nicht mehr“ (Siegert, 2013). Die SZ zitiert den Geschäftsführer der Theatergemeinde in indirekter Rede: „Und obwohl er die Menschen, die an der Kreuzung stehen, respektiere und ihre Lage bedaure, sei für ihn ein Punkt erreicht, wo etwas getan werden müsse“ (Risel, 2013c). Die tz wies die entsprechende Positionierung pauschal den „Anwohnern“ zu: „Die Tagelöhner sind die Ärmsten der Armen. Das sagen auch die Anwohner. Doch jetzt haben sie genug von den Zuständen“ (Costanzo, 2013a). Die viktimisierenden Vorschübe neutralisieren die auf sie folgende Aussage. Viktimisierung immunisiert so Forderungen nach Repression und maskiert Rassismus. Die Sprechenden bescheinigen sich einen vernünftigen, objektiven und zivilisierten Umgang mit der Situation, was das Urteil und den Aufruf zum Tätigwerden aber nicht nur legitimiert, sondern auch unterstreicht. Die kurzen Vorsätze im humanitaristischen Opfersprech machen diese Aussagen anschlussfähig an den öffentlichen Diskurs. So betont gerade die renommierte Tageszeitung SZ das Mitleid und Verständnis der Geschäftsleute für die Arbeitssuchenden. Wo Opfer sind, sind die Täter nicht weit: „Criminalisation is the flipside of victimisation“, so stellt Vicky Squire (2014) fest. Verschiedene Forschungen zu Migrationsregimen zeigen, dass die janusköpfige Figur der Viktimisierung/Kriminalisierung wichtiger Teil des allgemeinen Einwanderungsdiskurses und insbesondere der Teildiskurse zu Flucht, „illegaler Einwanderung“ und „Menschenhandel“ ist (vgl. Andrijašević, 2007; Bahl, Ginal & Hess, 2010; Karakayalı, 2008).64 Diese Trope stellt ein 64 Oft hat die Figur der Viktimisierung/Kriminalisierung die Funktion, verschiedene Akteure unter dem gemeinsamen und kaum abzulehnenden Ziel des Opferschutzes an einen Tisch zu bringen, wobei am Ende die Bekämpfung von Migration als logisches und hegemoniales Fazit steht (vgl. Andrijašević, 2007; Bahl & Ginal, 2009). Nur so sei gegen die kriminell organisierten Schlepper und Menschenhändler vorzugehen und der Ausnutzung armer Menschen vorzubeugen. 136 typisches Muster antimigrantischer Rassismen und repressiver Versuche des Regierens dar. Der Kriminalisierungs-/Viktimisierungs-Nexus unterstützt das Silencing der Akteure, denn die Figur der Opfer ist passiv und spricht nicht. Vor allem in den ersten Artikeln zum ‚Tagelöhnermarkt‘ ist diese Doppel-Figur fast ausschließlich in Bezug auf Arbeit und Ausbeutungsstrukturen zu finden: Arbeiter werden als Opfer dargestellt und die Arbeitgeber als „betrügerische Subunternehmer“ (Bacher, 2010) und „Hintermänner“ (Risel, 2013c) kriminalisiert. Die Bezeichnung ‚Subunternehmer‘ – eine übliche und ganz legale Funktion in heutigen Marktabläufen – scheint mir dabei oft als das ökonomische Synonym für ‚Schlepper‘ und ‚Schleuser‘ eingesetzt zu werden. In den meisten, vor allem den früheren Artikeln, wird die Migration und Präsenz der ‚Tagelöhner‘ zwar als schweres Schicksal oder uninformierte Entscheidung, aber – im Gegensatz zu den Arbeitsbedingungen – nicht als kriminell dargestellt.65 Die SZ berichtet am 24.08.10 noch davon, dass Hristo Vankov sich die Benzinkosten der Fahrt mit dem Minibus von Pazarjik nach München mit den anderen geteilt habe (vgl. Bacher, 2010). Diese Darstellung ändert sich mit dem Erstarken des bundesweiten Diskurses zur Armutszuwanderung. Auf einmal treten für die Diskursformationen zu ‚Menschenhandel‘ und ‚illegaler Migration‘ typische Muster in den Diskurs zum Münchner ‚Arbeiterstrich‘ ein. Zum Beispiel stellt der SZ-Artikel Endstation „Arbeitsstrich“ die folgende paradoxe Behauptung in Bezug auf die Freizügigkeit der EUMigrant*innen auf: „Niemand kann deren Bürgern [Bürgern der neuen Beitrittsstaaten, Anmerkung der Autorin] deshalb verwehren, in der Hoffnung auf Arbeit nach Deutschland einzureisen. Und dies tun immer mehr, oft für viel Geld von kriminellen Schlepper-Banden gelotst.“ (Öchsner, 2013) Die Petition der Geschäftsleute kriminalisiert sowohl Arbeitgeber*innen als auch Reisehelfer*innen. Die Unterzeichnenden drücken ihr Anliegen aus, „dass Menschen nicht von kriminellen Schleppern und 65 Dies erscheint absurd angesichts der Tatsache, dass so gut wie täglich private Minibusse und Reisebusse zwischen Bulgarien und München pendeln – ohne größere Herausforderungen wie zum Beispiel illegale Grenzübertritte. Eine Strecke kostet etwa 80 Euro pro Person bei weniger als 24 Stunden Fahrzeit. 137 Bauunternehmern ausgenutzt und missbraucht werden“. Der CSULandtagsabgeordnete Georg Eisenreich macht dies in der tz noch einmal deutlicher: „Es geht nicht nur um die armen Leute, die da stehen, sondern um die Hintermänner, die sie ausbeuten und Riesenprofite machen“ (Costanzo, 2013b). Auch ein CSU-Bundestagsabgeordneter und ehemaliger Münchner Kreisverwaltunsgreferent ist der Meinung: „Die armen Menschen, die dort stehen, sind nicht die Ursache des Problems“ (Risel, 2013c). Das sei ein klarer Fall von organisierter Kriminalität: „Wir müssen unsere Bürger schützen“ (ebd.). So auch der Verfasser der Petition in der Bild dazu: „Das ist eine gut eingespielte Mafia, man müsste die Hintermänner trocken legen. Diese armen Menschen werden hier her geschleust“ (Bachner, 2013). Hier wird deutlich, wie die Viktimisierung mit Kriminalisierung und der Forderung nach mehr Repression Hand in Hand geht. Aber auch die ‚Schwarzarbeiter‘ werden nicht nur als Opfer, sondern selbst als Bedrohung imaginiert. „Jetzt steigt die Aggressivität“, so der Geschäftsführer der TheaGe, „[d]ie Männer okkupieren den öffentlichen Raum“ (Costanzo, 2013a). Durch kriminelles Verhalten verbreiteten sie unter den Kund*innen Angst und schädigten so das Geschäft. Zusammengefasst: Der selbstorganisierte Arbeitsmarkt wird in den oben analysierten Weisen ganz brachial rassifiziert, indem die ‚Tagelöhner‘ viktimisiert, kriminalisiert, maskulinisiert, entmenschlicht, entindividualisiert, auf ihre Körper reduziert, mit Schmutz, Ungeziefer, Wildheit, Unwissen und Aggressivität in Verbindung gebracht und der Sauberkeit, Normalität und Zivilisiertheit der good diversityGemeinschaft und ihres öffentlichen Raumes gegenübergestellt werden. Auch die Stimmen, die gegen die gröbsten rassistischen Stereotype Einspruch erheben, sind nicht automatisch antirassistisch – etwa wenn sie zwischen den nützlichen und nutzlosen Migrant*innen unterscheiden. In der analysierten Assemblage des Rassismus wird zudem deutlich, wie sich Rassismen in konkreten Auseinandersetzungen um die Repräsentation des ‚Tagelöhnermarktes‘ immer wieder neu zusammensetzen und mit Sexismus, Chauvinismus und Klassismus verschränken. Die analysierten Kämpfe um Deutung zeichnen sich durch ihre Flexibilität aus: Je nach Situation können verschiedene rassistische Versatzstücke von Akteuren unterschiedlich bedient werden. 138 In der Zusammenschau mit den anderen Kapiteln und dem Kampf um die Hoheit auf der Straße, der hier nur als Kontext diente, wird schließlich deutlich, dass die Grenzen zwischen ‚Uns‘ und den ‚Anderen‘ mit materiellen Ein- und Ausschlüssen und ungleichen Machtverhältnissen einhergehen und somit hier auch immer Grenzen zwischen Innen und Außen und zwischen Oben und Unten sind. Die Behörden lassen uns alleine! Produktive Moralpaniken Abschließend und als Überleitung zum nächsten Kapitel, möchte ich noch einmal genauer betrachten, wie die Petition so wirkmächtig werden konnte. Das vierte Kapitel wird nämlich zeigen, dass sich mit der Petition nicht nur die Deutung der Figur ‚Tagelöhnermarkt/Arbeiterstrich‘ verschiebt, sondern dass sie auch verschärfte Sicherheitspraktiken durch Zoll und Polizei auslöste. Insofern greife ich in diesen abschließenden Überlegungen den ersten Teil dieses Kapitels nochmal auf, in dem es um die Kämpfe um die Hoheit auf der Straße und nicht ‚nur‘ um die Deutung im medialen Diskurs ging. Meine These ist, dass die Petition eine Moralpanik66 auslöste, die den Diskurs affektiv auflud. Die Geschäftsleute stellen sich als moralisch integer dar, indem sie Vielfalt positiv bekräftigen und ihre Toleranz sowie ihr Mitgefühl mit den ‚Schwarzarbeitern‘ betonen. „Wir sind hier im Bahnhofsviertel – das war immer wild und bunt und solle es auch bleiben“, so der Geschäftsführer der TheaGe in der SZ, “[a]ber wir haben auch ein Recht auf ein normales Wohn- und Arbeitsumfeld“ (Siegert, 2013). Und die Bild-Zeitung zitierte ihn folgendermaßen: „Diese armen Menschen werden hier her geschleust. Für uns sind sie aber ein Problem“ (Bachner, 2013). Während die Unterzeichner*innen sich in der Petition und den begleitenden Artikeln immer wieder gegen Rassismusvor66 Der Begriff der Moralpanik (vgl. Cohen, 1972; Mak, 2005; Tsianos & Pieper, 2011: 124) ermöglicht es, die Analyse nicht auf den Gegenstand eines Diskurses, sondern auf die Wissenspraktiken zu richten, die den ‚sozialen Frieden‘ von einer übertrieben dargestellten Gefahr bedroht sehen und in emotional aufgeladener Weise eine Reaktion von Seiten des Staates oder anderer Akteure einfordern (zur soziologischen Debatte um das Konzept der „moral panic“ siehe David et al., 2011; Garland, 2008). 139 würfe immunisierten, bestanden sie aber gleichzeitig auch darauf, dass der pro-migrantische Staat nicht genug durchgreife, zu tolerant sei, die Interessen der redlichen Bürger*innen nicht ernst genug nehme, und die ‚Schwarzarbeiter‘ in die Übermacht kämen: „Sie übernehmen langsam das Viertel“, so der Autor der Petition, „[u]nd die Behörden lassen uns alleine“ (Bachner, 2013). Dieses paradoxe Narrativ folgt der Multikulturalismuskritik im Sinne des ‚racial neoliberalism‘, den Alana Lentin folgendermaßen charakterisiert: „The portrayal of a permissive multiculturalism as responsible for the toleration of illiberal minorities unable or unwilling to integrate into their ‚host‘ societies [...] is discursively accompanied by a proclamation of anti-racist credentials that seeks to create distance between what is presented as a rational liberal critique of the excesses of multiculturalism and the crude intolerance of the far right.“ (Lentin, 2011) Tsianos und Pieper (2011) beschreiben, wie Moralpaniken entstehen, wenn Gefahr für den ‚sozialen Frieden‘, für die positive Vielfalt und den Konsum ausgerufen wird und die „Schwelle der Toleranz“ erreicht sei (vgl. ebd.: 124). Liberale Eliten sehen ihre Lebensräume und Werte in Gefahr und fordern Maßnahmen. Als Beispiel nennen Tsianos und Pieper den „Ghettodiskurs“, mit der „zentrale[n] Metaphorik des explosiven Raums […], in dem sich ein ‚Sprengstoff‘ ansammelt, der sich irgendwann entlädt“ (ebd.: 125). Auch wenn der Ghettodiskurs im Kampf um die Deutung des ‚Tagelöhnermarktes‘ nicht direkt bedient wird, ist er intertextuell impliziert, etwa wenn lokale Geschäftsleute den ‚sozialen Frieden‘ in Gefahr sehen und warnen: „Sie sagen: das ist unser Revier! Aber auch wir Anwohner haben ein Recht auf unsere Kreuzung!“ (Siegert, 2013). Die Warnung vor sozialen Spaltungen wird mit der Annahme der Unvereinbarkeit von Werten verknüpft und führt zu affektiven Paniken. „Es ist also nicht erstaunlich, worin die Effektivität solcher ‚moralischer Paniken‘ besteht: in der affektbeladenen Intensität der Selbstaktivierung von Eliten zur Durchsetzung eines ‚zivilisatorischen Auftrags‘ zur Disziplinierung devianter Subjektivitäten.“ (Tsianos & Pieper, 2011: 124) 140 Die Gefahrenquellen müssen entweder entfernt, am besten aber zivilisiert werden. Aus Perspektive der Petition muss der Staat seine Schwäche überwinden, um den sozialen Frieden im öffentlichen Raum zu schützen und die „Tagelöhner-Mafia“ (Bachner, 2013) in ihre Schranken zu weisen – mit Hilfe von sicherheitsrechtlichen, wie auch sozialen Maßnahmen. So drang der Verfasser der Petition bei Kommunalpolitiker*innen auch darauf, dass ein Aufenthaltsraum für die ‚Tagelöhner‘ eingerichtet werde, damit diese nicht mehr auf der Straße stehen müssten. Insofern hat die Petition und die von ihr ausgelöste Moralpanik paradoxerweise dazu beigetragen, dass das von Arbeiter*innen und der Initiative Zivilcourage schon seit Jahren geforderte Workers’ Center schlussendlich doch eingerichtet wurde, wenn auch unter anderen Vorzeichen – denen der Befriedung, des Aufräumens und Unsichtbar-Machens – und ohne Teilhabemöglichkeiten für die Nutzer*innen. Das Budget des Infozentrums Migration und Arbeit wurde aufgestockt, so dass es in größere Räumlichkeiten mit Aufenthaltsraum umziehen konnte. Der Vorschlag zu dieser Erweiterung folgte in der betreffenden Stadtratsvorlage genau auf den Punkt, der auf die Petition hinwies (Stelle für Interkulturelle Arbeit, 2014).67 In urbanen Moralpaniken und den sie begleitenden Medienhypes, in „Felder[n] rassistischer Assemblagen in der postliberalen Stadt“ (Tsianos & Pieper, 2011: 125), wird nicht nur Sinn, sondern es werden vor allem auch Affekte, Praxen und Sozialtechniken produziert. Sie haben also ganz konkrete Auswirkungen. Die Einrichtung eines Aufenthaltsraumes war nicht der einzige kommunalpolitische Effekt der Petition der Geschäftsleute. Im nächsten Kapitel werde ich diskutieren, wie die umkämpften Problemdefinitionen auch zu repressiven Regierenspraktiken geführt haben. 67 Der Stadtrat knüpfte die umstrittene Verlängerung der Laufzeit des Infozentrums im Jahr 2015 an die städtische Finanzierung eines privaten Sicherheitsdienstes, der von der Theatergemeinde eingestellt worden war, um am ‚Arbeiterstrich‘ für Sicherheit zu sorgen (vgl. Ausschuss für Arbeit und Wirtschaft, 2015; Referat für Arbeit und Wirtschaft, 2015). 141 142 Markieren, Vertreiben und Aufklären – Sicherheitspraktiken am selbstorganisierten Arbeitsmarkt Im folgenden Kapitel geht es um sicherheitspolitische Versuche, den ‚Tagelöhnermarkt‘ zu regieren. Es ist das letzte Kapitel, in dem es schwerpunktmäßig um die Figur des ‚Tagelöhnermarkts‘ und die Auseinandersetzungen am selbstorganisierten Arbeitsmarkt geht und das erste, in dem Versuche des Regierens explizit im Fokus stehen. Die Erfahrungen der EU-migrantischen Arbeiter*innen im Münchner Bahnhofsviertel sind stark von Begegnungen mit der Polizei und dem Zoll geprägt. Gleichzeitig ist das Thema ‚Armutszuwanderung‘ im Allgemeinen und das Thema „grauer Arbeitsmarkt im Bahnhofsviertel“ (Landeshauptstadt München, 2014) im Speziellen den obersten Sicherheitshüter*innen der Stadt München zum Problem geworden. Im Jahr 2013 ist die „Armutszuwanderung aus Südosteuropa“ sogar zum Schwerpunkt des Münchner Sicherheitsberichtes avanciert (ebd.). In diesem Kapitel frage ich am Beispiel des selbstorganisierten Arbeitsmarktes, welche Rolle Sicherheits- und Ordnungspolitiken in den Versuchen des Regierens der EUinternen Migration in München gespielt haben. Für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sind die Sicherheitsbehörden und allen voran die Polizei zuständig. Was unter ‚Sicherheit‘ verstanden wird, ist nicht festgelegt, sondern unterliegt jeweils örtlich und historisch spezifischen Aushandlungsprozessen. Ganz allgemein wird Sicherheit als Abwesenheit von Gefahren, Bedrohungen und Risiken definiert (vgl. Schwell, 2014: 277). Dieser Zustand ist schwer zu erreichen, deswegen gilt es als Aufgabe gesellschaftlicher Organisation, Risiken und Gefahren zu minimieren und dabei – so der Liberalismus – Freiheiten so wenig wie möglich einzuschränken. Hier liegt aber der springende Punkt: Im Namen der Sicherheit können auch in modernen Gesellschaften, die sich als liberal verstehen, Freiheiten eingeschränkt werden. Diese Einschränkungen durchzusetzen (und mit Hilfe der gesetzlichen Regelungen einzuschätzen, wann sie legitim sind), ist Aufgabe der Sicherheitsbehörden. Was genau diese Aufgabe beinhaltet, hängt davon ab, was als Bedrohung der Sicherheit wahrgenommen wird – und diese Frage wird sehr unterschiedlich beantwortet. 143 Unter dem Begriff der securitization, der Versicherheitlichung, werden Prozesse betrachtet, in denen „aus gesellschaftlich diskutierten Themen Sicherheitsthemen werden“ (Schwell, 2014: 276).68 Bestes Beispiel hierfür ist vielleicht die Versicherheitlichung der Migrations- und Datenschutzpolitik im Zuge des war against terror nach 9/11, der Datenschutz einschränkte und Migrationskontrollen verschärfte. In Bezug auf Sicherheit stellt sich auch immer die Frage: Wessen Sicherheit? Wer muss vor wem oder was geschützt werden und auf welche Art und Weise? All diese Fragen stellen sich auch, wenn der selbstorganisierte Arbeitsmarkt und die sogenannte ‚Armutszuwanderung‘ zum sicherheitspolitischen Thema und zum Objekt von Polizeimaßnahmen werden. In diesem Kapitel nähere ich mich mit dem Methodenset der ethnografischen Regimeanalyse, mit Konflikt als Methode und aus einer Perspektive der Kämpfe also den Fragen an, wie sich sicherheitspolitische Akteure in München in Bezug auf den selbstorganisierten Arbeitsmarkt verhalten, Teil welcher Aushandlungen ihre Praktiken und Rationalitäten sind und welche Effekte sie haben. Es geht also um Versuche des Regierens im Feld der Sicherheit. In den Worten der Anthropology of Policy von Shore 68 Die Anthropology of Security ist erst am entstehen (vgl. Adam & Vonderau, 2014; Maguire, Frois & Zurawski, 2014). Es gebe noch keinen kulturanthropologischen theoretischen Ansatz zum Thema ‚Sicherheit‘, so schrieb die Kulturanthropologin Alexandra Schwell im Jahr 2014, auch wenn es in vielen fachspezifischen Arbeiten eine Rolle spiele (vgl. Schwell, 2014). Insbesondere die Rolle, die Praktiken der Polizei und anderer sicherheitspolitischer Akteure im Regieren der modernen, spätkapitalistischen Gesellschaften spielen, ist bis jetzt unterbeleuchtet geblieben, auch wenn es in den Border Studies und auch in der Stadtforschung Ausnahmen gibt. Anthropolog*innen untersuchen so schon länger die Versicherheitlichung, Humanitarisierung und Technologisierung der Grenzen (vgl. Hess & Kasparek, 2010; Hess & Tsianos, 2004; Kasparek, 2016; Walters, 2002, 2011) und auch zur Sicherheits- bzw. Ordnungspolitik in urbanen Räumen gibt es einige Forschungen, wie etwa Didier Fassins (2012) Untersuchung von Polizeieinsätzen in den Pariser Banlieus, Loïc Wacquants (2011, 2012) Studien des Regierens urbaner Armut in USA oder auch Lee Hielschers (2013) Bachelorarbeit zur Kiezpolitik gegenüber Romni*ja in Berlin. Die mit der Disziplin der International Relations verbundenen kritischen Security Studies dagegen blieben oft sehr abstrakt und in den Gefilden der internationalen Politik verhaftet, wie das C.A.S.E. Collective (2006) und der Kulturanthropologe William Walters kritisch herausarbeiten. Sie könnten, wie auch Didier Bigo (o.J.) feststellt, durchaus von anthropologischen Herangehensweisen profitieren. 144 und Wright (2011) formuliert: Welche „webs of meaning“ (ebd.: 1), „sets of relation“ (ebd.) und „social and semantic spaces“ werden in Bezug auf die „Sicherheit“ am selbstorganisierten Arbeitsmarkt geschaffen und umkämpft, wie und von wem? Ein herausstechendes Ereignis stellte die im Folgenden beschriebene Zollrazzia dar. Grüne Bänder: Zollkontrolle als Effekt der Moralpanik Am Morgen des 21.10.2013 fand an der Kreuzung Goethe-/Landwehrstraße eine gemeinsame Maßnahme der Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) und der Polizeiinspektion 14 statt. Etwa 20 der Tagelöhnerei verdächtigte Personen wurden in einen Hinterhof gebracht. Es handelte sich um diejenigen, die sich zu diesem Zeitpunkt an der Kreuzung aufgehalten hatten und auf Grundlage ihres äußeren Erscheinungsbilds und Verhaltens der Gruppe der potenziellen ‚Schwarzarbeiter‘ zugeordnet wurden. Die Beamten vermerkten ihre Namen und weitere Informationen auf Listen. Sie hätten kein Recht, zu arbeiten, wurde erklärt, bei ‚Schwarzarbeit‘ drohe ihnen Strafen. Sie sollten Papiere unterschreiben, die einige nicht verstanden. Dann wurden den Kontrollierten neongrüne Silikonarmbänder umgelegt und sie wurden freigelassen. So berichteten die etwa zehn Personen, die am nächsten Tag schon vor der Tür des temporären Workers’ Centers warteten, als ein Mitglied der Initiative Zivilcourage und ich von unseren Fahrrädern stiegen, um den Raum für diesen Tag zu öffnen. Sie zeigten aufgebracht ihre mit den Armbändern markierten Handgelenke, berichteten erzürnt von der Razzia und forderten uns auf, bei der Zollpolizei anzurufen und eine Erklärung zu verlangen. Vor allem sollten wir fragen, ob sie die Armbänder wieder abnehmen dürften, oder weiter tragen müssten. Vollkommen verblüfft schaute ich auf ihre Handgelenke mit den Bändern, die mir sonst als Eintrittskarten zu Musikfestivals bekannt waren, hier aber soziale Stigmatisierung versinnbildlichten und körperlich erfahrbar machten. Mit Jackenärmeln war das neongrüne Zeichen notdürftig zu verdecken, blitzte aber doch immer wieder auf. Wir versprachen, den Zoll anzurufen und rieten nach kurzem Zögern dazu, die Armbänder sofort abzulegen. Wenn das Probleme gäbe, dann würden wir uns gemeinsam dagegen wehren. Die Geste des Abreißens kam einer Geste der 145 Befreiung gleich. Über 24 Stunden hatten sie die Armbänder getragen. Einige von der Markierung Eingeschüchterte hätten München schon verlassen, erzählten sie. In unseren Räumen angekommen, untersuchten wir die Bänder genau, denn die Vermutung herrschte, dass sich in ihnen elektronische Chips verbergen könnten, die den physischen Aufenthalt nachvollziehbar machten, wie bei einer elektronischen Fußfessel. Auch als wir keine solchen Chips fanden, war der Verdacht noch nicht aus der Welt geschafft. Der zuständige Zollbeamte war telefonisch nicht zu erreichen.69 Wir diskutierten das Geschehene und beschlossen, in einer Pressemitteilung die Razzia und Markierung zu skandalisieren und eine Entschuldigung des Zolls zu fordern. Die Pressemitteilung formulierte einen Rassismusvorwurf im Menschenrechts-Duktus: „Mit dem Kennzeichnen von Personen durch grüne Bändchen verfolgt die Behörde eine rassistische Praxis, die die Persönlichkeitsrechte und die Menschenwürde verletzt. Die Initiative Zivilcourage zeigt sich zutiefst bestürzt über das behördliche Vorgehen, das auf rassistischen Stereotypen (z.B. des ‚osteuropäischen Schwarzarbeiters‘) fußt.“ (Initiative Zivilcourage, 2013) Die Erklärung stieß auf einigen Widerhall in der kommunalen und auch bayerischen Politik. Die Verantwortlichen des Zolls wurden zu einer Sitzung des Münchner Ausländerbeirats und dem ‚Austausch Bahnhofsviertel‘ (einem regelmäßigen Treffen von städtischen und sozialen Akteuren, die mit dem ‚Tagelöhnermarkt‘ zu tun hatten) eingeladen und die Grünen im Bayerischen Landtag stellten eine Anfrage. Auf deren Beantwortung durch das Bayerische Innenministerium werde ich in Kürze zurückkommen. Ich möchte hier aber weniger auf den Protest und seine Effekte70 im parlamentarischen, institutionalisierten politischen Raum sowie auf der Straße eingehen, sondern viel eher einige Schritte zurück gehen, um das Ereignis der Kontrolle und 69 Für einen kritischen Kommentar zu den grünen Armbändern in Zusammenhang mit der sozioökonomischen Situation und Entrechtung der EUmigrantischen Arbeiter*innen (siehe Apostolova, 2013). 70 Der Zoll musste sich rechtfertigen und es ist – unseres Wissens nach – zu keinen weiteren derartigen Kontrollen mehr gekommen. Außerdem wurde auf diskursiver Ebene einer Kriminalisierung entgegen gewirkt. 146 den Prozess, der zur Kontrolle und ihren Effekten führte, verstehen zu können. Grüne Bänder als Zwang und Markierung Die Beamt*innen konnten als Vertreter*innen des Staates definieren, wer verdächtigt ist und wer nicht. Einmal als verdächtig ausgemacht und somit von den unverdächtigen Passant*innen unterschieden, mussten die Kontrollierten den Anweisungen der Beamt*innen Folge leisten: vor Ort bleiben, Auskunft geben und ihre Arme reichen, um sich die Bänder umlegen zu lassen. Das ungefragte Umlegen der Bändchen setzte ebenso wie die gezwungene Kontrolle selbst ungleiche Machtverhältnisse und Blickregime in die Tat um. Natürlich hätten die Kontrollierten auch Widerstand leisten können – etwa wegrennen, stehenbleiben oder sich körperlich wehren. Die Polizist*innen hätten dann aber körperliche Gewalt ausüben und sie gegebenenfalls strafrechtlich verfolgen dürfen. Die Wirkung der Bänder ging über den Moment der Kontrolle hinaus: Einige der Markierten nahmen die Bänder aus Furcht vor Konsequenzen über 24 Stunden lang nicht ab. Sie fühlten sich gedemütigt und vor den anderen Menschen im Viertel abgesondert und als Verbrecher markiert. Sie befürchteten weitere Repression und die Verfolgung durch Chips am Handgelenk. Es gab keinen Chip, der die Markierten verfolgbar gemacht hätte, und doch fühlten sie sich verfolgt; er entfaltete seine einschüchternde Wirkung. Rassismus und Ausgrenzung wurden mit dem grünen Band körperlich erfahrbar und öffentlich sichtbar. Für die Markierten der Grünen-Band-Maßnahme, mit denen ich sprach, spielte es, meinte ich zu verstehen, gar keine zentrale Rolle, als was genau sie markiert worden waren – ob als ‚Schwarzarbeiter‘, ‚Kriminelle‘ oder als ‚Bulgaren‘. Die Ausübung von Zwang, die körperliche Erfahrbarkeit des Bandes und die öffentliche Sichtbarkeit der Markierung prägte sich ihnen ein. Gerade die gewisse Offenheit, Ambivalenz und Beweglichkeit des rassistischen Symbols ‚grünes Band‘ machte dieses so wirkmächtig und körperlich erfahrbar. Indem die Razzia rassistische soziale und symbolische (Raum-)Ordnungen auf drastische Weise (re)produzierte, blieb sie als ‚Ereignis‘ in den Aushandlungen um den (und am) selbstorganisierten Arbeitsmarkt in die kollektive Erinnerung eingebrannt: Noch zwei Jahre später erzählten EU-migrantische Arbeiter*innen empört von ‚Chips‘ in den Armbändern, mit denen sie markiert und verfolgt 147 worden wären. Konkret kam es weder zu Verhaftungen noch zu Weiterverfolgungen der Kontrollierten, denen keine Straftaten nachgewiesen werden konnten. Am nächsten Tag trafen sich die Arbeitssuchenden wieder am selben Ort. Aufklären, Vertreiben oder Eindämmen? Wie kam es aber zu der Zollkontrolle und der Markierung mit den grünen Bändern? Welche Problemwahrnehmungen und Motive standen hinter der Kontrollaktion? In den von der Pressemitteilung der Initiative Zivilcourage losgetretenen Auseinandersetzungen um die Zollrazzia haben sich verschiedene Narrative abgezeichnet, die erklärten, wie es zu der Maßnahme gekommen und was ihr Ziel gewesen sei. Das Bayerische Innenministerium stellte die Kontrolle in seiner Antwort auf die Anfrage von Grünen Landtagsabgeordneten folgendermaßen dar (wobei es sich direkt mit der Darstellung in der Pressemitteilung der Initiative Zivilcourage, wie Personen in einen Hinterhof gedrängt worden wären, auseinandersetzt): „Die Kontrolleinheit Prävention (KEP) des Hauptzollamts (HZA) München hat am 21. Oktober 2013 gemeinsam mit der Polizeiinspektion 14 des Polizeipräsidiums München 20 bulgarische sowie einen griechischen Staatsangehörigen kontrolliert. Die Kontrollen fanden im Vorhof einer von den ausländischen Staatsangehörigen genutzten Moschee statt; die Personen wurden nicht in einen Hinterhof am Hauptbahnhof gedrängt.“ (Bayerisches Staatsministerium des Innern, für Bau und Verkehr, 2013) Des weiteren berichtete das bayerische Innenministerium in dem vom Bayerischen Innenminister unterzeichneten Schreiben von einem Runden Tisch, bei dem gemeinsame Kontrollaktionen des Zolls und der Polizei vereinbart wurden: „Im August dieses Jahres wurde auf Initiative des MdB Dr. Uhl in München ein Runder Tisch in dieser Angelegenheit einberufen. [...] Dabei wurden unter anderem gemeinsame Kontrollaktionen des Zolls und der Polizei vereinbart.“ (ebd.) 148 Dieser Runde Tisch hatte stattgefunden, nachdem zwei Tage zuvor die Petition von lokalen Geschäftsleuten „koordinierte, konsequente und nachhaltige Gegenmaßnahmen sowohl im Bereich der Sozial- wie auch Polizeiarbeit“ gefordert hatte, so „dass unsere Kreuzung nicht von einer solchen Szenerie immer mehr in Beschlag genommen wird“ (Petition der Anwohner und Arbeitnehmer an der Kreuzung Goethestraße / Landwehrstraße). Gastgeber war der oben genannte CSU-Hardliner, Mitglied des Bundestages und ehemaliger Referent des Kreisverwaltunsgreferates in München sowie der Geschäftsführer der Theatergemeinde (in deren Räumen das Treffen stattfand). Das Innenministerium erklärte, dass „neben Vertretern der Bundesfinanzdirektion, des Hauptzollamtes München, der Landeshauptstadt München (Kreisverwaltungsreferat und Sozialreferat) auch Vertreter der örtlich zuständigen Polizeiinspektion 14“ (Bayerisches Staatsministerium des Innern, für Bau und Verkehr, 2013) teilgenommen hatten. Betroffene, Sozialarbeiter*innen sowie Journalist*innen wurden dagegen ausgeschlossen, wie Mitglieder der Initiative Zivilcourage, die vor Ort gewesen waren, berichteten. Nach dem Treffen stellte der Gastgeber in der SZ vom 30. August 2013 klar, welche Aufgaben Zoll und Polizei seiner Meinung nach hätten: „Durch schärfere Kontrollen sollen die bulgarischen Tagelöhner von der Kreuzung vertrieben werden” (Risel, 2013). Direkt im Anschluss an Petition, Medienhype und Rundem Tisch titelte die tz: Zoll verschärft seine Kontrollen (Costanzo, 2013b). Im dem Schreiben des Innenministeriums wird das Problem dann auch ganz im Sinne der Verfasser der Petition beschrieben: „Nach Mitteilung des Polizeipräsidiums München hat sich im Laufe der letzten Jahre an der Ecke Landwehrstraße und Goethestraße ein Treffpunkt für arbeitssuchende ausländische Personen gebildet. [...] Von Passanten und Geschäftskunden wird diese ‚Ansammlung‘ auf dem Gehweg, aber auch vor Haus- und Geschäftseingängen und die damit verbundenen Begleiterscheinungen (z. B. Müllablagerungen), zunehmend als störend empfunden. Es kam in der Vergangenheit immer wieder zu Beschwerden von Anliegern, die die Nutzung des Gehweges in der dargelegten Art und Weise beanstandeten.“ (Bayerisches Staatsministerium des Innern, für Bau und Verkehr, 2013) 149 Es lässt sich festhalten, dass die Razzia eine direkte Konsequenz der Petition und der mit ihr verbundenen Moralpanik darstellte, dass die Problemdefinition der zuständigen Behörde der in der Petition festgehaltenen Perspektive empathisch folgte und dass die Maßnahme die ‚Tagelöhner‘ vertreiben sollte. Die diskursive Intervention der Geschäftsleute hat also – auch mit Hilfe konservativer Politiker – zu Polizeimaßnahmen geführt, die soziale und symbolische Ordnungsvorstellungen, wie sie in der Petition artikuliert worden waren, konkret umsetzten. In der SZ vom 30. Oktober 2013 berichtete ein Zollbeamter, dass aufgrund der Zollkontrollen der letzten Wochen von anfangs ca. 150 nur noch rund 30 bulgarische Arbeiter*innen im Bahnhofsviertel übrig seien. Gleichzeitig bezweifelten Vertreter der Polizei und des Zolls aber auch, dass die Arbeitssuchenden erfolgreich vertrieben werden könnten und sprachen stattdessen lieber von ‚Eindämmung‘: „Wir sind präsent, versuchen es einzudämmen“ (Bachner, 2013), so ein weiterer Zollbeamter am 28. August 2013 in der Bild, „mehr Kontrollen würden das Problem [aber] nicht lösen: die Szene würde nur weiterziehen“ (ebd.). Die Handlungsfähigkeit der Ordnungsbehörden würde durch die rechtliche Regelung der Freizügigkeit eingeschränkt. „[D]as Herumstehen reiche nicht, um sie dingfest zu machen. […] Jeder EU-Bürger kann sich bewegen, wie er möchte“ (Costanzo, 2013a). Zudem war auch umkämpft, ob der ‚Tagelöhnermarkt‘ überhaupt ein Sicherheitsproblem darstelle. „Das ist ein soziales Problem“, antwortete der Münchner Polizeipräsident auf Beschwerden von ‚Geschäftsleuten‘ über den ‚Arbeiterstrich‘ und ‚aggressive Bettler‘ während eines Rundgangs durch das Bahnhofsviertel: „Das kann die Polizei nicht lösen“ („Andrä erklärt seine Ziele“, 2013; vgl. auch Fuchs, 2013). Er wolle sich stattdessen um die „zunehmende Einbruchskriminalität sowie die Manipulationen an Geldautomaten kümmern“ („Andrä erklärt seine Ziele“, 2013). Neben der Polizei war auch die Finanzkontrolle Schwarzarbeit als Unterabteilung des Zolls, die den Kampf gegen undokumentierte Arbeit zur Aufgabe hat, an der Kontrolle beteiligt. Nach dem bayerischen Innenministerium sei der Zoll hier tätig geworden, weil „[a]ufgrund der bisherigen polizeilichen Feststellungen und den gewonnenen Erkenntnissen aus früheren Kontrollen im Bereich (Goethestraße/Landwehrstraße) [...] bekannt [war], dass sich an diesem Ort regelmäßig Personen treffen, die für eine Beschäftigung angeworben 150 werden, ohne im Besitz der dafür notwendigen Erlaubnis zu sein.“ (Bayerisches Staatsministerium des Innern, für Bau und Verkehr, 2013) Die strategischen Ziele der Finanzkontrolle Schwarzarbeit unterlägen aber eigentlich eher einem fiskalischen Kosten-Nutzen-Kalkül als der Verfolgung von Kriminalität zum Zwecke der Sicherheit, so hatte mir jedenfalls ein leitender Beamter der Finanzkontrolle Schwarzarbeit im November 2010 in einem Interview erklärt. Das Hauptinteresse des Zolls läge in seiner Funktion als „Einnahmequelle des Bundes“, also in der Sicherstellung von Steuereinnahmen. Diese Aufgabe erfülle er sowohl durch die Prävention der Hinterziehung von Sozialabgaben als durch die direkte Verfolgung von Verstößen. „Wir sind natürlich auch als Staat gefordert, grundsätzlich mal vorrangig die Verfahren durchzuführen, wo der Schaden am größten ist, denn die kosten auch Geld,“ so erklärte er. Die ‚Tagelöhner*innen‘ interessierten den Zoll kaum, denn „[w]enn der jetzt einmal in der Woche irgendwo jobt, dann ist natürlich der Schaden am Sozialsystem auch nicht so groß“. Schließlich lasse sich „[d]as große Geschäft […] nur organisiert machen. Weil wenn sie ein Hundert-Meter-Hochhaus bauen, dann hilft es nichts, wenn sie sich da und da mal einen holen“. Obwohl sie wüssten „dass es diese Lokale und Locations gibt, wo man so Tagelöhner bekommt […], rund um den Bahnhof gibt es ein paar so Szenen“, hätte der Zoll wenig Erfahrung mit ‚Tagelöhner*innen‘, so erklärte der Zöllner knapp drei Jahre vor der Razzia. Vorrangiges Ziel der Kontrolle und Markierung mit den Grünen Bändern sei es – nach Aussage von Vertretern des Zolls – aber weder gewesen, Steuern einzutreiben, noch Kriminalität zu bekämpfen; die Maßnahme sollte die Ausgebeuteten vielmehr schützen und ihnen helfen. Als wir den Verantwortlichen der Zollkontrolle schließlich telefonisch erreichten, erklärte dieser, die Aktion hätte dem Schutz der Arbeitssuchenden vor Ausbeutung gedient. Er lud uns zu einem Gespräch mit seiner Behörde ein, denn letztendlich wollten wir doch dasselbe, nämlich gegen betrügerische Arbeitsverhältnisse71 vorgehen. Der Zoll wolle „den Arbeitern nichts Böses“ (Kastner, 2013), sondern verhindern, 71 Wir beschlossen die Einladung des Zolls zu einem Gespräch abzulehnen und forderten stattdessen eine Entschuldigung, da wir keine gemeinsame Gesprächsgrundlage sähen. Siehe unsere Darstellung des Gesprächs und Stellungnahme (Initiative Zivilcourage & Arbeitssuchende bzw. Arbeitnehmer/ innen im Bahnhofsviertel, 2013). 151 dass „sie von ihrem geringen Lohn auch noch Bußgeld zahlen müssten“ (ebd.), so wird er in der SZ zitiert. Auch dem Bayerischen Innenminister zufolge war der Schutz der Kontrollierten das Ziel der Kontrolle: „Den Betroffenen konnten keine rechtlichen Verstöße nachgewiesen werden. Ziel der Personenüberprüfung war allerdings auch nicht, den Anwesenden rechtliche Verstöße nachzuweisen, sondern diese im Rahmen einer präventiven Maßnahme durch die KEP über die rechtliche Situation aufzuklären und diese vor eventueller Ausbeutung durch mögliche Arbeitgeber zu schützen.“ (Bayerisches Staatsministerium des Innern, für Bau und Verkehr, 2013) Auf die Frage nach der Markierung mit den grünen Bändern erklärte der leitende Zollvertreter, dass die Armbänder eine übliche Maßnahme bei Kontrollen größerer Gruppen etwa auf großen Baustellen oder auch bei ‚Wiesnwirten‘72 seien. Sie sollten lediglich kenntlich machen, wer bereits kontrolliert worden sei, um eine wiederholte Kontrolle der Betroffenen zu verhindern. Nach der Maßnahme hätten die Markierten die Bänder selbstverständlich sofort wieder ablegen dürfen, wie auch das Innenministerium erklärte: „Diese Maßnahme wird bei Prüfungsmaßnahmen der FKS bundesweit praktiziert. Hierdurch soll insbesondere verhindert werden, dass Personen mehrfach befragt werden. Die Armbänder können abgelegt werden, sobald die Prüfungsmaßnahme abgeschlossen ist und der Kontrollraum verlassen wird.“ (ebd.) Unter dieser Perspektive diente die Razzia dem Schutz der Arbeitssuchenden und die Bänder garantierten dem reibungslosen Ablauf der aufklärenden Maßnahme. Bis hierhin hat sich also eine verwirrende Bandbreite an Motiven hinter der Razzia gezeigt. Die Frage drängt sich direkt auf: Was steckte wirklich hinter der Zollrazzia und den grünen Bändern – rassistische Markierung, Vertreibung oder Aufklärung? An dieser Stelle ist dies natürlich eine rhetorische Frage, erscheint es aus einer Regimeperspektive doch wenig überraschend, dass sich durch keine der oben genannten Intentionen restlos erklären lässt, wie es zu der rassistischen Markierung 72 152 Wies’nwirte ist der bayerische Begriff für Oktoberfest-Gastronomen. durch die grünen Bänder gekommen war. Der Wirkung der Bänder tut dies keinen Abbruch. Sie ist aber nur durch eine Analyse der komplexen und widersprüchlichen Zusammenhänge im aktuellen Regime der EUinternen Migration, der turbulenten Aushandlungen und komplexen Machtverhältnisse und nicht durch funktionalistische Erklärungsversuche nachzuvollziehen. „Rassismus existiert in seinen Effekten und durch seine Effekte“ (Bojadžijev, 2008: 277) – wie auch Manuela Bojadžijev zeigt, muss Rassismuskritik über eine Kritik der Intention hinaus gehen, um rassistische Formationen und Dynamiken begreifen zu können. Sehen wir von der Suche nach der ‚wirklichen‘ Intention ab, wird die Frage, wie es möglich war, dass das Münchner Regime der EU-internen Migration sich in Form der Grünen Bänder so artikuliert hat, dass der Effekt – die Erfahrung der Markierung und Einschüchterung – wie die Faust auf das Auge zu den Assemblagen des Rassismus passte, die sich in der Moralpanik rund um die Petition artikuliert hatten, noch virulenter. Bojadžijev nimmt Bezug auf Louis Althusser (1968) und macht den Begriff der Überdeterminierung – der darauf aufmerksam macht, dass Effekte sich oft nicht auf eine eindeutige Ursache, sondern auf verschiedene, oft nicht nachvollziehbare Faktoren zurückführen lassen – für die Beschäftigung mit Rassismus nutzbar. Sie möchte so „den Verlauf der Geschichte weder objektiv, gelenkt durch ökonomische Prozesse, noch subjektiv als intentionale Tat eines Individuums oder Kollektivs […] konzipieren“ (Bojadžijev, 2008: 272). Eine solche Herangehensweise macht sichtbar, wie die grünen Bänder in die alltäglichen Auseinandersetzungen mit Polizeikontrollen und in die Machtverhältnisse zwischen Geschäftsleuten und dem selbstorganisierten Arbeitsmarkt an der Kreuzung eingebunden waren. Der Akt des Markierens als ‚SchonKontrolliert‘ war in der Lage, rassistische Repräsentationsregime, soziale Ordnungen und Subjektivierungen zu aktivieren. Die ‚Aufklärungsmaßnahme‘ des Zolls setzte die bestehenden Stereotypisierungen und Ordnungen aber nicht nur durch, sondern wurde selbst produktiv. Sie macht darauf aufmerksam, dass die Frage nach den Effekten mit der Frage nach der Produktivität zu verbinden ist. Auch wenn Sicherheitsapparate (und Macht nach Foucault allgemein) den Eindruck erwecken, ihr Aufgabe sei eine rein negative – nämlich die notwendige Einschränkung bzw. Repression der Freiheit der Einzelnen zum Schutze der gesellschaftlichen Sicherheit und (rassifizierten) Ordnung – geht ihre Rolle weit darüber hinaus. Die grünen Bänder machen geradezu parabelhaft 153 darauf aufmerksam, wie Sicherheitspraktiken soziale Ordnungen und Machtverhältnisse (re)produzieren, den Subjekten ihren Platz zuweisen, sowohl in Bezug auf die urbanen Raumordnungen wie auch die Prozesse der Subjektivierung – und dabei nur als Teil von komplexen, kontingenten Aushandlungsräumen bzw. Regimen zu verstehen sind. Um diese Thesen tiefergehend diskutieren zu können, möchte ich im folgenden die Perspektive ausweiten und nicht nur das Ausnahmeereignis der Zollrazzia, sondern auch die alltäglichen Polizeipraktiken am selbstorganisierten Arbeitsmarkt mit in das Bild einbeziehen. Dabei gehe ich sowohl auf die Erfahrungen der Arbeitssuchenden, wie auf die Perspektiven von Streifenpolizisten und der höheren Ränge in den Münchner Ordnungs- und Sicherheitsbehörden ein. Alltägliche Begegnungen mit Sicherheitspraktiken am selbstorganisierten Arbeitsmarkt Die Akteure des selbstorganisierten Arbeitsmarktes wurden im Bahnhofsviertel alltäglich kontrolliert, beobachtet, durchsucht und festgenommen. Ihnen wurden Hausverbote und Platzverweise ausgesprochen. Schon vor seiner öffentlichen Thematisierung (also vor 2010) war der selbstorganisierte Arbeitsmarkt längst Objekt von Polizeimaßnahmen. Die örtliche Polizei behielt den Treffpunkt im Auge. Dies konnte ich bereits bei meiner ersten Begegnung mit Arbeitssuchenden während des Infostandes erfahren, wie ich in der Einleitung schon erwähnt habe. Während der wenigen Stunden wurden mehrere Personenkontrollen durchgeführt. Ich stand gerade mit drei Männern in ein Gespräch vertieft, da fragte ein Polizist in Zivil: „Die Ausweise, bitte!“ Mich meinte er damit nicht, wohl aber meine Gesprächspartner. Erst als ich protestierend frage, wieso er meine Begleiter denn kontrolliere, und mich nicht, verlangte er auch meinen Ausweis. Ich sagte etwas von Hautfarbe, und wieso gerade diese. Er verstrickte mich in eine mühselige Diskussion, die ich versuchte zu beenden, als ich bemerkte, dass er die Ausweise der Leute in der Hand hielt und das Gespräch sie also aufhielt. Schließlich sagte er noch: „Frau Riedner, vielleicht haben wir gar nicht so unterschiedliche Ziele wie sie denken“. 154 Ich war selbst nie Zeugin, aber mehrmals wurde mir erzählt, dass die Polizeikontrollen mit Leibesvisiten einhergingen, während derer die Kontrollierten sich auf offener Straße und bei jedem Wetter bis auf die Unterwäsche ausziehen mussten. Wenn ich in den letzten Jahren Kontrollen beobachtete, ging ich oft hin und fragte die Kontrollierten auf Türkisch, ob es Probleme gäbe. Sie schüttelten meist den Kopf. Wenn die Polizist*innen sich entfernt hatten, ließen sie manchmal einige Schimpfworte fallen. Ein junger Mann erzählte mir nach einer Kontrolle, dass er bei Kontrollen immer vorgebe, kein Deutsch zu sprechen, damit er sich nicht auf eine Befragung einlassen müsse. Für viele Arbeitssuchende stellen die Personenkontrollen ein Ärgernis dar, welches sie über sich ergehen lassen müssen, das ihre Strategien aber nicht weiter beeinflusst. Trotzdem waren die Polizeikontrollen regelmäßig Gegenstand von Beschwerden, Wut und auch Scham. Sie fühlten sich öffentlich beschämt, so erklärten Betroffene der Kontrollen bei verschiedenen Gelegenheiten, denn Beobachter*innen der Kontrollen und Durchsuchungen würden denken, sie seien Kriminelle. Dabei hielten sie sich doch nur auf dem Gehweg auf, um auf Arbeit zu warten. Die regelmäßigen Kontrollen schränken die Arbeiter*innen nicht nur in ihrer Freiheit ein, sondern sie sind an der Produktion rassifizierter und sozial ungleicher urbaner Raumaufteilungen, normativer Ordnungen und Subjektivierungen beteiligt, wie auch in Bezug auf die Zollkontrolle deutlich geworden ist. In seiner einflussreichen ethnografischen Studie Enforcing Order: An Ethnography of Urban Policing setzt sich Didier Fassin (2013) mit den Effekten von Polizeikontrollen von Jugendlichen in Pariser banlieus auseinander. Er erklärt die regelmäßigen Befragungen, Kontrollen und Durchsuchungen durch die Polizei als subjektivierende Anrufung (auf Englisch „interpellation“) der Kontrollierten im Sinne von Louis Althusser (1977): „[I]n the figurative, and therefore political, sense, interpellation (ideological hailing) is the action through which they discover that they are at the mercy of police discretion – since they understand that it is not enough to be innocent in order not to be deemed guilty – and above all through which they become aware that what is happening to them is 155 related not to what they have done, but to what they represent. They learn who they are to the gaze of others.“ (Fassin, 2013: 7) Die alltäglichen „stops and frisks“73 tragen so dazu bei, die soziale Ordnung durchzusetzen, und zwar nicht nur äußerlich in Bezug auf urbanen Raum oder das Verhalten zwischen unterschiedlich positionierten Akteuren, sondern eben auch in Bezug auf die Subjektivierung der Kontrollierten und auch innerhalb ihrer Körper: „[S]tops and frisks represent a pure power relationship that functions as a recall to order – not to public order, which is not under threat by youngsters quietly conversing on a bench or joyfully playing soccer, but to a social order, which is one of inequality (between the police and the youth) and injustice (with regard to the law and simply to dignity) that has to be impressed in the body.“ (ebd.: 92) Die regelmäßigen Kontrollen, so Fassin, produzieren die Aufteilung zwischen Bürger*innen, deren Sicherheit gewährleistet werden muss und den verdächtigen Subjekten, die unter Kontrolle zu halten sind, und positionieren sie auf ungleiche Weise im Verhältnis zum Staat. Während die einen sich schnell über ungerechte Behandlung beschwerten, hätten die anderen gelernt, dass sie die Maßnahmen über sich ergehen lassen müssten, wenn sie möglichst ungeschoren davonkommen mochten. „Not only through their frequency but also by the way they take place, stops and frisks establish a distinction between citizens and subjects. Citizens are rarely checked, and when they are it is generally in a polite manner, but they think they have the right to complain if they believe it has been done wrong-ly. Subjects are often checked, and when they are it is often in a supercilious way, but they know they only have the right to remain silent. Thus it becomes clear how this practice, which many minimize as harmless, defines the relationship of some categories of the population to the state, and, more broadly, to politics.“ (ebd.) Im Bahnhofsviertel wurde die Polizei nicht nur auf der Straße, sondern auch in privaten Räumen wie Cafés und Restaurants tätig und machte 73 Das Englische ‚to frisk‘ ist etwa gleichbedeutend mit dem Deutschen ‚filzen‘. 156 den Unterschied zwischen den Hausbesitzer*innen, Geschäftsleuten, Kund*innen und den ‚Anderen‘ deutlich. Mehrmals erfuhr ich von Hausverboten, die polizeilich durchgesetzt wurden. Einmal war ich dabei: Eines Morgens im Januar 2011 gingen ein Freund und ich, bevor wir das temporäre Workers’ Center öffnen wollten, zu einem Backshop im Bahnhofsviertel, um noch schnell Frühstück einzukaufen. Während er hineinging, wartete ich vor dem Schaufenster und winkte Omar74 und einem weiteren Bekannten durch die Glasscheibe zu. Bei einigen Personen, die draußen um einen Stehtisch standen, überlegte ich, ob sie auch Arbeitssuchende am selbstorganisierten Arbeitsmarkt waren und ob ich sie kannte und grüßen sollte. Auf einmal entdeckte ich zwei Polizisten, die am Eingang standen und mit der Angestellten redeten. Ich hörte, wie die Angestellte zu den Beamten gesagt hatte: „Ah, da sind Sie ja, das ging schnell! Hier, die Gruppe, die Bulgaren, sie stehen da seit Stunden herum und haben nur einen Kaffee getrunken.“ Dann fragten die Polizisten die Männer an den Stehtischen nach ihren Ausweisen. Ich erschrak sehr, da Omar drinnen saß und keine Möglichkeit hatte, den Raum ungesehen zu verlassen. Im Unterschied zu den anderen Arbeitssuchenden war er aserbaidschanischer Bürger, also kein Unionsbürger und hatte auch keine gültigen Aufenthaltspapiere für Deutschland. Die im Straßenbild sichtbare und gleichzeitig anonyme Gruppe von EUArbeitsmigrant*innen diente ihm, der auch Türkisch sprach, als sozialer Anlaufpunkt, zur Arbeitssuche und als Versteck. Er tauchte im Frühjahr 2011 in der Gruppe quasi unter. Durch das Fenster beobachtete ich, wie er die Polizisten sah, seinen Begleiter anstieß und auf sie deutete. Sonst blieb er von außen betrachtet ruhig. Gleich darauf betraten die Beamten das Café und verlangten ihre Ausweise. Die anderen Gäste in dem Stehcafé ließen sie in Ruhe, so wie uns auch. Omar zeigte ihnen etwas, das im Notizbuch seines Begleiters stand. Dann ging er mit einem Polizisten zum Auto, um ihm weitere Informationen zu geben, stellte sich wieder zu den anderen und wartete. Ein weiterer Polizeibus mit einigen Beamt*innen fuhr vor. Ein Beamter blieb bei der Gruppe am Stehtisch stehen. Ich fragte, was er hier mache. Er müsse gewährleisten, dass die Kontrollierten anwesend blieben, während die Personalien überprüft würden. Die Angestellte des Cafés habe sie gerufen, um ihr Hausrecht durchzusetzen. Sie fühle sich gestört von der Gruppe und spreche ein 74 Ich kenne den Nachnamen der Person, die ich hier Omar nenne, nicht, deswegen benenne ich sie nur mit Vornamen. 157 Hausverbot aus für die fünf gerade kontrollierten Menschen. Sie müsse nach Paragraph xx keinen Grund nennen. Mein Begleiter fing an, etwas von Rassismus zu sagen, aber ich flüsterte: „Uns geht es gerade um Omar und sonst um gar nichts“. Währenddessen bog Hristo Vankov um die Ecke, sah die Polizei und kehrte auf dem Absatz um. Ein junger türkischsprachiger Mann mischte sich ein, sagte, er könne übersetzen. Er fragte auch nach den Gründen für das Hausverbot und zeigte sein Unverständnis und Empfinden von Ungerechtigkeit. Ich hatte immer noch Herzklopfen wegen Omar. Dann gab ein Polizist alle Ausweise zurück. Wenn sie hier noch einmal herkämen heute, würden sie verhaftet werden. Als die Beamten außer Hörweite waren, sagten die Männer: Wir haben nur Kaffee getrunken, sonst nichts. Mein Begleiter sagte: „Das ist Rassismus!“ Sie stimmten zu. Ich war erleichtert, dass Omar - wie auch immer - unbeschadet durch die Personenkontrolle gekommen war. Doch als wir gerade gehen wollten, ging Omar zum Polizeiauto, beugte sich zum Fahrerfenster hinunter und sprach mit den Beamten. Diese stiegen wieder aus. Ich ging näher hin, um zu hören, was los war. Sie fragten, was ich wolle, ich solle gehen. Ich sagte, das sei ein Freund, ich wolle wissen, ob ich was tun könne. Er zwinkerte mir zu und deutete, ich solle gehen, mit einer Geste die ich als „ist schon in Ordnung“ interpretierte. Dann stieg er in den Polizeiwagen ein und sie fuhren davon. Der Begleiter von Omar erzählte, dass Omars aserbaidschanischer Freund letzte Woche schon von der Polizei erwischt worden wäre. Er habe angerufen von der Unterkunft aus, ihm ginge es gut - mit Essen und eigenem Bett. Am Morgen, so erzählte der Begleiter, habe Omar ihn um seine Adresse gefragt, er wolle Asyl beantragen. Mein Begleiter ging in das Café, um sein dort gekauftes Gebäck aus Protest zurückzugeben. Er kam dort mit einer türkisch-sprechenden Angestellten ins Gespräch. Die „Bulgaren“ hätten sie mehrfach beleidigt, auch ihre Kollegin. Deswegen hätten sie die Polizei gerufen. Zurück im Workers’ Center bestätigten einige der Betroffenen, dass es einen Streit zwischen den Angestellten und einem von ihnen gegeben habe. Man könne aber nicht einer ganzen Gruppe wegen dem Verhalten von Einzelnen ein Hausverbot aussprechen. Wir beschlossen, einen Brief an AMIGRA, die Münchner Antidiskriminierungsstelle, zu schreiben. Die meisten Anwesenden wollten unterschreiben, nicht nur die eben Kontrollierten. Wir gingen nochmal zum Café, um von dem Brief zu berichten. Diesmal trafen wir den Chef dort. Dieser beklagte sich, das Geschäft sei eingebrochen, „die 158 Bulgaren“ konsumierten nicht genug, ständen aber ständig vor seinem Café. Auf einmal seien sie alle gekommen. Er habe sich erkundigt: das Café, das sie vorher besucht hätten, habe für „Bulgaren“ auf einmal einen Euro mehr pro Kaffee verlangt als für andere Kund*innen. Nach einem längeren Gespräch akzeptierte er, dass das Hausverbot gegenüber der Personen, die seine Mitarbeiterin nicht beleidigt hätten, sozusagen als Gruppenhaftung, nicht in Ordnung gewesen sei. Er sagte, dass sie wieder kommen könnten, wenn sie auch konsumierten. Einige Tage später saß ich mit einigen EU-Migrant*innen wieder im Café. Es kam zu einem Streit zwischen zwei Personen in unserer kleinen Gruppe. Eine Angestellte kam zu uns rüber, machte eine wischende Handbewegung und sagte: „Raus! Alle raus!“ Bevor sie wieder die Polizei rufen konnte, gingen wir. Diese Auseinandersetzung ist ein weiteres Beispiel nicht nur für rassistische Gruppenzuschreibungen, sondern auch dafür, wie die Polizei im Interesse der Besitzenden und Geschäftsleute tätig wird und so eine auf Konsum und den Schutz von Eigentum ausgerichtete und nach Besitz hierarchisierte Gesellschaftsordnung durchsetzt. Zudem wurde deutlich, wie Personenkontrollen dazu dienen, diejenigen, die sich legal hier aufhalten können von denen, die keine Papiere haben, oder gegen die ein Haftbefehl vorliegt, zu trennen, bzw. Gesellschaft zu stratifizieren. Dass Omar durch die Kontrolle kam, zeigt, dass Personen trotzdem Schliche finden und den ordnungspolitischen Praktiken nicht hilflos ausgeliefert sind. Dass er dann doch Asyl beantragte, macht auf die Komplexität der differenzierten Inklusion bzw. Exklusion aufmerksam. Omar nutzte den Asylantrag strategisch für die kurzfristige Besserung seiner Lebensbedingungen, während dieser Schritt den Unionsbürger*innen nicht zur Verfügung stand. Eine weitere Intervention der Polizei in den Alltag am selbstorganisierten Arbeitsmarkt bestand ganz einfach darin, Präsenz zu zeigen. In regelmäßigen Abständen fahren Polizeiautos langsam an der Kreuzung vorbei, während die Beamt*innen prüfend ihren Blick über die Menschen auf dem Gehsteig schweifen ließen. Manchmal wurde diese Praxis auch mit einer wischenden Handbewegung aus dem Autofenster heraus verbunden. Für die Arbeitssuchenden war nicht abzusehen, ob die Polizei dieses Mal hält, oder nicht. Vorsichtshalber gingen einige, während andere stehen blieben. Diese Praxis trug dazu bei, dass sich die Arbeiter*innen beobachtet und markiert fühlten. 159 Die Präsenz und Kontrollen der Polizei produzierten auch deswegen Unsicherheit und Angst, weil die Gefahr, verhaftet zu werden, ständig über den Köpfen der Arbeitssuchenden schwebte. Die meisten hatten als Unionsbürger*innen zwar kein Problem mit dem Aufenthaltsrecht, aber trotzdem kam es immer wieder zu unerwarteten Verhaftungen. Hristo Vankov wurde im Sommer 2010 während einer der Kontrollen auf der Goethestraße unversehens verhaftet und direkt ins Gefängnis gebracht. In den Monaten zuvor war er drei Mal beim Nutzen der öffentlichen Verkehrsmittel ohne gültiges Ticket erwischt worden. Die schriftliche Aufforderung, das „erhöhte Beförderungsentgelt“ zu begleichen, konnte ihm nicht per Post zugesendet werden, da er keine Meldeadresse hatte, weil er obdachlos war. So ging das Verfahren seinen Weg – von den Münchner Verkehrsbetrieben zum EBE-Inkasso-Unternehmen zur Staatsanwaltschaft. Inzwischen beliefen sich die Schulden auf etwa 700 Euro, bei einem „Gesamtschaden von Euro 7,50“, wie der Haftbefehl informierte, den die Staatsanwaltschaft erlassen hatte, da sie seiner nicht habhaft werden konnten. Der Haftbefehl wurde einige Wochen öffentlich ausgehängt – im Gericht oder im Rathaus - und als niemand reagierte, wurde er rechtskräftig. Hristo Vankov hatte zwischen dem Zeitpunkt der U-Bahnkontrolle und dem der Verhaftung keinerlei Information über das Verfahren erhalten. In den meisten mir bekannten Fällen waren unbeglichene Strafgelder die Gründe für Gefängnisaufenthalte. Meist, weil die Betroffenen bei der Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel ohne gültiges Ticket erwischt worden waren. Stellte dies für Personen, die eine Wohnanschrift hatten, eine Ausnahme dar, bedeutete die prekarisierte Situation der Obdachlosigkeit, dass kleine Ordnungswidrigkeiten leicht auf eine Haftstrafe hinauslaufen konnten. So stieg der Druck, Schulden direkt zu begleichen oder eben auszureisen.75 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die verschiedenen polizeilichen Maßnahmen, denen die Akteure des selbstorganisierten Arbeitsmarktes begegneten, sie zwar nicht - oder nur vorübergehend - vertrieben, aber durchaus als Einschränkung, erhebliche Stressfaktoren, Beschämung 75 Im Zusammenhang mit der „unerlaubten Nutzung des Gehweges“, für die Bettler*innen oft Bußgeldbescheide bekommen, bestätigte das Kreisverwaltungsreferat sogar, dass sie gerade aus dem Grund konsequent Bußgelder verhängten, um Bettler*innen aus München zu vertreiben, denn die Personen würden lieber Deutschland verlassen als ins Gefängnis zu wandern. 160 und Ärgernis empfunden wurden. Auch hier gilt es, in Anschluss an Foucault (1983) mit der Repressionshypothese zu brechen und die Produktivitäten der Sicherheitspolitik zu betrachten. Die Praktiken der Polizei wirkten auf die Subjektivitäten und Körper der (EU-)migrantischen Arbeiter*innen sowie in den urbanen Räumen und sozialen Ordnungen, deren Teil sie sind. Sie stellten eine sehr produktive Maschine dar, die das Objekt ‚Tagelöhnermarkt‘ und ‚Armutsmigration‘ (mit)produziert und eine ordnungs- und sicherheitspolitische Perspektive auf „die Problematik“ etabliert. Perspektiven aus den Sicherheitsbehörden Im folgenden Abschnitt geht es um Perspektiven, Problemdefinitionen und Praktiken innerhalb des Sicherheitsapparates. Ich beschreibe eine Filmszene, in der ein Polizeibeamter seine Aufgaben am selbstorganisierten Arbeitsmarkt beschreibt, einen Bußgeldbescheid aufgrund von „unerlaubter Sondernutzung“ und „Belästigung der Allgemeinheit“ und den Münchner Sicherheitsbericht aus dem Jahr 2013. „Wenn der normale Fußgänger auf der Straße ausweichen muss...“ – Das Problem aus Sicht einer Polizeistreife Eine Szene des Dokumentarfilms Öffnungszeiten (Riegler, Remter, Reiprich, Sommerauer & Tetik, 2011), den Studierende des Ethnologischen Instituts der LMU München in Zusammenarbeit mit der Initiative Zivilcourage und EU-migrantischen Arbeiter*innen in den Jahren 2010 und 2011 gedreht haben, zeigt, wie ein Vertreter der Polizei die Situation an der Kreuzung Goethe/Landwehrstraße und die Aufgabe der Polizei in dieser versteht und wie er sie den interessierten Studierenden sowie potenziellen Zuschauer*innen darstellen möchte. Die subjektiven Logiken eines Polizeibeamten lassen sich natürlich nicht verallgemeinern, geben aber doch einen Einblick in die Diskurse der Polizei. Die Szene findet in einem fahrenden Mannschaftswagen der Polizei statt, der langsam durch die Straßen des Bahnhofsviertels fährt. Die Person mit der Kamera sitzt am Beifahrersitz und filmt den uniformierten Interviewpartner 161 am Steuer. Immer wieder schwenkt die Kamera zur Rückbank, auf der zwei weitere Filmemacher*innen sitzen sowie ein weiterer Polizist. Sie fahren zur Kreuzung Goethe-/Landwehrstraße und überqueren sie im Schritttempo, während der Fahrer des Wagens erklärt, was durch die Autofenster zu sehen ist. Im Folgenden gebe ich seine Erklärung erst in wörtlicher Rede wieder und analysiere sie dann auf ihre Problemdefinition hin: „Man sieht es jetzt zum Beispiel schon. Hier stehen schon wieder einige an der Lichtzeichenanlage oder auch hier rechts an der Bank. Massiv, sehen sie! Diese Leute, die also hier jetzt damit leben müssen, die sind nicht sehr erfreut, weil sie einfach die Problematik nicht erfassen, dass dieses Stehen auf dem Gehweg selber ja noch keine Ordnungswidrigkeit oder Straftat darstellt. Und das muss man immer wieder den Leuten erklären. Dass von dem her, jeder sich hinstellen kann. Nur wenn er dann die öffentliche Sicherheit und Ordnung - so sagt man ja - beeinträchtigt, mit seiner Art oder wenn sie mehrere sind, dann schreiten wir also ein. Wenn also dann der normale Fußgänger auf der Straße ausweichen muss, weil hier Menschen in Trauben stehen oder hier bei den Geschäften da sich die Leute durchzwängen müssen, wenn es nicht so abläuft, wie es sein soll, dann werden wir tätig natürlich. [Schnitt] Also es hat sich jetzt gegenüber vorhin, wo wir vorbei gefahren sind, wieder bisschen gelichtet. Sie haben also gesehen, dass die Polizei wieder unterwegs ist. Und jetzt verteilen sie sich natürlich in die Landwehrstraße, in die Paul-Heyse oder hier runter oder auch in die Goethestraße vor. Aber das ist hier jetzt bisschen so ein neuralgischer Punkt, wo sie so massiv immer sind.“ (Riegler et al.: 2011)76 Wen oder was genau nimmt der Beamte hier als Problem war, als Objekt des polizeilichen Ordnungsauftrags? Zuerst einmal ist festzustellen, dass er versucht, sich in die Lage, die Perspektive und Emotionen der „Leute, die also hier jetzt damit leben müssen, zu versetzen, während die Arbeitssuchenden als ‚Problem‘ und somit Objekt erscheinen. Als Leidtragende, in dessen Interesse er tätig werde, sobald ihre Anliegen fundiert seien, weil es tatsächlich „nicht so abläuft, wie es sein soll“, sieht er „die Leute, die hier damit leben“ und „sich durchzwängen“ müssen oder 76 habe. 162 Er spricht bayerischen Dialekt, den ich ins Hochdeutsche übertragen den „normale[n] Fußgänger“, der „auf der Straße ausweichen muss“. Er sieht es als Aufgabe der Polizei, gegen Abweichungen von der Norm „tätig zu werden“. Um das ‚normale‘ Bewegen im öffentlichen Raum zu gewährleisten, wird die Präsenz von bestimmten Menschen im öffentlichen Raum für problematisch erklärt. Es geht ihm dabei weniger um einzelne Personen und auch nicht um einen Verdacht auf Straftaten, also um die Bekämpfung von Kriminalität, sondern vielmehr darum, für Ordnung und ‚Normalität‘ im städtischen Raum zu sorgen. Seine Erklärung folgt rassistischen Stereotypen und Mustern: Die Beschreibung „des Problems“ bleibt sehr unkonkret: „Menschen in Trauben“, „dieses Stehen“ und „neuralgischer Punkt“ sind die einzigen substantivischen Benennungen. Sonst spricht er von „sie“ oder „es“. Beschreibend kommt zweimal das Adjektiv „massiv“ hinzu, das im Gegensatz zu „gelichtet“ steht. Auch die Beschreibung des Verhaltens, das zum Einschreiten berechtigt, bleibt recht vage: Wenn jemand „mit seiner Art“ die öffentliche Ordnung und Sicherheit beeinträchtige oder wenn „sie Mehrere sind“. Hier kommt die Entkonkretisierung und damit einhergehende Entmenschlichung und Verdinglichung zum Ausdruck, wie sie auch für rassistische Darstellungen typisch sind und ich sie im Zusammenhang mit der Medienanalyse im dritten Kapitel thematisiert habe. Ein wiederkehrendes Muster ist auch die Umkehr der Betroffenheit. In Gefahr und Opfer der Situation sind die „normalen“ Bürger, nicht die Personen, die sich in prekärer Situation auf dem Gehsteig aufhalten. Zudem fällt die binäre Gegenüberstellung von „wir/normal“ und „sie/anormal“ auf. Dabei lässt er die Merkmale, die ihn zu dieser Problemdefinition mitbewegen, unerwähnt, sie schwingen aber im Subtext mit und werden auch durch Handlungen und Blicke deutlich. Wo genau diese Linie zwischen ‚normal‘ und ‚anormal‘ bzw. zwischen dem, wie es sein soll, und dem, wie es nicht sein soll, zwischen den Bedrohten und der Bedrohung, läuft, zeigt das folgende Zitat, in dem er den Unterschied zwischen den legitimen und illegitimen Personenkreisen (auf dem Gehsteig) noch einmal genauer erklärt und dabei auf die vermuteten Gründe für die Migration und das konfliktive Aufeinandertreffen von Welten, das die Polizei zu regeln habe, eingeht: „Die erhoffen sich natürlich jetzt hier, dass, wenn sie nach Deutschland kommen, dass es ihnen besser geht als zu Hause. Es sind ja nicht alle Bulgaren hier. Sondern auch wieder nur ein ‚bestimmter Teil‘, sag 163 ich einmal. Andere leben zuhause, sind zufrieden, haben halt Arbeit, wahrscheinlich. Das ist, denke ich, einfach mal die unterste Schicht, die auch nichts hat oder hier schnell Geld verdienen will, weiß man ja nicht. Das sind ja nicht nur die Bulgaren, das sind ja andere Länder auch, die hier rein drängen und hier versuchen, Fuß zu fassen, schnell Geld zu verdienen. Aber..., es ist halt irgendwo unbefriedigend auch für die Leute, die hier leben, oder hier aufwachsen, wenn man dann sieht, wie sich das entwickelt. Und die Wirtschaftslage ist ja nicht so rosig, jeder versucht einen Job zu kriegen. Und dann kommen die auch noch und nehmen die Arbeit weg oder stehlen. Da treffen dann solche Welten aufeinander und die muss man sich dann halt anhören. Ja, dafür sind wir ja auch da!“ (ebd.) Neben der Aufteilung in Deutschland und andere Länder, die im Sinne des methodologischen Nationalismus Gruppen nicht nur Nationen zuordnet, sondern diese auch miteinander gleichsetzt, teilt der Beamte in gute und schlechte Bulgaren auf: Die Guten leben zuhause, sind zufrieden, haben Arbeit - die Schlechten haben nichts, wollen schnell Geld verdienen, drängen rein, versuchen Fuß zu fassen, nehmen die Arbeit weg und stehlen. Er bezeichnet die Letzteren auch als „bestimmte[n] Teil“ und fügt mit „sag ich mal“ eine offene, frei interpretierbare Anspielung an, die meiner Interpretation nach in antiziganistischer Weise auf die Minderheit der Roma abzielt. Auffällig ist auch, wie die Klassenzuschreibung – „die unterste Schicht, die auch nichts hat“ – direkt übergeht in Kriminalisierung und Rassifizierung. Mit der „unterste[n] Schicht“ der Bulgar*innen meint er mit großer Sicherheit die Gruppe der Roma. Zudem unterscheidet er zwischen „den Leuten, die hier leben oder hier aufwachsen“ - wohl auch die „normalen Fußgänger“ - und den anderen. Zwischen den so definierten Gruppen zieht er ein Bedrohungsszenario auf, das zum einen dem „clash of civilizations“-Narrativ (vgl. Huntington, 1996) folgt, zum anderen dem (antiziganistischen) Bild der Invasion von gefährlichen Parasiten, die „auch noch“ „hier rein drängen“ und die sowieso knappe Arbeit den Inländern wegnehmen und stehlen (vgl. End, 2014). Wenn er dann erklärt, er müsse sich „die Welten“ (im Plural) anhören, dann scheint klar, welcher Interessensgruppe sein Ohr und seine Loyalität in erster Linie gehören. Führt diese Analyse nun zu dem Bild einer rassistischen Polizei, die im Auftrag von Staat und Geschäftsleuten im Sinne des Klassenkampfs 164 von oben handelt? Sicherlich ist die Situation nicht so eindimensional. Auch auf Anregung von Jenny Künkel (2016), die das Polizieren von Sexarbeit im Frankfurter Bahnhofsviertel erforscht hat, möchte ich das Bild noch ein wenig weiter verkomplizieren. Nach Künkel geht es der Polizei beim Polizieren oft darum, ihren Arbeitsaufwand zu minimieren und (deswegen) Frieden zu stiften. Gerade Personen mit „power to complain“ (ebd.) würden dann von den Beamt*innen als die eigentlichen Ruhestörer*innen betrachtet, die befriedet werden müssen. Für diese Analyse spricht beispielsweise, dass der Beamte von der „Problematik“ spricht, dass „die Leute, die damit leben müssen“, nicht verstehen, dass dem Polizieren gesetzliche Grenzen gesetzt sind und dass er ihnen die Gesetzeslage erklären muss. Implizit nimmt er also das Recht, auf dem Gehweg zu stehen, in Schutz, problematisiert Beschwerden, die auf keiner legalen Grundlage basieren und sieht so auch die Konflikte selbst als Problem. Im Zusammenhang mit fortgeschrittenen Gentrifizierungsprozessen interpretiert Jenny Künkel diese Praktiken auch als „Containment“ (ebd.) und Versuch, zu verhindern, dass die problematisierten Gruppen sich an Orte verlagern, an denen Personen mit noch größerer „power to complain“ (ebd.) aktiv werden könnten. Die Darstellung des Streifenbeamten soll hier zudem nicht als generelle Denkweise der Polizei verallgemeinert werden, sondern als Schlaglicht dienen, das sich allerdings mit weiteren Aussagen von Polizeibeamt*innen im Film deckt.77 Im Folgenden möchte ich ein weiteres Schlaglicht auf einen Bußgeldbescheid werfen. „Passanten wandten sich angewidert ab“ – Problembeschreibung eines Bußgeldbescheids Einige Male sind Arbeiter*innen mit Bußgeldbescheiden in das Workers’ Center gekommen und haben mich gebeten, diese zu übersetzen, 77 Einige Filmszenen weiter vertreiben Polizist*innen obdachlose EUMigrant*innen, die im Wartesaal des Zentralen Omnibusbahnhofes nachts schlafen. Eine Polizistin erklärt dabei ihre Vorstellung von ordnungsgemäßem Verhalten in öffentlichen Gebäuden folgendermaßen: „Es ist einfach so. In jedem öffentlichen Gebäude hat man sich in München und auch in anderen Städten nicht aufzuhalten. Ob das ein Bahnhof ist, eine S-Bahn, eine U-Bahn oder sonst etwas. Man hat sich daheim aufzuhalten. Man kann draußen ein Bier trinken und dann geht man heim. Fertig, aus.“ (Riegler et al.: 2011) 165 Einspruch zu erheben oder eine Ratenzahlung zu beantragen. Einen Bescheid möchte ich genauer auf seine Problembeschreibung hin analysieren: Im Jahr 2013 kam eine Person in das Workers’ Center, die einen Bescheid (78,50 Euro) aufgrund von „unerlaubter Sondernutzung [ ], als auch wegen Belästigung der Allgemeinheit“ erhalten hatte. Sie bat mich, ihr den Brief zu übersetzen und fragte, ob wir Einspruch einlegen könnten - schließlich habe sie nichts getan, außer mit ein paar Freunden zusammen zu stehen und ein Bier zu trinken. Wenn ein Einspruch nicht mehr möglich sei, wolle sie eine Ratenzahlung beantragen. Das Schreiben gab an, dass die Person sich gemeinsam mit anderen Männern für mindestens 15 Minuten (18.25-18:40 Uhr) in der Nähe des Bahnhofs aufgehalten hatte. Den folgenden Abschnitt des von zwei Polizeibeamt*innen unterschriebenen Bescheides möchte ich hier wiedergeben: „Die Betroffenen saßen auf einer Holzpalette, welche an der Baustellen am Bahnhofsplatz abgestellt worden war beziehungsweise standen am Bauzaun lehnend daneben und konsumierten Alkohol in Form von Bier der Marken „Augustiner“, Tegernseer“ [sic] und „Edler-Sud“. Obwohl sich in unmittelbarer Nähe Mülleimer befanden, warfen alle ihre Zigarettenkippen achtlos auf den Boden. Die konnten die Beamten beobachten. Weiterer Unrat (Kronkorken, Pappbecher, Papierfetzen, leere Flaschen) lag um ihren Standort herum. Passanten und Reisende wandten sich auf Grund der ungepflegten Erscheinung der Betroffenen und auch wegen deren Verhalten angewidert und ab [sic] oder machten einen Bogen um die Gruppe. Die ganze Situation wurde noch mit lautstarken Diskussionen aus der Gruppe heraus verstärkt.“78 Außerdem „hegten die Betroffenen keine Reiseabsichten“ (als Beweis gaben die Beamt*innen sogar die Anzahl der Trambahnen an, die in der Überwachungszeit an- und abgefahren waren), sondern „[s]ie treffen sich lediglich am Bahnhof, um die in umliegenden Geschäften erworbenen Alkoholischen Getränke zu konsumieren [sic].“ Konkret brachten die Beamt*innen nichts weiter vor, als dass die „Betroffenen“ Zigarettenkippen weggeworfen, Bier getrunken, sich unterhalten und dabei fünfzehn Minuten auf der Straße aufgehalten hätten. Die Repräsentation und 78 Aus Gründen der Anonymität gebe ich hier keine weiteren Informationen zu dem Schreiben preis. 166 Deutung dieser Tätigkeiten erinnert an die rassistischen Repräsentationsmuster der Medienartikel, die ich im dritten Kapitel analysiert habe: Müll, unzivilisiertes Verhalten, unkontrollierter Konsum von Zigaretten und Alkohol und die Verdrängung der ‚normalen‘ Passant*innen. Dies reichte, um sie im Namen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung einer Personenkontrolle und einem Bußgeld zu unterziehen und von der ‚Allgemeinheit‘ symbolisch auszuschließen: „Sie [haben] durch Ihre Verhaltensweise eine grob ungehörige Handlung vorgenommen, die geeignet war, die Allgemeinheit zu belästigen und die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu beeinträchtigen.“ Sind solche Stereotypisierungen und Problematisierungen, wie sie hier oder in den Aussagen des Streifenpolizisten im vorangegangenen Abschnitt zu Ausdruck kommen, nur individuelle Fehler, die sich auf der unteren Ebene des Sicherheitsapparats lokalisieren lassen? In welchem Verhältnis stehen die höheren Ebenen der Sicherheits- und Ordnungsbehörden zu diesen lokalen (Wissens-)Praktiken? Im Folgenden zeige ich, dass die Aussagen und Praktiken der Polizeibeamten keine individuellen rassistischen Ausrutscher waren. Zwar artikulierten sich die Rassismen in den oberen Rängen der Sicherheits- und Ordnungsbehörden differenzierter, aber sie hatten doch eine ähnliche Stoßrichtung, wie im Sicherheitsbericht der Stadt München aus dem Jahr 2013 ersichtlich wird. „München wird bunter und lebendiger, aber auch lauter“ – Armutszuwanderung als Schwerpunkt städtischer Sicherheitspolitik „München wird bunter und lebendiger, aber auch lauter. Der öffentliche Raum wird verstärkt genutzt von Personen mit unterschiedlichen Weltanschauungen, von Personen aus unterschiedlichen Kulturen. Das macht München attraktiver und dynamischer, führt aber auch immer wieder zu Nutzungskonflikten.“ (Landeshauptstadt München, 2014: 5) Im Sinne des postliberalen Rassismus sahen der Münchner Oberbürgermeister und der Kreisverwaltungsreferent in der Einleitung des 167 Münchner Sicherheitsberichts 2013 die kulturelle Diversität der Stadt nicht nur als Problem, sondern auch als Bereicherung. Gleichzeitig machten sie das Problem der „Nutzungskonflikte im öffentlichen Raum“ aus und führten es auf kulturelle Unterschiede zurück – es sei die „verstärkte“ Nutzung des öffentlichen Raumes durch Personen unterschiedlicher „Weltanschauungen“, die zu Konflikten führe. So problematisierten sie doch wieder die Migration von Menschen ‚anderer Kulturen‘ nach München und bedienten sich dabei einer Reihe rassistischer Diskursfiguren: des „Kampfes der Kulturen“ (Huntington, 1996), der ‚Migrationswellen‘ und eben der Aufteilung zwischen guter und schlechter Diversität (vgl. Lentin & Titley, 2011). Andere Erklärungsansätze für Konflikte im öffentlichen Raum wie soziale Ungleichheiten, oder Kriminalität, erwähnen sie nicht. Welche Konflikte im öffentlichen Raum spricht der Sicherheitsbericht hier aber konkret an? Bei den ersten zwei Themenschwerpunkten des Berichts handelt es sich um den Hungerstreik von Geflüchteten am Rindermarkt und um „Armutszuwanderung aus Südosteuropa und Vermeidung von Wohnungslosigkeit“ (Landeshauptstadt München, 2014: 12). Zum einen wurden der Stadt also politische Aktionen von Geflüchteten zum sicherheitspolitischen Problem, zum anderen (und in beiden Fällen) soziale Benachteiligung und migrantische Armut. Den zweiten Themenschwerpunkt schlüsselt der Bericht wiederum in verschiedene Problembereiche auf: Neben der „Unterbringung von Arbeitssuchenden und Obdachlosen“ und insbesondere der Einrichtung zum Kälteschutz79, geht es um Sichtbarkeit im öffentlichen Raum: „Des Weiteren wird die Armutszuwanderung im Stadtgebiet, aber auch in den Bereichen Aufenthalt im öffentlichen Raum, wildes Campieren und Betteln deutlich sichtbar“. Zwischen Absätzen zu „Wildem Campieren“, „Betteln“ und „Prostitution“ findet sich dann auch einer zum „grauen Arbeitsmarkt“: „Neben den Bettlern im gesamten Stadtgebiet halten sich insbesondere im Bereich des südlichen Bahnhofsviertels tagsüber auch zunehmend Zuwanderinnen und Zuwanderer aus Südosteuropa in Gruppen auf. Diese Personen ohne berufliche Qualifikation warten auf der Straße auf Tagelöhnerjobs, welche in diesem Bereich direkt an der Straße ver79 Die Obdachlosenpolitik der Stadt München inklusive des Kälteschutzprogramms ist Thema des fünften Kapitels dieser Arbeit. 168 mittelt werden. Neben diesen prekären Arbeitsverhältnissen im Bereich des ‚grauen Arbeitsmarktes’ versuchen andere durch die Anmeldung als Selbständige auf dem Münchner Arbeitsmarkt Geld zu verdienen. Zum Großteil gehen diese Personen allerdings keiner selbständigen Tätigkeit nach, da ihnen eine tatsächliche Betriebsstätte fehlt. Darüber hinaus sind viele über das deutsche Renten- und Krankensystem nicht informiert, das heißt, sie erfüllen ihre Versicherungspflichten nicht und haben somit auch keine Absicherung im Krankheitsfall und keine Altersvorsorge.“ (Landeshauptstadt München, 2014: 14) Wieso der „graue Arbeitsmarkt“ sicherheits- und ordnungspolitische Probleme aufwirft und wieso eine Beschreibung der sozialen und beruflichen Lage der Arbeitssuchenden, die als Zuwander*innen aus Südosteuropa bezeichnet werden im Sicherheitsbericht erwähnenswert scheint, wird nicht deutlich. Die verschiedenen mit Armutszuwanderung assoziierten Problemfelder rufen in den Augen der Verfasser*innen nach Interventionen und Gegenmaßnahmen: „Im Jahr 2014 werden voraussichtlich neue Konzepte und Vorgehensweisen zum Umgang mit Brennpunkten und Konflikten im öffentlichen Raum erstellt und sukzessiv angewendet (zum Beispiel ‚Wildes Campieren‘).“ (ebd.: 15) Für mehr Informationen verweisen die Autor*innen auf die im Beschluss Runder Tisch Armutszuwanderung formulierte „gesamtstädtische Linie“, die vorgibt, in welche Richtung sich die kommunale Politik gegenüber dem, was als „Armutszuwanderung aus Südosteuropa“ problematisiert wird, bewegen soll. Diese Linie, die auch im fünften Kapitel diskutiert wird, beginnt mit der Bekräftigung der Münchner Willkommenskultur - „Grundsätzlich ist jeder Mensch willkommen, der nach München ziehen und sich hier einbringen möchte“ (Stelle für Interkulturelle Arbeit, 2014: 40) fordert aber auch zu einem konsequenten ordnungspolitischen Vorgehen gegenüber der „bad diversity“ (vgl. Lentin & Titley, 2011) auf: „Im Bereich der Eingriffsverwaltung wird gegen ordnungs- oder rechtswidriges Verhalten konsequent vorgegangen. Insgesamt geht es auch 169 darum, dass unnötige Anreizeffekte vermieden werden müssen.“ (Stelle für Interkulturelle Arbeit, 2014: 14) Die Formulierung der „Vermeidung unnötiger Anreizeffekte“ interpretiere ich als Euphemismus für Abschreckung. Die Polizei und andere Ordnungshüter sind beauftragt, alle Möglichkeiten ausnutzen, um die sogenannten Armutszuwander*innen abzuschrecken. Diese Leitlinie erklärt somit auch, wieso die ‚Armutszuwanderung‘ zu einem Schwerpunkt des Sicherheitsberichts wurde. Auch das im Zusammenhang mit der Zollrazzia erwähnte Schreiben des Bayerischen Innenministeriums bestätigte das konsequente Vorgehen in Bezug auf den selbstorganisierten Arbeitsmarkt: „Die Polizeiinspektion 14 reagiert auf diese Entwicklung mit regelmäßigen Kontrollen und Platzverweisungen. Ordnungswidrigkeiten, die sich zumeist im niederschwelligen Bereich bewegen (z.B. Ordnungswidrigkeiten nach dem Bayerischen Straßen- und Wegegesetz (BayStrWG), wurden konsequent zur Anzeige gebracht. Zudem wurden die gewonnenen Erkenntnisse der Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Zolls (FKS) mitgeteilt.“ (Bayerisches Staatsministerium des Innern, für Bau und Verkehr, 2013) Die Polizeimaßnahmen vor Ort – inklusive der Razzia, bei der die Kontrollierten mit grünen Bändern markiert wurden – waren also, zumindest ab dem Jahr 2013, keine Eigeninitiativen einzelner Streifenpolizist*innen, sondern von den Vorgesetzten unterstütztes sicherheitspolitisches Durchgreifen. Auch die rassistischen Problemdefinitionen der Beamt*innen fanden ihre Entsprechung in den postliberal rassistischen Logiken ihrer Vorgesetzten. ‚Armutszuwanderung‘ wurde in München versicherheitlicht, also als Problem begriffen, das es mit den Mitteln der Sicherheits- und Ordnungspolitik zu lösen galt – oder mit dem zumindest ein Umgang gefunden werden musste. Wider die Repressionshypothese Die beschriebenen Polizeimaßnahmen stellten „Grenzsituationen“ (Lebuhn, 2013) dar, denn sie implementierten die Grenzen der Staatsbürgerschaft, wie sich am deutlichsten in der prekären Situation 170 zeigte, die die Polizeikontrolle für den illegalisierten Omar bedeutete. Sie schränkten aber nicht nur die Freiheit des illegalisierten Migranten ein (bzw. eröffnete sich für ihn in der Begegnung mit der Polizei ja paradoxerweise sogar die Handlungsmöglichkeit des Asylantrags), sondern auch die der in aller Regel freizügigen80 EU-Migrant*innen. Die Polizeibeamt*innen führten am „Tagelöhnermarkt“ regelmäßig Personenkontrollen und auch Verhaftungen und Hausverbote durch. Diese ordnungspolitischen Maßnahmen beruhten oft auf rassistischen Problemwahrnehmungen. Gleichzeitig nahmen die Beamt*innen nicht nur die Tagelöhner*innen als Problem war, sondern auch die für Unruhe sorgenden Beschwerdeführer*innen. „Aus der Perspektive der Polizei, für die Polizieren Arbeit ist, [sind] oft diejenigen das Problem, die Probleme sehen (und nicht verstehen, dass die Probleme nicht verboten sind)“ (Künkel, 2016). Wenn der Polizeipräsident bei seinem Spaziergang durch das Viertel erklärt, es handele sich um soziale Probleme und der Polizist auf Streife davon spricht, dass er den klagenden Anwohner*innen eben erklären müsse, dass das Herumstehen nicht verboten sei und sich damit zufrieden zeigt, wenn „es sich lichtet“ und „sie sehen“, „dass die Polizei wieder unterwegs ist“, dann kann dies auch als Versuch der Eindämmung und Befriedung des Konfliktfeldes verstanden werden, statt als Vertreibungs- oder Säuberungsaktion. Ob sie aber vertreiben, eindämmen oder befrieden sollen, die Sicherheitspraktiken greifen in die Aushandlungen des urbanen Raumes ein, indem sie soziale Ordnungen sowohl sicht- und fühlbar machen wie auch schaffen. Die Praktiken der sogenannten Ordnungshüter*innen am selbstorganisierten Arbeitsmarkt können damit genauso wenig wie die Fortress Europe auf Repression reduziert werden.81 Im Anschluss an Foucault lässt sich die Repressionshypothese (vgl. Foucault, 1983; Lemke, 1997) widerlegen. Die Sicherheitspraktiken (re)produzieren, zumindest für den Moment, die Gewalt des Staates und weisen ihren Subjekten Rollen zu (vgl. Fassin, 2013). Die ungleichen Interaktionen wirken auf Körper und Subjektivierung der betroffenen Akteure, markieren sie zu80 Auch EU-Bürger*innen kann die Ausländerbehörde unter gewissen Umständen die Freizügigkeit aberkennen. Während meiner Arbeit im Workers‘ Center der Initiative Zivilcourage ist es in einem Fall vorgekommen, dass eine Person tatsächlich nach Bulgarien abgeschoben wurde. 81 Zur Kritik an dem Begriff der ‚Festung Europa‘ vgl. Hess & Tsianos, 2004 und Tsianos & Karakayalı, 2008. 171 dem sichtbar und stellen so ein ungleiches Verhältnis zwischen suspekten und nicht-suspekten Personen(-gruppen) im Bahnhofsviertel her. Die Trennungslinie verläuft dabei nicht nur zwischen Inländer*innen und Ausländer*innen oder zwischen Schwarz und weiß, sondern insbesondere zwischen den Geschäftsleuten sowie ihren Kund*innen auf der einen Seite und den anderen, die „herumstehen“, rassistischen Vorstellungen öffentlicher Ordnung widersprechen und krimineller Handlungen verdächtigt werden, auf der anderen Seite. Diese Analyse deckt sich mit Loïc Wacquants Überlegungen zu einer historischen Anthropologie des Neoliberalismus, in der er herausstellt, dass Sicherheitsbehörden im neoliberalen Staat eben nicht nur restriktiv vorgingen: „Instead of viewing the police, the court, and the prison as technical appendages for fighting crime, we must recognise that they constitute core political capacities through which the Leviathan governs physical space, cuts up social space, dramatises symbolic divisions and stages sovereignty.“ (Wacquant, 2012: 76) Die Markierung mit den grünen Bändchen war eine kondensierte Artikulation des subjektivierenden Regimes, die die Markierten auf eine rassifizierte, unterworfene, suspekte und unerwünschte Position in der Gesellschaftsordnung verwies. Gerade das Beispiel der grünen Bändchen zeigt aber auch, dass diese Verhältnisse nicht ausweglos sind, sondern ausgehandelt und dass Widerstand möglich ist, zum einen in Form von representational politics – wie an dem Protest gegen die grünen Bändchen (und auch am Widerspruch gegen das Hausverbot des Back-Cafés) deutlich wurde, vor allem aber in Form von imperceptible politics: Die Markierten, Kontrollierten, Verhafteten, Verscheuchten und Beobachteten trafen sich weiter auf den Straßen des Bahnhofsviertels, sie ließen sich nicht vertreiben und entzogen ihre hartnäckigen, kollektiven Praktiken den Versuchen des Regierens. 172 173 Obdachlosenpolitik und Grenzziehungen städtischer Bürgerschaft Umkämpfte Stadtbürgerschaft „Wir sind unter bestimmten Bedingungen verpflichtet, Münchner Bürger unterzubringen“, so antwortete der Leiter des Münchner Amts für Wohnen und Migration in einem Interview im Juni 2011 auf die Frage, ob sein Amt auch EU-Migrant*innen, die in München unfreiwillig obdachlos sind, in die kommunalen Notunterkünfte aufnehme. „Bloß, das sind keine Münchner Bürger“. Er fuhr fort: „Es sei denn, sie sind länger als ein halbes Jahr hier, und sie haben eine Möglichkeit, auch ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Und wenn sie das nicht sind, gilt die EU-Freizügigkeitsregelung für sie nicht. Und dann sind sie draußen aus dem Geschäft.“ Kommunale Bürgerschaft sei ausschlaggebend für die Verpflichtung der Stadt unterzubringen. Die Grenzen der Münchner Bürgerschaft zog er entlang der Grenzen der EU-Freizügigkeit. Die Regelungen der EU-Freizügigkeit legte er aber sehr frei aus – denn nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU sind nicht nur Personen mit mehr als sechs Monaten Aufenthalt und ausreichend Verdienst aufenthaltsberechtigt, sondern Unionsbürger*innen genießen aufgrund ihrer Unionsbürgerschaft die Freizügigkeit, die ihnen nur unter hohen Hürden aberkannt werden kann. Nebenbei bezeichnet er die Stadtbürgerschaft auch als „Geschäft“ und impliziert somit einen ökonomischen Charakter. In den folgenden Analysen der Aushandlungen Münchner Obdachlosenpolitik wird sich zeigen, dass diese Grenzziehungen des Rechts auf Unterbringung und somit – in des Amtsleiters Worten – der Münchner Bürgerschaft, höchst flexibel und umkämpft waren. Die Kommunalpolitik hat in diesen Aushandlungen ihre Problemdefinitionen und Lösungsstrategien immer wieder verändert. Mit der Einführung der EU-Freizügigkeit sind die staatlichen Technologien des Regierens der Migration wie Grenzkontrollen und 174 Visumspolitiken gegenüber Unionsbürger*innen (fast) obsolet geworden.82 Seitdem haben die Kommunen als migrationspolitische Akteure in EU-Europa an Bedeutung gewonnen. Auch wenn der Amtsleiter sich hier, auf den ersten Blick, an die von der BRD und der EU gezogenen Grenzen der Unionsbürgerschaft zu halten scheint, musste die Stadt sich von Staats- und Unionsbürgerschaft emanzipieren und selbst migrationspolitisch kreativ werden. Diese Beobachtung deckt sich mit der weit verbreiteten Diagnose, dass sich mit der Globalisierung die Skalen des Regierens verschieben: „Es verändern sich die Kompetenzen und Machtverhältnisse zwischen nationalen Regierungen, supranationalen Institutionen und der lokalen Ebene“ (Hess & Lebuhn, 2014: 16; vgl. auch Faist & Häußermann, 1996). Seit einigen Jahren ist eine lebhafte wissenschaftliche Debatte um die Frage entbrannt, was diese Verschiebungen für die lokale, kommunale Ebene bedeuten. Ein Beispiel ist die These der „global cities“ von Saskia Sassen (1996), die davon ausgeht, dass sich ein globales System aus wirtschaftlich zentralen Städten herausbildet, welche sich stärker aufeinander beziehen als auf ihre territoriale Umgebung und sich so auch von dem Staat, in dessen Territorium sie liegen, tendenziell entkoppeln. Auch die Münchner Stadtverwaltung betonte in ihrem Integrationskonzept 2008, dass München als Standort eine zunehmende internationale Bedeutung zukäme (Landeshauptstadt München, 2008): 7). Dies sei Teil „eine[r] globale[n] Entwicklung und eine[s] Trend[s], der weltweit alle großen Städte erfasst hat: Sie werden zunehmend internationaler und interkultureller“ (ebd.: 6). Unter dem Schlagwort urban citizenship wird der Stadtbürgerschaft in der wissenschaftlichen Debatte und auch in den sozialen Bewegungen83 das Potenzial zugesprochen, den exkludierenden Charakter von Staatsbürgerschaft zu überkommen, weil in der Stadt Aufenthalt bzw. Wohnsitz (ius domicilii) über die Zugehörigkeit zur Bürgerschaft bestimme und nicht, wie dies bei Staatsbürgerschaft der Fall ist, der ‚falsche‘ Geburtsort (ius solii) oder die ‚falsche‘ Nationalität der Eltern (ius sangui) Einwohner*innen von bürgerschaftlichen Rechten ausschließen könnten. In seinem grundlegenden Papier Reinventing urban citizenship spricht sich der Politologe Rainer Bauböck dafür aus, die Autonomie 82 Das sechste und siebte Kapitel zeigen, wie sich die staatliche Migrationspolitik gegenüber Unionsbürger*innen auf die Sozialpolitik verlagert hat. 83 Ein Beispiel hierfür ist die Solidarity Cities Bewegung, siehe https:// solidarity-city.eu/de/. 175 der Städte vis-à-vis der Staaten zu stärken mit dem Ziel, dass die politische Bürgerschaft einer Stadt auch mit der sozialen Bevölkerung übereinstimme: „Urban citizenship is in this respect a truly public good from whose enjoyment no resident is excluded“ (Bauböck, 2003). Davon verspricht er sich nichts weniger als eine kosmopolitische Demokratie: „An urban citizenship that is emancipated from imperatives of national sovereignty and homogeneity may become a homebase for cosmopolitan democracy“ (ebd.: 157). Andere Arbeiten zu Transformationen von Bürgerschaft auf der Ebene der Stadt gehen über eine proklamative politische Theorie hinaus und schauen genauer hin, welche Aushandlungen auf der Ebene der Stadt stattfinden. Der Sozialgeograph und Migrationsforscher Mathias Rodatz hat so etwa am Beispiel der Frankfurter Integrationspolitik gezeigt, „dass die Verlagerung des Integrationsparadigmas auf die Ebene der Stadt die Ordnungslogik des Nationalstaats infrage stellt, weil sich Stadtpolitik heute im Allgemeinen an neoliberalen Rationalitäten orientiert.“ (Rodatz, 2014: 37) Auch wenn er Kritiken an der Neoliberalisierung des Staates, die hervorheben, dass Rechte nicht mehr universell seien, sondern an Selbstverantwortung und ökonomische Verwertbarkeit geknüpft würden (vgl. ebd.: 43), durchaus ernst nimmt, geht es auch ihm darum, welche Potenziale Stadtbürgerschaft verspreche für Versuche, mit den „alten, nationalen Mustern zwischen rassistischem Ausschluss und kulturalistischen Integrationsparadigma“ (ebd.: 51f) zu brechen. Kämpfe um Stadtbürgerschaft sind ihm zufolge Kämpfe um „substanzielle Teilhabe“ (ebd.), für die sich im Zuge der neoliberalen Transformationen der Stadtpolitik durchaus Fenster öffneten. Die Stadtpolitik würde sich von „Defizitorientierung“ (ebd.: 36), vom „Nichteinwanderungsland“ (ebd.: 40) und der „Leitkultur“ (ebd.) abwenden und gleichzeitig der „Potenzialorientierung“ (ebd.: 43) und „Vielfalt“ (ebd.: 44) zuwenden. Der Politologe Henrik Lebuhn hingegen lenkt die Aufmerksamkeit auf „Grenzsituationen“ (Lebuhn, 2012), die in den Städten entstünden (vgl. Hess & Lebuhn, 2014; Lebuhn, 2013). Europäische Grenz- und Migrationsregime operierten nicht nur an den Außengrenzen, sondern eben auch im Inneren der Nationalstaaten und produzierten eine Bandbreite an unterschiedlichen Aufenthaltsstatus, die mit unterschiedlichen sozialen und politischen 176 Rechten einhergingen. Hier wird auch von der Stratifizierung des Migrationsregimes gesprochen (vgl. Hess & Lebuhn, 2014; Mezzadra & Neilson, 2014). Jede Situation, in der Migrant*innen mit dem lokalen Staat in Berührung kommen, werde dann zur Grenzsituation. Auch städtische Einrichtungen wie Sozialämter, Schulen und öffentliche Verkehrsmittel würden immer tiefer in die Kontrolle von staatlichen Aufenthaltspolitiken verstrickt und setzten so nationale Muster von Zugehörigkeit um (vgl. auch Faist & Häußermann, 1996). „Under these conditions, urban citizenship becomes connected to Schengen regulations and national immigration law rather then emancipating the urban realm from them“, so Lebuhn (2013: 13). Auch hier wird der Ursprung der städtischen Grenzpolitiken aber nicht der Stadt, sondern dem Nationalstaat und der EU zugerechnet. Die These der Proponent*innen von urban citizenship ist, dass die staatlichen und EU-europäischen Grenzziehungen den ‚eigentlichen‘, inklusiven Charakter städtischer Bürgerschaft überlagern. Es lässt sich also festhalten, dass urban citizenship bisher vor allem auf ihre Inklusionsaspekte und Potenziale hin untersucht wurde, welche der Staatsbürgerschaft und auch der EU-europäischen Migrationspolitik gegenübergestellt wurden. Der lokalen Ebene wurde dabei das Potenzial zugesprochen, den Staatsrassismus sowie die von Exklusion geprägte Staats- bzw. Unionsbürgerschaft zu überkommen und Stadtbürgerschaft wurde als naheliegender Bezugspunkt für Kämpfe um Bürgerschaft markiert. Schon im einleitenden Zitat wurde deutlich, dass manche Menschen in München nicht als Münchner Bürger*innen anerkannt und von grundlegenden sozialen Rechten ausgeschlossen werden. Diese Grenzziehung folgt zwar auf den ersten Blick den internen Stratifizierungen der Unionsbürgerschaft (einer weiteren Form von citizenship, die als postnational gepriesen wird), auf den zweiten Blick produziert die Stadt München aber ihre eigenen Grenzen auch in Prozessen, die von der BRD und der EU relativ unabhängig sind. In diesem Kapitel werde ich anhand der Aushandlungen der Münchner Obdachlosenpolitik gegenüber Unionsbürger*innen zwischen 2007 und 2015 untersuchen, wie die Stadt München ihre Grenzen zieht und inwiefern sie sich dabei von deutschen und EU-europäischen Bürgerschaftsarchitekturen emanzipiert. Ich spüre dabei den Rationalitäten, Antagonismen und Kontingenzen dieses städtischen Grenzregimes nach. Dieses Kapitel stellt das empirische Herzstück des Buches dar. Mein Forschungsinteresse gilt auch 177 hier wieder den Grenzen, der Konstruktion und Produktion des Außen und ich positioniere mich mit den Kämpfen, die diese Grenzziehungen angreifen und über sie hinaus gehen. Ich gehe von Kämpfen aus, die etwa im Amt für Wohnen und Migration (drei Stockwerke unter dem Büro des anfangs zitierten Amtsleiters) stattfanden, als obdachlose Menschen hier eine Unterkunft beantragten. Dazu greife ich diverse Veranstaltungen und stadtpolitische Runde Tische auf, in denen die öffentliche Problemwahrnehmung und die Obdachlosenpolitik der Stadt München ausgehandelt wurden und an denen auch ich seit 2010 aktiv teilnahm. Diese konfliktiven Situationen verwebe ich mit der Analyse von städtischen Policy-Dokumenten, die die Entwicklungen der Problemdefinition und der Erklärungs- sowie Lösungsversuche in der Stadtverwaltung deutlich machen. Doch zuerst stelle ich kurz die relevanten Akteure und Paradigmen, die den Politikstrang der Unterbringung obdachloser EU-Migrant*innen beeinflusst haben, vor: das Programm Wohnen statt Unterbringen (Wohnungs- und Flüchtlingsamt, 2002) und das Münchner Integrationskonzept (Landeshauptstadt München, 2008). Dann zeichne ich nach, wie die Problematisierung sich veränderte bzw. verschiedene Perspektiven miteinander stritten: von der Abwesenheit einer Problematisierung über das Problem der sozialen Exklusion hilfebedürftiger Zuwander*innen bis hin zur Definition der wohnunglosen ‚Armutszuwander*innen‘ als Problem und Bedrohung für die Münchner Bürger*innenschaft. Daraufhin geht es darum, wie die Stadt München versucht, diese neu entdeckten Probleme zu lösen bzw. zu ‚managen‘. Wer wurde untergebracht und wer nicht? Wie sind die verschiedenen Unterbringungspolitiken und ihre Grenzziehungen entstanden? Welche Rationalitäten, Akteure, Kräfteverhältnisse haben eine Rolle in den Aushandlungsprozessen gespielt? Wie wurden hier die Grenzen der Münchner Bevölkerung gezogen, wie wurde urban citizenship neu ausgehandelt? Inwiefern können die entstehenden Aus- und Einschlüsse durch nationalstaatliche (oder EU-europäische) Bezugspunkte erklärt werden? Es folgt ein erster Einblick in die alltäglichen Kämpfe obdachloser Migrant*innen mit Bürokratie und Amtsrassismus. Für mich war es die erste von vielen Begegnungen mit den Programmen der Münchner Obdachlosenhilfe. Von ihr ausgehend bin ich verschiedenen Trajektorien gefolgt, um mehr über die Obdachlosenpolitik der Stadt München zu erfahren. 178 Konflikt um Wohnraum I – Ein ‚Härtefall’ München, Mai 2010. Sebahattin Yankov, Hristo Vankov und ich trafen uns um halb neun Uhr vor dem Amt für Wohnen und Migration, einem modernen fünfstöckigen Gebäude im Zentrum Münchens. Sebahattin Yankov und sein Onkel Hristo Vankov hatten gerade drei Tage bei einem Entsorgungsunternehmer gearbeitet, als Sebahattin Yankov bei einem Arbeitsunfall mit dem Gabelstapler seinen rechten Zeigefinger verlor. Daraufhin fuhr ihr Arbeitgeber sie zwar zum Krankenhaus, leugnete aber, dass sie bei ihm gearbeitet hätten und erklärte, sie nie wieder sehen zu wollen. Er hatte sie nicht angemeldet und nicht bezahlt. Es bestand kein schriftlicher Arbeitsvertrag. Ohne Arbeit und ohne Geld konnten die beiden ihre Schlafplätze in einem privaten Wohnheim nicht mehr bezahlen. Sie wurden obdachlos und verbrachten die Nächte wechselnd unter der Brücke, bei Bekannten oder in einem Spielsalon, in dem ein Bekannter arbeitete. Hilfe suchend wandten sie sich an den Zoll bzw. dessen Unterabteilung der Finanzkontrolle Schwarzarbeit, die sie zum Arbeitsgericht schickte, wo sie Klage wegen Lohnbetrug gegen ihren ehemaligen Arbeitgeber erhoben. Kurze Zeit später trafen wir sie während des Infostandes Anfang 2010. Bei der Abteilung der Zentralen Wohnungslosenhilfe (ZEW) im Amt für Wohnen und Migration wollten wir nun eine Unterkunft für sie beantragen. Wir betraten das Gebäude und zogen eine Wartenummer in der Empfangsstelle, der sogenannten Infothek, im Erdgeschoss. Der Sachbearbeiter in der Infothek, zu dem wir nach etwa 40 Minuten vorgelassen wurden, nahm ihre Personalien auf und stellte uns einen rosa Laufzettel aus, mit dem wir zu der zuständigen Sachbearbeiterin im ersten Stock gelangten. Im ersten Stock folgten wir durch die labyrinthartigen Gänge den Schildern zu dem uns zugewiesenen Wartebereich C1. Auf dem Weg wurden wir mehrmals von Mitarbeiter*innen in Security-Uniform um den rosa Laufzettel gebeten. Ihr Auftreten ließ offen, ob sie Kund*innen den Weg wiesen oder Verdächtige auf ihre Legitimation hin kontrollierten. Im Wartebereich angekommen, zogen wir die zweite Nummer – Nummer 149 – und setzten uns zwischen die anderen Wartenden. Der Wartebereich bestand aus einer Erweiterung des Ganges mit im Boden verschraubten Sitzreihen, die im Halbkreis um das Aufrufsystem und eine Gangkreuzung angeordnet waren. Das elektronische Aufrufsystem, eine Tafel, die die aufgerufenen Wartenummern anzeigte, verbreitete Unverständnis unter 179 den Wartenden. Etwa alle fünf bis zwanzig Minuten ertönte eine elektrische Glocke und eine Zahl änderte sich. Eine Person stand auf und verschwand hinter einer der Türen. Dies geschah jedoch nicht in der erwarteten Reihenfolge, sondern unberechenbar, da mehrere Zahlenreihen parallel und in unterschiedlichen Geschwindigkeiten fortliefen. 203 324 405 148 148 143 123 203 521 144 140 141 Immer wieder öffnete sich eine der Türen in den einzusehenden Gängen und eine Mitarbeiterin ging eiligen Schrittes entweder zum Kopierraum oder dem Zimmer ihres Vorgesetzten. Wir warteten etwa eine Stunde, bis unsere Nummer aufgerufen wurde. Die Sachbearbeiterin hatte die Wände ihres Büros mit Plakaten von Kätzchen und dem Dalai Lama geschmückt. Sie saß hinter einem Schreibtisch und wir setzten uns davor. Ich erklärte die Situation der beiden, während diese mir immer wieder Dokumente reichten, um die ich sie bat: Ausweis, Anmeldung, Krankenhauspapiere, etc. Die Sachbearbeiterin erklärte erst ganz pauschal, ihre Hände wären leider gebunden, sie könnte EU-Bürger*innen nicht unterbringen. Das einzige Angebot, das sie machen könnte, wäre ein Ticket an die tschechische Grenze. Das System könnte das nicht tragen, sie wüsste nicht, wie das alles weitergehen sollte. Aber wo sollten die beiden denn schlafen, während sie auf das Gerichtsverfahren gegen ihren Arbeitgeber warteten, wandte ich ein. Sie könnte leider nicht helfen, wiederholte sie. Dann ergänzte sie nach kurzer Überlegung, es gäbe das Männerwohnheim in der Pilgersheimer Straße, da könnte jeder für fünf Euro die Nacht unterkommen. Sie könnte nur unterbringen, wenn ein Bescheid des Jobcenters, dass es die Kosten trüge, vorläge. Wir könnten es beim Jobcenter versuchen, auch wenn sie keine Chance sähe. Durch weitere Gänge fanden wir den Weg zur Sachbearbeiterin des Jobcenters. Sie hatte ein verschlossenes Gesicht und war unfreundlich. Es gäbe keine Möglichkeit für die beiden Männer, Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II zu erhalten. Sie hätte eine Liste mit Voraussetzungen, diese verlangte unter anderem ein Jahr sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis in Deutschland. Wir gaben nicht auf und ich fragte immer wieder, wo sie denn schlafen sollten in ihrer Situation und zeigte auf Sebahattin 180 Yankovs eingebundene Hand. Ich argumentierte, dass es doch im Interesse des Staates wäre, den betrügerischen Arbeitgeber zu verfolgen und versicherte, dass sie dem Staat nicht auf der Tasche liegen wollten, aber Sebahattin Yankov mit seiner verletzten Hand nicht arbeiten könnte. Dann zog ich unseren Joker und legte ihr einen Ausschnitt aus einer Erklärung des Sozialreferats an den Stadtrat aus dem Jahr 2009 vor: „Sollten Haushalte von sich aus auf das Amt für Wohnen und Migration zukommen mit der Bitte um Unterbringung, so werden die Haushalte befristet im Notunterbringungssystem untergebracht und dies der Ausländerbehörde mitgeteilt.“ (Sozialreferat, 2009: 7) Langsam wurde sie ein wenig freundlicher. Wir könnten es bei dem Zuständigen für Leistungen nach dem SGB XII versuchen. Ich fragte, ob sie uns die Zimmernummer und den Namen nennen könnte. Wir sollten bitte vor der Tür warten. Nach einigen Minuten kam sie heraus und sagte, sie hätte noch eine Idee und müsste mit ihrer Vorgesetzten reden, wir sollten noch einmal warten. Während wir warteten, rief ich in dem Wohnheim in der Pilgersheimer Straße an: „Nein, wir nehmen keine Osteuropäer auf” – die Abweisung war klar. Nach erneuter Nachfrage erklärte die Person am Telefon, es bräuchte eine Bestätigung der Kostenübernahme, für ‚Osteuropäer‘ würde das manchmal für höchstens zwei bis drei Tage aus einem Sondertopf bezahlt. Interessant, es gibt einen ‚Sondertopf‘, dachte ich. Dann kam die Sachbearbeiterin von ihrem Chef zurück und sagte, sie hätte die Idee gehabt, wegen dem Arbeitsverhältnis und dem Fall vor dem Arbeitsgericht könnte man etwas machen, aber es ginge doch nicht. Obwohl nahe der Verzweiflung, gaben wir nicht auf: „Wo sollen sie denn hin?“ Zum ersten Mal erwähnte auch sie den ‚Sondertopf‘ und wir könnten ja noch mit ihrem Chef reden, er säße ein Stockwerk höher. Im zweiten Stock erwartete uns wieder Sicherheitspersonal. Diesmal wollten sie uns nicht durchlassen. Ich forderte sie auf, ihren Chef zu fragen, denn es sei nicht ihre Entscheidung, wer bei ihm vorsprechen dürfe. Kurze Zeit später teilte der Sicherheitsdienst uns mit, der Chef sei noch beschäftigt, wir sollten warten. Ich war froh um die Pause und erklärte Hristo Vankov und Sebahattin Yankov radebrechend, dass es eventuell eine kleine Chance gäbe, dass dies ein 181 Haus der Irren wäre und fragte, ob sie den Film Asterix erobert Rom84 (Goscinny, Uderzo & Watrin, 1976) kennen würden. Sie kannten ihn nicht. Schließlich wurden wir zum Vorgesetzten gerufen, der ein sympathischer Mann Anfang dreißig war, sehr höflich, mit einem direkten Blick und unterschwelliger Autorität. Das Gespräch mit ihm war angenehmer, ich fühlte mich auf gleichem sozialen Terrain. Nachdem ich die Situation dargelegt hatte, sagte er, es täte ihm leid, sie könnten nichts tun. Ich fragte ihn, was er denn von der Situation in München hielte und erklärte, ich schriebe meine Doktorarbeit zu dem Thema und hätte auch einmal ein Praktikum in diesem Gebäude absolviert bei der Stelle für interkulturelle Arbeit im vierten Stock. Es wäre interessant, auch einmal die unteren Stockwerke kennenzulernen. Dann zeigte ich ihm das Schreiben des Sozialreferats und sprach ihn auf den ‚Sondertopf‘ an. Er erklärte, er hätte selber schon zu der Zuwanderung nach München aus den EU-Beitrittsstaaten geschrieben. Schließlich sagte er, wir sollten zu dem Chef einer anderen Abteilung gehen, der könnte uns bestimmt helfen. Überraschend hatte sich ein neuer Weg geöffnet. Den nächsten Chef schätzte ich auf Ende fünfzig. Er sprach mit bayrischem Dialekt. Verwundert und misstrauisch griff er zum Telefonhörer: „Warum hast du die zu mir geschickt? Was, die waren nicht bei dir? Ja, da ist was faul.“ Ich schluckte meinen Zorn, blieb freundlich und zeigte ihm alle mitgebrachten Papiere: das Arbeitsgerichtversäumnisurteil, den Krankenhausdurchgangsbescheid etc. Ich ließ das Wort ‚Zivilcourage‘ fallen, sagte, das wäre doch im Interesse des Staates und es widerstrebte ihnen sehr, Hilfe vom Staat anzufordern, aber jetzt hätten sie keine andere Möglichkeit. Er griff wieder zum Hörer und sagte: „Wie kann es sein, dass du nichts für die machen konntest?“ Er hatte sich auf unsere Seite geschlagen. Das würde alles über den ‚Sondertopf‘ laufen, intern, erklärte er zuvorkommend. Dann rief er die Vorgesetzte der ersten Sachbearbeiterin an und sagte anschließend zu uns, es wäre alles geregelt, wir sollten zu der ersten Sachbearbeiterin gehen. Ich zeigte Hristo Vankov und Sebahattin Yankov den erhobenen Daumen. Zurück im ersten Büro sagte die Sachbearbeiterin, sie hätte mit ihrer Chefin 84 In dem Komik müssen Asterix und Obelix ein Papier aus einem labyrintischen Amt besorgen. Bevor sie selbst den Verstand verlieren, haben sie die Idee, den Spieß umzudrehen und bringen durch gezielte Fehlinformationen den ganzen Ablauf durcheinander, woraufhin die Mitarbeiter*innen des Amtes den Verstand verlieren. 182 gesprochen. Sie könnte uns ein Ticket an die tschechische Grenze geben. Ich brach fast zusammen: Nein, das wäre anders besprochen, sie sollte noch einmal nachfragen. Sie verließ das Büro und wir warteten eine lange Weile. Als sie zurückkam, sagte sie, Sebahattin Yankov und Hristo Vankov würden für zwei Wochen untergebracht. Aber jetzt müssten wir uns beeilen, es wäre schon fast zwölf Uhr und wir müssten für heute noch eine Unterkunft finden. Mit welchen Rationalitäten, Regelungen, Politiken, Akteuren und Praktiken sind wir an diesem Vormittag im Amt für Wohnen und Migration in Aushandlungen getreten? Street-level Bureaucracy Zuerst einmal sind wir an diesem Vormittag auf Sachbearbeiter*innen gestoßen, die durchaus Handlungsmacht haben, wie sie die geltenden Regelungen auslegen und wie sie mit den Antragsstellenden umgehen. Ich möchte hier kurz auf die Handlungsmacht auf unterster Ebene eingehen, auch wenn sie nicht im Mittelpunkt dieses Kapitels steht. Die Sachbearbeiter*innen lehnten den Antrag auf Unterbringung erst einmal pauschal ab, auch wenn dies nicht nur im Widerspruch zu öffentlichen Äußerungen ihrer Vorgesetzten, sondern auch zu den Gesetzen und teilweise zu internen Anweisungen stand. In ihrer Pilotstudie zu städtischen Reaktionen auf Familien mit beschränktem Zugang zu sozialen Leistungen in Berlin und Madrid sind die britischen Sozialforscher*innen Jonathan Price und Sarah Spencer (Price & Spencer, 2014) auf ähnliche Praktiken gestoßen, die sie „excessive gatekeeping“ (ebd.: 27) nennen. Im Anschluss an die Forschungsdebatte zu „street-level bureaucracy“ (Evans & Harris, 2004; Lipsky, 2010) bezeichnen sie gatekeeping als einen Prozess, der den Zugang zu Unterstützung und Leistungen beschränke und als Versäumnis, Leistungen zu erbringen, wenn eigentlich ein Recht auf diese bestehe (Price & Spencer, 2014: 27). Paradoxerweise könnten mehr Regeln zu einem größeren Auslegungsspielraum führen. Sie erklären gatekeeping mit persönlichen und mit institutionellen Faktoren: „the impact of street-level bureaucrats’ personal values, and the complexity of legal and policy frameworks causing a lack of understanding, with insufficient training to support staff in their day-to-day work with migrants [... and] decisions about service provision [that] are not driven by need but by budgetary considerations.“ (ebd.: 28) 183 Die Praktiken der Sachbearbeiter*innen bzw. der street-level bureaucrats, auf die ihre Vorgesetzten nur beschränkten Einfluss haben, werden zur angewandten Stadtpolitik: „Because of management’s limited control of front-line practice, a lack of resources and opaque policies, street-level bureaucrats are forced to find practical solutions on the front line, and this becomes policy.“ (ebd.: 5) Solche kleinteiligen, scheinbar individuellen Entscheidungen, die aber doch eine sehr grundlegende Rolle spielen und auf institutionellem Rassismus, institutionsinternen Logiken und Kostenfaktoren sowie vom öffentlichen Diskurs beeinflussten Überlegungen und situativen Affekten beruhen, sind aus den Regimen der Arbeit und Migration nicht wegzudenken und machen durchaus auch deren dynamischen Charakter mit aus.85 Im Folgenden möchte ich die Analysen aber trotzdem nicht auf die Praktiken der street-level bureaucrats konzentrieren, sondern vielmehr, von dem Konflikt im Amt für Wohnen und Migration ausgehend, Prozessen des policy-making nachspüren, die über diesen einzelnen Konflikt und die Praktiken in diesem Amt hinausgehen. Dabei werde ich immer wieder auf Artikulationen des Regimes der EU-internen Migration stoßen, die auch an diesem Vormittag eine Rolle gespielt haben: der ‚Sondertopf‘, das Angebot einer Rückfahrkarte, eine Liste an Anforderungen, die Antwort auf eine Stadtratsanfrage, etc. Als Sebahattin Yankov, Hristo Vankov und ich im Mai 2010 das erste Mal das Amt für Wohnen und Migration betraten, war mir das alles noch sehr neu, heute reihen sich diese Verdichtungen des Regimes in ein – sicher nicht vollständiges, aber doch sehr komplexes – Bild ein, das ich im Folgenden nachzeichnen möchte. Zuerst soll knapp auf die Akteure und Institutionen eingegangen werden, die die Obdachlosenpolitik der Stadt München bestimmen. 85 Es hätte längerfristiger teilnehmender Beobachtung und Interviews mit den street-level bureaucrats im Amt für Wohnen und Migration benötigt, um die Frage nach diesen institutionalisierten Handlungsräumen und welche Rolle verschiedene Rationalitäten – etwa rassistische, humanitäre, ökonomisch, klassistische, aber sicher auch relativ autonome amtsinterne Logiken – und auch Unwissen spielen, eingehender beantworten zu können. 184 Dann werde ich nachverfolgen, wie die städtischen Akteure die sozialen Verhältnisse der EU-internen Migration und insbesondere die Obdachlosigkeit als Problem erkannt und konstruiert haben und mit welchen Mitteln sie zwischen den Jahren 2006 und 2013 versucht haben, mit diesem Problem umzugehen. Jalla Wohnungsamt! Eine Genealogie der Münchner Obdachlosenpolitik gegenüber Migrant*innen Institutionen der Münchner Obdachlosenpolitik Das Amt für Wohnen und Migration, eine Unterabteilung des Sozialreferats, ist sowohl für die Obdachlosen- wie für die Migrationspolitik der Stadt München zuständig. Es hat im Jahr 2011 seinen hundertjährigen Geburtstag gefeiert, besteht unter diesem Namen aber erst seit 2004 (zuvor: Wohnungs- und Flüchtlingsamt). Die Broschüre zum hundertjährigen Geburtstag (Amt für Wohnen und Migration, 2011) erzählt eine Geschichte des Wohnungsamtes, die von Krise zu Krise schreite und von im deutschlandweiten Vergleich extrem teuren Wohnungsmarkt geprägt sei. Sie stellt dar, wie verschiedene Krisen, die durch Zuwanderung entstanden, gemeistert worden seien – ob nach dem Zweiten Weltkrieg, als 60% der Bausubstanz zerstört war, oder Anfang der 1990er Jahre, als Notunterkünfte für 20.000 Flüchtlinge aufgebaut wurden. Krise, so scheint es, ist schon seit mindestens hundert Jahren der Normalzustand Münchner Wohnraumpolitik. Heute hat das Amt für Wohnen und Migration eine breite Palette an Aufgaben, die auf die verschiedenen Abteilungen verteilt sind, deren Namen eine Vorstellung der Tätigkeiten des Amtes geben: Abteilung Wohnraumerhalt, Büro für Rückkehrhilfen/ Rückkehrberatung Coming Home, Integrationshilfe nach Zuwanderung, Soziale Wohnraumförderung-Wohnungslosenhilfe, Fachbereich Objektplanung, Immobilienmanagement, Kommunaler Wohnungsbau, Stelle für Interkulturelle Arbeit und Zentrale Wohnungslosenhilfe (ZEW). Vertikal lässt sich das Amt auch in diejenigen Abteilungen aufteilen, die Kundenkontakt haben und jene, die eher Steuerungsfunktionen einnehmen oder innerhalb der Verwaltung arbeiten. Ich sage auch deswegen vertikal, weil ich die räumliche Aufteilung während meines Praktikums 185 bei der Stelle für interkulturelle Arbeit im Jahr 2008 so erlebt habe. Mein Büroplatz war im vierten Stockwerk, in dem auch die Amtsleitung saß. Außer beim Gehen und Kommen hatte ich keinerlei Berührung mit dem Publikumsverkehr, nur vor dem benachbarten Büro für Rückkehrhilfen Coming Home saßen hin und wieder einzelne Personen wartend im Gang. Als ich zwei Jahre später das erste Mal obdachlose Personen begleitete, um eine Unterkunft zu beantragen, ergab sich ein vollkommen neues Bild des Amtes bzw. der ersten beiden Stockwerke des Gebäudes, in denen sich die Zentrale Wohnungslosenhilfe (ZEW) inklusive des Münchner Jobcenters für Wohnungslose befindet. Hier herrschte ein reges Kommen, Warten und Gehen, überwacht vom Security Service. Der in der ethnografischen Situationsbeschreibung dargestellte Ablauf der Beantragung einer Notunterkunft lässt sich schematisch wie folgt darstellen: Von der Infothek werden Hilfesuchende an die Sachbearbeiter*innen im ersten oder zweiten Stock weitergeleitet, die wiederum zum hausinternen Jobcenter für Wohnungslose weiterleiten, denn für eine Einweisung (so wird das Schreiben genannt, das obdachlosen Personen einen Platz in einer Notunterkunft zuweist) will die ZEW eine Finanzierungsbestätigung des Jobcenters vorliegen haben. Der Bund übernimmt nämlich über das Jobcenter 29,1 Prozent der Kosten der Unterkunft. Personen, die nach Einschätzung der Sachbearbeiter*innen unterbringungsberechtigt sind, bekommen dann einen Einweisungsbescheid in die Hand gedrückt. Mit diesem bekommen sie einen Bettplatz oder eine Wohneinheit in einer Notunterkunft. Die Stadt bringt akut obdachlose Personen in Pensionen oder Notunterbringungen unter. Das Amt betreibt eigene Unterkünfte und Pensionen, weist aber auch in Unterkünfte von freien Trägern oder in Zeiten der Knappheit in privat betriebene Pensionen ein. Alleinstehende Personen bekommen meist ein Bett in einem Mehrbettzimmer zugewiesen, Paare oder Familien eine abgetrennte Wohneinheit. Kochgelegenheiten und sanitäre Einrichtungen werden in der Regel von mehreren Parteien geteilt. Viele der für die Münchner Obdachlosenpolitik relevanten Entscheidungen werden im Stadtrat getroffen. Der Stadtrat kann als Münchner Gemeinderat faktisch als kommunales Parlament begriffen werden, auch wenn er strikt genommen keine legislative Kompetenz hat, sondern nur Verordnungen und Satzungen erlassen kann, die den Gesetzen der Landes- oder Bundesebene nachrangig sind. Eine wichtige Aufgabe des Stadtrates besteht darin, den Haushalt zu bestimmen – also zu 186 entscheiden, wofür wie viel Geld ausgegeben wird. Die alle sechs Jahre gewählten 81 Stadträt*innen arbeiten ehrenamtlich. Eine Ausnahme bilden die Referent*innen der kommunalen Referate (Sozial-, Kommunal-, Baureferat etc.), welche gleichzeitig auch Stadträt*innen sind. Bis 2014 gab es eine rot-grüne Mehrheit, danach regierte die SPD in Koalition mit der CSU. Beschlüsse werden auf Grundlage von Anträgen getroffen, welche von Stadträt*innen, Fraktionen und dem Oberbürgermeister gestellt werden können. Auf Grundlage der Anträge erarbeitet die Verwaltung der Stadt (d.h. die jeweilig zuständigen Referate und die diesen untergeordneten Ämter und Stellen) Beschlussvorlagen, die dann wiederum im Stadtrat diskutiert und als Beschlüsse verabschiedet werden, sofern eine einfache Mehrheit in der etwa einmal monatlich stattfindenden Vollversammlung des Stadtrats für diese abstimmt. Zwischenzeitlich treffen sich die jeweiligen Ausschüsse, z.B. der Sozial- oder der Wirtschaftsausschuss. Neben Anträgen können auch Anfragen im Stadtrat gestellt werden, die von der Verwaltung innerhalb einer gewissen Frist (drei Wochen oder drei Monate) zu beantworten sind. Es waren vor allem Stadträt*innen der Grünen Partei, die das Thema (obdachlose) EU-Migrant*innen auf den Tisch gebracht haben und am Ball blieben. Auf ihre in den Jahren 2006, 2010 und 2012 gestellten Anfragen und Anträge zum Thema EU-Migration werde ich in diesem Kapitel immer wieder zurück kommen.86 Die Wohnungslosigkeit von neu zugewanderten Unionsbürger*innen stellte – neben der Schaffung neuer Beratungsprojekte, dem Umgang mit Betteln, mit Prostitution, mit ‚wildem Campieren‘ (Landeshauptstadt München, 2014: 14) und gesundheitlicher Versorgung – ein zentrales Unterthema des sich neu formierenden städtischen Politikbereichs ‚Armutszuwanderung‘ dar. Das Stichwort ‚Armutszuwanderung‘ tauchte aber, wie ich zeigen werde, erst im Jahr 2012 auf. Die Kommune ist nicht der einzige Akteur der Obdachlosenhilfe in München. Auch die verschiedenen freien Träger, also christliche und unabhängige Wohlfahrtsinstitutionen, die neben Unterkünften auch 86 Auch der Stadtrat der ausländerfeindlichen Bürgerinitiative Ausländerstop (BIA) stellte Anfragen, die im weitesten Sinne auch mit EU-Migration zu tun hatten, von mir in diesem Kapitel aber nicht behandelt werden, so etwa „Sinti und Roma in München – aktuelle Situation“ vom 13.09.2011 und „Tuberkulose-Risiko durch Tausende Sinti und Roma aus Bulgarien?“ vom 25.10.2012. Die Anfrage eines CSU-Angeordneten zum „Bettlerproblem im Bahnhofsviertel“ vom 30.06.2009 behandle ich auch nicht. 187 Aufenthalts- und Beratungsstellen, Streetwork-Projekte, Teeküchen, etc. betreiben, sind beteiligt. Bis auf die ausschließlich von der katholischen Kirche finanzierten Angebote für Obdachlose bei St. Bonifaz, sind sie alle von der Stadt (ko-)finanziert. Wie noch deutlich werden wird, war die enge Zusammenarbeit nicht immer konfliktfrei. So berichtete ein Mitarbeiter einer der Einrichtungen, dass es durchaus zu Unmut gekommen wäre, als die Stadt seiner Einrichtung bekannt gegeben hätte, dass sie ihre Zielgruppe auf „ortsansässige“, „klassische“ Obdachlose begrenzen und migrantischen Obdachlosen ohne Arbeitsvertrag den Zugang verweigern sollte. Im Laufe des untersuchten Zeitraums kamen einige weitere Stellen hinzu, die (auch) hilfesuchende und obdachlose Unionsbürger*innen zur Zielgruppe haben: erst das Projekt Bildung statt Betteln der Caritas, dann das im vorherigen Kapitel bereits erwähnte Infozentrum Migration und Arbeit der Arbeiterwohlfahrt und schließlich die Migrationsberatung Wohnungloser Schiller 25 des Evangelischen Hilfswerks. Politische Paradigmen Das städtische Regime, dem die EU-Migration zum Problem wurde, knüpfte an vorhandene Paradigmen an: zum einen an das Prinzip Wohnen statt Unterbringen (Wohnungs- und Flüchtlingsamt, 2002), das die Wohnungslosenpolitik seit Anfang der 2000er Jahre prägt und zum anderen an das ebenfalls als sehr fortschrittlich geltende Münchner Integrationskonzept (Landeshauptstadt München, 2008) und seine Leitidee, das Migration in München erwünscht sei. Das Integrationskonzept wurde 2008 vom Stadtrat einstimmig beschlossen und zuvor von der Stelle für interkulturelle Arbeit entwickelt. Mit dem Konzept „bekennt sich München zur Vielfalt in all ihren Facetten und begreift Migration als einen selbstverständlichen Prozess in einer Einwanderungsgesellschaft“ (ebd.: 7). Grundlage ist die Definition Münchens als Einwanderungsstadt und ein potenzialorientierter Umgang mit Vielfalt. „Einwanderung ist und bleibt ein gesellschaftliches Faktum in München und wird auch in Zukunft die Entwicklung der Stadt maßgeblich mitbestimmen. Migration ist erwünscht und notwendig und stellt eine Chance für eine dynamische Stadtentwicklung dar.“ (ebd.) 188 Das Konzept baut auf der Prognose auf, dass Städten geopolitisch immer mehr Bedeutung zukomme und sie zunehmend von Einwanderung geprägt seien: „Der Globalisierungs- und Erweiterungsprozess der EU sowie die wachsende internationale Bedeutung des Standortes München wird die Präsenz von Menschen unterschiedlicher Nationen und kultureller Prägungen in der Stadt weiter fördern.“ (ebd.) Ziel sei es, zu einer „sozial integrierten europäischen Stadt“ (ebd.: 16, Hervorhebung durch Autorin) zu werden. Dabei wären sowohl die „aufnehmende Gesellschaft“ (ebd.: 23) als auch die „Zugewanderte[n]“ (ebd.: 13) gefordert: „Unser Integrationsverständnis respektiert und wertschätzt kulturelle Vielfalt und fördert die in der Vielfalt liegenden Potenziale. Integration wird als wechselseitiger Prozess verstanden, der Menschen ohne und mit Migrationshintergrund, Mehrheit wie Minderheiten betrifft. Daher richtet sich das kommunale Integrationskonzept an alle Akteurinnen und Akteure in der Stadtgesellschaft, gleich welcher Herkunft, um gemeinsam und gleichberechtigt die Zukunft unserer Stadt zu gestalten.“ (ebd.: 12) Der Prozess der Integration basiere darauf, „gemeinsame freiheitlichdemokratische Normen und Regeln“ (ebd.: 16) anzuerkennen, die Potenziale von Vielfalt zu nutzen und Diskriminierung und Rassismus entgegen zu wirken. Die Ziele des Integrationskonzeptes, allen voran die „interkulturelle Öffnung der Stadtverwaltung“, sollten mit den Instrumenten der „strategischen Steuerung“ umgesetzt werden. Mathias Rodatz (2014) hat für Frankfurt a.M. und Stephan Lanz (2009) für Berlin erforscht, wie die dortigen städtischen Integrationskonzepte implementiert und debattiert wurden. Beide zeigen, wie die Auseinandersetzungen um die städtischen Integrationspolitiken von der konservativen Verteidigung des Einwanderungsstopps, antirassistischen Forderungen nach gleichen Rechten und der neoliberalen Potenzialorientierung geprägt waren und wie sich die letztere Figur besonders stark einschreiben konnte. Während Rodatz sich für das ‚Innen‘ des Feldes, für die Potenziale der vielfaltorientierten Wende der Migrationspolitik 189 interessiert, streift Lanz durchaus auch die Frage, was für ein ‚Außen‘ der Integrationsdiskurs produziert. Nach dem Prinzip „Fordern und Sortieren“ (Lanz, 2009) fördere der Staat die Integration „würdiger“ Gruppen, gebe aber „unwürdige“ Gruppen tendenziell auf und unterstelle sie einer repressiven Kontrolle (vgl. ebd.: 112). Dabei folge er neoliberalen Verwertungslogiken im Sinne der „Ökonomisierung des Sozialen“ (Bröckling, Krasmann & Lemke, 2000; Foucault, 2000): „Der Aktivierungsimperativ, der Individuen als unternehmerische, für ihre materielle Existenz selbst verantwortliche Subjekte adressiert und sie bei Bedarf mit Hilfe repressiver Sanktionsinstrumente zu einem Job verpflichtet, bildet den neoliberalen Kern des aktuellen Integrationsdiskurses.“ (Lanz, 2009: 112) Dieser Prozess verwandele „das sozialstaatliche Recht auch Armer auf ein selbstbestimmtes Leben in ihre Pflicht […], zu einem selektiv definierten ‚Gemeinwohl‘ beizutragen“ (ebd.: 111). Der Begriff Integration impliziere nicht rechtlich-politische Ansprüche, sondern soziokulturelle staatliche Fürsorge und die Verantwortung des Einzelnen; er blende Herrschafts- und Kontrollanspruch aus und assoziiere Gerechtigkeit und Ausgleich (vgl. auch Bojadžijev & Ronneberger, 2001). Natürlich können diese Ergebnisse nicht pauschal auf München übertragen werden. Neben deutlichen Zielsetzungen gegen Diskriminierung und Rassismus nimmt aber auch im Münchner Integrationskonzept die Potenzialorientierung sehr viel Raum ein. In ihm wird auch deutlich, dass nicht alle Migrant*innen zur Zielgruppe der Integrationsbemühungen gehören. Diese schließt zwar nicht nur „Zuwanderinnen und Zuwanderer mit einer dauerhaften Bleibeperspektive“ (Landeshauptstadt München, 2008: 10) ein, sondern auch „Flüchtlinge, die gegebenenfalls in ihre Herkunftsländer zurückkehren wollen oder müssen“ (ebd.). Für „Menschen, die ohne gültige Papiere in München leben“ (ebd.) gelte das Konzept aber nicht; trotzdem sei es Ziel, „die humanitäre Situation dieser Menschen zu verbessern“ (ebd.). Von Armut betroffenen EU-Migrant*innen waren für die mit Integration befassten Stellen der Stadt München lange kein Thema. Sie wurden bis zu einem Antrag der Grünen im Stadtrat im Jahr 2012, das Integrationskonzept auf sie zu erweitern, nicht unter der Perspektive Integration wahrgenommen (vgl. Stadtratsfraktion Die Grünen/rosa liste, 2012). Und auch die von 190 dem Antrag mit angestoßenen Auseinandersetzungen in der Münchner Kommunalpolitik sollten zur Ausgrenzung der als unwürdig befundenen ‚Armutszuwander*innen‘ aus der Zielgruppe des Integrationskonzepts führen, da ihnen Potenzial bzw. ‚Perspektiven‘ fehlten, wie gezeigt werden wird. Paradigmenwechsel „Wohnen statt Unterbringen“ – from welfare to workfare? Im Jahr 2001 wurde ein Paradigmenwechsel der städtischen Wohnraumpolitik eingeleitet, der heute unter dem Motto Wohnen statt Unterbringen bekannt ist und auch weiterhin fortgeschrieben wird (vgl. Amt für Wohnen und Migration, 2012b; Wohnungs- und Flüchtlingsamt, 2002). Langfristiges Ziel war, wie das Motto schon sagt, Notunterkünfte abzuschaffen (weil diese sozial nicht zu tragen seien), und Obdachlose (jedenfalls diejenigen, für welche die Stadt sich zuständig sieht) stattdessen schnellstmöglich in reguläre Wohnungen zu vermitteln. Hintergrund der Neuausrichtung stellt eine Krise der sozialen Wohnraumpolitik dar, die die Stadtpolitik im Jahr 2001 in Aufregung versetzte. Während „seit Beginn der neunziger Jahre […] über 30.000 Wohnungen aus der sozialen Bindung gefallen“ waren (Amt für Wohnen und Migration, 2011: 49), so die Schrift zum hundertsten Geburtstag des Wohnungsamtes, schnürte der Bund im Jahr 2000 ein Sparpaket, das die Förderung des sozialen Wohnungsbaus stark kürzte. Auch „[d]urch das wirtschaftliche Wachstum der Landeshauptstadt wurde preiswerter Wohnraum immer knapper, die Neubauraten im öffentlich geförderten Mietwohnungsbau gingen zurück“ (ebd.: 49). Als Folge waren „die Vermittlungsmöglichkeiten in dauerhaftes Wohnen […] begrenzt“ (ebd.: 48). Über 2.200 obdachlose Menschen lebten in Notunterkünften und die Zahl war im Steigen begriffen (vgl. ebd.). Im Mai 2001 berief der damalige Oberbürgermeister einen Stab für außergewöhnliche Ereignisse zum Thema Wohnungslosigkeit ein, der „so schnell wie möglich ausreichend Kapazitäten für die Unterbringung von Wohnungslosen“ (ebd.: 49) schaffen sollte. Innerhalb einiger Monate wurden 1.738 Notbetten in provisorischen Bungalows und Containern aufgestellt (vgl. ebd.). Im September 2001 fand die ‚Aufbruchs‘-Fachtagung in Tutzing statt, die zum Münchner Gesamtplan Soziale Wohnraumversorgung – Wohnungslosenhilfe 191 (Wohnungs- und Flüchtlingsamt, 2002) sowie zum Handlungsprogramm Wohnen in München III (Referat für Stadtplanung und Bauordnung, 2001) führte und somit den Paradigmenwechsel Wohnen statt Unterbringen markierte, der bundes- und europaweit Beachtung gefunden habe (vgl. Amt für Wohnen und Migration, 2011: 50). Ziel war, wie gesagt, obdachlose Personen so schnell wie möglich in längerfristigen Wohnraum zu vermitteln. Im Detail stieß der Paradigmenwechsel verschiedene Schritte und Prozesse an. Unter anderem sah er kommunal finanzierte Wohnungsbauprogramme für Benachteiligte sowie spezielle Einrichtungen und betreute Wohnformen für „psychisch kranke oder suchtkranke bzw. pflegebedürftige wohnungslose Menschen“ (ebd.) vor. Im Mittelpunkt stand die lückenlose Betreuung und Veränderung des Verhaltens der Obdachlosen: „Clearinghäuser“ (ebd.) sollten die „Wohnperspektive“ (ebd.) von wohnungslosen Haushalten abklären und die Betroffenen schnell in dauerhaften Wohnraum weitervermitteln. „[P]räventive Maßnahmen im Bereich der Sozialarbeit“ (ebd.) – z.B. die „Konzeption der sozialorientierten Hausverwaltung“ (ebd.) – sollten bedrohte Mietverhältnisse erhalten und die Stabilität von Wohngebieten mit „besonderem sozialpolitischen Handlungsbedarf“ (ebd.) sollte durch „quartiersbezogene Bewohnerarbeit“ (ebd.) gefördert werden. Obdachlose Personen wurden unter einer neuen Perspektive betrachtet und zu einem ganz neuen Subjekt der Wohnungslosenhilfe. Statt einfach nur Bedürftigen Unterkünfte zur Verfügung zu stellen, wurde das ganze Leben und die Verhaltensweisen der Obdachlosen zur Aufgabe der Wohnungslosenpolitik. Es ging nun darum, die ‚sozialen Probleme‘ der Obdachlosen und auch der von Obdachlosigkeit bedrohten Personen zu lösen, ihre ‚Potenziale‘ zu fördern und sie zu ‚verantwortungsvollem Handeln‘ zu aktivieren, so dass sie Wohnraum finden und halten könnten. Viele dieser Aufgaben wurden an Wohlfahrtseinrichtungen ausgelagert, die als „gut vernetztes System“ (Amt für Wohnen und Migration, 2011: 52) dazu beitrügen: „dass die städtischen Unterbringungsmöglichkeiten nicht überlastet werden und dass ein großer Teil des in der Regel mit großen sozialen Problemen behafteten Personenkreises einem adäquaten Betreuungssetting zugeführt werden kann. Das umfangreiche Angebot der Verbände erstreckt sich auch auf ambulante Einrichtungen und Maßnah- 192 men, wie z.B. die Aufsuchende Sozialarbeit im Sozialraum, Angebote im Bereich Arbeitslosigkeit, Beratung und Programme zum Thema Sucht, das Bereitstellen von Kleiderkammer, Wohn- und Finanztraining, etc.“ (ebd.) In anderen Worten: Die Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe wurden von Einrichtungen der Grundversorgung im Sozialstaat zu aktivierenden Durchlaufstationen umdefiniert. So reiht sich dieser Paradigmenwechsel nahtlos in den transnationalen Prozess der Umstrukturierung der Sozialsysteme um die Jahrtausendwende ein. Es ging darum, „das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen in ein Sprungbrett in die Eigenverantwortung um[zu]wandeln“ (Schröder & Blair, 1999), wie der damalige britische Premierminister und der damalige Bundeskanzler der BRD in einer gemeinsamen Veröffentlichung, die die Eckpunkte ihrer Vision einer sozialdemokratischen neuen Mitte absteckte, schon im Jahr 1999 proklamatisch festgestellt hatten. Mit dem Paradigma Wohnen statt Unterbringen sprang München auf diesen Zug auf, noch bevor im Februar 2002 die Hartz-Kommission eingesetzt wurde, die Bundesregierung im März 2003 die Agenda 2010 verkündete und mit der Hartz IV Reform und ihrem Slogan Fördern und Fordern im Dezember 2003 das Kernstück der Sozialreform auf Bundesebene beschlossen worden war. Im siebten Kapitel werde ich unter dem Stichwort workfare (vgl. Lanz, 2009b; Peck, 2001; Wacquant, 2011) noch einmal genauer auf diesen Prozess, mit dem sich soziale Sicherungseinrichtungen in Aktivierungsprogramme umwandeln, eingehen. Das damalige Wohnungs- und Flüchtlingsamt reagierte auch, indem es die Verpflichtung zur Unterbringung sehr eng auslegte und neue Schranken errichtete. Im November 2001 erließ es eine neue Dienstanweisung (vgl. Wohnungs- und Flüchtlingsamt, 2001): Obdachlose mussten von nun an als Voraussetzung für die Unterbringung eine Münchner Meldebestätigung vorlegen.87 Waren sie bis zum 7. November 2001 nicht polizeilich in München gemeldet gewesen, bekamen sie höchstens ein Ticket in eine andere deutsche Gemeinde. Dies traf neue Münchner*innen und Personen in extrem prekären Wohnverhältnissen, die mangels eines Mietvertrages sich nicht hatten anmelden können. 87 „Obdachlose Personen, die bis zum 07.11.2001 nicht in München angemeldet waren, werden in der Fachstelle nicht mehr untergebracht“ (Wohnungsund Flüchtlingsamt, 2001). 193 Es ist anzunehmen, dass nicht wenige Obdachlose aufgrund von dieser Regelung nicht mehr untergebracht und so auch erst gar nicht zum Objekt der Aktivierungsmaßnahmen wurden. Das Verwaltungsgericht sollte diese Regelung allerdings kurz darauf als rechtswidrig erklären. Die Anwältin der obdachlosen Person, die gegen die Regelung klagte, war keine Unbekannte, sondern ehemalige Münchner Stadträtin für die Grünen und Richterin am Bayerischen Verfassungsgericht. Sie hatte schon öfters Klagen gegen staatliche Repression geführt. Hier klagte ein Obdachloser gegen das Wohnungsamt, nachdem er anhand der neuen Dienstanweisung von 2001 abgelehnt worden war, weil er in München nicht polizeilich gemeldet gewesen war. Etwa einen Monat, bevor er die Klage erhob, war er nach München zurückgekehrt. Zuvor hatte er seinen Aufenthalt in München für etwa sechs Wochen wegen einer Arbeitsstelle in einer anderen Gemeinde unterbrochen, dort ein Zimmer gemietet und sich polizeilich gemeldet. Zurück in München war er bei einer Bekannten untergekommen oder hatte sich im Freien aufgehalten. In seinem Urteil88 legte das Bayerische Verwaltungsgericht dar, dass der Umgang mit Obdachlosigkeit im Zuständigkeitsbereich der Kommunen liege. Dies ergebe sich aus dem Landesstraf- und Verordnungsgesetz und der Bayerischen Gemeindeordnung. Diese verpflichteten die Gemeinden nämlich, Gefahr für Leib und Leben abzuwenden. Dann wendet es sich der Frage zu, welche Gemeinde zuständig für die Unterbringung ist. Bei der Beurteilung dieser Frage ginge es weder darum, wo „er früher einmal den Schwerpunkt seiner Lebensverhältnisse hatte“, noch darum, „ob und gegebenenfalls wo die obdachlose Person gemeldet war“.89 Es kommt zu dem Schluss, dass „der Betreffende durch Gebrauchmachen von dem auch ihm zustehenden Grundrecht der Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 Grundgesetz -GG)[sic] in gewissem Umfang aber Einfluss darauf nehmen [kann], wo die Obdachlosigkeit eintritt.“90 Die rechtliche Verpflichtung der Kommunen, unfreiwillig Obdachlose unterzubringen, ergibt sich interessanterweise nicht aus dem Sozial-, sondern aus dem Sicherheitsrecht. Denn Obdachlosigkeit gilt in der rechtsinternen Logik als Gefahr für die grundgesetz88 Bayerisches Verwaltungsgericht München, B. v. 06.12.2001 - M 6a E 01.5884. (2. Instanz: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, B. v. 07.01.2002 - 4 ZE 01.3176.) 89 Vgl. Fn. 83. 90 Vgl. Fn. 85 194 lich gesicherten Rechtsgüter der Menschenwürde, Gesundheit, Schutz der Familie etc. und ist damit als Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung einzuschätzen (vgl. auch Ruder, 2015). Bei einer solchen Gefahr ist die Kommune als zuständige Sicherheitsbehörde verpflichtet einzugreifen und (der Obdachlosigkeit) Abhilfe zu verschaffen. Das klingt erst einmal sehr einfach und scheint wenig Spielraum zu lassen. Diese Verpflichtung wird aber nicht nur in der Praxis ignoriert (wie der weiter oben beschriebene Versuch, eine Unterbringung zu beantragen, gezeigt hat), sondern es haben sich (wie die folgenden Analysen zeigen werden) auch mehrere Argumentationslinien entwickelt, mit denen das Amt für Wohnen und Migration, das hier als Sicherheitsbehörde tätig wird, behauptet, dass es in gewissen Fallkonstellationen nicht für die Unterbringung von Obdachlosen zuständig ist. Durch den Paradigmenwechsel Wohnen statt Unterbringen verschiebt sich der Fokus von der sicherheits- zur sozialpolitischen Dimension der Wohnungslosenpolitik. Es findet also auch hier, wie bei der Versicherheitlichung des ‚Tagelöhnermarkts‘, eine Verschiebung von Politikfeldern statt. Interessanterweise wird aber nicht eine soziale Problemstellung versicherheitlicht, sondern ein sicherheitsrechtliches Politikfeld wird zum Problem der Sozialpolitik gemacht, die wiederum gleichzeitig im Sinne des Aktivierungsparadigmas ökonomisiert wird. Als Erfolg des Paradigmenwechsels zu Wohnen statt Unterbringen, der neben einem neuen Wohnbauprogramm, der Verschärfung der Aufnahmekriterien und der engen Zusammenarbeit mit zivilen Organisationen insbesondere die aktivierende, enge Betreuung der Wohnungslosen eingeführt hat, wurde 2006 die letzte Kontaineranlage abgebaut. Im Jahr 2008 erreichte die Zahl der Obdachlosen ihren Tiefstand mit 1.700 untergebrachten Personen, so der Bericht zum hundertjährigen Geburtstag des Wohnungsamts (vgl. Amt für Wohnen und Migration, 2011: 58). Zusammenfassend ist zu sagen, dass die Münchner Wohnraum- und Integrationspolitik zu dem Zeitpunkt, als die EU-Migration der Stadtpolitik zum Problem wurde, als städtische Inklusions- und Aktivierungspolitik gelesen werden kann, die Abstand nahm von einer Politik des Einwanderungsstopps und einem vernachlässigenden Umgang mit Obdachlosen. Stattdessen folgte sie der neoliberalen Logik der Aktivierung, die soziale Rechte und sozialpolitische Programme zu Aktivierungsinstrumenten umfunktioniert. Diese Politik war durchaus mit scharfen Grenzziehungen kombinierbar, wie der Ausschluss von undokumentierten 195 Migrant*innen aus der Zielgruppe des Integrationskonzeptes und nichtangemeldeter Personen aus den Notunterkünften zeigt. Im Folgenden wende ich mich der Frage zu, wie die so strukturierte Stadtpolitik auf unfreiwillig obdachlose EU-Migrant*innen reagierte. Entdeckung und Definition des Problems Indem ich eine Auswahl von städtischen Berichten, Entschlüssen, Anfragen und Anträgen aus den Jahren 2006 bis 2014 quer lese und neben ethnografische Erfahrungsberichte und Interviews stelle, kann ich im Folgenden zeigen, wie die von Obdachlosigkeit betroffenen Unionsbürger*innen der Kommunalpolitik zum Problem wurden, wie sehr die Problemdefinition umkämpft war und wie mit Problemlösungen experimentiert wurde. Anfrage 2006: Einrichtung eines Sondertopfes Die erste Stadtratsanfrage zum Thema Armut von Unionsbürger*innen in München erfolgte im Jahr 2006. Der Anlass war eine Änderung der Sozialgesetzgebung des Bundes. Im Jahr 2006 schloss die Bundesregierung Ausländer*innen, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergebe und ihre Familienangehörigen vom Bezug der Grundsicherung für Arbeitssuchende (Hartz IV) aus.91 Betroffene Ausländer*innen waren somit von dem Recht auf ein Existenzminimum ausgeschlossen. In München fragte die Fraktion Die Grünen/rosa liste im Stadtrat nach den Konsequenzen des neuen Ausschlusses von arbeitssuchenden Ausländer*innen für die Landeshauptstadt München (vgl. Fraktion Die Grünen/rosa liste, 2006). Die Antwort des Sozialreferats stellte dar, dass der Ausschluss fast ausschließlich Unionsbürger*innen betreffe (vgl. Amt für Soziale Sicherung & Amt für Wohnen und Migration, 2006). Sonst wäre nur die relativ kleine Gruppe der Drittstaatler*innen, die nach erfolgreichem Abschluss ihres Studi91 Die Regelung schließt im Wortlaut „Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, und ihre Familienangehörigen“ von den Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II aus (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II). 196 ums in Deutschland über eine Aufenthaltserlaubnis verfügten, betroffen (vgl. ebd.). Die Landeshauptstadt unterstützt also die Ausschlusspolitik des Bundes und richtet sich somit an den staatlichen Grenzziehungen von Bürgerschaft aus.92 Auch von Seiten der Kommune würden keine Leistungen gezahlt werden, denn dies „stünde [...] im Gegensatz zur Absicht des Gesetzgebers, der durch die gesetzliche Neuregelung ausschließt, dass EU-Ausländer/-innen mit ihrer Familie zwar zum Zweck der Arbeitssuche einreisen und sich hier aufhalten, tatsächlich aber steuerfinanzierte Transferleistungen für den Lebensunterhalt beziehen.“ (ebd.: 12) Schon ganz am Anfang der städtischen Problematisierung von Unionsbürger*innen in München klingt also die Figur des ‚Sozialleistungstourismus‘ an. Der Ausschluss sei legitim, denn es sei „ausgeschlossen, dass ein freizügigkeitsberechtigter EU-Bürger nicht in sein Heimatland zurückkehren kann. Sofern ein EU-Bürger nicht in seine Heimat zurückkehren will, etwa weil er den Aufenthalt in der Bundesrepublik aus wirtschaftlichen und finanziellen Gründen einer Rückkehr in sein Heimatland vorzieht, hat der Gesetzgeber mit der oben beschriebenen Regelung im SGB II [...] festgelegt, dass der Lebensunterhalt in Deutschland selbst finanziert werden muss.“ (ebd.: 11) Neben dieser ablehnenden Haltung räumt das Sozialreferat in der Antwort auf die Anfrage der Grünen und der rosa liste aber ein, für die Unterbringung obdachloser Personen und für die dadurch entstehenden Kosten unabhängig von Leistungsansprüchen und Aufenthaltsstatus 92 Im sechsten Kapitel wird sich zeigen, dass die Stadt hier durchaus auch die Möglichkeit gehabt hätte, den Ausschluss zu kritisieren und anzugreifen, da er lange gegen EU-Recht verstieß. Das siebte Kapitel, in dem die Gesetzesverschärfung auf Anstoß des Städtetags im Jahr 2013 nachvollzogen wird, zeigt, wie die Städte, unter ihnen München, sich in einem einflussreichen Positionspapier an der Exklusionslogik des national-sozialen Staates ausrichten und nicht an den Europäisierungsprozessen orientieren, indem sie verlangen, ‚Armutszuwanderung‘ effektiver zu bekämpfen, statt den sogenannten ‚Armutszuwander*innen aus Südosteuropa‘ soziale Rechte zu gewährleisten. 197 zuständig zu sein.93 Gleichzeitig moniert es eine „Verlagerung von Kosten vom Bund auf die Kommune“ (ebd.: 12), denn der Bund trage bei Hartz IV-Empfänger*innen 29,1 Prozent der Kosten der Unterkunft. Um diese Mehrkosten decken zu können, richtete der Stadtrat einen Sondertopf von 100.000 Euro im Jahr ein (ebd.: 13) - der Sondertopf, der mir vier Jahre später im Amt begegnete. Damit sei das Problem aber nicht gelöst, erklärt das Sozialreferat, sondern eine Reihe neuer Probleme entstünden, denn die von Sozialleistungen Ausgeschlossenen verfügten dann zwar über eine Unterkunft, aber über kein Einkommen. Das Referat rechnet zu diesem Zeitpunkt trotzdem mit keiner „längerfristigen Problematik“ (ebd.: 12), es gehe „nicht davon aus, dass es zur völligen Verarmung von ausländischen Familien kommen wird“ (ebd.). Stattdessen werde es „zu einem gewissen Abschreckungseffekt kommen, durch den die Zahl der zum Zweck der Arbeitssuche zuziehenden EUAusländer/-innen zurückgehen wird“ (ebd.); es vermutet also, dass eine Rücknahme sozialer Rechte zu einem „Abschreckungseffekt“ führe. Die Annahme, dass die Einschränkung sozialer Rechte ein wirksames Instrument zur Steuerung von Migration darstelle, sollte in den folgenden Aushandlungen immer wieder eine Rolle spielen, obwohl der Zuzug von Unionsbürger*innen auch nach dem Ausschluss aus dem Hartz IV steigen und somit diese erste Prognose schnell widerlegen sollte und auch die migrationspolitischen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte das Gegenteil versprachen. Zu erwähnen bleibt, dass die Antwort des Sozialreferats nicht den Ausschluss von in München lebenden Menschen von ihrem Recht auf ein Existenzminimum durch den Bund zum Problem macht, sondern vielmehr die „psychischen Probleme“ (ebd.: 2) derjenigen, die trotz Verarmung nicht ausreisen könnten,94 und die „besonderen sozialen Schwierigkeiten“ (ebd.: 11) derjenigen, die „bisher keiner zwölfmonatigen ununterbrochenen Erwerbstätigkeit nachgehen können“ (ebd.) 93 „[D]ie Landeshauptstadt München [ist] – unabhängig von Leistungsansprüchen nach dem SGB II oder SGB XII – bei Wohnungslosigkeit für die Unterbringung der wohnungslosen Personen nach Art. 6, 7 LStVG zuständig. Dies gilt auch für arbeitssuchende Ausländerinnen und Ausländer“ (vgl. Amt für Soziale Sicherung & Amt für Wohnen und Migration, 2006: 2). 94 „Derzeit kann allerdings noch nicht gesagt werden, welche Auswirkungen die gesetzliche Änderung auf den Personenkreis hat, der z.B. wegen psychischer Probleme nicht ausreist“ (vgl. Amt für Soziale Sicherung & Amt für Wohnen und Migration, 2006: 12). 198 und somit keinen Anspruch auf soziale Leistungen hätten. Gleichwohl sah sich die Stadt zu diesem Zeitpunkt noch in der Pflicht, obdachlose Ausländer*innen unabhängig vom Anspruch auf soziale Leistungen unterzubringen und gab auch finanzielle Mittel hierfür frei. Während diese Anfrage als Reaktion auf eine Gesetzesänderung auf Bundesebene gestellt wurde, ging die nächste Anfrage drei Jahre später von einer konkreten Situation aus. Anfrage Untersbergstraße 2009/2010: ‚Münchner Problemhaus‘? Im Oktober 2009 stellten Stadträt*innen der Grünen Partei eine Stadtratsanfrage, um auf einen Skandal aufmerksam zu machen: „In München leben derzeit allein in einem Arbeiterwohnheim eines privaten Vermieters in der Untersbergstraße schätzungsweise 500 Menschen aus Südosteuropa in teils prekären Verhältnissen. Seit geraumer Zeit leben dort auch zunehmend mehr Familien mit Kindern.“ (Stadtratsfraktion Die Grünen/rosa liste, 2009)95 Sie stellten (etwa drei Jahre, bevor die Figur ‚Armutszuwanderung‘ hegemonial werden sollte) die prekären Wohnverhältnisse in Zusammenhang mit der europäischen Freizügigkeitsregelung, im Zuge deren „deutsche Städte einen vermehrten Zuzug von Menschen z.B. aus Rumänien und Bulgarien“ (ebd.) verzeichneten. Sie verwiesen auch darauf, dass die Stadt möglicherweise verpflichtet sei, die Menschen unterzubringen und auf den 2006 für solche Verpflichtungen gegründeten Sondertopf. Außerdem fragten sie nach der sozialen und rechtlichen Situation der (minderjährigen) Bewohner*innen des Wohnheims, nach dem Umgang des Münchner Sozialreferats und des Kreisverwaltungsreferats 95 Das Haus in der Untersbergstraße, inzwischen abgerissen, hatte eine bewegte Geschichte. In den 1990ern diente es als staatliche Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete, später als privates Wohnheim, aber auch die LHS mietete dort Plätze zur Notunterbringung von Obdachlosen an. Mir war das Haus nicht nur bekannt, weil bis zum Abriss 2012 immer wieder bulgarische Arbeitnehmer hier unterkamen, sondern auch, weil Werkvertragsarbeiter, die ich im Rahmen meiner Forschung für Crossing Munich begleitet hatte, hier gewohnt hatten. 199 mit ihrer spezifischen Situation und nach den Reaktionen anderer deutscher Städte auf den „vermehrten, nicht geregelten Zuzug“ (ebd.). Der Sozialreferent leitete die Antwort damit ein, dass hier jenes Problem deutlich werde, dass die Unionsbürger*innen freizügig seien, vom Bundesgesetzgeber als Arbeitssuchende von Leistungen ausgeschlossen würden, aber von der Stadt untergebracht werden müssten (vgl. Sozialreferat, 2009). Dann erfolgte eine Situationsbeschreibung, die auf der Schilderung von Sozialarbeiter*innen und den Betreibern der Untersbergstraße beruht: In dem Arbeiterwohnheim seien etwa 55 Zimmer von Bulgar*innen belegt, wobei bis zu sechs Personen in einem Zimmer unterkämen. Unter den Bewohner*innen seien 60 Kinder, deren Lage von Sozialarbeiter*innen als kindeswohlgefährdend eingeschätzt werde. Die Bewohner*innen des Wohnheims seien teilweise schon ein bis drei Jahre in München angemeldet. Es sei nicht bekannt, wie sie ihren Lebensunterhalt bestritten.96 Sie hätten keine Ansprüche auf Sozialleistungen und „[a]ufgrund mangelnder beruflicher Qualifikationen und Sprachkenntnisse […] keine Chance […], auf dem Arbeitsmarkt unterzukommen und sich hier zu integrieren“ (ebd.: 4f). Das Sozialreferat legte ihnen, „soweit es ihnen nicht gelungen ist, Arbeit zu finden, die Heimreise nahe“ (ebd.: 7), für diese erhielten sie „[g]egebenenfalls […] auch Beratung und Unterstützung“ (ebd.). Eine Unterbringung durch die Stadt sei zwar nicht grundsätzlich vorgesehen, aber „sollten Haushalte von sich aus auf das Amt für Wohnen und Migration zukommen mit der Bitte um Unterbringung, so werden die Haushalte befristet im Notunterbringungssystem untergebracht“ (ebd.). Diesen Satz, der die Bereitschaft zur Unterbringung ausdrückt, hatte ich im Amt für Wohnen und Migration zitiert, um für Sebahattin Yankov und Hristo Vankov eine Notunterbringung durchzusetzen. Weiter stellt das Antwortschreiben fest, dass die Information des Sozialleistungsbezugs (bzw. der Notunterbringung) der Ausländerbehörde übermittelt werde, welche dann prüfen werde, „ob der Verlust der Freizügigkeit festgestellt werden kann und ob eine Ausreisepflicht besteht. Allerdings weist die Ausländerbehörde darauf hin, dass dies nur in 96 Dass die Bewohner*innen über ein Einkommen verfügen mussten, weil die Mieten extrem hoch und im Voraus zu zahlen waren, wurde nicht erwähnt. Die Preisliste des A1-Wohnheims in der Untersbergstraße von 2010 zeichnet 897,20 netto pro Monat für ein Vier-Bett-Zimmer aus. Mir liegt eine Rechnung von 2012 vor, die für einen Monat pro Person 820 Euro berechnet. 200 seltenen Fällen zur Ausreise der Betroffenen führen wird“ (ebd.), denn die Ausreisepflicht gehe mit keiner Wiedereinreisesperre einher. Auch eine „aufwändige Aufenthaltsbeendigung mit Ausübung unmittelbaren Zwangs durch die Polizei trägt somit nicht zu einer nachhaltigen Problemlösung bei“ (ebd.: 6), so das Sozialreferat.97 Des weiteren legt das Schreiben dar, dass weder im Deutschen noch im Bayerischen Städtetag „die Frage des Umgangs mit diesem Problem“ (ebd.: 7) bisher aufgegriffen worden sei. Als das Sozialreferat das Thema in die Sozialamtsleitertagung eingebracht habe, habe „sich ergeben, dass dieses Problem zwar in einer Reihe von Städten auftritt, dies aber bislang nicht zu weitergehenden Überlegungen geführt hat“ (ebd.). München kann also durchaus als eine der ersten Kommunen gesehen werden, die eine Thematisierung des „Problems“ anregte. Das Sozialreferat machte in seinem Papier deutlich, dass es die neuen Zuwander*innen als „Problem“ wahrnehme und am liebsten los werden wolle, insbesondere, wenn sie keiner (dokumentierten) Arbeit nachgingen und der kommunalen Einschätzung nach auch keine Aussicht auf Arbeit hätten – etwa wenn sie über geringe oder keine Qualifikationen verfügten und kein Deutsch sprächen. Nur widerwillig räumt das Sozialreferat ein, zur Unterbringung verpflichtet zu sein, und gibt zu, dass eine Aberkennung der Freizügigkeit wenig erfolgversprechend sei. Das ‚Problem Untersbergstraße‘ zumindest sollte sich schnell lösen, da der Betreiber des Wohnheims seinen bulgarischen Mieter*innen im Zuge der öffentlichen Aufmerksamkeit kündigte (vgl. ebd.). Podiumsdiskussion: „Was unter den Nägeln brennt...“ Im Mai 2010 (13.05.2010) veranstaltete die Bahnhofsmission im Rahmen des Kirchentages eine Podiumsdiskussion zum Thema EU-Bürger/innen zweiter Klasse. Auf dem Podium saßen der Leiter der Finanzkontrolle Schwarzarbeit in München, eine Münchner Europaparlamentsabgeordnete (FDP), der Leiter des Amts für Wohnen und Migration und die Leiterin der Münchner Bahnhofsmission. Es war eine der ersten - wenn nicht die erste - öffentliche Veranstaltung zum Thema in München. 97 Dies zeigten „mehrere bei der Ausländerbehörde anhängige Fälle von immer wieder neu einreisenden EU-Staatsangehörigen“ (ebd.). 201 Einlass bekamen eigentlich nur registrierte Teilnehmer*innen des Kirchentages. Nachdem sich etwa 20 EU-Migrant*innen mit einigen Unterstützer*innen und Transparenten vor der Tür aufgestellt hatten, gewährten ihnen die Organisator*innen aber trotzdem spontan Zugang zur Veranstaltung. Gerade deswegen sei die Veranstaltung besonders gelungen gewesen, erklärte die Leiterin der Bahnhofsmission in einem Interview mit mir im Dezember 2010: „Was dann die Qualität ausgemacht hat, dass sie mit ihrer Gruppe kamen, was wir auch nicht geplant hatten. Und was dann ja passiert ist, das Spannendste, dieser direkte Dialog zwischen [dem Leiter des Amts für Wohnen und Migration, Anmerkung der Autorin] und den Betroffenen. Hat ein Mensch in so einer Funktion nicht so oft.“ Der Beitrag des Leiters der Finanzkontrolle, der auf Ausbeutungsverhältnisse hingewiesen hatte, gefiel ihr auch: „Was der gesagt hat, das fand ich total klasse. Dass es hier einen Markt gibt. Dass es hier Fünf-Sterne-Hotels gibt, die neu gebaut werden und dann auf der untersten Schiene der Sub-Sub-Sub-Unternehmer kriegt 1,50 Euro. Ich fand, der hat tolle Positionen vertreten, fand ich persönlich. Auch ein zukünftiger Amtsleiter, der mit am Tisch sitzt, muss sich das erstmal mit anhören.“ Die Bahnhofsmission, die sie auch als „Seismographin“ bezeichnet, hatte die Veranstaltung als eine ihrer seltenen öffentlichen Aktionen organisiert: „Es war schnell klar, dass es dieses Thema ist, was uns auf den Nägeln brennt, wo wir ein Stück weit auch das Gefühl haben, dass wir das Fähnchen hochhalten und sagen, Leute, hier gibt es ein Problem und es nimmt erstmal so schnell keiner zur Kenntnis.“ Die Veranstaltung habe mit anderen Faktoren dazu beigetragen, dass die Situation von Unionsbürger*innen in München auf die kommunalpolitische Tagesordnung gekommen sei: 202 „Zum einen war es im Sommer auch dieses große Thema mit dem Sechsmonatsding. Da geht es darum, wer ist hier wohnungslos und wer kriegt hier was, jetzt für alle? Und dann gehen schriftliche Dienstanweisungen hin und her. Und dann meinetwegen die Anfrage von den Grünen und dass ver.di drin ist und dass auch die Medien mehr darüber berichten. Öffentlicher Druck über Medienberichterstattung. Das sind alles schon Faktoren. Die Bahnhofsmission ist da nur ein Element. Aber ich fand das dann doch auch nicht unwichtig“. Runder Tisch bei ver.di: „Da sträuben sich sämtliche Haare!“ Ebenfalls im Mai 2010 (19.05.2010) lud die Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft in Kooperation mit der Initiative Zivilcourage kommunale Akteure zu einem Runden Tisch ein. Der Einladung waren acht Arbeiter*innen, ein Stadtrat der Linken, der SPD und eine Stadträtin der Grünen sowie die Leiterin der Bahnhofsmission nachgekommen. Daneben nahmen zwei Hauptamtliche des Fachbereichs 13 von der ver.di und drei Mitglieder der Initiative Zivilcourage, inklusive mir, an der Veranstaltung teil. In der Vorstellungsrunde waren sich alle einig, dass hier etwas getan werden müsste, und vor allem die Stadt München gefordert wäre. Es herrschte Aufbruchstimmung. Dann erklärte die Leiterin des Fachbereichs 13 (Besondere Dienstleitungen) die Gründe hinter der Einladung: „Wir haben da Sachen erfahren, da sträuben sich sämtliche Haare“. Sie positionierte sich klar auf der Seite der „Kolleg*innen“ und problematisierte aus deren Perspektive Ausschluss und Diskriminierung. Zum einen gäbe es das „Problem mit dem Arbeitsrecht“. Darum ginge es hier aber weniger, denn: „Das können wir ganz gut in den Griff kriegen. Wir haben auch schon bisschen was erreicht für einen Teil der Kollegen und sind da auch immer glücklich“. Als weiteres Problem benannte sie zum einen Rassismus auf der Straße und Probleme mit dem „Umgang auf den Ämtern“, der „teilweise auch unmöglich sei“. Als „einen ganz entscheidenden Punkt“, als „Riesenproblem“ benannte sie schließlich die „Probleme mit Unterkunft, Wohnen“: 203 „Weil ein fester Wohnsitz ist Voraussetzung für einen Gewerbeschein und natürlich auch um irgendwelche Sozialleistungen soweit möglich zu kriegen. Also das Wohnungsproblem ist ein Riesenproblem.“ Die folgenden Berichte der EU-migrantischen Kolleg*innen von ihren Erfahrungen unterstrichen diese erste Zusammenfassung. Sie verlangten zusätzlich einen eigenen Raum als Café bzw. Aufenthaltsraum. Daraufhin erklärte die Stadträtin der Grünen ihre emotionale Betroffenheit: „Es ist dramatisch, klar, emotional geht es mir sehr nah. Das war uns auch vorher deutlich. Heute noch mehr, weil ich Gesichter dazu habe. Vorher war es abstrakt“. Sie nahm aber durch ihre Einschätzung, „dass wir morgen kein Problem lösen werden“, der Aufbruchstimmung Wind aus den Segeln. Sie kündigte an, die Probleme kommunalpolitisch zu thematisieren, nämlich durch einen „runden Tisch [ ] zu der Frage, wie geht man längerfristig damit um, welche längerfristigen Projekte [sind] einzuleiten“. Ähnlich wie die Leiterin der Bahnhofsmission und entgegen der Ersteinschätzung der Stadt ging sie davon aus, dass diese neue Form der Migration jetzt unumkehrbare Realität in München wäre: „Die Gruppe wird immer da sein, die Gesichter werden sich zwar ändern. Und jeder, der die Wirklichkeit kennt, weiß auch, dass das nicht zu stoppen ist“. Klar wäre: „Wir brauchen das Amt für Wohnen und Migration wegen den Notunterkünften.“ Dass die Gewerkschaft sich einmischte, hat viel Aufmerksamkeit in der Kommunalpolitik gefunden. Ihr Einsatz für die migrantischen Lohnabhängigen und gegen ihren Ausschluss, ihre Ausbeutung und gegen Rassismus hat sicherlich der Problematisierung der ‚hilfebedürftigen Zuwander*innen‘ als ‚unproduktive Andere‘ entgegengewirkt, denn die Figur des ‚Gewerkschaftsmitglieds‘ ist mit der Idee von ‚Sozialtourismus‘ nur schwer vereinbar. Nachdem sich die gewerkschaftlichen Akteure wieder aus den Aushandlungen um die EU-migrantischen Arbeiter*innen herausgezogen hatten (Anfang 2011), verwiesen nicht nur die Leiterin der Bahnhofsmission, sondern auch Stadträt*innen und der Leiter des Amtes für Wohnen und Migration mehrmals darauf, dass ihre Stimme im Jahr 2010 eine wichtige Rolle gespielt hätte. 204 Die liberale Perspektive der grünen Stadträtin, die eher auf das Drama der humanitären Situation fokussierte und feststellte, dass die Migration nicht zu stoppen und deswegen längerfristig anzugehen wäre, sollte hingegen weiter wirkmächtig bleiben. Konflikt um Wohnraum II: „Jalla Wohnungsamt!“ Bei einer Bemerkung des Amtsleiters auf der Podiumsdiskussion hatte ich die Ohren gespitzt: Eine Anmeldung reichte zur Unterbringung, hatte er erklärt! Das ließen wir uns nicht zweimal sagen und starteten schon wenige Tage darauf einen Versuch, den Leiter des Amtes beim Wort zu nehmen. So warteten eines Morgens im Mai 2010 vor dem Amt für Wohnen und Migration schon etwa 15 Menschen auf mich. Am vorigen Tag hatten wir uns für heute hier verabredet, um ihre Notunterbringung zu beantragen. Der Pförtner des Amtes war auch da und fragte, ob ich „Lisa“ wäre. Er hätte schon einige Male gefragt, was die Gruppe wollte und sie hätten gesagt, sie warteten auf „Lisa“. Pembe packte mich am Arm, mit einer Handbewegung und einem „Jalla!“ - „Auf geht“s! Ich wollte noch schnell erklären, dass undokumentierte Arbeit hier nicht als Arbeit gälte und somit nicht erwähnenswert wäre, war aber schon längst in der Infothek. Ein Tohuwabohu, alle wollten gleichzeitig in die Räume, aber nur der Eintritt in einzelnen „Haushalten“ war erlaubt, dazu mussten die Antragstellenden direkt verwandt oder verheiratet sein. Ich sagte, es wäre bei allen der gleiche Fall. Nach kurzer Zeit kam ein türkischsprachiger Sprachmittler. Ob irgendjemand sozialversicherungspflichtig gearbeitet hätte? Eine Person sagte ja. Eine Frau, die von den anderen Mitarbeiter*innen des Amtes respektvoll behandelt wurde, ging von Raum zu Raum, sagte, sie regelte das, wir sollten hoch kommen. Dann bekamen alle Laufzettel und wir gingen in den ersten Stock. Oben herrschte wieder Chaos, die Sachbearbeiter*innen schienen überfordert. Die „Haushalte“ mussten einzeln Nummern ziehen und wurden nach und nach aufgerufen. Ich konnte nicht bei allen sein, rannte, ebenso wie der Dolmetscher, herum. Die Person von zuvor, sie schien eine Vorgesetzte zu sein, war auch immer wieder zugegen und sagte den Sachbearbeiterinnen, sie sollten es nicht so genau nehmen. Einige nahmen viele Daten auf und ließen die Aussage unterschreiben: Wo sie vorher gewohnt hätten, ob sie gearbeitet hätten, wann und wo. Reine Postadressen schienen kein Problem und nicht strafbar zu sein. 205 Von Bearbeiterin zu Bearbeiterin war die Situation unterschiedlich. Aber alle schüttelten den Kopf, wieso das auf einmal alles anders wäre? Einige Sachbearbeiterinnen sagten wieder Dinge wie, nicht dem Staat auf der Tasche liegen, dass es nicht sein könnte, dass jemand sechs Monate ohne Wohnung gewesen wäre und so gepflegt aussähe, sie kannten ja „das Klientel“. Auch eine Erzählung von Bussen, die vor dem Amt gestanden wären und Menschen „ausgespuckt“ hätten, die jeweils einen Zettel in der Hand gehabt hätten, auf dem „Sozialgeld und Sozialwohnung“ gestanden wäre, tauchte mehrmals auf. Eine Sachbearbeiterin wollte ein Schreiben vom Vermieter mit einer Bestätigung, dass der antragstellende Obdachlose dort nicht mehr wohnen könnte. Da kam die Vorgesetzte und sagte, das wäre jetzt nicht so wichtig. Schließlich wurden alle Antragsstellenden für vier bis zwölf Wochen in Notunterkünfte eingewiesen. Wir sagten weiteren wohnungslosen Personen Bescheid, sie sollten am nächsten Tag eine Unterkunft beantragen. Wieder wurden alle Antragstellenden ohne Probleme untergebracht. Zwei oder drei Tage später schloss sich das Fenster aber wieder: Niemand wurde mehr untergebracht. Bei einer Raucherpause vor dem Amt erzählte mir ein Sachbearbeiter einige Wochen später, es hätte wohl Streit zwischen der Chefetage des Jobcenters und der des Wohnungsamts gegeben. Das hätte drei Tage gedauert, sogar der bulgarische Konsul wäre eingeladen worden, dann hätte das Jobcenter gewonnen, und die Tore wären wieder geschlossen worden. Leider konnte ich nichts über den Wahrheitsgehalt dieser Gerüchte herausfinden. Fest stand, dass es für die wohnungslosen, bulgarischen Arbeiter*innen nach wenigen Tagen wieder extrem schwierig bis unmöglich geworden war, von der Stadt ein Dach über dem Kopf zu bekommen. Runder Tisch Hilfebedürftige Zuwanderer*innen Im Juli 2010 lud das Amt für Wohnen und Migration dann zu einem Runden Tisch ein. Über 35 Personen von etwa 20 Institutionen, Einrichtungen und Initiativen kamen der Einladung nach und präsentierten sehr unterschiedliche Problematisierungen und Lösungsvorschläge. Ziel des Runden Tisches war, Problemlagen festzustellen, einen Überblick über bestehende Angebote für EU-Migrant*innen zu erhalten und Handlungsmöglichkeiten zu erarbeiten. Der Leiter des Amtes begrüßte 206 seine „Kolleginnen und Kollegen“. Seit 2007 wäre bundesweit ein Zuzug zu verzeichnen, der Herausforderungen brächte - er rede betont von „Herausforderungen“, nicht von „Problemen“. Der Zugang zu Sozialleistungen wäre aber extrem begrenzt, nur bei Erwerbstätigkeit gäbe es eine Perspektive. Bundesweit bestünde nur in München eine Chance auf Arbeit. In der ersten Runde erzählten die einzelnen Einrichtungen von ihren Erfahrungen. Die meisten betonten die Not und erklärten, dass sie mehr Finanzen bräuchten. Das Amt für Wohnen und Migration war für viele der Geldhahn, von dem sie abhängig waren. Auch ich war als Vertreterin der Initiative Zivilcourage geladen. Meine Feldnotizen verraten meine eigene Involviertheit: Sie sind eher geprägt von Notizen dazu, was ich einbringen wollte, als von Beobachtungen. Einiges habe ich aber doch notiert. Es herrschte ein Potpourri an Informationen und Ideen: Viele Teilnehmer*innen bestätigten, die Situation hätte sich in den letzten Monaten bzw. Jahren stark verändert. Während die Bahnhofsmission sagte: Das wäre Migration, das wäre schon immer so, verwiesen andere abwertend auf die „neuen Qualitäten“, die die „Zuwanderung von Roma und Sinti“ mit sich brächte. Projekte im Heimatland wären am sinnvollsten, um die Migration schon dort zu stoppen. Auch aus dem Amt kamen teilweise repressive Stimmen: Es wäre nötig, die Regeln zu verschärfen. Im Jahr 2010 wären schon 625 Millionen Euro in den Wohnungsbau investiert worden. Für diese Gruppe der hilfebedürftigen Zuwander*innen aus den neuen EU-Beitrittsstaaten käme nur die „Förderung vor Ort im Heimatland“ und Rückkehrhilfe in Frage. Hilfen in München könnten „hospitalisierend wirken“. Andere Teilnehmende sagten, weil die Teestube Komm obdachlose Ausländer*innen ohne Arbeitsvertrag nicht mehr aufnehmen dürfte, bräuchte es ein ähnliches Angebot, eine Teestube mit Fachberatung und Qualifizierungsmaßnahmen für obdachlose Migrant*innen. Menschenhandel müsste bekämpft werden und Zwangsprostitution, so eine Frau, die sich als Bulgarin und somit Expertin für den Personenkreis vorstellte: Bei den Roma würden aufgrund von Armut viele Frauen verkauft werden. Eine etablierte Migrationsberatungsstelle wunderte sich: Es gäbe ja schon viele Beratungsstellen, aber diese Menschen schlügen bei ihnen nicht auf. Ich meldete mich auch und sagte, meinen Notizen folgend, dass die Rückfahrhilfe nicht ausreichte. Die Leute arbeiteten und nähmen dabei keine Arbeitsplätze weg, sondern ließen die Wirtschaft boomen. Restriktionen 207 verhinderten die Migration nicht, sondern trieben die Migrant*innen ins Unsichtbare. Auch ein reines Beratungsangebot reichte nicht aus, vielmehr müssten Wohnmöglichkeiten geschaffen werden. Am wichtigsten wäre es, den Migrant*innen mit Respekt zu begegnen und das nächste Mal auch Betroffene einzuladen, statt nur über sie zu sprechen. Eine grundsätzliche Änderung der Regelungen brachte kaum jemand ins Gespräch; nur Ausnahmeregelungen, mehr finanzielle Mittel für bestehende und der Aufbau weiterer Beratungsstellen sowie mehr Vernetzung wurden gefordert. Auch konkrete Vereinbarungen wurden keine getroffen. Einige Wochen später schickten die Organisator*innen ein Protokoll und eine Teilnehmer*innenliste mit Kontaktdaten per Email an die Teilnehmenden. Einige Monate später kommentierte ein*e Mitarbeiter*in einer Wohlfahrtsorganisation mir gegenüber desillusioniert: „Wenn das Wohnungsamt einen Runden Tisch einberuft und hinterher erfährt man, dass vorher schon klar war, dass es noch weiter verschärft wird, dann trägt das auch nicht weiter zur Motivation bei“. Als ganz so sinnfrei würde ich dieses Treffen aber nicht bezeichnen. Die beteiligten Akteure konnte hier Netzwerke knüpfen, Informationen beschaffen, Ideen sammeln, mögliche Partner*innen kennenlernen – kurz gesagt: das Terrain sondieren. Um die städtischen Logiken besser verstehen zu können, möchte ich im Folgenden näher darauf eingehen, mit welchen ‚Problemen‘ sich der Leiter des Amtes für Wohnen und Migration konfrontiert sah und welche Begründungen und Lösungsstrategien er im Auge hatte. Der Amtsleiter: „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“ Meine erste Begegnung mit dem Amtsleiter, Mitglied der Grünen Partei, der die städtische Politik gegenüber Unionsbürger*innen wohl wie kein anderer prägte, fand während der Podiumsdiskussion EU-Bürger/innen zweiter Klasse statt. Danach sind wir uns immer wieder auf Veranstaltungen begegnet und ich habe im Juni 2011 auch ein Interview mit ihm geführt. Er leitete seine Ausführungen immer mit der Bekräftigung des Integrationskonzepts der Stadt München 208 ein. Seine Beiträge zur Podiumsdiskussion geben einen guten Eindruck seiner Argumentation: „Ich will etwas vorausschicken: ein Amt, das sich mit Integrationspolitik zu beschäftigen hat, das ist meine Aufgabe. Die Landeshauptstadt begrüßt Zuwanderung, wir sind darauf angewiesen und begrüßen sie. Wir sind daran interessiert, dass, wer zuwandert, sich integriert.“98 Dann ging er auf strukturelle Probleme ein: „Münchner leiden unter Wohnungsnot, unabhängig ob sie aus Beitrittsstaaten kommen oder nicht. In meinem Amt sind jährlich 20-25.000 Menschen, die sich vorstellen und eine Sozialwohnung beantragen. Wir vergeben jährlich circa 3.500 Wohnungen. Mehr haben wir nicht. Wir haben hier ein Problem.“ Sozialdiagnostisch verwies er sowohl auf das Dilemma, in dem neue Münchner*innen oft stecken - „Es ist manchmal ein Teufelskreis. Keine Wohnung, keine Arbeit und umgekehrt.“ - wie auch auf die sozialen Realitäten der working poor: „Dazu gehören auch die Beitrittsstaaten, das ist gar keine Diskussion. Polizeilich gemeldet, sie sind berufstätig, vielleicht in Minijobs, vielleicht arbeiten sie sogar sieben, acht, neun oder zehn Stunden am Tag. Aber es reicht nicht. Was können wir tun?“ Da er die Stadt zu diesem Zeitpunkt noch in der gesetzlichen Pflicht sah, unterzubringen, sie aber keine Sozialleistungen geben könnte, sah er sich in einem Dilemma: „Einerseits Freizügigkeit, andererseits ist die Wohnungsbehörde verpflichtet zur Unterbringung, das ist unser Job, das haben wir zu tun! Dann dürfen wir aber nicht leisten.“ Denn: „Sie 98 Das Thema Integration erläutert er folgendermaßen weiter: „Zuwanderer […] haben grundsätzlich in der Bundesrepublik Anspruch auf integrationsunterstützende Hilfen. Das fängt damit an, dass wir von euch oder ihnen erwarten, Sie mögen bitte Deutsch lernen. Sie mögen sich mit der Gesellschaft auseinandersetzen. Nur dann werden sie eine Chance haben, perspektivisch in den Arbeitsmarkt so hereinzukommen, dass die Füße auf dem Boden sind. […] Wir sind interessiert an Zuwanderung. Aber es geht auch darum, wie man den Weg hinein in die Arbeit findet.“ 209 haben keinen Anspruch auf Sozialleistungen, das ist genau das, was der Gesetzgeber festgelegt hat“. An diese Vorgaben hätte er sich zu halten: „Wir sind schließlich keine Bananenrepublik, sondern an Recht und Gesetz gebunden!“ In einem Interview im Juni 2011 erklärte er mir das Dilemma noch genauer: „Wovon sollen sie denn Miete zahlen? Des geht net! [betont bayerischer Dialekt, Anmerkung der Autorin] Verstehen sie? Und dann haben wir sie in einer Endlosschleife in einem System, das keine Hilfe für sie ist“. Denn die Notunterkünfte sollten eine vorübergehende Lösung sein: „Da gilt der Satz, das ist eine vorübergehende Bleibe. Das meinen wir auch ernst. Innerhalb von einem Jahr wollen wir alle in eine Wohnung vermittelt haben“. Er sah die Ämter aber nicht nur rechtlich verpflichtet, Unionsbürger*innen von sozialen Leistungen auszuschließen sondern stellte sich auch politisch hinter den Ausschluss. So erklärte er im Interview: „Ich kann, darf, will und werde auch keine Sozialleistungen zahlen“. Denn: „Hier gibt es keine Versorgungshaltung“. Der Ausschluss von sozialen Rechten stellte für ihn also nicht das zugrundeliegende Problem dar, sondern das Fehlverhalten Einzelner. So lag die Problemlösung seiner Meinung nach auch nicht – oder nur sehr bedingt – in der Hand der Stadt oder des Staates, sondern in der Selbstverantwortung der Einzelpersonen: „Ich kann nur sagen, wer hier nach München kommt, muss sich selber um seine Sachen kümmern. Das hört sich hart an, ist aber so. Eine Frau aus Wuppertal wird auch zurückgeschickt“, erklärte er während der Podiumsdiskussion. Auch zwei Jahre später wiederholte er fast wortgleich: „Jeder der kommt, muss sich auch selber um seinen Teil kümmern. Wir können nicht Menschen, egal woher sie kommen... Auch eine deutsche Bürgerin aus Wuppertal oder Essen, die hier herkommt und sagt: ‚Jetzt bin ich hier. Ich hätte gern ’ne Wohnung!‘ – ‚Ja, das ist nett. Hätte ich auch gerne! Kriegen sie aber von uns nicht, die suchen sie sich bitte selber!‘“ In den Darstellungen des Amtsleiters kommt zum Ausdruck, dass es ihm nicht um pauschale, staatsrassistische Ausschlüsse aufgrund von Nationalität oder Herkunft geht. Seine Argumentation bekräftigt vielmehr den neoliberalen Individualismus und die postnationale Logik der urban citizenship. Diese differenzierte Exklusionslogik, die auch als Artikulation des postliberalen Rassismus bezeichnet werden kann, nimmt nur 210 diejenigen obdachlosen Personen in das Münchner Unterbringungssystem auf und akzeptiert sie somit als Münchner Bürger*innen, die erfolgreiche „Unternehmer*innen ihrer Selbst“ bzw. „Schmiede ihres eigenen Glückes“ sind: „Wir haben 96 Fälle derzeit untergebracht. Das heißt, es geht sehr wohl mal. Und der Münchner Arbeitsmarkt ist so vital, dass er manchmal auch Leute schluckt, die in Berlin, oder ich weiß nicht wo, niemals – never! – eine Chance hätten. Okay. Das will ich überhaupt nicht in Abrede stellen. Das ist dann der Punkt, wo zwischen Hoffnung und Wollen auch das Können kommt. Und diese Verpflichtung, die hat jeder selber. Da gibt es dann den blöden Spruch mit dem: ‚Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied‘. Da geht nichts dran vorbei. Sie auch. Genauso wie ich.“ Er unterscheidet zwischen den ‚guten‘ und den ‚schlechten‘ Migrant*innen: „Wir reden nicht von den qualifizierten und hoch qualifizierten, das ist nicht unser Thema. Sondern es sind die Anderen. Und die sind in einer schwierigen Situation.“ Von der materiell-sozialen Verantwortung, die bei den Einzelnen liege, somit freigesprochen, sieht er die Stadt nur noch in der Pflicht, Beratungsangebote aufzubauen, um die Eigenverantwortlichkeit zu unterstützen: „Es gibt einen Anspruch auf Beratung. Das glaube ich auch.“ Bei der Beratung gehe es oft „darum, jemandem den Weg zurück zu ebnen, wenn er die Füße hier nicht auf den Boden bekommt“. Denn: „Wenn heute jemand neu nach München kommt, nichts hat, auch den Weg in den Arbeitsmarkt nicht findet, so kriegt er von der Landeshauptstadt München allenfalls Unterstützung auf Rückkehr in sein Heimatland“. An den Argumentationen des Amtsleiters lassen sich einige der Rationalitäten, die die Stadtpolitik prägten, analysieren. Der Amtsleiter zog die Grenze vordergründig nicht zwischen Nationalitäten, aber auch nicht (immer) pauschal zwischen Qualifizierten und Nicht-Qualifizierten, sondern zwischen denjenigen, die sich selber helfen können und denjenigen, die es nicht schaffen, ‚ihr Glück zu schmieden‘. Dann stellte er sich aber doch hinter den nationalstaatlichen Ausschluss 211 von arbeitssuchenden Ausländer*innen aus dem Hartz IV, obwohl er erklärte, dass Unionsbürger*innen in den Notunterkünften oft genau wegen dieser Einschränkung ihrer sozialen Rechte unterhalb des Existenzminimums lebten. Er sieht die Lösung nicht darin, arbeitssuchenden Ausländer*innen das Recht auf soziale Leistungen zuzusprechen, sondern darin, Personen, die „keinen Fuß auf den Boden bekommen“, gar nicht erst unterzubringen und Beratungsangebote zu schaffen, um EU-Migrant*innen „ohne Perspektive“ bei der Abreise und EUMigrant*innen „mit Perspektive“ bei der Integration zu unterstützen. Erneute Krise des Unterbringungssystems wird ausgerufen Anfang 2010 erschütterte eine Warnung die städtischen Akteure: Es könnte eine Krise des Notunterbringungssystems bevorstehen, sogar schlimmer als Anfang der 2000er Jahre. Im Dezember 2009 lebten 1.977 Personen im städtischen Sofortunterbringungssystem. Das waren 327 Personen mehr als im Mai 2008, als die Zahl der untergebrachten Personen ihren niedrigsten Stand seit der Krise um die Jahrtausendwende erreicht hatte. Im Oktober 2011 waren es schon 2.401 Personen. In den Jahren zuvor war die Zahl der Plätze kontinuierlich abgebaut worden: Während es im Jahr 2002 noch 5.197 Betten gab, waren es im März 2010 nur noch 2.379 (vgl. Amt für Wohnen und Migration, 2010a: 13). Anhand dieser „dramatischen Entwicklungen“ kam eine Prognose für das Jahr 2012 im worst case auf bis zu 100 fehlende Unterkunftsplätze pro Monat - das heißt, dass bis zu 100 unterbringungsberechtigte Personen nicht untergebracht werden könnten. Das Sozialreferat warnte: „[D]urch neu zu versorgende Zielgruppen in der Wohnungslosenhilfe (bleibeberechtigte Flüchtlinge, osteuropäische EU-Bürger und -Bürgerinnen, einkommensschwache Familien im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise) bei gleichzeitigem Schwund an preisgünstigem Wohnraum auf Grund des Bindungsablaufs bei Sozialwohnungen (20082011: 7.110 Wohneinheiten), einem Rückgang der Wohnungsvergaben um 26,5 % und einem großen Einbruch bei den Neubau-Zielzahlen des Handlungsprogramms“ Wohnen in München IV“ (statt 1.300 geförderte Mietwohnungen weniger als 1.000 WE jährlich) [könnte] tendenzi- 212 ell eine Situation nicht unähnlich der zwischen 2000 und 2003 drohen [...], als der Bedarf an Unterbringungsplätzen sehr plötzlich und steil anstieg und mit der Errichtung zahlreicher Notquartiere (Baracken, Containeranlagen) reagiert werden musste.“ (Amt für Wohnen und Migration, 2010a: 1f.) Im Jahr 2012 sprach dann ein Mitarbeiter des Amtes für Wohnen und Migration mir gegenüber von der „größten Krise der Wohnungslosigkeit der Landeshauptstadt München“. Ein Grund für diese Krise läge in der vermehrten „Zuwanderung“ von „osteuropäischen EU-Bürger*innen“ (vgl. Amt für Wohnen und Migration, 2012b). Versuche der Problemlösung, Entwicklung neuer Instrumente Wie reagierte die Stadt auf diese Krise? Welche Rolle spielte die Problematisierung EU-interner Migration? Wie wurden die Problemwahrnehmungen weiterhin ausgehandelt? Welche Instrumente wurden zur Problemlösung entwickelt? Dienstanweisung Meldefrist 6 Monate Spätestens im Dezember 2010 reagierte das Wohnungsamt ähnlich wie schon 2001 - durch eine restriktive Auslegung der Wohnsitzanforderung (Amt für Wohnen und Migration, 2010b). Es brachte nur noch Personen unter, die mindestens sechs Monate mit Hauptwohnsitz in München polizeilich gemeldet waren. „Bei einer kürzeren Meldedauer ist davon auszugehen, dass die Wohnungslosigkeit in einer anderen Gemeinde eingetreten ist“ (ebd.: 1). Als Grund ist in der entsprechenden Dienstanweisung genannt, dass die „Unterbringungsmöglichkeiten weitgehend ausgeschöpft“ (ebd.) wären. Das Wohnungsamt beschränkte damit seine Zuständigkeit auf die Unterbringung derjenigen Menschen, die in München obdachlos werden und schloss diejenigen, die zwar in München obdachlos sind aber in anderen Gemeinden obdachlos wurden, aus ihrem Versorgungsbereich aus. Nach der 213 bisherigen Rechtsauslegung war dies aber rechtswidrig, wie das oben erwähnte Urteil aus dem Jahr 200199 zeigte. Die Stadt musste die Regelung zwar stark verteidigen und legitimieren, sie wurde aber erst 2015 wieder abgeschafft. Im Sinne der Diskussionen zu urban citizenship stellte die Stadtpolitik residency - den gewöhnlichen Aufenthalt bzw. Wohnsitz - als für alle Nationalitäten geltende Bedingung für die Notunterbringung auf. Sie definierte den Begriff des Aufenthalts aber restriktiv: nicht nur durch den Mindestzeitraum von sechs Monaten, sondern auch durch die in der Praxis angewandte Anforderung, den Aufenthalt durch eine Meldebestätigung nachzuweisen. Für eine Meldebestätigung forderte die Meldebehörde aber oftmals einen Mietvertrag und teils sogar die persönliche Begleitung durch den/die Wohnungsgeber*in. Einen schriftlichen Mietvertrag konnten aber nicht nur Obdachlose nicht vorweisen, sondern auch viele Personen in prekären Mietverhältnissen. Die melderechtliche Anmeldung wurde hier (wie auch in vielen anderen Bereichen) zur ausschlaggebenden Hürde, die den Zugang zu (Stadt-)Bürgerschaft verhinderte. Eine weitere Dienstanweisung setzte seit Sommer 2010 fest, dass mittellose Personen ein Ticket in ihr Heimatland von der Bahnhofsmission ausgestellt bekämen. Zum einen förderten die Verantwortlichen des Wohnungsamtes so die erwünschte Abreise der problematisierten Personen, zum anderen suchten sie so ihrer sicherheitsrechtlichen Pflicht des Schutzes von Leib und Leben nachzukommen. Eine Mitarbeiterin der Bahnhofsmission hatte noch eine dritte Erklärung: „Die meisten Leute, die zu uns kommen, [waren] überhaupt nicht mehr beim Amt. Die kommen gleich zu uns. Da ist das Amt durchaus entlastet, dass [...] man im Amt auch nichts mehr sagen muss, sich nicht entschuldigen muss. [...] Natürlich ist das entlastend, wenn ich noch eine Alternative anbieten kann.“ Entlastend und entschuldigend für das Amt – nicht nur den Antragsstellenden, sondern auch anderen sozialen Akteuren wie den Wohlfahrtsorganisationen gegenüber – wirkten sicher auch die Härtefallregelungen, die sich durch die verschiedenen Dienstanweisungen zogen. Als 99 Bayerisches Verwaltungsgericht München, B. v. 06.12.2001 - M 6a E 01.5884. (2. Instanz: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, B. v. 07.01.2002 - 4 ZE 01.3176.) 214 Härtefälle bezeichnete das Sozialreferat in der Sechs-Monats-Regelung Fälle, „bei denen eine Gefährdungssituation besteht (sowohl für Kinder als auch für Erwachsene analog der Gefährdungsdefinition der Sozialbürgerhäuser)“ (Amt für Wohnen und Migration, 2010b), oder die „von der Bahnhofsmission oder von St. Bonifaz, vom Café 104 und Ärzten der Welt und von Malteser Migranten Medizin mit der Bitte um Anspruchsklärung gemeldet werden“ (ebd.). Für diese wurde eine extra Ansprechperson im Amt für Wohnen und Migration benannt. Mit diesen Regelungen ging die Stadt über nationalstaatliche und EU-europäische Grenzziehungen hinaus und setzte den Aufenthalt als Voraussetzung für den Zugang zu den grundlegenden sozialen Rechten fest. Sie legte das ius domicilii dabei aber sehr restriktiv aus - auf eine Weise, dass viele EU-migrantische Arbeiter*innen ausgeschlossen blieben. Diese restriktive Grenzziehung schloss nicht nur Obdachlose, die seit weniger als sechs Monaten in München lebten, aus, sondern auch solche, die sich zuvor, zum Beispiel weil sie keinen Mietvertrag hatten, nicht anmelden konnten. Den Ausschluss versah das Amt für Wohnen und Migration mit humanitären Verbrämungen wie Härtefallregelungen und Rückkehrhilfe. Parallel schloss es EU-Migrant*innen aus sozialen Beratungsangeboten für Obdachlose aus und richtete im Laufe der Jahre für diese „Zielgruppe“ eigene Beratungsstellen ein. „Beratung, da müssen wir mehr tun“ Seit Oktober 2009 wurde die Teestube Komm, die wichtigste niederschwellige Anlaufstelle für Obdachlose in München, die einen Tagesaufenthalt, Postadressen, Waschmöglichkeiten und Beratung anbietet, von der Stadt München angewiesen, die meisten obdachlosen Ausländer*innen abzuweisen. In der Praxis wurden Ausländer*innen (bzw. nicht-deutschsprachige Personen) abgewiesen, wenn sie keinen Arbeitsvertrag vorweisen konnten. Als ich einmal telefonisch anfragte, ob die Teestube ein Postfach für eine obdachlose Person bulgarischer Nationalität einrichten könnte, erklärte mir ein Mitarbeiter pauschal, dass dies nicht ginge, denn sonst hätten sie „keine Kapazitäten mehr für unsere Obdachlosen“, wobei die Betonung auf dem Possessivpronomen lag. Ein*e andere*r Mitarbeiter*in erklärte, dass die Anweisung der Stadt in der Einrichtung durchaus auf Unbehagen gestoßen sei. Sie wollten darauf hinwirken, dass alternative Angebote geschaffen werden. Schon 215 während der ersten Sondierungen und Runden Tische zum übergreifenden Thema ‚Zuwanderung aus Osteuropa‘, zu dem die Obdachlosigkeit ein Unterthema darstellte, hatte sich die Idee abgezeichnet, dass es mehr Beratungsangebote bräuchte. Auch der Leiter des Amts für Wohnen und Migration war, wie gesehen, überzeugt: „Beratung, da müssen wir mehr tun“. Schon im Mai 2010 beantragte dann die Stadtratsfraktion Die Grünen/rosa liste (2010) im Münchner Stadtrat, dass die Stadt eine „grundlegende Handlungsanleitung, wie mit der Zuwanderung aus den neuen EU-Mitgliedsstaaten von Seiten der Stadt München umzugehen ist“ (ebd.) erarbeiten sollte, inklusive einer „in Zusammenarbeit mit den Wohlfahrtsverbänden erarbeitete Konzeption, um bestehende niederschwellige Beratungsangebote auch für Zuwanderinnen und Zuwanderer aus den neuen EU-Beitrittsländern zu öffnen“ (ebd.) und einer „Darlegung, wie niederschwellige Beratungsangebote einen Einstieg in das bestehende Hilfesystem in München für Zuwanderer ermöglichen“ (ebd.). Weiter heißt es in dem Antrag, dass auch wenn die Landeshauptstadt derzeit davon ausgehe, für diese Zielgruppe nicht zuständig zu sein, sie „bei Kindswohlgefährdung oder andere[n] Faktoren (Gefahr für Leib und Leben, Wohnungslosigkeit) […] zur Intervention verpflichtet“ (ebd.) sei. Es sei „notwendig, hier einen kommunalen Umgang zu finden, der sich nicht auf Repression reduziert, sondern einen Zukunftsblick erhält, der sowohl die niederschwellige Beratung als auch die Hilfe im notwendigen Einzelfall beinhaltet“ (ebd.). Bei der Zielgruppe handle es sich nicht nur „um organisierte Bettler“ (ebd.), sondern „auch um die oftmals verfolgte und ausgegrenzte Armutsbevölkerung aus den neuen Beitrittsländern“ (ebd.). Wie Markus End zeigt, werden beide Kategorien - „organisierte Bettler“ und „verfolgte Armutsbevölkerung“ - oft synonym für „Roma“ verwendet (vgl. End, 2014).100 Im November 2010 antwortete der Stadtrat (auf Vorschlag der Stadtverwaltung) mit der Erweiterung von drei bereits bestehenden Projekten mit städtischen Mitteln (vgl. Stadtjugendamt, 2010). Zum einen wurde das Projekt Bildung 100 Hier möchte ich auf die Forschung von Huub van Baar hinweisen, die sich mit Antiziganismus und der Frage der Europäisierung des Regieren und der Repräsentation von Roma beschäftigt (vgl. Van Baar, 2012). Dass die Figur der Roma auch in den Münchner Regimen eine Rolle spielt, wird in diesen anfänglichen Aushandlungen am deutlichsten. Sie verliert dann aber meiner Analyse nach an Bedeutung. Ein Vergleich mit dem Regime in Berlin, in dem die Figur ‚Roma‘ eine viel größere Rolle zu spielen scheint (vgl. Hielscher, 2013), wäre sehr aufschlussreich. 216 statt Betteln der Caritas gefördert, das die folgenden Schwerpunkte habe: „einen niederschwelligen, aufsuchenden und sprachlichen Zugang, Verdeutlichung der (fehlenden) beruflichen Perspektiven, Hilfestellungen bei arbeitsrechtlichen Fragen, Unterstützung bei Fragen zur Krankenversicherung, Hilfestellung bei der Klärung von erworbenen Sozialleistungsansprüchen sowie Unterstützung und Motivation von Familien mit Kindern zum Schulbesuch.“ (ebd.) Die hier deutlich werdende Annahme, dass berufliche Perspektiven fehlten und dass Familien ihre Kinder von alleine nicht in die Schule schickten, folgt antiziganistischen Stereotypen. Darauf, dass solche rassistischen Überzeugungen im untersuchten Regime anschlussfähig waren, verweisen auch die Äußerungen des Mitarbeiter einer Wohlfahrtsorganisation, der in der Kommunalpolitik als einer der ersten und wichtigsten ‚Experten aus der Praxis‘ zu den EU-Migrant*innen galt und immer wieder zu diversen Runden Tischen, internen Treffen und öffentlichen Veranstaltungen als Experte geladen worden. Während eines Interviews im November 2010 gab er seine Vorurteile zu den Roma preis: „Die sind nicht bildungsgierig oder so. Das ist eine ganze Bevölkerungsgruppe.“ Die Stereotype des Mitarbeiters werden noch deutlicher, wenn er die bulgarischen „Bevölkerungsgruppen“ der „Bulgaren“, „Türken“ und „Roma“ vergleicht: „Die Türken bleiben in Bulgarien, die sind mit dem Land, mit dem Beruf verbunden. Die sind sehr gute Bauer auf Baustellen, die arbeiten immer während der kommunistischen Zeit. Die sind materiell sehr gut aufgestellt. Sie hatten was. Die wollten nie migrieren [...]. Genauso kommen auch die Bulgaren nach Deutschland. Wenn man sagt, dass die Türken unter prekären Situationen, Lebensbedingungen leben – das stimmt nicht. Die leben genauso gut wie die Bulgaren. Aber die Roma nicht, das ist was anderes. Weil sie nicht in die Schule gehen und nicht wollen.“ Als zweites Projekt bekam Jadwiga, eine „Fachberatungsstelle für Frauen, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Menschen-/Frauenhandel, Arbeitsausbeutung und Zwangsverheiratung zu bekämpfen“ 217 (Stadtjugendamt, 2010), 40.000 Euro zugesprochen. Schwerpunktmäßig unterstütze Jadwiga den Kampf gegen Menschenhandel und die Rückkehr betroffener Frauen: „Sie unterstützen in Bulgarien eine Beratungsstelle zur Prävention von Menschenhandel in Zusammenarbeit mit der Roma-Union. 2009 konnte in 26 Fällen Klientinnen bei der freiwilligen Rückkehr ins Heimatland geholfen und durch die guten Kontakte im Heimatland individuelle Unterstützung und Hilfe angeboten werden.“ (ebd.) Das dritte Projekt, das mit 100.000 Euro bezuschusst wurde, war S.I.N.T.I., ein Projekt, dessen Zielgruppe gar nicht die neuen Migrant*innen waren, sondern deutsche Sint*ezza, die meist in München aufgewachsen sind. Im Vorlauf dieses Entschlusses hatte es auch Gespräche mit leitenden Mitarbeiter*innen des Amts für Wohnen und Migration zu einer Erweiterung und Veränderung des Konzepts des Projektes bei der Caritas gegeben, in die die Initiative Zivilcourage stark involviert gewesen war, indem sie ihr Konzept des Workers’ Centers einbrachte. Das entworfene Projekt sollte von Bildung statt Betteln zu Willkommen in München umgetauft werden. Nach mehreren Gesprächen mit dem Amt für Wohnen und Migration wurde der Antrag, noch bevor er in den Stadtrat kam, abgelehnt, da die Zielsetzung nicht derjenigen der Stadt entspräche bzw. im Stadtrat nicht mehrheitsfähig wäre. Dies sollte der erste einer Reihe von Versuchen der Initiative Zivilcourage sein, ein Unterstützungs- und Beratungsprojekt mit dem Schwerpunkt Arbeit, inklusive selbstorganisiertem Café-Raum, zu gründen. Auch ein weiterer Versuch mit dem Referat für Arbeit und Wirtschaft (RAW) ein solches Projekt unter dem Namen Café zur Arbeit zum Leben zu gründen, wurde in letzter Sekunde von der Leitung des Referats abgelehnt. Erst im Jahr 2013 wurde schließlich das Infozentrum Migration und Arbeit mit der Arbeiterwohlfahrt (AWO) als Trägerin eingerichtet. Im Jahr 2013 entstand im Rahmen des städtischen Konzepts zum Kälteschutz auch die Einrichtung Schiller 25, die explizit die Beratung obdachloser Migrant*innen zum Auftrag hat und vom Evangelischen Hilfswerk getragen wird. Menschen „ohne Perspektive in München“ sollen dort über ihre Perspektive in München und im Heimatland beraten werden (vgl. Amt für Wohnen und Migration, 2012c). 218 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Einrichtung von Beratungsstellen von vielen Akteuren unterstützt wurde und auch durchgesetzt werden konnte. In Bezug auf die Forderung nach Beratungsprojekten überschnitten sich verschiedene Interessen - die Beratung von Migrant*innen passte sowohl zur städtischen Logik der Aktivierung als auch zum Interesse der Wohlfahrtsverbände nach ihrer Vergrößerung, zu promigrantischen Forderungen von „Willkommenskultur“ sowie zu der konservativen Vorstellung von Rückkehrhilfe und der Bekämpfung von Menschenhandel. Beratungsprojekte waren mit dem kommunalpolitischen Ausschluss z.B. aus der Obdachlosenhilfe durchaus vereinbar. Sie boten den promigrantischen Kräften aber eine Art Kompromiss an, der ihre Kritik an den kommunalen Grenzziehungen neutralisierte bzw. abschwächte. Umstritten war allerdings durchaus, welche Art von Beratungsangeboten geschaffen werden sollten. Hier setzten sich diejenigen Vorschläge durch, die soziale Unterschiede kulturalisierten bzw. rassistisch begründeten und/oder Rückkehr förderten. Mit dem Infozentrum Migration und Arbeit und seinen Vorläufern wurde zwar ein Ansatz, der sich pro-migrantisch und für soziale Rechte aussprach, von Anfang an vorangetrieben und fand auch Unterstützung in der Stadtpolitik. Er hatte es aber ungleich schwerer, tatsächlich auch eine Mehrheit zu finden und institutionalisiert zu werden. Ein Vorläuferprojekt mit dem Namen Willkommen in München war nicht genehmigt worden, auch mit der Begründung, dies passe nicht zur städtischen Politik und sei nicht durchzusetzen. Nach diesem kurzen Exkurs zu den kommunalpolitischen Aushandlungen rund um die Gründung von Beratungsstellen, wende ich mich im Folgenden wieder dem Management des Notunterkunftssystems zu. Thesenpapier gegen ‚Anreize zum Verbleib‘ Einen Einblick in die internen Aushandlungen der Obdachlosenhilfe im Amt für Wohnen und Migration gibt ein Thesenpapier einiger Mitarbeiter von 2011 (vgl. Sozialreferat, 2011). Sie vertreten die Meinung, dass die untergebrachten Personen noch mehr als zuvor zur Eigenverantwortung bzw. zum Auszug aus den Notunterkünften motiviert werden müssten. Die Sozialarbeiter*innen in den Unterbringungen sollten sich auf die Vermittlung in Wohnraum und die „Mobilisierung der Selbsthilfepotentiale“ (ebd.) durch „intensive aufsuchende Sozialarbeit“ (ebd.) 219 beschränken. Es dürfe keine „Integration in der Wohnungslosenhilfe“ (ebd.) stattfinden, denn sei erst mal ein „umfangreiches Hilfesystem installiert […], fällt ein Ortswechsel naturgemäß schwer“ (ebd.). Sei die Qualität der Unterbringung zu hoch, führe dies zu „Anreize[n] zum Verbleib“ (ebd.). „Besonders Haushalte aus den neuen EU-Beitrittsstaaten und Familien aus Bürgerkriegsländern finden in unserer Sofortunterbringung oft die besten Wohnverhältnisse ihres Lebens vor“ (ebd.). Um die Motivation wieder auszuziehen zu steigern, solle die Unterbringung auch grundsätzlich befristet werden: „Damit setzen wir die betroffenen Haushalte unter Zugzwang und diese nicht mehr uns!“ (ebd.) Des weiteren solle die „Bringschuld im Rahmen der Mitwirkungspflicht“ (ebd.) erhöht werden. Dazu zähle neben der „eigenen Bemühung zur Wohnungssuche“ (ebd.) auch die „Einforderung von Unterhaltsleistungen gegenüber Verwandten“ (ebd.). Bei einer Verweigerung von Mithilfe – etwa wenn Besichtigungstermine nicht wahrgenommen oder Wohnungs- und Beratungsangebote abgelehnt würden – solle die Unterbringung beendet werden. An dem Thesenpapier wird noch einmal deutlich, wie die aktivierende Sozialpolitik mit strafendem Druck, Überwachung und der Herabsetzung von sozialen Standards einhergeht. Weitere Dienstanweisungen Neben der erwähnten Dienstanweisung Meldefrist 6 Monate (Amt für Wohnen und Migration, 2010), die für alle Antragsstellenden galt, traten im Amt für Wohnen und Migration bald weitere Dienstanweisungen in Kraft: eine Anweisung zur Beendigung der Unterbringung – Befristung der Unterbringung (Objektbezogene Planung und Immobilien-Management, 2011) und im September 2011 die Dienstanweisung zur Unterbringung von EU-Bürgerinnen und EU-Bürgern (Objektbezogene Planung und Immobilien-Management, 2012). Erstere setzt ganz im Sinne des Thesenpapiers fest, dass Unterbringungen generell „auf die Dauer der Notlage“ befristet werden sollten. Bei „fehlender Mitwirkung“, etwa der Ablehnung eines Wohnungsangebotes, die ein „unwirtschaftliches Verhalten“ darstelle, sei die Unterbringung zu beenden. Die zweite Dienstanweisung webt ein Dickicht an Anforderungen: Antragstellende Unionsbürger*innen müssen nachweisen, über ausreichende Existenzmittel zu verfügen oder erwerbstätig bzw. unverschuldet arbeitslos zu sein, um in München untergebracht 220 zu werden. Damit lehnt sich die Münchner EU-Dienstanweisung an rechtlich höchst umstrittene Ausschlusskriterien der deutschen Sozialgesetzbücher und des Freizügigkeitsgesetzes/EU an, in denen die Arbeitnehmereigenschaft (Erwerbstätigkeit oder unverschuldete Arbeitslosigkeit) und nicht der tatsächliche Lebensmittelpunkt als Grundlage für den Zugang zu sozialen Rechten gesetzt wird. Zudem schließt sie Unionsbürger*innen von Obdachlosenhilfe aus, die zuvor weniger als sechs Monate in München gemeldet waren, die keinen schriftlichen Nachweis der Kündigung ihres ehemaligen Mietverhältnisses erbringen konnten oder zuvor in einem gewerblichen Wohnheim gewohnt haben. Mit diesen Kriterien grenzt die Stadt München den Begriff des „gewöhnlichen Aufenthalts“ sehr eng ein. Obdachlose Unionsbürger*innen müssten zudem nachweisen, über keinen Wohnraum im Heimatland zu verfügen - denn Personen, die andernorts über Wohnraum verfügten, seien eigentlich gar nicht obdachlos und stellten den Antrag auf Unterbringung somit rechtsmissbräuchlich. Weil sie ihre Notlage eigenständig beheben könnten, so die Argumentation, müsse die Landeshauptstadt sie nicht unterbringen, sondern höchstens ein Ticket ins Herkunftsland bezahlen. Zuletzt gibt die Dienstanweisung vor, dass obdachlose Personen nachweisen müssten, selbst nach einer Wohnung gesucht und somit ihr Selbsthilfepotenzial ausgeschöpft zu haben, etwa durch eine Liste an Wohnungsangeboten. Effektiv schloss die Fülle an Nachweisen, die für eine Notunterkunft zu erbringen waren, die meisten obdachlosen Unionsbürger*innen aus dem regulären Unterbringungssystem der Stadt München aus. Das Amt für Wohnen und Migration hatte ein engmaschiges Netz der differenzierten Exklusion geknüpft, das den Zutritt zwar nicht pauschal verwehrte, aber für die meisten prekarisierten Migrant*innen doch ihren Ausschluss bedeutete. Nur die wenigsten konnten einen Arbeitsvertrag, einen gekündigten Mietvertrag und mehr als sechs Monate Anmeldung vorweisen und waren dann noch finanziell und zeitlich in der Lage, nach Bulgarien zu fahren, um die erforderliche Bestätigung von der dortigen Gemeinde, dass in ihrem Gebiet kein Wohnraum zur Verfügung stehe, zu besorgen. Der Ausschluss Obdachloser aus dem Unterbringungssystem geht mit dem Ausschluss aus der Münchner Bürgerschaft einher, weil es ohne Bestätigung des/der Wohnungsgeber*in nicht möglich ist, sich anzumelden und auch der Zugang zu weiteren staatlichen bzw. städtischen Angeboten versperrt ist. Das Amt für Wohnen und Migration 221 wird faktisch zur internen Grenzbehörde, zur „liminalen Institution“ (Hielscher, 2013) und die Beantragung einer Obdachlosenunterkunft zu einer „Grenzsituation“ (Lebuhn, 2012). Die Grenzen, die in diesen Situationen zum Ausdruck kommen, sind sowohl von der EU als auch vom deutschen Nationalstaat sowie von der Stadt München gezogen. Ein im Spätherbst 2010 mit dem Wohnungsamt ausgetragener Konflikt gibt einen weiteren Eindruck der gelebten Realitäten dieser Grenzsituationen und zeigt, wie das Amt für Wohnen und Migration nicht müde wurde, mit Ausschlusskriterien zu experimentieren. Konflikt um Wohnraum III: Zugang unmöglich München, Oktober 2011. Wir (Julia Marinova, ihr Partner Stalin Hristov und ich) trafen uns vor dem Amt für Wohnen und Migration, um eine Notunterkunft und langfristig eine Sozialwohnung zu beantragen. Die Familie wohnte gemeinsam mit der Familie der Schwester in einer EinZimmer-Wohnung. Sie waren zu zehnt in der kleinen Wohnung. Die Tochter hatte Asthma, beide Kinder gingen zur Schule. Stalin arbeitete bei einem großen Abriss-Unternehmen in München. Er arbeitete sehr viel, meist mehr als 10 Stunden am Tag und verdiente etwa 2000 Euro im Monat, wobei er nicht alle Stunden auf seine Lohnabrechnung schreibe. Er hatte eine Arbeitserlaubnis und einen Arbeitsvertrag. Er sprach gerne von seiner Arbeit, erzählte mir mehrmals, wie sie einen MusikClub ausgeräumt und dabei eine ganze Musikanlage, Sofas, etc. einfach weggeworfen hätten. Julia Marinova hatte einen Job als Putzkraft, hatte diesen allerdings aufgegeben, um für die asthmakranke Tochter zu sorgen. Sie hatte nun nur noch einen 400-Euro-Job, aber auch diesen mit Vertrag. Sie putzte in einem Café, zwei Stunden jeden Tag. Die beiden waren einige Wochen zuvor in das Workers’ Center gekommen, um Hilfe bei der Wohnungssuche zu bekommen. Ich hatte inzwischen einige Erfahrung mit den Ansprüchen des Wohnungsamtes gewonnen. Mit Arbeitspapieren, Lohnnachweis, mehr als sechs Monaten angemeldetem Aufenthalt in München und dem ärztlichen Attest für die Tochter sah ich gute Chancen auf eine Unterbringung. Sie hatten nur noch keinen aktuellen Arbeitsvertrag für Julia Marinova und keine Anerkennung der gemeinsamen Elternschaft für die Kinder. Sie waren nicht verheiratet und in der Geburtsurkunde stand nur Julia Marinova. Es fehlte also noch ein Papier, das bestätigte, dass es sich um eine „richtige“ Familie 222 handelte - in anderen Fällen war eine amtlich beglaubigte „Anerkennung der Vaterschaft“ verlangt worden. Ich telefonierte also mit einigen Notar*innen, die nach genaueren Informationen vom Amt fragten, welche Informationen sie bestätigen sollten. Auch eine Bestätigung, dass sie nicht länger in dem Zimmer mit der anderen Familie wohnen könnten, schrieb ich der Familie, und die Schwester sollte es unterschreiben. Für den Arbeitsvertrag rief ich die Chefin an, und sie versicherte mir, sie würde ihn ihrer Angestellten geben. Mit allen Papieren, außer der Vaterschaftsversicherung, gingen wir dann schließlich zum Amt. Erst warteten wir etwa eine Stunde in der Infothek, Stalin holte einen Tee. Dann ging es weiter in den ersten Stock, wieder Warten. Schließlich redeten wir mit der zuständigen Sachbearbeiterin. Sie rechnete uns vor, wie viel eine Notunterkunft kosten würde: bis zu 600 Euro pro Person und Monat. Sie sagte auch, die Familie hätte sich das ja vorher überlegen können. Wenn sie ins Ausland ginge, würde sie sich mindestens ein Jahr zuvor vorbereiten: Wohnung suchen, Job suchen, so mache man das eben. Dann händigte sie uns ein Formular für das bulgarische Konsulat aus, mit dem dieses bestätigen sollte, dass die Familie im Heimatland wohnungslos wäre. Diese Anforderung war mir neu. Stalin sagte, das Konsulat machte so etwas nicht für sie. Die Sachbearbeiterin sagte, das müsste jetzt so sein, denn es hätte einen Fall gegeben, wo ein „Bulgare“, der hier in der Notunterkunft gelebt hätte, ein Haus an der Schwarzmeerküste besessen hätte. Solch einem Missbrauch müsste man vorbeugen. Mit einer Bestätigung des Jobcenters, dass sie Hartz-IV-berechtigt seien, und dem Formular des Konsulats, dass sie im Heimatland wohnungslos seien, sollten wir wiederkommen - möglichst früh, weil mittags oft schon alle Plätze vergeben seien. Wir verließen das Amt erschöpft. Am nächsten Morgen rief mich Stalin Marinov vom Konsulat aus an, dieses wollte das Formular nicht ausfüllen. Als wir es am nächsten Tag noch einmal gemeinsam versuchten, erklärte eine Mitarbeiterin des Konsulats, dass sie weder befugt noch gewillt wären, das Formular zu unterschreiben und somit die Obdachlosigkeit und Gefahr für Leib und Leben in Bulgarien zu bestätigen. Dieses Formular war aber die Bedingung für die Wohnungslosenhilfe. Solange diese Regelung galt, war der Zugang zu den Notunterkünften für obdachlose Bulgar*innen also versperrt. 223 Auch mit einer anderen obdachlosen Person einige Wochen später stießen wir auf dieses Problem. In einem Telefongespräch ließ eine Angestellte des Wohnungsamtes durchblicken, dass ein großes Chaos im Amt herrschte und sie die Anordnung auch schwierig fände. Diese spezifische Regelung sollte zwar bald wieder passé sein, sie zeigte aber, wie die Amtsleitung sich immer neue Möglichkeiten einfallen ließ, um das Unterbringungssystem gegen „Missbrauch“ zu schützen. Gesamtplan Wohnen statt Unterbringen 2012: Ausschluss als Schutz Im Jahr 2012 präsentierte das Sozialreferat einen neuen Gesamtplan Wohnen statt Unterbringen (Amt für Wohnen und Migration, 2012b) im Stadtrat, mit dem es Bezug auf den Paradigmenwechsel von 2001 nahm, auf die neue Krise reagierte und etwa 20 neue Stellen, u.a. für die Beschaffung von neuem Wohnraum und für soziale Arbeit zur Vermeidung von Wohnungslosigkeit, beantragte. Der neue Gesamtplan stellt die vermehrte „Zuwanderungs-Wohnungslosigkeit“ (ebd.: 45), die „Folge einer bisher im Ausmaß nicht gekannten europäischen Armutswanderung“ (ebd.: 59) sei, als die größte Herausforderungen in der aktuellen Krise der Wohnraumpolitik dar. Die Wohnungslosigkeit in München werde wachsen, wenn die Prognose von weiteren „unkalkulierbaren Wanderungsbewegungen innerhalb von Europa“ (ebd.: 55) zutreffe. Dank der „in den letzten Jahren entwickelten Instrumente und Angebote“ (ebd.: 51) sei es dem Sozialreferat aber bisher gelungen „die in München entstehende Wohnungslosigkeit weitgehend in den Griff zu bekommen“ (ebd.). Mit den hier erwähnten „Instrumenten“ waren die schon bekannten Dienstanweisungen gemeint: „Seit Inkrafttreten der 6-Monats-Regelung (Juli 2011) und der städtischen Regelung für EU-Bürgerinnen und Bürger (September 2011) wurden 701 Personen (Stand 30.6.2012) nicht untergebracht. Nur deshalb ist es dem Sozialreferat gelungen, das Münchner Sofortunterbringungssystem für Wohnungslose an der Grenze des sozialverträglich Machbaren zu managen.“ (ebd.: 52) 224 Das Amt für Wohnen und Migration stellt hier den Ausschluss von 701 Personen, die ihre Unterbringung in eine Notunterkunft beantragten, als Schutzmaßnahme dar. Geschützt werde die „Grenze des sozialverträglich Machbaren“ - was mit diesem Ausdruck gemeint ist, bleibt unklar, vermutlich geht es um die sozialen Standards in den Unterkünften. Es scheint jedenfalls paradox: Indem Obdachlose auf die Straße geschickt werden, wird Wohnungslosigkeit „in den Griff bekommen“. Erklärbar wird dieses paradoxe Verständnis aus der Perspektive der biopolitischen Logik des „Leben Machens und Sterben Lassens“ (vgl. Foucault, 1999). Es geht um die „sozialverträglichen“ Zustände innerhalb des Systems, nicht außerhalb. Die Grenzen der sozialverträglichen Machbarkeit werden zu den Grenzen des bios, des zu schützenden Lebens. Diese Grenze zwischen dem „Innen“ und „Außen“, zwischen denen, für die sich die Stadt als zuständig erklärt, und jenen, die sie nichts angehen, war und ist umkämpft und wird immer wieder neu gezogen. Mit der Dienstanweisung Unterbringung wohnungsloser Haushalte – Meldefrist sechs Monate (Amt für Wohnen und Migration, 2010b) und der Dienstanweisung zur Unterbringung von EU-Bürgerinnen und EU-Bürgern (Objektbezogene Planung und Immobilien-Management, 2012) wurde sie anhand von leistungsideologischen Rationalitäten (Arbeit) wie auch nationalstaatlichen Kriterien (Inländer*innen vs. Unionsbürger*innen) und der restriktiven Auslegung des städtischen Aufenthaltskriteriums („gewöhnlicher Aufenthalt“ erst nach sechs Monaten Anmeldung) gezogen. Neben ‚Ausschluss als Schutz‘ finden sich in dem Gesamtplan noch zwei weitere, schon bekannte Argumentationen wieder. Zuerst einmal gelte die Vermutung, dass migrantische Unionsbürger*innen über Wohnraum im ‚Heimatland‘ verfügten und deswegen nur vorgäben, obdachlos zu sein: „Aus der Erfahrung des Sozialreferats handelt es sich häufig um Personen in schwierigen Lebenslagen, die auf der Suche nach Arbeit sind, in ihrer Heimatgemeinde aber über Wohnraum verfügen.“ (ebd.: 51) Außerdem würde eine Unterbringung diesem Personenkreis eigentlich gar nicht helfen, denn er habe sowieso keinerlei Perspektiven in München: 225 „Die Zuwanderinnen und Zuwanderer stammen meist aus den neuen osteuropäischen EU-Beitrittsländern, gehören teilweise in ihren Heimatländern zu den diskriminierten Minderheiten, werden aufgrund der extremen Wohnungsmarktsituation dauerhaft keine Chancen auf dem Münchner Wohnungsmarkt haben. [ ] Auch auf dem Arbeitsmarkt sind aufgrund der in der Regel mangelnden beruflichen Qualifikation und der schlechten oder nicht vorhandenen Deutschkenntnisse der Zuwanderinnen und Zuwanderer nur geringe Perspektiven zu sehen. [...] Der Zugang zu Sozialleistungen ist diesen Haushalten häufig verwehrt. Damit würde sich vor allem bei Familien für die Kinder ein Leben ohne Perspektive abzeichnen.“ (ebd.: 51) Ein Dach über dem Kopf berge viel eher die Gefahr, dass die Selbsthilfemotivation verloren gehe: „Die Folgen wären langjährige Unterbringungen in beengten Notunterkünften, die häufig zu Hospitalisierung bzw. einem Verlust von Eigeninitiative sowie Selbsthilfemotivation führt“ (ebd.). Die Aktivierung der Selbsthilfemotivation war aber spätestens seit dem Paradigmenwechsel Wohnen statt Unterbringen oberstes Ziel der Münchner Obdachlosenpolitik. In diesen Zitaten wird der paternalistische Blick der Sozialpolitiker*innen und „Manager*innen“ des Wohnungslosensystems auf die obdachlosen Personen überdeutlich: Wer eine „Perspektive“ in München haben soll und was es überhaupt heißt, eine „Perspektive“ zu haben, wird entschieden, ohne die Perspektiven der Obdachlosen selbst mit einzubeziehen. Diese Definitionen, mit denen Ein- und Ausschlüsse einhergehen, richten sich vielmehr nach den Normen der Arbeitsgesellschaft (vgl. Hirsch, 2015) und des Nationalstaates. Die Stadt hat verschiedene Argumentationen gefunden, mit denen sie sich als nicht-zuständig erklärte und die zuvor noch angenommene Verpflichtung zur Unterbringung ablehnte: Sie schloss EU-Migrant*innen (und auch andere Personen) aus den Unterkünften aus, die keine sogenannte Erwerbstätigeneigenschaft und keinen gewöhnlichen Aufenthalt nachweisen, keine Anmeldung vorlegen und nicht beweisen konnten, dass sie über kein Haus im Herkunftsland (bzw. ‚an der Schwarzmeerküste‘) verfügten. Dies geschah zum Schutz der „sozialverträglichen Machbarkeit“, mit der nicht nur die sozialen Standards gemeint zu sein scheinen, sondern auch der Schutz der obdachlosen EU-Migrant*innen 226 selbst vor einem ‚perspektivlosen Leben‘ in der „Endlosschleife“, wie es der Leiter des Amtes für Wohnen und Migration formuliert hatte. Eine Frage der Kälte: Kälteschutz als humanitaristisches Ausweichmanöver Nachdem nun der Anspruch auf Notunterbringung von prekarisierten Unionsbürgerinnen, die in München obdachlos sind, weitgehend begrenzt und delegitimiert worden war, sah sich die Stadt München einem Problem gegenüber: Viele „Zuwander*innen“ kehrten nicht, wie prognostiziert, in ihre „Heimat“ zurück. Immer mehr Obdachlose lebten in München auf der Straße und waren gerade bei kalten Temperaturen in Lebensgefahr. Im Winter 2011 vereinbarten die Sozialreferentin und der Leiter des Amtes für Wohnen und Migration ein Treffen, um über einen gemeinsamen Sprachgebrauch im Ernstfall - also falls eine obdachlose Person sterbe - zu sprechen, der auch den anderen städtischen Akteuren für die Kommunikation mit der Öffentlichkeit bzw. der Presse an die Hand gegeben werden sollte. Bald darauf entwarfen die Verantwortlichen eine neue Strategie des Umgangs mit Obdachlosigkeit: ein „Erfrierungsschutzprogramm“. Im Februar 2012 erließ der Leiter des Amtes für Wohnen und Migration eine „Dienstanweisung zur Schlafplatzvergabe - Handlungsempfehlung Erfrierungsschutz“ (Amt für Wohnen und Migration, 2012a): „Bei Außentemperaturen von 0° und kälter, [wird] [a]uch Personen, die nach den o.g. Dienstanweisungen nicht untergebracht würden, [...] während der Kältezeit ein Schlafplatz zur Verfügung gestellt.“ (ebd.: 1) Wenn der deutsche Wetterdienst für München Temperaturen unter null Grad vorhersagte, wurden die Schlafplätze nächteweise (für bis zu drei Nächte) vergeben und standen von 16 bis 9 Uhr zur Verfügung. Die Vergabe übernahmen die Bahnhofsmission und die ZEW im Wohnungsamt. Über den folgenden Sommer wurde die Dienstanweisung überarbeitet und eine Immobilie gesucht, die als Kälteschutzeinrichtung funktionieren könnte. In der Bayernkaserne, einer ehemaligen Bundeswehrkaserne die auch für Geflüchtetenunterkünfte genutzt wurde, wurden schließlich 213 Plätze „zur Sicherung dieser auf der Straße lebenden Menschen“ 227 (Amt für Wohnen und Migration, 2012c: 1) geschaffen. In der Kältesaison 2012/2013 nahmen 1.764 Personen das Angebot wahr (vgl. Stelle für Interkulturelle Arbeit, 2014: 15). Etwa 30 % waren rumänischer Nationalität, 22% bulgarischer, 15 % deutscher und jeweils etwa 5 % ungarischer, italienischer und polnischer Nationalität (ebd.). Im Herbst 2013 übernahm die Diakonie das Projekt Kälteschutz als Trägerin. Sie leitete nun die Kälteschutzeinrichtung in der Bayernkaserne und zusätzlich eine ganzjährige Beratungs- und Streetwork-Einrichtung im Bahnhofsviertel: die Schiller 25 – Migrationsberatung Obdachloser, ein „Beratungsdienst für den Personenkreis […], der sich in München ohne Ansprüche auf Unterbringung und ohne Perspektiven auf Wohnungsund Arbeitsmarkt aufhält“ (Amt für Wohnen und Migration, 2012c: 1). In dem Antrag für das Projekt, dem der Stadtrat am 8. November 2012 zugestimmt hat, erklärt das Amt für Wohnen und Migration, es verfolge „grundsätzlich die Strategie: niemand muss in München auf der Straße leben. Dennoch gibt es vielfältige Gründe, warum Menschen genau dies tun. In den Kältemonaten sind aber auch diese bereit, einen Schutzraum aufzusuchen.“ (ebd.: 3)101 Sind wir im falschen Film? Nein, denn der Kälteschutz habe zwei Zielgruppen. Es gehe darum, „eine bisher so nicht mögliche Kontaktbasis zu den obdachlosen Menschen [zu] schaffen, die in zwei Richtungen wirken soll: zum einen die Anbindung ‚ortsansässiger‘, anspruchsberechtigter Personen ans örtliche Hilfenetz mit dem Ziel der dauerhaften Versorgung mit einer Wohnmöglichkeit, zum anderen die Beratung perspektivloser Zuwanderinnen und Zuwanderer.“ (ebd.: 3) Beide Zielgruppen definiert sie noch näher: „Die Armutszuwanderung v.a. aus den osteuropäischen Ländern hat dazu geführt, dass sich Menschen in München aufhalten, die perspektivisch kaum eine Chance haben, sich selbst auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt zu versorgen. Zudem verfügt der überwiegende Teil der 101 Der Antrag sieht Kosten von 366.859 Euro für das Projekt vor (vgl. Amt für Wohnen und Migration, 2012c). 228 Zuwandernden im Heimatland über Wohnmöglichkeiten. Aufgrund des subsidiären Charakters der Unterbringung in der Wohnungslosenhilfe werden Menschen, die in München keine Bleibe haben, nicht untergebracht. Viele von ihnen kehren daher zurück in die Heimat, ein Teil bleibt aber in München. Im Unterschied zu den sogenannten „ortsansässigen“ Obdachlosen, die aus verschiedenen Gründen eine Versorgung im Sofortunterbringungssystem der Stadt ablehnen und „Platte machen“, wäre es für die vorgenannte Gruppe in der Regel besser, wieder in ihr Heimatland zurückzukehren, statt den Winter unter härtesten Bedingungen hier auf der Straße zu verbringen.“ (ebd.: 4) Hier sticht neben dem Paternalismus, der zu wissen scheint, was für die obdachlosen Migrant*innen am besten ist, auch der methodologische Nationalismus ins Auge: Am besten sei es, in das „Heimatland“ zurückzukehren. Die neu eingerichtete Beratungsstelle für „Menschen ohne Perspektiven“ Schiller 25 war also primär als Rückkehrberatung gedacht bzw. übernahm sie „die Aufgabe der individuellen Information und Beratung, Perspektiven aufzuzeigen und als notwendig erkannte Hilfen hier in München und im Heimatland darzulegen bzw. zu gewähren, sei es die Verweisung an andere Dienste oder bei fehlender Perspektive die Ausgabe von Rückfahrscheinen ins Heimatland.“ (ebd.: 4) Das Projekt soll also „Menschen ohne Perspektive“ über ihre vorhandenen und nicht vorhandenen Perspektiven in München beraten und helfen, ihre Rückkehr ins „Heimatland“ zu organisieren. Dieser Widerspruch weist darauf hin, dass das Konzept der Einrichtung Schiller 25 implizit auf der Vorannahme aufbaut, dass wohnungslose Migrant*innen keine Perspektive in München haben. Das Kälteschutzprojekt legte den Schwerpunkt folgerichtig zum einen auf den Schutz vor dem Erfrieren, zum anderen auf die Rückkehrhilfe. Diese Strategie bot zwar bei Minusgraden ein Dach über dem Kopf, schrieb aber sozialen Ausschluss und Prekarisierung fort. Wie sich in dieser kurzen Genealogie der Obdachlosenpolitik gegenüber Unionsbürger*innen bis hierher gezeigt hat, legte die Stadt München ihre sicherheitsrechtliche Verpflichtung, obdachlose Personen unterzubringen, in Bezug auf Unionsbürger*innen immer restriktiver aus. Auf fast paradoxe Weise produzierte sie damit genau 229 die Unterschiede, welche sie ihrer Politik zu Grunde legte. Ihre Politik verwehrte den „Zuwander*innen“, die angeblich „keine Perspektive“ in München hatten, den Anspruch auf Wohnraum, trug so zur Verunsicherung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse der EU-Migrant*innen bei und war an der Produktion ihrer Armut und Obdachlosigkeit zentral beteiligt. Die Armut und „Perspektivlosigkeit“ wurde dann wiederum als Problemlage, die nur durch die Individuen eigenverantwortlich zu beheben wäre, gedeutet und wiederum als Grundlage dafür genommen, den Ausschluss zu legitimieren und auf humanitäre Notfallhilfe abzustellen. Es überraschte mich wenig, dass der Tätigkeitsbericht 2014 der Kälteschutzeinrichtung Schiller 25 (Schiller 25 - Migrationsberatung Wohnungsloser, 2015) mit dem folgenden Zitat, das groß auf der zweiten Seite des Berichtes prangt, eingeleitet wird: „Keine Macht der Welt wird je bewirken können, dass eine neue künstliche Klassenordnung die natürliche Verschiedenheit der sozialen Gruppen aufhebt“ (ebd.: 2). Das Zitat stammt von Heinrich von Treitschke, einem nationalistischen und antisemitischen Historiker und späteren Reichstagsabgeordneten, der Ende des 19. Jahrhunderts maßgeblich dazu beigetragen hat, den Antisemitismus salonfähig zu machen.102 Wie kam dieses Zitat in den Jahresbericht der Schiller 25? Ich gehe davon aus, dass den Verfasser*innen des Berichtes der Hintergrund dieses Zitats, welches auch in Zitatsammlungen im Internet zu finden ist, nicht bewusst war. Aber auch ohne das Wissen über den historischen Kontext verweist es, indem es von einer ‚natürlichen Verschiedenheit der sozialen Gruppen‘ ausgeht, auf den Rassismus, welcher durch die städtische (Bio-)Politik, die die Grenzen des „sozialverträglich Machbaren“ schützen möchte, artikuliert wird. Runder Tisch Armutszuwanderung: Verfestigungstendenzen vermeiden Als letztes Fragment in der Genealogie der Münchner Wohnungslosenpolitik gegenüber Unionsbürger*innen gehe ich auf den Bericht des Runden Tisches Armutszuwanderung (Stelle für interkulturelle Arbeit, 2014) ein, der auf zwei Anträge der Fraktion Die Grünen/rosa liste zurückging: Diese beantragten im Jahr 2012, dass das Integrationskonzept 102 Sein Satz „Die Juden sind unser Unglück“ wurde zum Schlagwort der Nazi-Zeischrift Stürmer. 230 für „ZuwanderInnen aus neuen EU-Beitrittsländern“ erweitert werden sollte (Stadtratsfraktion Die Grünen/rosa liste, 2012) und im Jahr 2013, dass ein Runder Tisch zum Thema ‚Armutszuwanderung‘ eingerichtet werden sollte (Stadtratsfraktion Bündnis 90/Die Grünen/rosa liste & Stadtratsfraktion SPD, 2013). In dem Bericht zum Runden Tisch - der interessanterweise von der Stelle für Interkulturelle Arbeit, die auch das Integrationskonzept geschrieben hatte, federführend verfasst wurde - geht es nicht nur um den policy-Strang der Obdachlosenhilfe, sondern generell um den Umgang mit „hilfebedürftigen Zuwander*innen aus den EU-Beitrittsländern“ bzw. um „Armutszuwanderung“. Er zeigt, wie die Problematisierung der „Armutszuwanderung“ in Zeiten des Integrationsparadigmas die Aufteilung in „gute“ und „schlechte“ Migrant*innen zugrunde liegt. Auf der einen Seite betont der Bericht ganz im Sinne des Münchner Integrationskonzepts: „München ist seit jeher eine Zuwandererstadt, sie will und braucht Zuwanderung. Zuwanderung aus dem Ausland prägt das Stadtbild mit, gestaltet die vielfältige, offene und tolerante Gesellschaft und trägt zur prosperierenden Wirtschaftslage bei. München profitiert von Europa und den binneneuropäischen Wanderungsbewegungen. Stadt und Umland benötigen Zuwanderung, um den z.T. akuten Fachkräftemangel [ ] zu bewältigen.“ (Stelle für interkulturelle Arbeit, 2014: 1) Eine solche, für das Wirtschaftswachstum benötigte Zuwanderung stelle die ‚Armutszuwanderung‘ aber eben nicht dar, wie klar wird, wenn wir weiterlesen: „Herausforderungen für die Stadtgesellschaft entstehen dort, wo es Zuwanderinnen und Zuwanderern nicht gelingt, zügig an wichtigen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens teilzuhaben: sozialversicherungspflichtige Beschäftigung mit unterhaltssicherndem Einkommen, Wohnraum, Bildung, Gesundheit, Sprache. Große Schwierigkeiten haben Menschen ohne berufliche Qualifikationen und/oder ohne Sprachkenntnisse. Die Zahl dieser Menschen ist in den letzten Jahren spürbar gestiegen.“ (ebd.: 2)103 103 Dabei geht es in dem Bericht bezeichnenderweise nur um Bulgar*inenn und Rumän*innen: „Am offensichtlichsten sind diese Probleme bei Migrantin- 231 Die Gruppe der ‚Zuwanderer*innen‘, die für die ‚Willkommenskultur‘ des Integrationskonzepts eine Herausforderung darstelle, wurde zum eigenen Politikfeld abgespalten. Als zentrale Handlungsbereiche dieses Politikbereichs wurde neben „Öffentlicher Raum: Wildes Campieren“, „Betteln und organisierte Bettelbanden“ sowie „Prostitution“ auch „Wohnen“ ausgemacht (ebd.). Migrant*innen litten „unter dem akuten Mangel an Wohnraum im unteren Preissegment“ (ebd.: 15). Wohnraum sei aber „die unerlässliche Voraussetzung, um sich in eine Stadtgesellschaft zu integrieren, eine Arbeit zu finden, die Sprache zu lernen oder eine Schule zu besuchen“ (ebd.) bzw. „eine wichtige Voraussetzung für eine Zuwanderung mit dauerhafter Perspektive“ (ebd.: 14). Um eine „nicht gerechtfertigte Inanspruchnahme der bereits völlig überlasteten Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe zu verhindern“ (ebd.: 15), würden jedoch nur Personen untergebracht, die nachweisen könnten, dass sie über keinen Wohnraum im Heimatland, dafür aber über eine Anmeldung in München verfügten und versucht hätten, sich selbst zu helfen: „In das Notsystem für Wohnungslose wird nur aufgenommen, wer unfreiwillig in München wohnungslos geworden ist. Die Unterbringung von Zuwanderinnen und Zuwanderern ist nicht Aufgabe der Wohnungshilfe und übersteigt sowohl die Verpflichtung als auch die realen Möglichkeiten der Landeshauptstadt München. Sie könnte außerdem einen Anreiz darstellen, auf einfachem Niveau kostengünstig oder kostenfrei untergebracht zu werden.“ (ebd.) Die Autor*innen sehen aber Handlungsbedarf bei dem Aufbau des Kälteschutzes und der Verknüpfung mit Beratungsangeboten. Besonders zu schützen seien Frauen und Kinder. nen und Migranten aus Bulgarien und Rumänien. Deswegen befasst sich diese Vorlage mit Personen aus diesen Staaten. Die Ergebnisse und Vorschläge sind jedoch auch auf Zuwanderinnen und Zuwanderer anderer Staaten übertragbar, soweit sie sich in ähnlichen Situationen befinden“ (Stelle für interkulturelle Arbeit, 2014: 3). Im Umkehrschluss würde dies bedeuten, dass alle Angehörigen dieser Staaten generell zu der abgewerteten Gruppe gehören. 232 In einer Städtischen Leitlinie zum Umgang mit Armutszuwander*innen schreibt der Bericht die umkämpfte Politikassemblage bis auf Weiteres fest: „Grundsätzlich ist jeder Mensch willkommen, der nach München ziehen und sich hier einbringen möchte. Die Menschen haben Zugang zu den allgemeinen und speziellen Beratungsleistungen der Stadt und anderer Träger. Dabei wird auf die Eigenverantwortung der Menschen abgestellt. Über Perspektiven bzw. nicht vorhandene Perspektiven in München wird offen und klar informiert. Gesetzliche Leistungen erhalten alle, bei denen die Anspruchsvoraussetzungen vorliegen. Freiwillige Leistungen werden im Rahmen humanitärer Nothilfe gewährt. Im Bereich der Eingriffsverwaltung wird gegen ordnungs- oder rechtswidriges Verhalten konsequent vorgegangen. Insgesamt geht es auch darum, dass unnötige Anreizeffekte vermieden werden müssen. Alle städtischen Maßnahmen werden vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit getragen. Auch bei einem konsequenten Vorgehen wird also jeder Einzelfall mit Augenmaß behandelt.“ (ebd.: 40) Neben der „Willkommenskultur“, der Konzentration auf Beratungsangebote, der humanitären Nothilfe, der Einzelfallprüfung und dem ordnungspolitischen Durchgreifen wurde Abschreckung als weiteres Ziel in die städtische Politik gegenüber EU-interner Migration eingeschrieben. Dies war aber durchaus umkämpft, nicht alle städtischen Akteure waren einverstanden. So stellt die hier zitierte Fassung der Städtischen Leitlinie schon einen Kompromiss dar, der in einer heftigen Diskussion im Stadtrat geschlossen worden war. Wo hier steht, „dass unnötige Anreizeffekte vermieden werden müssen“ (ebd.), galt es in der mir vorliegenden vorherigen Version, „keine Anreize zur Nachahmung zu geben und Verfestigungstendenzen zu vermeiden“. Die Debatte fand mitten im Kommunalwahlkampf statt. Die Süddeutsche Zeitung betitelte ihren Artikel vom 15. Februar 2014 zum Konflikt um die Leitlinie, bei dem die Sozialreferentin (SPD) nicht gut weggekommen sei, weil sie eine harte Abschreckungspolitik vertreten habe, mit: Eine Frage der Kälte. Ihre „harte Haltung“ habe die Sozialreferentin im „Intranet für die Mitarbeiter des Sozialreferats verteidigt: ‚Im letzten Jahr wurden wir zweimal mit vollbesetzten Reisebussen konfrontiert, 233 deren Reiseleiter explizit nach unseren Kälteschutzplätzen nachgefragt haben‘. Das Sozialreferat wolle ‚Menschen in Not ein humanitäres Angebot machen, das vor Gesundheitsschäden schützt, aber wir wollen kein kostenfreies Wohnheim betreiben‘. In ihrer harten Haltung kann sie sich durch die Demonstration von Wohnungslosen aus Bulgarien und der Initiative Zivilcourage bestätigt sehen, die gefordert haben, den Zugang zu der Notunterkunft des Kälteschutzprogrammes unabhängig von Außentemperaturen Tag und Nacht freizugeben.“ (Loerzer, 2014) Konflikt um Wohnraum IV: Kundgebung gegen Null-Grad-Regelung Ein lauter Sprechchor durchzog die dunklen, winterlich kalten Straßenzüge des Bahnhofsviertels. „Wir wollen Wohnen!“ Auf den Schildern der Kundgebung stand: „Wir wollen Anmeldung: Ohne Anmeldung, keine Arbeit!“ - „Wir fordern Decken!“ - „We demand shelter above and below 0°!“ Außerdem gab es auch bulgarisch- und türkischsprachige Schilder. Im Februar 2014 protestierten etwa 200 Personen vor der Schiller 25, um Wohnraum für alle und auf dem Weg dorthin die Öffnung der Kälteschutzeinrichtung auch bei Plustemperaturen zu fordern. Zu dieser Demonstration hatten EU-migrantische Arbeiter*innen gemeinsam mit der Initiative Zivilcourage aufgerufen. Mindestens 100 Polizeibeamt*innen riegelten das Gebäude ab. Journalist*innen der SZ, des BR und des Merkur waren vor Ort, sicherlich auch, weil vor einer Hausbesetzung gewarnt worden war. „Da Hinweise vorliegen, dass im Zusammenhang mit der Kundgebung auch rechtswidrige Übergriffe auf die Beratungsstelle Schiller 25 geplant sind“ (Sozialreferat & Evangelisches Hilfswerk, 2014), so die gemeinsame Pressemitteilung des Sozialreferats und des Evangelischen Hilfswerks, sei diese aus Sicherheitsgründen geschlossen worden. Die Pressemitteilung kritisiert die Kundgebung gegen die NullGrad-Regelung: „Aktionen dieser Art konterkarieren unsere bislang erfolgreichen Hilfebemühungen und helfen den betroffenen Menschen nicht weiter.“ Zudem spricht sie sich vehement gegen die Forderungen nach einem Schlafplatz auch bei Temperaturen über null Grad aus: 234 „Diese Forderung konterkariert [...] die Zielsetzung der Münchner Wohnungslosenhilfe, deren Ziel ‚Wohnen statt Unterbringung‘ ist. Die Verfestigung perspektivloser Lebensverhältnisse, Ausbeutung und Schwarzarbeit kann und will das Sozialreferat nicht fördern.“ (ebd.) Des weiteren rechtfertigt die Pressemitteilung den Ausschluss der EUMigrant*innen aus den regulären Unterkünften mit dem Schutz der lokalen Bevölkerung vor „Verdrängungseffekten“: „Das Sozialreferat hat die Regelsysteme der Wohnungslosenhilfe und das humanitäre Kälteschutzprogramm strikt getrennt und damit erreicht, dass es zu keinen Verdrängungseffekten wie in vielen anderen Städten gekommen ist. Damit wurde verhindert, dass anspruchsberechtigte wohnungslos gewordene Münchnerinnen und Münchner, z.B. nach einer Wohnungsräumung abgewiesen werden mussten.“ (ebd.) Nicht nur ‚echte Münchner*innen‘ würden letztendlich geschützt, sondern auch die Betroffenen selbst, diesmal vor Ausbeutung, denn: „[d]ie Forderung nach einer durchgehenden Öffnung der Kälteschutzräume würde dazu führen, dass die Stadt mittelbar Ausbeutung und illegale Beschäftigungsverhältnisse, deren Ertrag offenkundig nicht einmal zur Finanzierung eines Wohnplatzes ausreicht, subventionieren würde.“ (ebd.) In diesem Konflikt zeigte sich noch einmal deutlich die in den vorangegangenen Jahren entwickelte Exklusionslogik der Kommunalpolitik und ihres erweiterten Netzwerkes. Es werden zwei sich verschränkende Grenzen gezogen: zum einen zwischen Münchner*innen und NichtMünchner*innen, die tendenziell nationalstaatlichen Kategorien folgt; zum anderen wird zwischen Menschen „mit Perspektive“ und denjenigen „ohne Perspektive“ unterschieden. Mit einem Verweis auf knappe Ressourcen wird der Ausschluss der Nicht-Münchner*innen dann mit dem Wohl der Münchner Obdachlosen gerechtfertigt. Neben dieser biopolitischen Rationalität des „Ausschluss als Schutz“ zeichnete sich eine paternalistische Aktivierungslogik ab: Der Ausschluss komme den Ausgeschlossenen selbst zu Gute, deren „perspektivlose[n] Lebensverhältnisse“ (ebd.) durch den „Hängemattenstaat“ (vgl. Schröder & Blair, 1999) 235 nur verfestigt würden. In einer freiwilligen, humanitären Geste biete die „Weltstadt mit Herz“104 den „perspektivlosen Armutszuwander*innen“ aber ein „europaweit einmalige[s] Beratungsangebot“ (Sozialreferat & Evangelisches Hilfswerk, 2014) und bewahre sie mit den Kälteschutzräumen vor dem Erfrieren. Diese Politik, so meine These, folgt nicht nur der rassistischen Vorstellung einer „natürliche[n] Verschiedenheit der sozialen Gruppen“ (Schiller 25 - Migrationsberatung Wohnungsloser, 2015: 2), sondern hält diese durch die Exklusion der Betroffenen aus der Münchner Bürgerschaft auch aufrecht. Der rassistischen Logik der Kommunalpolitik entsprechend erscheinen die Nutzer*innen des Kälteschutzprogramms nicht nur als „perspektivlos“, vielmehr wird ihnen auch jede Stimme und Handlungsmacht zur Veränderung ihrer sozialen Verhältnisse abgesprochen. Vor diesem Hintergrund erstaunt es wenig, dass die selbstorganisierte Demonstration, mit der die EU-Migrant*innen an die Öffentlichkeit traten und so auf gesellschaftlichen Antagonismen (statt natürlichen Ordnungen) aufmerksam machten, beim Sozialreferat und dem Evangelischen Hilfswerk auf Empörung trafen. Auch die SZ brachte den Protest noch in direkten Zusammenhang mit den migrationspolitischen Aushandlungen im Stadtrat (vgl. Loerzer, 2014). Inwiefern die Kundgebung und die durch sie erreichte öffentliche Aufmerksamkeit dazu beitrugen, dass ab dem Winter 2013/2014 die Kälteschutzeinrichtung von Oktober bis Ende März zwar immer noch tagsüber schloss, aber jeden Tag (unabhängig von der Wettervorhersage) ihre Türen öffnete, kann nicht nachvollzogen werden. 104 ‚Weltstadt mit Herz‘ war bis 2005 der Slogan einer Marketingkampagne der Stadt München. 236 Multiple Grenzziehungen In der Analyse der Aushandlungen der Obdachlosenpolitik gegenüber Unionsbürger*innen zwischen den Jahren 2006 und 2014 in München hat sich gezeigt, wie in „generations of turf wars“ (Sciortino 2004) ein umkämpftes Patchwork an Versuchen des Regierens entstand, das verschiedene Ansätze, Akteure und Institutionen miteinander verband und dabei zwar keiner einzelnen Logik folgte, aber die doppelte Grenzziehung, die im letzten Unterkapitel skizziert wurde, schließlich doch zum hegemonialen, wenn auch immer wieder angegriffenen, Konsens machte. Die Art und Weise, wie die Kommune hier ihre eigenen Grenzen zog, widerspricht dabei zwar nicht der These, dass in Kämpfen um urban citizenship das Potenzial liegt, nationalstaatliche Ausgrenzungen zu überkommen, indem residency statt Nationalität zur Grundlage für Bürgerschaftsrechte wird. Sie zeigen aber, dass auch Städte ihre Bürgerschaft exklusiv gestalten können. Während das Sozialreferat sich im Jahr 2006 – bevor ‚Armutszuwanderung‘ zum ‚Problem‘ wurde – noch verpflichtet sah, auch EU-migrantische Obdachlose unterzubringen, und dazu sogar einen Sondertopf von 100.000 Euro bereitstellte, hatte es sich dieser Verpflichtung bis 2014 mit der kreativen Erfindung einer Vielzahl an Ausschlusskriterien und Verantwortungsverschiebungen fast gänzlich entledigt. Eckpunkte der Aushandlungen stellten die sicherheitsrechtliche Verpflichtung zur Unterbringung unfreiwillig Obdachloser und die sozialpolitischen Paradigmen des Integrationskonzepts sowie des Konzeptes Wohnen statt Unterbringen dar. Hinzu kam die Rede von der Knappheit der Ressourcen, die einen weiteren Ausbau der Unterbringungsmöglichkeiten unmöglich machte. Diese wird allein schon durch den Fakt, dass zwischen dem Jahr 2002 und dem Jahr 2010 knapp 3.000 Plätze im Notunterkunftssystem abgebaut worden waren, widerlegt (vgl. Amt für Wohnen und Migration, 2010: 13). Es handelte sich bei der Gestaltung der Obdachlosenpolitik gegenüber Unionsbürger*innen also um politische Entscheidungen, die in politischen Auseinandersetzungen getroffen wurden. Die kommunalpolitischen Auseinandersetzungen nahmen in diversen Runden Tischen, in denen Netzwerke geknüpft und Informationen sowie 237 Analysen zusammengetragen wurden, ihren Anfang und wurden durch verschiedene Anträge und Diskussionen im Stadtrat und in anderen Zusammensetzungen weitergeführt. Die dargestellte kommunalpolitische Leitlinie kann auf wenige Stichworte heruntergebrochen werden: Bekräftigung des nationalstaatlichen Ausschlusses von arbeitssuchenden Unionsbürger*innen von sozialen Leistungen, aktivierende Sozialarbeit für Münchner Bürger*innen ‚mit Perspektive‘, Rückkehrberatung und humanitärer Schutz vor dem Erfrieren für ‚perspektivlose Zuwander*innen‘. Es handelte sich um keinen pauschalen Ausschluss, denn prinzipiell konnten auch EU-migrantische Arbeiter*innen als Münchner Bürger*innen anerkannt werden. Die bürokratischen Hürden waren allerdings extrem hoch und wurden von den Praktiken des gate-keeping der street-level bureaucrats im Amt für Wohnen und Migration noch verstärkt – zumindest war dies meine Erfahrung, wenn ich mit obdachlosen EUMigrant*innen versuchte, ihr Recht auf Unterbringung durchzusetzen. Die EU-Migrant*innen wurden aus den kommunalpolitischen Auseinandersetzungen ausgegrenzt – sie wurden weder zu den Runden Tischen (mit Ausnahme des Runden Tisches bei ver.di) noch zu anderen Gesprächen eingeladen bzw. teilweise explizit ausgeladen (wenn die Initiative Zivilcourage forderte, auch Arbeiter*innen einzuladen). Aus der Perspektive der Autonomie der Migration ist aber festzustellen, dass ihre hartnäckigen transnationalen Migrationsprojekte sich (anders als das Sozialreferat anfangs prognostiziert hatte) nicht abschrecken ließen und die Versuche, sie zu regieren, so vor sich her trieben. An den aufgeregten Reaktionen auf die zwei in diesem Kapitel beschriebenen kollektiven Ausdrücke von representational politics (der ‚Sturm auf’s Amt‘ und die Kundgebung gegen die Null-Grad-Regelung) wurde deutlich, dass die kommunalpolitischen Akteure durchaus Respekt vor den Bewegungen der Migration hatten. Die Betonung der Autonomie der Migration soll aber nicht davon ablenken, dass die doppelte Grenzziehung der Kommunalpolitik die differenzierte Inklusion der EU-Migrant*innen unter extrem verunsicherten Verhältnissen (re-)produzierte und so eine Zone in der Stadtgesellschaft schuf, die mit einer weitgehenden sozialen und politischen Entrechtung und überausbeuterischen Arbeitsverhältnissen verbunden war. Viele der Personen, die ich im Workers’ Center kennengelernt habe, leben und 238 arbeiten schon seit Jahren in München und geraten immer wieder in die Situation der Obdachlosigkeit. Nachtrag Im März 2016, zwei Monate vor Abgabe meiner Dissertation, die diesem Buch zugrunde liegt, haben EU-migrantische Arbeiter*innen und die Initiative Zivilcourage mit dem Kampagnen-Bündnis „Wir wollen wohnen – Wohnraum für alle“ gefordert, dass die Stadt München unfreiwillig wohnungslosen Menschen ganzjährig und ganztägig eine menschenwürdige Unterkunft zur Verfügung stellt und Möglichkeiten schafft, sich trotz Obdachlosigkeit melderechtlich in München zu registrieren (Initiative Zivilcourage, 2017a). Die Kampagne bestand aus drei Säulen: Demonstrationen gegen die städtische Politik inklusive Öffentlichkeitsarbeit (vgl. etwa Rahmsdorf, 2016), Unterstützung von Klagen vor dem Verwaltungsgericht und Zusammenarbeit mit Kommunalpolitiker*innen. In der Folge ergaben sich weitere Entwicklungen. Die Grünen haben im Stadtrat einen Antrag gestellt, dass die Stadt das Kälteschutzprogramm auch außerhalb der Kälteschutzperiode zur Verfügung stellen soll. Das Bayerische Verwaltungsgericht München lehnte den Eilantrag einer obdachlosen Person auf Unterbringung zwar ab, stellte gleichzeitig aber klar, dass die Zuständigkeit zur Unterbringung bei der Kommune des aktuellen Aufenthaltes liegt und unabhängig vom vorherigen Wohnort ist.105 Die meisten der Nachweise, die das Wohnungsamt zur Unterbringung verlangte – zum Beispiel den Arbeitsvertrag, Gehaltsabrechnungen und die Anspruchsklärung beim Jobcenter – tun also auch nach Auffassung des Verwaltungsgerichts nichts zur Sache, wenn obdachlose Personen eine Notunterbringung beantragen. Im Jahr 2017 schloss der Kälteschutz erst Ende April, also einen Monat später als noch ein Jahr zuvor. Im Sommer 2017 klagte Hristo Vankov, mit dem ich das erste Mal im Wohnungsamt eine Notunterbringung beantragt hatte, erfolgreich gegen seine Ausgrenzung aus den städtischen Notquartieren (vgl. Initiative Zivilcourage 2017b). Das Bayerische Verwaltungsgericht München verpflichtete die Stadt München mit Beschluss vom 09.08.17 dazu, ihm 105 Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 18.04.2016, M 22 E 16.1517. 239 eine Notunterkunft zuzuweisen.106 Die Dienstanweisungen des Amtes für Wohnen und Migration waren also auch aus der Perspektive des Gerichts in vielen Punkten rechtswidrig. Im Sinne des Gerichts durfte das Wohnungsamt weder die Klärung des Sozialhilfeanspruchs noch den amtlichen Nachweis aus dem Herkunftsort, dass auch andernorts kein Wohnraum zur Verfügung steht, als Bedingung für die sofortige Unterbringung von Hristo Vankov stellen. Dieser Sieg traf auf relativ großes Medienecho: „Mutiger Mann – Obdachloser erkämpft vor Gericht eigene Unterkunft“ titelte die österreichische Zeitung Heute (Redaktion heute.at, 2017) und auch die SZ (Anlauf, 2017) und weitere Medien berichteten. Doch für Hristo Vankov kam dieser Erfolg sehr spät – er starb schon knappe zwei Monate später am 05.10.2017 im Krankenhaus der Stadt Pazarjik an den Folgen seiner Diabeteserkrankung. Mitte September war er kurzfristig nach Bulgarien gereist, um dort Dokumente zu besorgen, die hier von ihm für die Verlängerung der Unterbringung verlangt wurden. Er wurde 57 Jahre alt. Fast 13 Jahre hatte er sich mit prekären Jobs im Bau- und Reinigungsgewerbe in München durchgeschlagen. Fast durchgängig lebte er auf der Straße, nur hin und wieder fand er eine vorübergehende Bleibe. Durchzuhalten war dies offenbar nur, weil er nicht alleine war, sondern sich durch dieses harte Leben gemeinsam mit Freund*innen kämpfte, die sich ebenfalls am Rande der Stadtgesellschaft durchschlagen mussten. Doch die Entbehrungen des obdachlosen Lebens beeinträchtigten seine Gesundheit. Schon länger bereitete ihm seine Diabetes Beschwerden, regelmäßig musste er deswegen ins Krankenhaus eingeliefert werden. Ohne Krankenversicherung erhielt er aber keine reguläre, kontinuierliche Behandlung und das entbehrungsreiche Leben auf der Straße tat das seinige. Hristo Vankov bekam zwar Insulin von der Kirche und im Winter konnte er in der städtischen Kälteschutzeinrichtung schlafen – mit dieser humanitären Nothilfe schaffte er es über einige Jahre von Tag zu Tag über die Runden zu kommen. Es reichte aber nicht, um den Teufelskreis – keine Wohnung also keine Arbeit also keine soziale Absicherung also keine Wohnung – zu durchbrechen. Mit der Initiative Zivilcourage schrieben wir einen Nachruf, von dem ich hier einen kleinen Ausschnitt wiedergeben möchte: 106 Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 09.08.2017, M 22 E 17.3587. 240 „Der Tod Hristos, der trotz seiner eigenen Not anderen gegenüber immer solidarisch war und bei Protesten für das Recht auf Wohnraum und soziale Absicherung regelmäßig vorne mit dabei war, macht uns unsagbar traurig, fassungslos und auch zornig. [...] Wir werden ihn nicht vergessen und weiter vehement für Wohnraum und ein gutes Leben für Alle eintreten. Wir werden laut werden für und mit den Menschen, die diese Gesellschaft im Schatten ihres Reichtums einfach sterben lässt.“ (Initiative Zivilcourage, 2017c) 241 Soziale Union oder nationale Souveränität des Sozialstaats? Aushandlungen am EuGH Neues Terrain Dieses Kapitel eröffnet ein neues Terrain. Die Aushandlungen um die Gestaltung des sozialen Gehalts der Europäischen Union wurden in den letzten Jahren schwerpunktmäßig als juridische Prozesse am Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg ausgefochten. Besonders umstritten war die Frage, inwiefern Nichterwerbstätige, die von ihrer Freizügigkeit Gebrauch machen, berechtigt sind, soziale Leistungen zu erhalten. Diese Aushandlungen möchte ich hier umreißen. Für diesen Sprung weg von den lokalen Auseinandersetzungen in München hin zu dem erst einmal trocken erscheinenden Rechtsprechungsdiskurs habe ich mich aus verschiedenen Gründen entschieden. Erstens, weil die Rechtsprechung des EuGHs die sozialen Rechte von nicht oder nicht-dokumentiert lohnarbeitenden Migrant*innen aus Bulgarien in München stark beeinflusst haben, indem der Gerichtshof die EU-europäischen Richtlinien mit geprägt hat. Zweitens, und in Bezug auf die Frage nach dem Regieren, zeigt sich in diesem Diskurs, wie die Deutung der Migration Nichterwerbstätiger und damit verbunden die juridischen Versuche des Regierens auf EU-Ebene umkämpft wurden und sich transformiert haben – wie es gleichsam, und für viele unerwartet, zu einem Siegeszug der Figur ‚Sozialleistungstourismus’ gekommen ist. Drittens ist es für die Frage nach dem Regieren interessant, inwiefern die Geschehnisse der verschiedenen Ebenen hier ineinander greifen, inwiefern die eigentlich geltende Rechtsprechung die Gesetzgebung auf Bundesebene und die lokalen Auseinandersetzungen beeinflusst und vice versa. So ist die deutsche Gesetzgebung zwar über das EU-Recht und die Rechtsprechung des EuGHs beeinflusst, hat diese aber auch über einige Jahre in Bezug auf die Ausschlussklausel im SGB II ignoriert. Denn die Frage nach dem Ausschluss von nichterwerbstätigen Unionsbürger*innen von sozialen Leistungen betrifft auch die deutsche Ausschlussklausel, mit der die Bundesregierung Unionsbürger*innen, deren Aufenthaltsrecht sich alleine aus der Arbeitssuche ergibt, aus dem Hartz IV ausgrenzt und die, 242 wie im vorherigen Kapitel schon deutlich geworden ist, das Regime der EU-internen Migration in München stark mitprägte. Viertens, auf politökonomischer Ebene, zeigt sich in den Aushandlungen am EuGH eine weitere komplexe, spezifische Artikulation des Antagonismus zwischen migrantischer Arbeit und ihrer Prekarisierung, zwischen Ausbeutung und Kontrolle – beziehungsweise der Konflikt zwischen verschiedenen Versuchen ihrer Bearbeitung: die Ebene des nationalen Sozialstaats und der europäischen Union sowie die jeweils institutionellen Eigenlogiken dieser Staatsprojekte. Die Frage, welche neuen Formationen aus diesem Konflikt entstehen, kann als eine zentrale Frage der aktuellen historischen Konjunktur gelten. Schließlich liest sich diese Auseinandersetzung wie ein höchst spannender Krimi, der durch die spezifische juridische Form zwar der Öffentlichkeit und dem allgemeinen Verständnis entzogen wird, dessen Spannung und Relevanz ich hier aber auch für nicht-juridische Intellektuelle (und am besten auch Nicht-Intellektuelle) nachvollziehbar machen möchte. Meinen Zugang zu diesem Krimi habe ich insbesondere der Habilitationsarbeit der materialistischen Staatstheoretikerin Sonja Buckel (2013) zu verdanken, auf die ich mich in weiten Teilen dieses Kapitels auch beziehen werde. Sie hat die juridischen Auseinandersetzungen, bei denen der Zugang von nichterwerbstätigen Unionsbürger*innen verhandelt wurde, anhand von vierzehn Rechtssachen am EuGH zwischen den Jahren 1998 und 2009 diskursanalytisch und staatstheoretisch untersucht. Nach Buckel lassen sich „die sozialen Rechte der Unionsbürger*innen […] in ihrer historischen Kontingenz und Ereignishaftigkeit aufzeigen“ (Buckel, 2013: 98). Gerade der Ereignishaftigkeit und Kontingenz nachzuspüren ist auch das Ziel der ethnografischen Regimeanalyse, die ich hier also um eine Diskursanalyse der Aushandlungen am EuGH erweitere. So möchte ich die Kontinuitäten und Transformationen der Konfliktlinien, Argumente und Strategien zur Frage des sozialen Europas, wie sie am EuGH zum Tragen kamen, herausarbeiten. Die Verhandlungen am EuGH sind Teil der Auseinandersetzungen um den sozialen Gehalt der Europäischen Union und damit gleichzeitig auch um die Europäisierung der staatlichen Souveränität in einem ihrer Kernbereiche. Nicht erst seit den Verhandlungen im Vorfeld des britischen Volksentscheids zum sogenannten Brexit, in denen der britische Premier David Cameron öffentlichkeitswirksam forderte, Unionsbürger*innen während der ersten vier Jahre ihres Aufenthalts 243 von sozialen Leistungen auszuschließen, ist das Thema auf der Tagesordnung. Schon seit der Gründung der damaligen EG wurden Forderungen nach einer „Union der Bürger“107 und einer „sozialen Union“ laut, die auf den Widerstand von Seiten der konservativen Kräfte, die die nationale Souveränität bedroht sahen (vgl. Greiser, 2014), und nationalsozialer Kräfte, die gegen die Liberalisierung des Sozialen eintraten, trafen. Wirtschaftsliberale Kräfte standen dem Projekt der sozialen Union fast überraschend neutral gegenüber, wie Sonja Buckel beschreibt, während die Diagnose eines „sozialen und demokratischen Defizits“ der EU hegemonial wurde (Buckel, 2014: 162f.). Gerade zu Zeiten der Krise der EU, wie etwa im Zusammenhang mit dem Scheitern der europäischen Verfassung im Jahr 2005 in Frankreich, traten auch liberale proeuropäische Stimmen für die Europäisierung der Sozialsysteme und für mehr Teilhabemöglichkeiten der Bürger in der EU ein, um so die Akzeptanz der EU zu vergrößern und die europäische Integration zu fördern. Aus den Turbulenzen der Krise seit dem Jahr 2008, in der die neoliberalen Ordnungen kurzzeitig ins Wanken gerieten, sind aber austeritäre Bearbeitungsweisen unter der Dominanz Deutschlands und auch der anderen EU-europäischen Kernstaaten gestärkt hervorgegangen. Das Projekt Sozialunion wird heute eher als Bedrohung wahrgenommen und mit der Figur ‚Sozialtourismus‘ verknüpft als mit dem Versprechen einer gerechteren, sozialeren europäischen Integration. Das europäische Projekt konsolidiert sich stärker durch seine Abgrenzung nach Außen als durch eine soziale Integration im Inneren. Wenn es nun um die Aushandlungen der sozialen Rechte von nichterwerbstätigen Unionsbürger*innen geht, dann treffen sich diese verschiedenen Rationalitäten und Interessen in der spezifischen Diskursform des Rechts. Der Fortgang der Aushandlungen ist dabei nicht vorherzusehen, sondern hängt von der Findigkeit und Imagination sowie den Kräfteverhältnissen und sicherlich auch von dem unberechenbaren Zusammentreffen von Umständen ab. Auch hier sind es nicht zuletzt die ständigen, 107 Das ‚Europa der Bürger*innen‘, verbunden mit einer Kritik an der marktorientierten Integrationsweise der Europäischen Union und an nationalen Zuordnungen, ist eine linke Idee mit langer Tradition. Neben politischen Rechten sind es auch soziale Rechte, die in einem transnationalen, europäischen, demokratischen Raum verankert werden sollen, sie stehen aber nicht unbedingt dezidiert im Mittelpunkt. Es sind vor allem linke Intellektuelle, die die Idee des ‚Europas der Bürger*innen‘ vertreten. (Vgl. Balibar, 2003; Buckel, 2013: 166) 244 vorläufigen und kontingenten Reparaturarbeiten, die zu Gestaltung der Realität führen. Es gibt aber einen rechtlichen und institutionellen Rahmen, in dem die Aushandlungen stattfinden und der im Folgenden in Bezug auf die Fragen der Freizügigkeit, der Unionsbürgerschaft und dem Zugang zu sozialen Rechten umrissen werden soll. Rechtlicher Rahmen in the making Die Europäische Union wird im Wesentlichen geregelt von Primärrecht, wie dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV, früher auch EWG und EG genannt)108, und von Sekundärrecht, das unter anderem aus Richtlinien und Verordnungen besteht, die das Primärrecht auslegen und präzisieren. Diese (den Verträgen sekundären) Regelungen werden vom Europäischen Parlament und dem Ministerrat beschlossen und sind Ergebnisse von meist zähen Verhandlungen zwischen den Mitgliedsstaaten. Eine Schieflage zwischen ökonomischen und sozialen Gesichtspunkten war schon in den Römischen Verträgen, bzw. dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) von 1957 angelegt. Dieser Vorgänger des AEUV und Grundstein der heutigen EU legte die vier zu verwirklichenden Grundfreiheiten des EWG-Binnenmarktes fest: der freie Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen. Der freie Verkehr von Personen wurde für Urlaubsreisende, Unternehmer*innen und Arbeitnehmer*innen verwirklicht. Hier entstand die Arbeitnehmerfreizügigkeit. 1968 erließ der Rat eine Verordnung, die die Freizügigkeit der Arbeitnehmer*innen und ihrer Familien näher regelte.109 Daraufhin nahm der Europäische Gerichtshof den Ball auf und erarbeitete nach und nach eine sehr weite Definition des Arbeitnehmerbegriffs, die Teilzeitbeschäftigte, Sexarbeiter*innen, Auszubildende und Fußballspieler *innen einschloss (vgl. Buckel, 2014: 95). Er bezog sich dabei auf den Begriff der Grundfreiheit in seiner neoliberalen Auslegung: das Humankapital müsse als Produktionsfaktor effizient verortet werden kön108 Der AEUV wurde 1957 in Rom als Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EWG) geschlossen und 1992 durch den Vertrag von Maastricht in EG-Vertrag umbenannt. Seinen jetzigen Namen trägt er seit dem Vertrag von Lissabon von 2009. 109 Verordnung Nr. 1612/68 vom 15.10.1968 245 nen, dafür sei die Integration in das „sozioökonomische Netzwerk des Aufnahmemitgliedsstaates“ (Lenaerts/ & Heremans, 2006: 103, zit. n. Buckel, 2014: 95) nötig. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit darf nicht mit einer Personenfreizügigkeit verwechselt werden, denn sie galt nur für das Humankapital, also diejenigen Personen, die nach den Gesetzen als Erwerbstätige - im Jargon der EU als active persons - gelten. Erst 1990 verabschiedete die EU einige Richtlinien, die die Freizügigkeit auch für Nicht-Erwerbstätige festlegte: für Rentner*innen, für Studierende und schließlich auch für diejenigen, die von den anderen Richtlinien nicht erfasst waren.110 Die Letzterwähnte zog jedoch scharfe ökonomische Grenzen. Die Freizügigkeit von Personen ohne Arbeitnehmer*innenstatus bestand nämlich nur bei Nachweis ausreichender Mittel zum Lebensunterhalt und schloss den Bezug von Sozialhilfeleistungen aus.111 Der Kampf um die Europäisierung der Sozialsysteme wurde Anfang der 1990er Jahre als so gut wie verloren betrachtet. Hier ist zu beachten, dass die Richtlinien ein Ergebnis der Aushandlungen zwischen proeuropäischen Kräften und solchen Kräften, die für die nationale Wohlfahrtssouveränität eintreten da sind. Tendenziell sind sie aber stärker von den Interessen an nationaler Souveränität geprägt als die Urteile des EuGHs, weil die Mitgliedsstaaten direkt an ihrer Ausformulierung beteiligt sind. Die Einführung der Unionsbürgerschaft im Jahr 1992 machte dann, auch wenn sie von den meisten kontemporären Kritiker*innen als nicht sehr weitreichend beurteilt wurde, den Anfang für einen von vielen unerwarteten Umschwung (vgl. Buckel, 2014: 90). Bei den Aushandlungen 110 RL 90/365/EWG des Rates vom 28.6.1990 über das Aufenthaltsrecht der aus dem Erwerbslosen geschiedenen Arbeitnehmer und selbstständigen Erwerbstätigen, ABIEG 1990 Nr. L 180: 28; RL 93/96/EWG des Rates vom 29.10.1993 über das Aufenthaltsrecht der Studenten, ABIEG 1993 Nr. L 317: 59; RL 90/364/ EWG des Rates vom 13.7.1990 über das Aufenthaltsrecht, ABIEG 1990 Nr. L a 180: 26. 111 „Die Mitgliedstaaten gewähren den Angehörigen der Mitgliedstaaten, denen das Aufenthaltsrecht nicht aufgrund anderer Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts zuerkannt ist, sowie deren Familienangehörigen […] unter der Bedingung das Aufenthaltsrecht, dass sie für sich und ihre Familienangehörigen über eine Krankenversicherung, die im Aufnahmemitgliedstaat alle Risiken abdeckt, sowie über ausreichende Existenzmittel verfügen, durch die sichergestellt ist, dass sie während ihres Aufenthalts nicht die Sozialhilfe des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen” (Art. 1 Abs. 1 RL 90/364/EWG). 246 der Verträge von Maastricht brachte Felipe Gonzales, spanischer Ministerpräsident, die Idee der Unionsbürgerschaft ein (vgl. Shore, 2004: 33). Der neue Status war noch mit keinem neuen Inhalt gefüllt und hatte fast ausschließlich symbolisch-deklaratorischen Charakter. Unionsbürger*in zu sein schien nicht mehr oder weniger zu bedeuten, als Bürger*in eines Mitgliedsstaates zu sein.112 Trotzdem wurde so neben Staatsbürger*innen und Ausländer*innen eine dritte grundlegende Kategorie geschaffen, die über die nationalstaatliche Logik hinausgehen sollte und die somit Anhaltspunkte für Transnationalisierungsprozesse schuf. Und tatsächlich traf der Europäische Gerichtshof in den folgenden Jahren einige für Furore sorgende Entscheide, in denen er Nichterwerbstätigen sowie Arbeitssuchenden Sozialleistungen zusprach, obwohl sie durch den Antrag auf Sozialleistungen zeigten, dass sie nicht über ausreichende Mittel zum Lebensunterhalt verfügen. Um diese Rechtssachen geht es in diesem Kapitel. Doch erst möchte ich die rechtlichen Koordinaten, auf die im Folgenden Bezug genommen wird, weiter kurz umreißen. Die Rechtsprechung bewegte sich in einem Dreieck aus den Artikeln 17, 18 und 12 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG, heute unter neuer Nummerierung als AEUV bekannt)113 und schuf verschiedene Möglichkeiten, auch Nichterwerbstätigen staatliche Leistungen zuzusprechen. Beim Artikel 17 EG (Artikel 20 AEUV) handelte es sich um die in Fußnote 112 zitierte Einführung der Unionsbürgerschaft. Im zweiten Absatz wird als Recht auch festgesetzt, „sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten“.114 Artikel 18, der Freizügigkeitsartikel, setzte das Recht, sich als Unionsbürger*in „im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten […] frei zu bewegen und aufzuhalten“ nochmal eigenständig ein, fügt aber auch den Einschub ein: „vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften 112 „Es wird eine Unionsbürgerschaft eingeführt. Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ersetzt sie aber nicht” (Art. 20 Abs. 1 AEUV). 113 Sonja Buckel folgend, benutze auch ich durchgehend die Nummerierung des EG-Vertrages nach Amsterdam und nicht die Nummerierung des Lissabonvertrages, also des Vertrages über die Arbeitsweise der EU (AEUV) und auch nicht die Nummerierung des EU-Vertrages, die erst seit 2009 gültig ist, um die relevanten Artikel zu benennen (vgl. Buckel, 2014: Fußnote 13). 114 Art. 17. Abs. 2 EG. 247 vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen“.115 Für die Rechtsprechung war insbesondere auch das Diskriminierungsverbot des Artikels 12 EG zentral: „Unbeschadet besonderer Bestimmungen der Verträge ist in ihrem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten“. Diese primärrechtlichen Regelungen machen keine direkten Aussagen zum Recht auf soziale Leistungen, bieten aber die Grundlage für die Frage, wann ein*e Unionsbürger*in durch den Ausschluss von sozialen Leistungen gegenüber Staatsbürger*innen diskriminiert oder in ihrem (Grund-)Recht auf Freizügigkeit eingeschränkt werden darf. Während diese drei Artikel des Primärrechts seit dem Jahr 1993 im Wortlaut (fast) unverändert geblieben sind, hat sich das Sekundärrecht, das aus den oben erwähnten Richtlinien zu erwerbstätigen und nichterwerbstätigen Personen besteht, welche den sozialen Gehalt der EU sozusagen ausbuchstabieren, in verschiedenen Etappen geändert. Teilweise wurde dies, wie wir sehen werden, erst durch die vorangegangene Rechtsprechung des EuGHs notwendig. Die oben erwähnten Richtlinien, die für die Freizügigkeit von Nichterwerbstätigen enge Rahmen absteckten, wurden im Jahr 2004 von der Richtlinie 2004/38/EG zur Freizügigkeit116 ersetzt, die, wie deutlich werden wird, ebenfalls heiß umkämpft war. Soziale Union vs. nationale Wohlfahrtssouveränität: Strategien am EuGH Im Folgenden untersuche ich Klagen nichterwerbstätiger Unionsbürger*innen, die an nationalen Gerichten gegen eine NichtGewährung oder Rückforderung von sozialen Leistungen durch die jeweiligen staatlichen Ämter protestierten. Der Europäische Gerichtshof 115 „Jeder Unionsbürger hat das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten“ (Art. 18 EG). 116 RL 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ABI Nr. L 158/77. 248 ist eine EU-europäische Instanz, die Judikative, die nationale Gerichte dabei unterstützt, EU-rechtskonforme Urteile zu treffen. Diese stellen sogenannte Vorabentscheidungsgesuche an das Gericht und halten das laufende Verfahren so lange an. Nachdem die nationalen Gerichte ihre Anfragen an den EuGH stellen, gibt es erst für die Mitgliedsstaaten und die Kommission die Möglichkeit, Stellung zu nehmen. Dann bereitet der/die zuständige Generalanwalt oder -anwältin – der/die zuvor eine hohe Funktion im Gerichtswesen eines Mitgliedsstaates eingenommen hat – einen Schlussantrag vor. Schließlich wird in einer der Kammern – oder bei besonders wichtigen Rechtssachen im Plenum des Gerichts – ein Urteil gefällt. Der EuGH ist dabei weniger direkt an die Interessen der Mitgliedsstaaten gebunden, als beispielsweise der Ministerrat oder das Parlament und vertritt tendenziell einen proeuropäischen Standpunkt, wenn es um Fragen der Kompetenz geht. Die Urteile des EuGHs haben starke Gestaltungsmacht, was unter anderem daran zu sehen ist, dass immer wieder das Sekundärrecht der EU an sie angepasst wurde. Seine Richter*innen legen das geltende Recht nicht nur aus, sondern sind auch kreativ tätig. Immer wieder wird die Frage gestellt, ob er nicht seine Kompetenz überschreite, wenn er EU-europäisches Recht sehr eigenwillig auslegt. Insgesamt sind die Richter*innen des EuGHs nach Buckel aber auch nur Diskursteilnehmer*innen unter anderen – nationale Gerichte, Experten der Mitgliedsstaaten und Kommission, Generalanwälte, Medien, juridische Intellektuelle – wenn auch institutionell privilegierte. Auch sie müssen diskursive Strategien und Kompromisse finden, damit ihre Beiträge ausreichend Legitimation zugestanden bekommen. Dabei bewegt sich dieser Diskurs in der Rechtsform, die nur für juridische Intellektuelle zugänglich ist und ihre verselbständigten Umgangsformen hat (vgl. Buckel, 2013: 72f.). Während Sonja Buckel die Interessenlagen anhand von „Hegemonieprojekten“ (ebd.: 19) aufschlüsselt, möchte ich mich hier auf den kontingenten Fortlauf der Rechtsprechungsreihe konzentrieren, also darauf, wie sich die zentralen Konfliktlinien verschoben haben, auf die Brüche und kreativen Momente, in denen neue Figuren und Argumente geschaffen wurden. 249 Sala 1998117, Grzelczyk 2001118 und Baumbast 2002119: Unionsbürger*innen diskriminieren verboten? Der Stein kam ins Rollen im Jahr 1998 (in dem auch die Unionsbürgerschaft eingeführt wurde), mit der erwerbslosen Spanierin Martinez Sala, die Erziehungsgeld in der BRD beantragt hatte. Das bayerische Landessozialgericht fragte den EuGH, ob der Bezug von Erziehungsgeld bei Erwerbslosigkeit eingeschränkt werden könne, wenn sich die Aufenthaltsberechtigung der antragstellenden Person aus ihrer Arbeitnehmer*inneneigenschaft ergibt. Während die Fragestellung die Unionsbürgerschaft nicht erwähnte, sondern auf die Arbeitnehmereigenschaft von Frau Sala einging, sollte der EuGH erstmals auf Basis des neu geschaffenen Status argumentieren. Die Kommission, die spanische Regierung und Generalanwalt La Pergola vertraten schon hier den „radikalen Weg“ (Hilpold, 2008: 22, zit. n. Buckel, 2013: 99): Nach Inkrafttreten der Unionsbürgerschaft und in Ableitung von Artikel 18 EG (Freizügigkeit) gäbe es ein „generelles und eigenständiges Aufenthaltsrecht […], welches sich unmittelbar aus dem Vertrag, also unabhängig von den Freizügigkeitsrichtlinien“ (Buckel, 2013: 99) ableite. Zusätzlich müssten Mitgliedsstaaten alle Rechte gewähren, die mit dem Aufenthaltsrecht in Zusammenhang stehen oder aus ihm ableitbar sind. Als Unionsbürger*in sei Frau Sala also aufenthaltsberechtigt bzw. freizügig und dürfe nicht diskriminiert werden, auch wenn sie keiner Erwerbstätigkeit nachginge. Sie habe damit auch ein Recht auf Erziehungsgeld. Nach dieser Argumentation wären freizügige Unionsbürger*innen Inländer*innen quasi gleichgestellt. Die Regierungen von Deutschland, Frankreich und dem Vereinigten Königreich vertraten dem hingegen die Meinung, dass die Unionsbürgerschaft nichts Neues zu den marktbürgerschaftlichen Rechten, die in den zu diesem Zeitpunkt geltenden Richtlinien festgesetzt waren, hinzufüge. Der Vertrag könne nicht ohne Rückgriff auf die sekundärrechtlichen Richtlinien ausgelegt werden, welche für das Aufenthaltsrecht grundsätzlich ausreichende eigene finanzielle Mittel verlangten und in den ersten fünf Aufenthaltsjahren keine sozialen Leistungen 117 118 119 250 Rs. C-85/96, Slg. 1998, I-2691. Rs. C-184/99, Slg. 2001, I-6193. Rs. C-413/99, Slg. 2002, I-7091. für nichterwerbstätige Unionsbürger*innen vorsähen. Es standen sich also Plädoyers einerseits für „ein primärrechtlich genuin europäisches Aufenthaltsrecht“ (Buckel, 2013: 102, Hervorhebung im Original) und andererseits für eine „von den Mitgliedsstaaaten nur sekundärrechtlich abgesicherte Bewilligung“ (ebd., Hervorhebung im Original) gegenüber. Der EuGH wich der Überprüfung des Aufenthaltsrechts und damit dem Bezug auf Artikel 18 EG (Freizügigkeit) dann aber geschickt aus: Eigentlich habe ja niemand angezweifelt, dass Salas Aufenthalt legal war. „[W]ie auch immer“120 Frau Sala als Unionsbürgerin „das Recht eingeräumt worden [ist], sich in einem anderen Mitgliedsstaat […] aufzuhalten“121: Aufenthaltsberechtigt könne sie sich auf das Diskriminierungsverbot aufgrund von Nationalität (Art. 12 EG) beziehen und habe somit Anspruch auf die gleichen sozialen Leistungen wie ein*e Inländer*in. Auch wenn der EuGH eine direkte Auseinandersetzung mit den Richtlinien, die ja eigentlich einen Ausschluss vorsahen, umging, war das Urteil im Ergebnis revolutionär, da es den Richtlinien diametral entgegenstand und Gleichberechtigung auch in Bezug auf soziale Rechte für Nichterwerbstätige einforderte. In der Rechtssache des französischen Studierenden Grzelczyk, der belgisches Existenzminimum beantragte, konsolidierte der EuGH im Jahr 2001 seine neue Linie. Hier ging es um das Verhältnis der damals gültigen Studierendenrichtlinie122 mit dem Freizügigkeitsartikel des EG (Art. 18). Die Generalanwältin vertrat hier den Standpunkt, dass „[h]öherrangige Ansprüche […] durch eine sekundärrechtliche Richtlinie nicht beschränkt werden“ (Buckel, 2013: 109) könnten. Der EuGH stellt zudem fest, dass der Sozialleistungsbezug keinesfalls automatisch „aufenthaltsbeendende Maßnahmen“123 zur Folge haben könne – dies sollte in die neue Richtlinie mit aufgenommen werden – und spricht von einer „bestimmten[n] finanziellen Solidarität der Angehörigen dieses Staates mit denen der anderen Mitgliedstaaten“.124 Während liberale Kommentator*innen der Grzelczyk-Entscheidung 120 Schlussanträge des Generalanwalts Antonio Mario La Pergola v. 01.07.1997, Rs. C-85/96, Rn. 20. 121 Vgl. Fn. 113. 122 RL 93/96/EWG des Rates vom 29.10.1993 über das Aufenthaltsrecht der Studenten. 123 Urteil in der Rs. Grzelczyk, C-184/99, Slg. 2001, I-6193, Rn. 39. 124 Urteil in der Rs. Grzelczyk, C-184/99, Slg. 2001, I-6193, Rn. 44, Hervorhebung im Original. 251 jubelten, dass Unionsbürger*innen nun nicht mehr „bloße Wirtschaftsfaktoren“ seien, warnte die konservative Kritik, die Entscheidung käme einem „Dammbruch“ (Hilpold, 2008: 26) gleich. In dieser Wortwahl spiegelten sich nationalstaatliche, migrationspolitische Überlegungen, die in der Rechtsprechungslinie von Anfang an eine Rolle spielten, allerdings erst einmal nicht hegemonial werden sollten. In der Rechtssache Baumbast und R. aus dem Jahr 2002, in der es nicht um soziale Rechte, sondern um das Aufenthaltsrecht von Geschäftsleuten mit drittstaatsangehörigen Ehepartner*innen in den Vereinigten Königreichen ging, sollte sich das Gericht dann schließlich darauf festnageln lassen, dass dem Freizügigkeitsrecht in Art. 18 EG „unmittelbare Wirkung zukomme“ (Buckel, 2013: 118) und die Freizügigkeit nicht durch die Richtlinien eingeschränkt werden könne. Den alles bestimmenden Bezugspunkt des proeuropäischen Argumentationsstranges stellte die Unionsbürgerschaft und damit die neu geschaffene „Wir-alle-Gruppe“ (Nonhoff, 2006: 263, zit. n. Buckel, 2013: 103) dar, die eine implizite Abgrenzung von der Gruppe der Drittstaatler*innen beinhaltet: „Das Auftauchen der sozialen Rechte Nichterwerbstätiger, die über die Unionsbürgerschaft und nicht mehr über die Grundfreiheiten begründet werden, evozierte die „politische Imagination“ eines europäischen Allgemeinen.“ (Buckel, 2013: 115) Konservative Diskursteilnehmer*innen zeigten sich in allen drei Fällen empört. Im Zusammenhang mit der Rechtssache Grzelcyk warnte Rosemarie Höfler, Autorin des Buches Die Unionsbürgerfreiheit (2009), dass die Unionsbürgerschaft, die nicht mehr als ein „Mittel zur Schaffung einer gemeinsamen Identität“ hätte sein sollen, sich als „Damoklesschwert für die nationalen sozialen Sicherungssysteme“ entpuppe (Höfler, 2002: 1026, zit. n. Buckel, 2013: 114). Nach dem deutschen Rechtsprofessor Kay Hailbronner, einem der einflussreichsten Vertreter der National-Konservativen, stehe es dem EuGH nicht zu, über den Willen der Mitgliedsstaaten hinweg zu agieren und die Restriktionen der Freizügigkeit in den Richtlinien zeigten, 252 „dass die Mitgliedsstaaten nicht bereit waren, Fremden den Zugang zu ihrem Territorium zu gewähren, die, obwohl sie Unionsbürger sind, eine Last für die öffentlichen Wohlfahrtssysteme werden könnten.“ (Hailbronner, 2004: 2188, zit. n. Buckel, 2013: 100) In der Warnung vor der „Last für die Wohlfahrtssysteme“ durch die „Fremden“ zeichnete sich schon die wohl wirkmächtigste Figur des konservativ-nationalen Diskursstranges ab: der „Sozialtourismus“. Zu diesem Zeitpunkt konzentrierten sich die Gegner*innen der Europäisierung des Sozialen aber noch auf das methodische Argument, der EuGH habe seine Kompetenz überschritten: „Die Gemeinschaft hat […] keine Kompetenz zur Schaffung einer Sozialunion“ (Niemann, 2004: 949). Es sei genau zu prüfen, „ob eine Materie in den sachlichen Anwendungsbereich der EU-Rechts fällt“ (Buckel, 2013: 104) und ob somit der Diskriminierungsverbot gelte oder nicht. Bis auf Weiteres sollten die konservativ-nationalen Stimmen aber vom EuGH ignoriert werden. Die Richter*innen argumentierten, dass es gar nicht darauf ankäme, ob diese spezielle Streitsache – etwa das Erziehungsgeld im Fall Sala – in den Zuständigkeitsbereich der EU falle, sondern dass es reiche, dass sich Frau Sala „rechtmäßig im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält“125, um das Diskriminierungsverbot und damit den „persönlichen Anwendungsbereich der Vertragsbestimmungen über die Unionsbürgerschaft“126 aufzurufen. Schon hier verfolgte der EuGH also einen Ansatz mit „erstaunlicher Breite“ (Fries/Shaw, 1998: 550) und widersprach den geltenden Richtlinien auf Grundlage des neu eingeführten Status der Unionsbürgerschaft. Änderung des Sekundärrechts: die Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG Der EuGH bewegte sich also trotz massiven Widerstands in Richtung einer Sozialunion und füllte die Unionsbürgerschaft mit neuem Gehalt. Seine Urteile standen teilweise im Widerspruch zu den geltenden Richtlinien, worauf diese angepasst werden mussten. So ersetzte die Richtlinie 2004/38/EG zur Freizügigkeit am 29. April 2004 die oben 125 126 253 Urteil in der Rs. Sala, C-85/96, Slg. 1998, I-2691, Rn. 62, 61. Ebd. erwähnten Richtlinien.127 Mit ihr traten verschiedene Änderungen in Kraft: Am wichtigsten war wohl, dass die Automatik der Freizügigkeit eingeführt wurde. Das Recht auf Aufenthalt gilt grundsätzlich in den ersten drei Monaten Aufenthalt. Danach ist die Freizügigkeit nur dann unantastbar, wenn ein Arbeitnehmerstatus vorliegt oder Unionsbürger*innen „über ausreichende Existenzmittel [verfügen], so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und […] über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen“ (Art. 7 Abs.1 b RL 2004/38/EG)128. Diese Einschränkungen dürfen aber nur aufgrund eines konkreten Verdachts durch ein personalisiertes Rechtsverfahren und unter hohen Hürden umgesetzt werden. In dieser Regelung wird die vorhergegangene Rechtsprechung direkt aufgenommen, die zum Beispiel im Fall Sala betont hatte, dass ein*e Unionsbürger*in von den Sozialgerichten als freizügig zu betrachten sei, wenn das Aufenthaltsrecht noch nicht aberkannt worden ist, auch wenn die Voraussetzungen der Freizügigkeit nicht mehr erfüllt seien („wie-auch-immer“-Regel). Unionsbürger*innen besitzen das Recht auf Freizügigkeit qua ihres Status, sie müssen es weder beantragen noch verfällt es, wenn die Bedingungen nicht (mehr) erfüllt sind. Es kann nicht „automatisch“ (Art. 14 Abs. 1 RL 2004/38/ EG) und „systematisch“ (ebd.) aberkannt werden, sondern es besteht dem hingegen eine „Automatik des Aufenthaltsrechts“ (Fuchs, 2015: 96). Die Juristin Constanze Janda bezeichnete es auch noch im Jahr 2015 als „common sense, dass das Aufenthaltsrecht in einer auf Bewegungsfreiheit gründenden Union so lange vermutet wird, bis der Aufenthaltsstaat dieses entzieht“ (Janda, 2015: 110). Auch kann „die Inanspruchnahme von Sozialleistungen nach Art. 14 Abs. 3 RL 2004/38/ EG nicht automatisch die Ausweisung nach sich ziehen“ (Janda, 2015: 110)129. Der Aufenthaltsstaat – bzw. in München die Ausländerbehörde – kann nur aufgrund eines begründeten Verdachts – z.B. wenn das 127 Die Mitgliedsstaaten hatten zwei Jahre Zeit, um die Änderungen umzusetzen. 128 Zusätzlich zu beachten ist Art. 14 Abs. 1 RL 2004/38/EG: „Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen steht das Aufenthaltsrecht nach Artikel 6 zu, solange sie die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen.“ 129 Art. 14 Abs. 3 RL 2004/38/EG: „Die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen durch einen Unionsbürger oder einen seiner Familienangehörigen 254 Jobcenter den Bezug von Leistungen meldet – die Freizügigkeit in einem rechtlichen Verfahren prüfen und gegebenenfalls aberkennen. Bis dahin müssen aber alle Stellen davon ausgehen, dass Freizügigkeit vorliegt.130 Um den Status von Unionsbürger*innen und die an ihn gekoppelte Freizügigkeit zu verstehen, gilt es, die gewohnte dichotome Unterscheidung von Staatsbürger*in und Ausländer*in zu überkommen. Das Freizügigkeitsrecht von Unionsbürger*innen ist weder wie das Aufenthaltsrecht von Staatsbürger*innen unhinterfragbar, stellt aber auch nicht eine Ausnahmeregelung wie eine Aufenthaltsgenehmigung für Ausländer*innen dar. Hier wurde also ein vollkommen neuer, transnationaler Status geschaffen. Viele Münchner Akteure hatten diesen neuen Status, die Automatik der Freizügigkeit, aber auch Anfang der 2010er Jahre nicht begriffen, wie etwa das Zitat des Leiters des Amtes für Wohnen und Migration zu Beginn des fünften Kapitels gezeigt hat, in dem er feststellte, dass Unionsbürger*innen nur dann freizügig seien, wenn sie sich länger als ein halbes Jahr in München aufhielten und einer Erwerbstätigkeit nachgingen. Daneben änderten sich noch zwei weitere Regelungen: Die neue Richtlinie rückte von dem Grundsatz ab, dass soziale Leistungen für Nichterwerbstätige erst nach fünf Jahren zulässig sind. Mitgliedstaaten durften nichterwerbstätigen Unionsbürger*innen Sozialleistungen nach den ersten drei Monaten Aufenthalt nicht mehr pauschal verweigern, sondern nur, wenn diese keinen Arbeitnehmerstatus besäßen. Auch hier wurde die Gesetzgebung an die Rechtsprechung des EuGHs angepasst (vgl. Buckel, 2013: 124). Schließlich führte die Richtlinie 2004/38/EG das Daueraufenthaltsrecht ein, das Unionsbürger*innen nach fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt automatisch erwerben und das sich kaum noch von dem Status der ‚eigenen‘ Staatsbürger*innen unterscheidet im Aufnahmemitgliedstaat darf nicht automatisch zu einer Ausweisung führen.“ Und Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG: „Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen steht das Aufenthaltsrecht nach den Artikeln 7, 12 und 13 zu, solange sie die dort genannten Voraussetzungen erfüllen. In bestimmten Fällen, in denen begründete Zweifel bestehen, ob der Unionsbürger oder seine Familienangehörigen die Voraussetzungen der Artikel 7, 12 und 13 erfüllen, können die Mitgliedstaaten prüfen, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind. Diese Prüfung wird nicht systematisch durchgeführt.“ 130 Im siebten Kapitel gehe ich näher auf die konkreten Prozesse in der Ausländerbehörde und im Jobcenter in München ein. 255 (vgl. Buckel, 2013: 92). Die neuen Regelungen nahmen die vorangegangene Rechtsprechung zwar auf, flachten die vom EuGH eingebrachte Maxime, dass die Unionsbürgerschaft grundsätzlich mit Freizügigkeit und sozialen Rechte einhergeht, aber ab. Der EuGH sollte denn auch die neue Richtlinie immer wieder beiseite lassen und Nichterwerbstätigen alleine auf Grundlage des Primärrechts soziale Leistungen zusprechen. Tas/Tas-Hagen 2006131 & Morgan/Bucher 2007132: Freizügigkeit als Grundfreiheit? So tauchte in der Rechtssache Tas/Tas-Hagen im Jahr 2006 (vier Jahre nach dem Urteil in der Rechtssache Baumbast und R.) eine weitere Strategie zur Ausweitung des Diskriminierungsverbots (Art. 12 EG) auf. Den zwei Niederländer*innen waren Sozialleistungen für zivile Kriegsopfer vom niederländischen Staat versagt worden, da sie ihren Wohnsitz in Spanien hatten. Die Richter*innen legten die Freizügigkeit als Grundfreiheit aus, die nicht eingeschränkt werden dürfe und stützten sich dabei alleine auf Art. 18 (Freizügigkeit) des EG. Eine Grundfreiheit stellt ein neoliberales Diskursfragment dar, wie es in anderen rechtlichen Thematiken vor dem EuGH fest integriert war (vgl. kritisch dazu Scharpf & Girndt, 2008)133. Die Einschränkung einer solchen Grundfreiheit gelte es, so das Credo des EuGHs, unbedingt zu vermeiden. Da Grundfreiheiten nicht eingeschränkt werden dürfen, musste nach diesem neuen Weg nicht notwendigerweise auf das Diskriminierungsverbot (Art. 12 EG) abgestellt werden und also auch nicht geprüft werden, ob die umstrittene Rechtssache in die Kompetenz der Union fiel. Alleine die Ausübung des gemeinschaftlichen Grundrechts der Freizügigkeit reiche aus, um den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts zu eröffnen, „unabhängig ob Leistungen beansprucht werden, für die das 131 Rs. C-192/05, Slg. 2006, I-10451. 132 Verb. Rs. C-11/06 und C. 12/06, Slg. 2007, I-9161. 133 Für den Politikwissenschaftler Fritz Scharf bedrohen die Liberalisierungsprozesse in der EU, die maßgeblich durch den EuGH mit dem Werkzeug der Grundfreiheiten vorangetrieben würden, den national-sozialen Staat, bzw. das ‚Sozialniveau‘ in Deutschland. Seine These im Magazin Mitbestimmung der Hans-Böckler-Stiftung: „Der einzige Weg ist, dem EuGH nicht zu folgen“ (Scharpf & Girndt, 2008). Er bezieht sich dabei vor allem auf Urteile, die gegen das Streikrecht und die Tariftreue gerichtet waren (vgl. ebd.). 256 Europarecht nach wie vor nicht zuständig ist“ (Buckel, 2013: 144). Diese Auslegung wurde auch im Jahr 2007 in der Rechtssache von Rhiannon Morgan und Iris Bucher wiederholt, die als deutsche Staatsbürgerinnen Auslands-BAföG beantragt, aber zuvor nicht, wie verlangt, ein Jahr in der BRD studiert hatten. Artikel 18 EG (Freizügigkeit) wurde so von Artikel 12 EG (Diskriminierungsverbot) nachhaltig „entkoppelt“ (Buckel, 2013: 143). Generalanwalt Colomer sprach gar von einer „Autonomie der Freizügigkeit“ (ebd.) und verglich die Richter*innen des EuGHs poetisch mit „Künstler[*innen], die mit Hilfe der Hände, des Kopfes und des Herzens den Bürgern weitere Horizonte eröffnen“134. Das Urteil in der Rechtssache Sala wirkte in dieser Hinsicht fast schon rückständig (vgl. Buckel, 2013: 144). Freizügigkeit als Grundfreiheit ginge notwendigerweise mit Gleichberechtigung einher, was auch den Zugang zu sozialen Leistungen beinhalte: diese Auslegung sollte Norm werden. Regierensanalytisch lässt sich in der Schaffung der Grundfreiheit Freizügigkeit im Anschluss an Foucault (2004) sehen, wie der EuGH als liberaler Akteur des Regierens Freiheiten produziert. Denn „[d]ie Freiheit ist innerhalb des Liberalismus nichts Gegebenes, sondern der Liberalismus ‚fabriziert‘ […] die Freiheit“ (Lemke, 1997: 184). Verhältnismäßig freizügig – Seilziehen vor Gericht Durch die Umdeutung des Rechts auf Freizügigkeit zu der Grundfreiheit der Freizügigkeit eröffneten sich die Rationalitäten des Sicherheitsdispositivs, nach denen Freiheit und Sicherheit in einer Art Balanceakt in ein ausgeglichenes Verhältnis zu setzen seien. Der Begriff des Sicherheitsdispositivs geht auf Michel Foucault (2004) zurück. Thomas Lemke fasst die Kernproblematik folgendermaßen zusammen: „Das Problem des Liberalismus besteht also darin, in welchem Maße die freie Verfolgung der individuellen Interessen eine Gefahr für das Allgemeininteresse darstellt: Wie hoch sind die ‚Produktionskosten‘ der Freiheit? Die liberale Freiheit kann daher nicht unbeschränkt gelten, sondern wird dem Prinzip eines Kalküls unterstellt: Sicherheit.“ (Lemke, 1997: 184) 134 Schlussanträge des Generalanwalts Dámaso Ruiz-Jarabo Colomer v. 20.03.2007, verb. Rs. c-11/06 und C-12/06, Rn. 1. 257 Die Produktion von Freiheit geht also mit ihrer Einschränkung einher, um Sicherheit zu gewährleisten (vgl. Bigo, 2002: 398). Gleichzeitig zu dem Siegeszug der Forderung nach einer vom Marktprinzip losgelösten, die Freizügigkeit mit sozialen Rechten untermauernden Sozialunion entfernte sich die Auseinandersetzung von der Prüfung des Aufenthaltsrechts, der Zuständigkeitsfrage und dem Diskriminierungsverbot und verschob sich hin zur Prüfung der sogenannten Verhältnismäßigkeit. Der EuGH räumte einer möglichen Rechtfertigung von Diskriminierung Raum ein: „Denn nicht jede Diskriminierung sei rechtswidrig, sondern nur eine solche, die sich nicht rechtfertigen lasse“ (Buckel, 2013: 116)135. Mit der Prüfung der Verhältnismäßigkeit136 wurde der Weg frei gemacht für eine Aushöhlung der sozialen Rechte, des Unionsbürgerstatus und des Diskriminierungsverbotes. Das Recht auf Freizügigkeit und Gleichbehandlung wurde als liberale Freiheit begriffen, an Bedingungen geknüpft und damit im Endeffekt abgeschafft. Eine apolitische, technokratische Rationalität wurde im Diskurs hegemonial, wie sie für heutige Versuche des Regierens und für das Sicherheitsdispositiv typisch ist: Verschiedene Interessen seien zu vereinbaren, wobei davon ausgegangen wird, dass unter den vorhandenen Vorzeichen ein Kompromiss möglich ist. Dass dafür soziale Rechte und die Idee der Sozialunion beschnitten werden müssen, sei unausweichlich. Die Strategien des EuGHs erinnern in dieser Hinsicht an die Regierensform der governance: „governance discourse seeks to redefine the political field in terms of a game of assimilation and integration. It displaces talk of politics as struggle or conflict. It resonates with ‚end of class‘ and ‚end of history‘ narratives in that it imagines a politics of multilevel collective selfmanagement, a politics without enemies.“ (Walters, 2004: 36) 135 Eine Rechtfertigung gelte dann, wenn „sie auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit unabhängigen Erwägungen beruhte und in einem angemessenen Verhältnis zu einem legitimen Zweck stünde, der mit den nationalen Rechtsvorschriften verfolgt werde“ (Urteil in der Rs. D’Hoop, 224/98, Slg. 2002, I-6191, Rn. 36). 136 Der Rechtsgrundsatz der Verhältnismäßigkeitsprüfung „wird aus dem ‚Wesen der Grundrechte selbst‘ als allgemeiner Freiheitsanspruch der Bürger abgeleitet, ‚von der öffentlichen Gewalt jeweils nur soweit eingeschränkt‘ zu werden, ‚als es zum Schutze öffentlicher Interessen unerlässlich ist‘“ (BverfGE 19, 342, 348f.). 258 Die Verhältnismäßigkeitsprüfung sollte zum wichtigsten Schauplatz der Auseinandersetzungen werden (vgl. Buckel, 2013: 117). In verschiedenen Rechtssachen wurden Maßstäbe entwickelt, anhand derer die Verhältnismäßigkeit im Einzelfall geprüft wurde. D’Hoop 2002137 & Collins 2004138: Bezug zum Arbeitsmarkt Um die Bewegungen hin zu einer ‚sozialen Union‘ akzeptabel auch für diejenigen zu machen, die das Schreckgespenst des Sozialtourismus beschworen, führte der EuGH schon im Jahr 2002 (vier Jahre vor den letzten beiden diskutierten Fällen) in der Rechtssache D’Hoop, das Kompromissstrategem der Verhältnismäßigkeit ein, dass „die mitgliedsstaatliche Forderung nach Berücksichtigung ihrer nationalen Sozialsysteme“ (Buckel, 2013: 120) mit einbezog. Die belgische Studierende Marie-Nathalie D‘Hoop war nach ihrem Studium in Frankreich nach Belgien zurückgekehrt, wo sie daraufhin in ihrem Zugang zu Überbrückungsgeld diskriminiert wurde. Die Bedingung, dass das Studium im Inland abgeschlossen werden sollte, sei nicht zielführend, um sich des „tatsächlichen Zusammenhangs zwischen demjenigen, der Überbrückungsgeld beantragt und dem betroffenen räumlichen Arbeitsmarkt vergewissern zu wollen“139. D‘Hoop beweise schon über ihre inländische Staatsbürgerschaft und dadurch, dass ihr Diplom in Belgien anerkannt werde, einen hohen Bezug zum Arbeitsmarkt (Buckel, 2013: 117). Auch in der Rechtssache von Brian Francis Collins, in der das Urteil im März 2004 gesprochen wurde, spielten sich die Aushandlungen vor allem auf dem Feld der Verhältnismäßigkeitsprüfung ab. Es handelte sich um einen irischen Unionsbürger, der nach achttägigem Aufenthalt in den Vereinigten Königreichen Beihilfe zur Arbeitssuche beantragte. Der EuGH argumentierte, dass Collins sich als Arbeitssuchender rechtmäßig im EU-Gebiet aufhielte und sich deswegen auf das Diskriminierungsverbot beziehen könne. Allerdings müsse die Verhältnismäßigkeit geprüft werden. Legitim sei die Überprüfung der „tatsächlichen 137 138 139 259 Rs. 224/98, Slg. 2002, I-6191 Rs. C 138/02, Slg. 2004, I-2703 Rs. 224/98, Slg. 2002, I-6191, Rn.38. Verbindung zwischen demjenigen, der die Leistungen beantragt, und dem betroffenen räumlichen Arbeitsmarkt.“140 Ziel sei, so der Generalanwalt, den „so genannte[n] Sozialtourismus“141 zu verhindern. Der Begriff „Sozialtourismus“ tauchte hier zum ersten Mal wortwörtlich auf (vgl. Buckel, 2013: 122). Zum ersten Mal tauchte auch die Frage auf, ob eine Wohnsitzerfordernis zur Prüfung der Verhältnismäßigkeit herangezogen werden könne. Das Gericht stimmte zu. Die Mindestaufenthaltsdauer dürfe aber nur so lange sein, wie die Ämter bräuchten, um sich zu vergewissern, dass die antragstellende Person tatsächlich auf Arbeitssuche sei (vgl. Buckel, 2013: 122f.). Aus diesen Überlegungen heraus erklärt sich auch die Regelung in der neuen Richtlinie 2004/38/EG (Art. 2), dass Arbeitssuchende eine tatsächliche Verbindung zum Arbeitsmarkt nachweisen müssen, damit ihnen die Freizügigkeit nicht aberkannt wird. Trojani 2004142: Solidarität für „arme Schlucker“ Auch in der Rechtssache Trojani aus dem Jahr 2004 – das erste Urteil in dieser Reihe, das nach Inkrafttreten der neuen Richtlinie 2004/38/EG gefällt wurde – spielten die Parameter der Verhältnismäßigkeit eine zentrale Rolle. Michel Trojani lebte bei der Heilsarmee und verdiente dort Unterkunft und Taschengeld. Er besaß eine befristete Aufenthaltsgenehmigung und hatte das Existenzminimum in Belgien beantragt (vgl. Buckel, 2013: 125). Da Trojani die ausreichenden Existenzmittel fehlten, sei eine Verneinung des Rechts auf Aufenthalt aber verhältnismäßig, so die Richter*innen. Personen, „die auf Sozialleistungen angewiesen sind, [sollen] im eigenen Staat aufgefangen werden“143, so der Generalanwalt. So war der rechtliche Pfad, der freizügigen Unionsbürger*innen die Gleichberechtigung alleine aufgrund ihrer Freizügigkeit (Artikel 18 EG) eröffnete, verbaut. Allerdings ließen es die Richter*innen nicht darauf beruhen und griffen überraschend auf den ersten Weg, dem sie bei Sala gefolgt waren, zurück. Da Trojani 140 Urteil in der Rs. Collins, Rs. C 138/02, Slg. 2004, I-2703, Rn. 67. 141 Schlussanträge des Generalanwalts Dámaso Ruiz-Jarabo Colomer v. 10.07.2003, Rs. C 138/02, Rn. 75. 142 Rs. C-45g/02, Slg. 2004, I-7573. 143 Schlussanträge des Generalanwalts Leendert A. Geelhoed v. 19.02.2004, Rs. C-45g/02, Rn. 70 260 eine Aufenthaltsgenehmigung - „wie auch immer“ - ja schließlich habe (auch wenn sie ihm bei einer Überprüfung aberkannt werden könne), könne er sich auf Artikel 12 EG berufen. Hier war wieder zu sehen, wie die Automatisierung des Aufenthaltsrechts zum Tragen kommt. Die Richter*innen positionierten sich damit klar für eine Europäisierung der sozialen Rechte auch für ärmere Bürger*innen außerhalb ihres Nationalstaates, wenn sie sich rechtmäßig im Staatsgebiet aufhielten. Der Autorität der Verhältnismäßigkeitsprüfung, die die Figur des ‚Sozialtourismus‘ - der „übermäßigen Belastung der Sozialsysteme“ - in sich trägt, erteilten sie hier eine Absage und stellten sich gegen die Richtlinie 2004/38/EG, die Mitgliedsstaaten ja eben explizit nicht verpflichtet, Unionsbürger*innen, die keine Arbeitnehmer*innen sind, Leistungen zu gewähren. Die Kommentare zu dem Urteil bezogen sich auf der einen Seite emphatisch auf die alternativ-liberale Vorstellungen eines neuen Europas: Der EuGH leiste mit dem Urteil „einen weiteren wichtigen Beitrag zur Entkräftung der These, die das europäische Gemeinschaftsrecht als Bedrohung für die überkommene Sozialstaatlichkeit in den Mitgliedsstaaten ansieht. In einem ‚Europa der Bürger‘ ist nämlich auch für einen armen Schlucker wie Michel Trojani Platz.“ (Kingreen, 2007:74, zit. n. Buckel, 2013: 128) Die Konservativen dagegen waren empört und argumentierten, der EuGH habe seine Kompetenzen überschritten: die Unionsbürgerschaft werde „zum kompetenzrechtlichen Zauberstab für die Verwirklichung der Vollintegration“ (Hilpold, 2008: 33, zit. n. Buckel, 2013: 126). Der Ausweg, den die Richter*innen des EuGHs hier wählten, kann aber nicht darüber hinweg täuschen, dass sie im Sinne der Verhältnismäßigkeit weiter an den Möglichkeiten bauten, die Freizügigkeit einzuschränken, indem sie den Mitgliedstaaten einräumten, bei Abhängigkeit von Sozialhilfe und fehlenden Existenzmitteln die Freizügigkeit abzuerkennen. Bidar 2005144 und Förster 2008145: Aufenthaltskri144 145 261 Rs. C-209/03, Slg. 2005, I-2119. Rs. C-158/07, Slg. 2008, I-0000. terium Die Möglichkeiten, Verstöße gegen das Diskriminierungsverbot im Namen der Verhältnismäßigkeit zu rechtfertigen, sollten in einem Urteil vom November 2008 noch weiter bestärkt werden. Hier ging es um einen französischen Staatsbürger namens Dany Bidar, der in den Vereinigten Königreichen ein Darlehen für sein Studium beantragt und dort zuvor bei seiner Großmutter gelebt und die Schule besucht hatte. Das Vereinigte Königreich hatte aber eine Regelung eingeführt, nachdem der/die Antragsteller*in erst nach drei Jahren Aufenthalt Studienbeihilfen erhielte. Der EuGH urteilte wieder radikal proeuropäisch: Das Diskriminierungsverbot komme alleine aufgrund der Unionsbürgerschaft als grundlegender Status zur Anwendung (Buckel, 2013: 128). Diese Entscheidung sorgte für besondere Furore, da der Gerichtshof sich damit sogar noch vor ihrer Implementierungsfrist gegen die gerade ausgehandelte Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG stellte, die besagt, dass Mitgliedsstaaten nicht verpflichtet sind, nichterwerbstätigen Unionsbürger*innen Sozialhilfe und Studienbeihilfen zu zahlen (vgl. Artikel 24 Absatz 2 RL 2004/38/EG). Einen offenen Widerspruch umging der EuGH aber wieder geschickt mit einem ‚Bypass‘. Bidar könne sich aufgrund seines rechtmäßigen Aufenthalts unabhängig von den Einschränkungen der Richtlinie 2004/38/EG auf den primärrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz berufen. Implizit argumentierte der EuGH aber wieder, dass Sekundärrecht nicht gegen Primärrecht verstoßen dürfe, was von proeuropäischer Seite als „juridischer Aktivismus“ (Damian, Hadjiemmanuil, Monti & Tomkins, 2006) bejubelt wurde: Der Gerichtshof habe praktisch die in Art. 24 Abs. 2 der neuen Richtlinie festgehaltenen Ausnahmen eliminiert (vgl. Buckel, 2013:130). Gleichzeitig legten die Richter*innen aber die Prüfung der Verhältnismäßigkeit im Interesse der nationalen Wohlfahrtssouveränität aus. Es ging wieder darum, wie nahe der Kläger der Aufnahmegesellschaft sei – je näher, desto schwieriger sei eine Diskriminierung als verhältnismäßig zu rechtfertigen. Der Generalanwalt hatte noch argumentiert, dass eine Wohnsitzerfordernis, quantitativ nach Jahren bemessen, nicht aussagekräftig sei in Bezug auf das tatsächliche Näheverhältnis zum Antragsstaat. Zwar sei die „Integration in das soziale Leben“146 notwendig, diese sei aber nicht durch eine bloße Wohnsitzerfordernis zu überprüfen. Der 146 262 Rs. C-209/03, Slg. 2005, I-2119, Rn. 61. Gerichtshof aber akzeptierte die britische Regelung und folgte damit zum ersten Mal einem „quantitative[n] Gleichheitsansatz“ - je länger der Aufenthalt, desto integrierter (Barnard, 2005, zit. n. Buckel, 2013: 131). Dies wurde von den national-konservativen Diskursteilnehmer*innen als wichtiger Kompromissschritt gewertet. Das Urteil entzöge den Bedenken in Bezug auf Sozial- und Bildungstourismus den Boden (Buckel, 2013: 131). Sonja Buckel sieht hier den Versuch der „defensiv-hegemonialen nationalen Strategien […] den Rechtsstatus wieder zurückzudrehen und Unionsbürger*innen zu migrantisieren“ (ebd.: 132). Das im Ergebnis positive Urteil wurde aber gleichzeitig auch von den proeuropäischen Diskursteilnehmer*innen gelobt (vgl. Buckel, 2013: 135). Denn der Anspruch auf Leistungen sei nicht mehr an das alte Kriterium der Nationalität gebunden, sondern vermittelt durch die Verbindung zum neuen Mitgliedsstaat bzw. die „Integration in das soziale Leben“147. Die Rede war sogar von einer „Denationalisierung der Europäischen Wohlfahrtsstaaten“ (van der Mei, 2005: 207°, zit. n. Buckel, 2013: 134)148. Das nächste Urteil des EuGHs wurde dann als Notbremse bezeichnet, als „diskursive[r] Triumph der national orientierten Strategien“ (Buckel, 2013: 151) und stand im Zeichen der einbrechenden Finanzkrise. Der Gerichtshof gab dem niederländischen Staat Recht, der ein Unterhaltsstipendium von der deutschen Studierenden Jacqueline Förster zurückforderte, weil sie das Kriterium des fünfjährigen ununterbrochenen Aufenthalts nicht erfüllte. Der EuGH stockte das dreijährige Aufenthaltskriterium, das er bei der Rechtssache Bidar abgesegnet hatte, sogar auf fünf Jahre auf. Faktisch erkannte er damit das Sekundärrecht (bzw. Art. 24 Abs. 1 RL 2004/38/EG) als bindend an. Dies traf auf starke Kritik. Viele Studierende hätten schon vor Ablauf dieses Zeitrahmens eine tatsächliche Verbindung zum Aufnahmestaat entwickelt. Auch käme es einem grundsätzlichen Ausschluss gleich, da wenige Studierende länger als fünf Jahre benötigten, um ihr Studium abzuschließen (ebd.: 150). Diese Kritik widersprach der grundlegenden Logik, dass eine Verbindung zum Aufnahmestaat nachgewiesen werden müsse, aber nicht. Es zeigt sich hier, wie die Prüfung der Verhältnismäßigkeit dem EuGH die Möglichkeit bietet, beide Diskursseiten zufriedenzustellen. Soziale Rechte 147 Rs. C-209/03, Slg. 2005, I-2119, Rn. 61. 148 Von Denationalisierung wurde auch schon im fünften Kapitel in Hinsicht auf Stadtbürgerschaft gesprochen. Mit der Europäisierung findet sich hier eine zweite Form der Denationalisierung. 263 gelten dabei aber nicht (mehr) grundsätzlich, sondern werden konditionalisiert bzw. an Bedingungen gebunden. Die Diskursteilnehmer*innen, die dieses weitreichende Urteil als „vorläufigen Schlussstrich“ (Papp, 2009: 88, zit. n. Buckel, 2013: 152) unter die proeuropäische Rechtsprechung bejubelten, sollten sich aber täuschen. Denn schon ein halbes Jahr später sprach der EuGH ein Urteil, dass zwei nichterwerbstätigen Unionsbürger*innen Anspruch auf Hartz IV zusprach. Hartz IV für nichterwerbstätige Unionsbürger*innen?! Bis hier her mag die Frage aufgekommen sein, in welcher Verbindung die juridischen Aushandlungen mit den lokalen Auseinandersetzungen um die Versuche des Regierens von EU-migrantischen Arbeiter*innen in München stehen. Dies wird im Folgenden klarer werden, denn die Rechtsprechungslinie mündete in die Frage, ob der Ausschluss von arbeitssuchenden Ausländer*innen von der bundesdeutschen Grundsicherung für Arbeitssuchende (Hartz IV) mit dem Europarecht konform gehe, oder nicht. Dieser Ausschluss, der im Paragraphen 7 des Sozialgesetzbuchs (SGB) II festgeschrieben ist, übte - wie spätestens im Kapitel zur kommunalen Wohnungslosenpolitik deutlich wurde und insbesondere im siebten Kapitel dieser Arbeit Thema sein wird - einen Einfluss auf die lokalen Verhältnisse aus, der nicht zu unterschätzen ist. Vatsouras/Koupatantze 2009149: Wider die deutsche Ausschlussklausel 149 264 Rs. C-22/08 und C-23/08, Slg. 2009, I-4585. Im Jahr 2009 urteilte der EuGH im Sinne zweier griechischer Staatsbürger gegen die ARGE Nürnberg und gegen den Ausschluss arbeitssuchender Unionsbürger*innen aus dem Hartz IV. Athanasios Vatsouras und Yosif Koupatantze hatten wenige Monate nach ihrer Einreise eine Erwerbstätigkeit angenommen und aufstockend zu ihrem geringen Einkommen erfolgreich Hartz IV beantragt. Nach kurzer Zeit (bei einem der beiden nach weniger als einem Monat) wurden sie arbeitslos, woraufhin ihnen die Leistungen aberkannt wurden. Sie legten Einspruch ein. Da die deutsche Rechtsprechung in Bezug auf den Ausschluss aus dem SGB II uneinheitlich war, wendete sich das bayerische Sozialgericht an den Europäischen Gerichtshof mit der Frage: „Ist Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG [der Ausschluss von nichterwerbstätigen Unionsbürger*innen von Sozialleistungen] mit Art. 12 EG [Diskriminierungsverbot] in Verbindung mit Art. 39 EG [Freizügigkeit] vereinbar?“150 Der EuGH entschied, dass sowohl arbeitssuchende Unionsbürger*innen wie auch Leistungen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollten, nicht vom Gleichbehandlungsgebot ausgeschlossen werden dürften. Der Ausschluss von arbeitssuchenden Unionsbürger*innen von der Grundsicherung für Arbeitssuchende sei auch deswegen nicht mit Unionsrecht vereinbar, weil Hartz IV, nach Einschätzung der Richter*innen, keine Sozialhilfeleistung im Sinne des Artikels 24 Absatz 2 der Richtlinie 2004/38/EG darstelle, sondern „eine finanzielle Leistung, die […] den Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedsstaats erleichtern soll“151. Das Urteil lehnte eine Ausgrenzung von Arbeitssuchenden aber nicht pauschal ab, sondern die Mitgliedsstaaten dürften legitimerweise überprüfen, ob eine „tatsächliche Verbindung des Arbeitssuchenden mit dem Arbeitsmarkt dieses Staates festgestellt werde“152, um die Sozialsysteme vor „den Gefahren des sogenannten ‚Sozialtourismus‘153“ zu schützen, so der Generalanwalt Colomer. Damit führte der Gerichtshof, der neu150 Urteil Vatsouras/Koupatantze, Rs. C-22/08 und C-23/08, Slg. 2009, I-4585, Rn. 21, Anmerkungen durch Autorin. 151 Rs. C-22/08 und C-23/08, Slg. 2009, I-4585, Rn. 37. Und weiter: „Eine Voraussetzung wie die in § 7 Abs. 1 SGB II enthaltene, wonach der Betroffene erwerbsfähig sein muss, könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Leistung den Zugang zur Beschäftigung erleichtern soll“ (Rs. C-22/08 und C-23/08, Slg. 2009, I-4585, Rn. 43) 152 Rs. C-22/08 und C-23/08, Slg. 2009, I-4585, Rn. 38. 153 Schlussanträge des Generalanwalts Damaso Ruiz-Jarabo Colomer v. 12.03.2009, Rs. C-22/08 und C-23/08, Rn. 49. 265 en Richtlinie folgend, eine neue Kategorie in die Rechtsprechungslinie ein. Neben der Unterscheidung zwischen Arbeitssuchenden, die den Arbeitnehmer*innenstatus durch vorangegangene Erwerbstätigkeit schon erlangt haben und solchen, die noch nicht gearbeitet haben, gibt es nun noch eine weitere Unterscheidung: die zwischen Arbeitssuchenden mit Aussicht auf Erfolg bei der Arbeitssuche (und damit Verbindung zum Arbeitsmarkt) und jenen ohne Aussicht auf Erfolg. Wenn Unionsbürger*innen „tatsächliche Verbindungen mit dem Arbeitsmarkt eines anderen Mitgliedstaats hergestellt haben“, können sie „eine finanzielle Leistung in Anspruch nehmen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern soll“154. Nach diesem Urteil geht der deutsche Ausschluss von arbeitssuchenden Ausländer*innen aus dem Hartz IV (als Leistung, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern soll), zumindest in seiner pauschalen Form, mit dem EU-Recht nicht konform. Der EuGH könne aber nur Leitlinien formulieren. Es sei „Sache der zuständigen nationalen Behörden und gegebenenfalls der innerstaatlichen Gerichte, nicht nur das Vorliegen einer tatsächlichen Verbindung mit dem Arbeitsmarkt festzustellen, sondern auch die grundlegenden Merkmale dieser Leistung zu prüfen.“155 Dieses Urteil ist das letzte, das Sonja Buckel in ihre Forschung einbezogen hat. Sie kommt nachvollziehbar zu dem Schluss, dass sich die „proeuropäische[n] Strategien durchsetzen“ und eine „neuartige Perspektive“ formulieren, „die man als ‚europäische soziale Union‘ bezeichnen kann“: „Das juridische Projekt zielte [...] auf die Schaffung eines europäischen Allgemeinen: aus linksliberal-alternativer Sicht auf ein ‚Europa der Bürger‘/‘a people“s Europe‘/‘citoyenneté européenne‘ und aus proeuropäisch-sozialer Perspektive auf eine ‚wahre Sozialunion‘.“ (Buckel, 2013: 166) Diese diskursiv-rechtlichen Transformationen hin zu einem „Staatsprojekt Europa“ könnten sich aber erst konsolidieren, wenn sie alle Akteure – auch die nationalen – mit einbezögen. Dies wiederum sei abhängig 154 155 266 Rs. C-22/08 und C-23/08, Slg. 2009, I-4585, Rn. 40. Rs. C-22/08 und C-23/08, Slg. 2009, I-4585, Rn. 41. von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen (vgl. ebd.). Wenn Buckel erklärt, dass die Suchprozesse in Richtung einer „sozialen Union der Bürger“ bereits begonnen hätten, sollten die kommenden Entwicklungen zeigen, dass diese Prozesse nicht weit kamen. Meiner Meinung nach unterschätzte Sonja Buckel die Bedeutung der Verhältnismäßigkeitsund individualisierenden Einzelfallprüfung, die zwar einem pauschalen Ausschluss, aber auch grundlegenden sozialen Rechten entgegenstanden. Die Aushandlungen bewegten sich in Richtung einer entlang von Nützlichkeitslogiken stratifizierten und bedingten Marktbürgerschaft, statt den Pfad in Richtung einer Sozialunion der Bürger*innen einzuschlagen. Änderung des Sekundärrechts: Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit Erst einmal kam die Bundesregierung jedenfalls nicht nur durch dieses Urteil, sondern auch durch eine neue EU-Verordnung unter Druck, den Zugang zu Hartz IV auch für nichterwerbstätige Unionsbürger*innen zu öffnen. Neben der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG stellt heute auch die Verordnung156 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit einen wichtigen Bezugspunkt in den Auseinandersetzungen um die sozialen Rechten von Bürger*innen der EU dar. Sie trat in ihrer modernisierten Version am 1. Mai 2010 in Kraft und bezog die bis zu diesem Zeitpunkt ergangene Rechtsprechung des EuGHs, die das vorher geltende Recht überholt hatte, mit ein. Auch sie enthält ein Diskriminierungsverbot157 (Art. 4), das insbesondere verbietet, „Leistungsansprüche im Wirkungsbereich der VO [Verordnung, Anmerkung der Autorin] an die inländische Staatsangehörigkeit zu binden“ (Frings, 156 Sowohl bei Verordnungen wie bei Richtlinien handelt es sich um Sekundärrecht. Allerdings sind „Verordnungen Rechtssetzungen mit allgemeiner Geltung, die in all ihren Teilen verbindlich sind und von den zuständigen Institutionen der Mitgliedsstaaten unmittelbar anzuwenden sind (Art. 288 AEUV). Richtlinien sind hingegen lediglich hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich (Art. 288 AEUV)“ (Frings, 2012: 15). 157 „Sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, haben Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates“ (VO 883/2004, Art. 4). 267 2012: 14). In den Wirkungsbereich der Verordnung fallen allerdings nur Leistungen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt als Ziel haben und nicht Sozialhilfe, die einfach nur zum Überleben dient. Hartz IV ist ausdrücklich in den Wirkungsbereich der Verordnung aufgenommen. Die Verordnung setzt fest, dass Bürgerschaftsrechte für Nichterwerbstätige an den Ort des gewöhnlichen Aufenthalts gebunden werden, bzw. dass das lex loci domicilii gilt, wenn das lex loci laboris nicht anwendbar ist. Dies kann als eine Verschiebung von der Marktbürgerschaft hin zum sozialen Gehalt der Unionsbürgerschaft (vgl. Frings, 2012; Van Overmeiren, Eichenhofer & Verschueren, 2013) und ein Durchbruch in Richtung einer postnationalen Konzeption von Bürgerschaft gedeutet werden.158 EU-Rechtsexpert*innen haben darauf hingewiesen, dass der Ausschluss von nichterwerbstätigen Personen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben, aus dem Hartz IV in Hinsicht auf die Verordnung rechtswidrig sei (vgl. Van Overmeiren, Eichenhofer & Verschueren, 2013). Die Bundesregierung ließ sich aber weder von dem Urteil im Fall Vatsouras/Koupatantze, noch von der Verordnung 883/2004 beeindrucken. Der Paragraph 7 SGB II schließt auch heute noch Unionsbürger*innen, deren Aufenthaltsrechts sich alleine aus der Arbeitssuche ergibt, von Hartz IV-Leistungen aus.159 In zwei jüngeren Urteilen zu der Frage, ob nichterwerbstätige Unionsbürger*innen Anspruch auf Hartz IV haben sollten, legte dann auch der EuGH eine Kehrtwende ein. Diese Kehrtwende nutzte das Verhältnismäßigkeitsargument in Anbetracht der (angeblichen) Bedrohung durch ‚Sozialtourismus‘ – ging aber noch weiter in Richtung nationaler Wohlfahrtsouveränität als dies im Lichte der vorangegangenen Urteile auszumalen gewesen wäre. 158 Es wurde sogar argumentiert, dass die nach dem Wohnsitzprinzip gewährten Leistungen das Aufenthaltsrecht absichern könnten, weil sie als ausreichende Existenzmittel betrachtet werden sollten (vgl. ebd.). 159 Im Jahr 2013 wurde das deutsche Freizügigkeitsgesetz sogar noch verschärft: So können heute Unionsbürger*innen abgeschoben werden, wenn sie nach sechs Monaten nicht nachweisen können, dass sie mit Aussicht auf Erfolg Arbeit suchen (mehr dazu im siebten Kapitel). 268 Dano 2014160 und Alimanovic 2015161: Migrationskontrolle statt soziale Union Die diskursiven Rahmenbedingungen der Rechtsprechung am EuGH hatten sich bis zum Jahr 2014, als die Kehrtwende des EuGHs stattfand, verschärft. Spätestens im Jahr 2013 waren in Deutschland und weiteren Mitgliedsstaaten, z.B. im Vereinigten Königreich, rechte Moralpaniken in Bezug auf ‚Armutszuwanderung‘ und ‚social tourism‘ aufgebrandet. Die Kommentator*innen der neuen Urteile brachten die Umorientierung des EuGHs mit der öffentlichen Rede vom ‚Sozialtourismus‘ in Zusammenhang und verwiesen teilweise auf die Aufhebung der Freizügigkeitseinschränkungen gegenüber bulgarischen und rumänischen Staatsbürger*innen sowie auf die Finanzkrise; die Richter*innen, von der Realität eingeholt, brächen nun mit dem Projekt, anhand der sozialen Rechte Nichterwerbstätiger die Unionsbürgerschaft mit „politischer Imagination“ anzufüllen (Fuchs, 2015: 95; Janda, 2015b: 108). Der EuGH sei schließlich „kein Autist, sondern achtet auf das integrationspolitische Umfeld“ (Thym, 2014). In der ersten Rechtssache Dano ging es um Elisabeta Dano, eine rumänische Frau Anfang zwanzig, die für sich und ihr im Jahr 2009 geborenes Kind Florin im Januar 2012 Leistungen nach dem SGB II (Hartz IV) beantragt hatte. Nach der Ablehnung durch das Jobcenter Leipzig klagte sie vor dem Sozialgericht (SG) Leipzig und stützte sich dabei auf das Urteil in der Rechtssache Vatsouras/Koupatantze. Das SG Leipzig fragte dann den EuGH nach der Vereinbarkeit von EU-europäischem Primärund Sekundärrecht mit der nationalen Ausschlussklausel, die Arbeitssuchenden den Zugang zu Hartz IV versperrt (Art. 7 SGB II). Frau Dano lebte bei ihrer Schwester, war im Jahr 2010 letztmalig eingereist und suchte, im Gegensatz zu Vatsouras und Koupatanze, nicht nach Arbeit. Einige Diskursteilnehmer*innen betonten zudem, dass sie, auch wenn sie Arbeit suchen würde, keine Aussicht auf Erfolg hätte, dass sie weder die deutsche Sprache (gut genug) beherrsche, noch einen Schulabschluss hätte.162 In diesem Sinne war sie sowohl nichterwerbstätig und 160 Rs. C-333/13, Sammlung der Rechtsprechung noch nicht veröffentlicht. 161 Rs. C-67/14, Sammlung der Rechtsprechung noch nicht veröffentlicht. 162 Vgl. beispielsweise Schlussanträge des Generalanwalts Melchior Wathelet v. 20.04.2014, Rs. C-333/13, Rn. 128. 269 nichtarbeitssuchend wie auch nichterwerbsfähig. Sie konnte keinerlei Bezug zum Arbeitsmarkt vorweisen und passte – als alleinerziehende Mutter!163 in alle Register der unerwünschten ‚bad migrants‘ bzw. ‚Sozialtourist*innen‘, die das nationale Sozialsystem bedrohten. Dies zeigt auch die folgende Argumentation des Generalanwaltes: „Im vorliegenden Fall fügt sich meines Erachtens die nationale Regelung, indem sie Personen, die einzig und allein mit dem Ziel nach Deutschland kommen, Nutzen aus dem Sozialhilfesystem dieses Mitgliedstaats zu ziehen, und sich in keiner Weise darum bemühen, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren, in den Willen des Unionsgesetzgebers ein. Damit kann verhindert werden, dass die Personen, die von ihrer Freizügigkeit Gebrauch machen, ohne sich integrieren zu wollen, eine Belastung für das Sozialhilfesystem werden. [...] Sie erlaubt es mit anderen Worten, Missbräuche und eine gewisse Form von ‚Sozialtourismus‘ zu verhindern.“164 Ein weiteres zentrales Argument, das im Gegensatz zu dem Urteil in der Rechtssache Vatsouras/Koupatantze stand, lautete, dass Hartz IV als Leistungen der Sozialhilfe zu deuten sei, und nur sekundär als Leistung, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern soll, und so nicht unter das Gleichbehandlungsgebot der Verordnung 883/2004 falle.165 Das 163 Auch wenn ich hier nicht weiter darauf eingehen kann, möchte ich doch darauf hinweisen, dass Frau Dano (wie im übrigen auch die nächste Klägerin Nazifa Alimanovic) als alleinerziehende Mutter eines Kleinkindes hier durch die Raster der Arbeitsgesellschaft fiel. Es wäre höchst interessant, diese Dynamiken der differenzierten Inklusion aus feministischer Perspektive auf Geschlechter- und Reproduktionsverhältnisse und die Entwertung von careArbeit hin zu untersuchen. 164 Schlussanträge des Generalanwalts Melchior Wathelet v. 20.04.2014, Rs. C-333/13, Rn. 131. 165 Sowohl Gericht wie auch Generalanwalt bezogen sich auf die Rechtssache Brey (Rs. C-140/12, Sammlung der Rechtsprechung noch nicht veröffentlicht) in der einem deutschen Rentnerehepaar in Österreich zwar aufstockende Rentenzahlungen zugesprochen wurden, ihr Aufenthalt aber als unrechtmäßig gesehen wurde. In diesem Urteil brach das Gericht nämlich mit der Auffassung, dass eine öffentliche Leistung nicht gleichzeitig eine „besondere unabhängige Leistung“ nach der Verordnung 884/2004 und eine „Sozialleistung“ nach der Richtlinie 2004/38/EG sein konnte. Weil nun beides gleichzeitig möglich war, konnte der Bezug einer solchen Leistung die Freizügigkeit in Gefahr bringen. 270 Urteil des EuGHs ging dann auch weiter, als vorab erwartet worden war. Er entschied nicht, dass im Sinne der Verhältnismäßigkeit individuell geprüft werden müsse, ob eine tatsächliche Verbindung zum Aufnahmestaat bestehe (durch die Prüfung der Aufenthaltsdauer oder des gewöhnlichen Aufenthalts), sondern legitimierte den Ausschluss aller nichtarbeitssuchenden und nichterwerbstätigen Unionsbürger*innen von der Grundsicherung für Arbeitssuchende (Hartz IV) pauschal. Unklar blieb aber noch, ob diese Kehrtwende des EuGHs auch Unionsbürger*innen, die zwar nicht erwerbstätig sind, aber nach Arbeit suchen, betraf. Diese Frage sollte in der nächsten Rechtssache verhandelt werden, in der es wieder um eine alleinerziehende Mutter ging: Nazifa Alimanovic und ihre drei Kinder Sonita, Valentina und Valentino, die zwischen 1994 und 1999 in Deutschland zur Welt gekommen sind. Anders als Frau Dano suchten Frau Alimanovic und ihre Tochter Sonita nach Arbeit und waren jeweils weniger als ein Jahr in kurzfristigen Arbeitsverhältnissen in Deutschland erwerbstätig gewesen, bevor sie für ein halbes Jahr Hartz IV bezogen. Die Leistungen wurden nach sechs Monaten vom Jobcenter unter der Begründung aberkannt, dass sich ihr Aufenthaltsrecht nun alleine aus der Arbeitssuche ergab. Sie gingen in Berufung und das Bundessozialgericht fragte schließlich den EuGH, ob der Ausschluss von Arbeitssuchenden, die zuvor schon erwerbstätig in Deutschland gewesen waren, mit dem EU-Recht konform gehe. Entgegen der Argumentation des Generalanwalts Wathelet, dass in diesem Fall ein automatischer Ausschluss gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoße und den Antragsstellenden erlaubt werden müsse, „das Bestehen einer solchen tatsächlichen Verbindung mit dem Aufnahmemitgliedstaat nachzuweisen“166, segneten die Richter*innen überraschenderweise auch für diese Fallkonstellation den pauschalen Ausschluss aus dem Hartz IV ab. Eine individuelle Prüfung sei nicht 166 Schlussanträge des Generalanwalts Melchior Wathelet v. 26.03.2015, Rs. C-67-14, Rn. 110. Ausführlicher dazu in der Pressemitteilung Nr. 35/15 des EuGHs vom 26.03.2015: „In dieser Hinsicht ist – neben Umständen, die sich aus dem familiären Kontext ergeben (wie der Schulausbildung der Kinder) – die effektive und tatsächliche Beschäftigungssuche während eines angemessenen Zeitraums ein Umstand, der das Bestehen einer solchen Verbindung mit dem Aufnahmemitgliedstaat belegen kann. Eine frühere Erwerbstätigkeit oder auch die Tatsache, dass der Betreffende nach Stellung des Antrags auf Sozialleistungen eine neue Arbeit gefunden hat, wäre zu diesem Zweck ebenfalls zu berücksichtigen.“ 271 nötig. In ihrem Urteil folgten sie einer sehr ähnlichen Argumentation wie im Fall Dano. Viele Expert*innen zeigten sich überrascht über die restriktiven Urteile, da sie von der Individualisierung des Anspruchs im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung abrückten und nicht zuletzt dem Urteil zu Vatsouras/Koupatantze diametral entgegen standen. Dieses Urteil, das den arbeitssuchenden Unionsbürgern Vatsouras und Koupatantze soziale Leistungen zugesprochen hatte, werde von den Richter*innen mit keinem Wort erwähnt und sei nun wohl überholt, so stellt Maximilian Fuchs (2015) lapidar fest.167 Nach der revolutionären Vorlage der vorhergehenden, proeuropäischen Urteile, in der sich der EuGH als „Künstler“168 erwiesen und die „Unionsbürgerschaft [zu einer] Projektionsfläche für ein gutes Leben“ (Thym, 2014) gemacht hatte, folgt er nun den langjährigen Kritiken von Seiten der Befürworter*innen der nationalen Wohlfahrtssouveränität. Die Richter*innen ziehen sich auf ihre Rolle als „Rechtstechniker“ (ebd.), die die Sekundärrichtlinien auslegen und somit den Rahmen der Marktbürgerschaft im Interesse der nationalen Wohlfahrtssouveränität festzurren, zurück.169 Der EuGH ersetzte die Prüfung der Verhältnismäßigkeit des Sozialhilfebezugs im individuellen Fall durch eine pauschale Prüfung des Aufenthaltsrechts. Janda argumentierte in Bezug auf Dano, die Richter*innen hätten übersehen, dass es in der Verordnung auf die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts nicht ankomme, sondern 167 Zu diesem Aufsehen erregenden Urteil kam das Gericht in drei Schritten: „In einem Dreischritt wird unmissverständlich festgelegt, dass Unionsbürger, die nicht arbeiten und auch keine Arbeit suchen, über ausreichende Existenzmittel verfügen müssen und in Abwesenheit derselben über kein Freizügigkeitsrecht verfügen, mangels dessen auch eine Gleichbehandlung ausscheidet.“ (Thym, 2014) 168 Schlussanträge des Generalanwalts Dámaso Ruiz-Jarabo Colomer v. 20.03.2007, verb. Rs. c-11/06 und C-12/06, Rn. 1 169 Der EuGH kehrte seine bisherige Auslegung des Verhältnisses von Primär- und Sekundärecht um: Statt die Freizügigkeit als Grundfreiheit auszulegen oder das Diskriminierungsverbot an den Grundstatus der Unionsbürgerschaft zu knüpfen und so eine sekundärrechtliche Einschränkung des Primärrechts zu verbieten (oder nur nach strenger Verhältnismäßigkeitsprüfung zu erlauben), sieht er die Richtlinie 2004/38/EG und die Verordnung als Sekundärrecht nun als bindende Anweisungen, wie die Verträge auszulegen seien. Nach dieser Feststellung beziehen sich die Richter*innen nur noch auf das Sekundärrecht und nicht mehr auf die primären Verträge der EU. 272 dass die Grundlage für den Anspruch von Nichterwerbstätigen auf soziale Leistungen vielmehr der individuell zu prüfende „gewöhnlichen Aufenthalt“ sei. Sie begrüßte das eindeutige Ergebnis im Fall Dano zwar, da es „nunmehr eine sachliche Diskussion um den Leistungszugang tatsächlich arbeitssuchender Unionsbürger“ ( Janda, 2015b: 112) ermögliche. Sie argumentierte aber, dass die Regelung des „gewöhnlichen Aufenthalts“ schon alleine ausgereicht hätte, um „Sozialtourismus“ zu verhindern, da Personen, die der individuellen Prüfung nicht stand hielten, „gezwungen [werden], in ihren Herkunftsstaat zurückzukehren, wenn sie existenzsichernder Leistungen bedürfen“ (ebd.: 111). Die Richter*innen brechen nicht nur mit dem Dogma der Prüfung der Verhältnismäßigkeit im Einzelfall, sondern auch mit der Automatik der Freizügigkeit, dem Grundsatz der Vermutung der Freizügigkeit auf alleiniger Grundlage des Unionsbürgerschaftsstatus (ebd. 110). Bisher mussten alle Behörden grundsätzlich davon ausgehen, dass Unionsbürger*innen freizügig waren und somit ein Aufenthaltsrecht besaßen, bis die Ausländerbehörde aufgrund eines begründeten Verdachts nach individueller Prüfung das Recht auf Freizügigkeit aberkannte. Nun argumentieren die Richter*innen: „Nur wenn der Aufenthalt nach den Vorgaben der [EU-Freizügigkeits-]Richtlinie rechtmäßig sei, könne der Anspruch auf Gleichbehandlung, mithin auf Zahlung von Sozialleistungen bestehen“ ( Janda 2014a). Nichterwerbstätige, die nicht über ausreichend Existenzmittel verfügten, seien aber nicht freizügig, denn die Richtlinie 2004/38/EG verlange ausreichend Existenzmittel (für eine Aufenthaltsrecht von über drei Monaten), „so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen“ (Art. 7 Abs.1 b RL 2004/38/EG). Die daraus resultierende Ungleichbehandlung zwischen Inländer*innen und Unionsbürger*innen, die die Bedingungen der Freizügigkeit nicht erfüllten, sei eine „unvermeidliche Folge der Richtlinie 2004/38“170171. Der EuGH war hier der Meinung, dass 170 Rs. Dano, C-333/13, Sammlung der Rechtsprechung noch nicht veröffentlicht, Rn. 77. 171 „Eine solche potenzielle Ungleichbehandlung beruht nämlich auf dem Verhältnis, das der Unionsgesetzgeber in Art. 7 dieser Richtlinie zwischen dem 273 die aufenthaltsrechtlichen Regelungen der Richtlinie 2004/38/EG auch das koordinierende Sozialrecht der Verordnung einschränke. Es ging davon aus, dass Unionsbürger*innen und ihre Familienangehörigen grundsätzlich nur unter den Bedingungen als freizügig zu betrachten sind, dass sie entweder erwerbstätig oder – bei Nichterwerbstätigkeit – über ausreichend Existenzmittel oder Aussicht auf Arbeit verfügten. In der Rechtssache Alimanovic dehnt er dies auf Arbeitssuchende generell aus. Ob Freizügigkeit bestehe, sei demnach von den Jobcentern172 zu prüfen, um über den Zugang zu sozialen Leistungen entscheiden zu können. Die Urteile in den Rechtssachen Dano und Alimanovic waren damit Teil eines Prozesses, der dem Status der Unionsbürgerschaft mit der Automatik der Freizügigkeit sein entscheidendes Merkmal nimmt, das Konzept der Freizügigkeit durch seine Konditionalisierung um 180 Grad dreht und somit, nach Buckel, Unionsbürger*innen „migrantisiert“ (Buckel, 2013: 132). Die Juristin Anuscheh Farahat wirft dann auch die Frage auf, „ob die unionsbürgerschaftliche Freizügigkeit zu einem Privileg gut situierter Unionsbürger wird“ (Farahat, 2014). Die Urteile folgen radikal der neuen Grenzlinie entlang des Kriteriums der Verwertbarkeit auf dem Arbeitsmarkt, wie sie in dem Vorgängerurteilen ausgelegt wurde. Der Jurist Daniel Thym bringt dies folgendermaßen auf den Punkt: „Eine Absage erteilte der Gerichtshof einzig einer bundesstaatlichen Sozialbürgerschaft mit einem umfassenden Gleichheitsversprechen für wirtschaftlich Inaktive. Dies reaktiviert zugleich die klassische Lesart einer ‚Marktbürgerschaft‘, die im Kern die grenzüberschreitende Wirtschaftstätigkeit betrifft. Hierzu passt eine Reihe jüngerer Urteile, in denen der Gerichtshof zwischen ‚guten‘ und ‚schlechten‘ Bürgern unterscheidet. Insofern bleibt die Unionsbürgerschaft eine Erfordernis ausreichender Existenzmittel als Voraussetzung für den Aufenthalt und dem Bestreben, keine Belastung für die Sozialhilfesysteme der Mitgliedstaaten herbeizuführen, geschaffen hat.“ (Rs. Dano, C-333/13, Sammlung der Rechtsprechung noch nicht veröffentlicht, Rn. 77.) 172 Das Jobcenter prüft zwar die aufenthaltsrechtlichen Bedingungen, entscheidet aber nur über den Sozialleistungsbezug und nicht über die Aberkennung der Freizügigkeit. Über diese und gegebenenfalls die Abschiebung entscheidet die Ausländerbehörde. Hier gilt auch noch ein Zeitraum von sechs Monaten, in dem Unionsbürger*innen keinen Anspruch auf Leistungen haben, aber die Freizügigkeit noch nicht aberkannt werden darf. 274 unvollständige Bürgerschaft, die nicht alle Statusinhaber schützt.“ (Thym, 2014) Dies lässt ihn in einem anderen Text zu der These greifen, dass aus Unionsbürger*innen nun illegale Migrant*innen werden: „By denying an application of the non-discrimination guarantees to citizens without residence rights, the Court effectively established a class of ‚illegal migrants‘ living unlawfully in other Member States without equal treatment guarantees; citizens who are economically inactive automatically lose their residence rights.“ (Thym, 2015) Weil sie für die Prüfung des Aufenthaltsrechts zuständig sind, werden die Sozialbehörden zu der neuen Grenzpolizei Europas, wie Claudius Voigt in einem Seminar zu den sozialen Rechten von Unionsbürger*innen schon 2013 bemerkte. In unzähligen „Grenzsituationen“ (Lebuhn, 2012) managen sie sich verschränkende Grenzziehungen, die in den Fällen Dano und Alimanovic zwischen erwerbstätigen Marktbürger*innen und deutschen Bürger*innen auf der einen und nichterwerbstätigen Ausländer*innen auf der anderen Seite gezogen wurden. Die Urteile gegen die alleinerziehenden Mütter Dano und Alimanovic (und ihre Kinder) sind so als migrationspolitischer Einsatz zu erklären: Sie verfolgen das Ziel, Armutszuwanderung zum Wohle der nationalen (oder auch produktiv-vielfältigen) Gesellschaft zu bekämpfen. Hierauf verweist auch das folgende Statement des Generalanwalts Wathelet in der Rechtsache Dano, der vor der Gefahr einer „Massenzuwanderung“ warnt, „die eine unangemessene Inanspruchnahme der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit nach sich ziehen könnte“.173 Resümée: Der kurze Sommer der Sozialunion. Oder: Wie die Nation vor ‚Sozialtourismus‘ geschützt wurde 173 Schlussanträge des Generalanwalts Melchior Wathelet v. 20.04.2014, Rs. C-333/13, Rn. 91. 275 Die Analyse der Rechtsprechungslinie von Sala im Jahr 1998 bis Alimanovic im Jahr 2015 hat Einblick darin gegeben, wie sich innerhalb von wenigen Jahren nicht nur die Rechtsprechung und Gesetzgebung, sondern auch die Koordinaten des Diskurses und die Kräfteverhältnisse geändert haben. Zumindest in den ersten Jahren haben die Richter*innen des EuGHs den noch leeren Status der Unionsbürgerschaft imaginativ mit Inhalt gefüllt. So konnten sie weitgehende Akzeptanz dafür etablieren, dass die Unionsbürgerschaft als grundlegender Status ohne weitere Bedingungen die Freizügigkeit und das Diskriminierungsverbot eröffnete und auch Nicht-Erwerbstätige Anspruch auf soziale Leistungen haben konnten. Am weitesten gingen wohl die Urteile zu Trojani und Vatsouras/Koupatantze, die zeigen, dass die Kräfte in Richtung einer sozialen Union immer wieder so stark waren, dass auch „arme Schlucker wie Michel Trojani“ (Kingreen, 2007: 74, zit. n. Buckel, 2013: 128) ein Existenzminimum gesichert bekamen. Während das Projekt der sozialen Union vor dem EuGH erst scheinbar siegte (so auch Sonja Buckels These), weil der Sozialleistungsbezug für nichterwerbstätige Unionsbürger*innen nicht mehr pauschal ausgeschlossen war, entstand aus der Kompromissfigur der Prüfung der ‚Verhältnismäßigkeit‘ ein fein abgestimmtes Instrument der Aussiebung und Kontrolle. Um die Sicherheit der nationalen Sozialsysteme zu gewährleisten wurde die Grundfreiheit der Freizügigkeit an Bedingungen geknüpft, wie etwa die ‚soziale Integration‘ in die ‚Aufnahmegesellschaft‘ oder die ‚tatsächliche Verbindung zum Arbeitsmarkt‘, die im Einzelfall individuell geprüft werden sollten. Hier bildete sich ein Kompromiss zwischen den proeuropäischen Projekten der sozialen Union sowie der Liberalisierung des europäischen Raumes einerseits und der Wirkmacht des Nationalprotektionismus andererseits. Statt eine pauschale Unterscheidung zwischen In- und Ausländer*innen zu treffen, wurde ein soziales Netz geknüpft, das Erwerbstätige und Arbeitssuchende mit Aussicht auf Erfolg nach individueller Prüfung auffing, während Nichterwerbstätige und ‚schlechte‘ Arbeitssuchende durch die Maschen fallen gelassen wurden, um die nationalen Sozialsysteme zu schützen.174 174 Anspruch auf Hartz IV besteht weiterhin bei unverschuldetem Arbeitsplatzverlust nach über einem Jahr Arbeitsverhältnis, wenn ein anderer Aufenthaltsgrund als die Arbeitssuche besteht und bei Daueraufenthaltsrecht nach mehr als fünf Jahren rechtmäßigem Aufenthalt in Deutschland. EUBürger*innen, die weniger als ein Jahr in Deutschland gearbeitet haben und 276 Dieser kreative Kompromiss zwischen dem pauschalen Ausschlussprinzip des alten keynesianischen Sozialstaatsmodells und der Europäisierung des Sozialen griff auf die leistungsideologischen Koordinaten zu, die das Aktivierungsparadigma des workfare absteckten, welches genau zu dieser Zeit in EU-Europa auf dem Vormarsch war (vgl. Schröder & Blair, 1999). „Die Schwelle noch tolerierbarer sozialer Verletzlichkeit“ (Lorey, 2012: 88), von der Isabel Lorey in ihrer Theorie der Prekarisierung als biopolitischer Gouvernementalität spricht, ist hier besonders für die angeblichen nichterwerbsfähigen Armutszuwander*innen sehr weit unten angelegt. Die biopolitische Gouvernementalität der Prekarisierung, so Lorey, minimiere Absicherung soweit wie möglich bei gleichzeitiger Maximierung der Prekarität (siehe Kapitel 2). Besonders durch die Konzentration auf die individuelle Prüfung, wie gut die Kläger*innen in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt integriert seien, ist im analysierten Rechtsdiskurs auch „die strukturelle Verstrickung zwischen der Regierung eines Staats und den Techniken der Selbstregulierung in modernen okzidentalen Gesellschaften“ (ebd.: 39) zu erkennen, die typisch für gouvernementale Regierenstechnologien ist. Die Rechtssprechungslinie, in der die nationalstaatlichen Ausschlusskriterien abgeschwächt und die Grenzpraktiken vielmehr (auch im Zuge der Transformation des Sozialstaates zu einem aktivierenden Workfare-Staat) auf die Prüfung individueller Integrationsleistungen verschoben werden, kann mit Isabel Lorey so als Teil des „Normalisierungsprozess“ der Prekarisierung – und somit der Verschärfung von Ausbeutungsverhältnissen – gesehen werden, „in dem [...] das existenzielle Prekärsein sich nicht mehr gänzlich durch die Konstruktion bedrohlicher Anderer verschieben und als Prekarität abwehren lässt; es artikuliert sich vielmehr in der individualisierten gouvernementalen Prekarisierung der neoliberal Normalisierten.” (Lorey 2012, 28) Die Urteile zu Dano und Alimanovic sollten dann aber ganz pauschale Ausschlusslinien ziehen, was auf die Erstarkung nationalprotektionistischer Kräfte in einem EU-Europa der austeritären Krisenpolitik hinweist. So wurde in den letzten beiden Rechtssachen in den Jahren 2014 und 2015 sowohl die Automatisierung der Freizügigkeit als Grundfreiheit unfreiwillig arbeitslos geworden sind, können für sechs Monate Hartz IV beziehen. 277 wie auch die Individualisierung der Prüfung der Verhältnismäßigkeit im Einzelfall zurückgenommen und durch einen pauschalen Ausschluss von bürgerschaftlichen Rechten anhand von aufenthaltsrechtlichen Kriterien ersetzt. Doch insofern, als die aufenthaltsrechtlichen Kriterien der EU-Freizügigkeit der Verwertungslogik folgen (Stichwort Arbeitnehmer*innenstatus und Erwerbsfähigkeit), ist auch dies nicht allein als Rückzug zum Prinzip des national-sozialen Staates zu begreifen, sondern vielmehr als migrationspolitische Versicherheitlichung des workfare. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Diskursfigur des ‚Sozialtourismus‘. Im nächsten Kapitel werde ich darauf eingehen, wie die Warnungen vor der „Bedrohung der Sozialsysteme“ in Deutschland im Jahr 2013 mit einer Moralpanik einherging, die soziale Ungleichheit rassifizierte und „Armutszuwanderung“ als „Bedrohung des sozialen Friedens“ in den Städten stilisierte. Der gegen die Figur der „Armutszuwanderung“ und der „Einwanderung in die Sozialsysteme“ gerichtete Rassismus trieb die Versicherheitlichung des Regimes der EU-Migration voran, förderte die Verknüpfung des nationalprotektionistischen Ausschlusses mit der aktivierenden Logik des workfare und hatte den (internen) Ausschluss bzw. die differenzierte Inklusion der Nichterwerbsfähigen bzw. Nichterwerbstätigen zum Effekt. Nachtrag: Die Grenzen der Freizügigkeit und der selbstorganisierte Arbeitsmarkt in München Im November 2014 erschien in der SZ ein Artikel zum EuGH-Urteil in Sachen Dano mit dem Titel Grenzen der Freizügigkeit (Preuss & Janisch, 2014), auf den ich beim morgendlichen Durchblättern der Zeitung sofort aufmerksam wurde, weil er von einem Foto illustriert war, auf dem ich einen Infotisch der Initiative Zivilcourage erkannte: Drei befreundete EU-migrantische Arbeiter, Christian und ich sitzen mit dem Rücken zu einem Schaufenster an einem Tisch und schauen in ein Notizbuch. Vor dem Tisch steht eine Person mit gefalteten Händen, deren Kopf nicht zu sehen ist. Im Hintergrund ist eine Ampel zu erkennen. Das Bild ist untertitelt mit den Worten: „Am Anfang steht die Jobsuche: Nur wer einmal Arbeit hatte, kann Hartz IV beantragen - Rumänen und Bulgaren in München“. Das Bild soll wohl die intertextuell bekannte Figur des 278 ‚Tagelöhnermarktes‘ und damit die Arbeitssuche darstellen. Ansonsten nimmt der Artikel allerdings keinen Bezug auf das Foto oder auf München. Er beginnt damit, dass der Sprecher der Jobcenterleiter*innen in Deutschland seine Erleichterung über das Urteil ausdrückt. Ein Entscheid in Richtung Einzelfallprüfung hätte den „Jobcentern enorme Arbeit bereitet und viel Streit und Gerichtsverfahren nach sich gezogen“ (ebd.). Er wolle „nicht alle abfertigen“ (ebd.), schließlich sei er auch Leiter der Offenbacher Integrationsbehörde. Es sei nur so, „dass es etwas viel geworden sei“ (ebd.). Auch brächten viele „weder Ausbildung noch Deutschkenntnisse mit“ und hätten so „kaum Chancen auf einen Job“ (ebd.). Erst durch die Erweiterung der EU um Rumänien und Bulgarien sei der „Grundkonflikt […] virulent geworden“ (ebd.), denn mit dem Gefälle im Einkommen sei „[d]er Sog der reichen Länder“ (ebd.) gewachsen. Die Autoren des Artikels werten das Urteil dann auch als „befriedendes Signal“ (ebd.), denn wäre der EuGH im Gegenteil zu dem Schluss gekommen, „der Bezug von Sozialleistungen gehöre zum unabdingbaren Recht eines jeden Unionsbürgers auf ein menschenwürdiges Dasein – es wäre eine Revolution gewesen“ (ebd.). 279 Workfare verschärft - Zwischen Aktivierung und Ausschluss Der soziale Frieden ist bedroht – Vom Städtetagspapier zur Verschärfung des Freizügigkeitsgesetzes Am 22. Januar 2013 veröffentlichte der Deutsche Städtetag ein Positionspapier zu den Fragen der Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien, das die sogenannte Armutszuwanderungsdebatte befeuern sollte. Die ‚Armutszuwanderung‘ beherrschte die Schlagzeilen der deutschen Medien in den Jahren 2013 und 2014. Was war der Inhalt des Papiers, welches diesen Sturm maßgeblich mit entfachte? Der Städtetag, dessen Vorsitz zu diesem Zeitpunkt der Münchner Oberbürgermeister innehatte, problematisierte die „Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien“ und forderte, in die Versicherheitlichung der Migration (vgl. Kapitel 4) einstimmend: „Der Bund muss anerkennen, dass die soziale Balance und der soziale Friede in den Städten in höchstem Maße gefährdet sind“ (Deutscher Städtetag, 2013: 6). Die sogenannte Osterweiterung der EU175 um Bulgarien und Rumänien stellte für den Städtetag einen Fehler dar - eine falsche Entscheidung, in die die Städte nicht eingebunden waren, aber deren Konsequenzen sie nun ausbaden müssten. Zu Schwierigkeiten käme es nicht bei „der Zuwanderung von qualifizierten EU-Bürgerinnen und Bürgern“, so betonte das Papier, sondern mit dem „Zuzug der Menschen aus Bulgarien und Rumänien, die in den neuen Beitritts175 Jozsef Böröcz schlägt in seinen Analysen der EU als koloniales und orientalistisches Projekt vor, auch den Begriff der ‚Osterweiterung‘ als Teil dieses Projekts zu untersuchen: „Enlargement implies a process of simple augmentation, reducing a daunting amount of social, cultural, moral and administrative complexitiy, involving concerted, sustained action by some very powerful European states aiming to redraw the continent’s geopolitical order, to a quasitechnical operation. Given that in such idiomatic expressions as Eastern Europe, the term Eastern means either inferior or non-europe, it is quite plausible to consider, furthemore, the possibility that the name ‚eastern enlargement‘ ends up as an orientalizing tool when applied as the marker of the current redivision of Europe“ (Böröcz, 2001: 6). 280 staaten teilweise unter prekärsten Bedingungen leben“ (ebd.: 2). Zu den in den deutschen Städten „sichtbaren Problemkonstellationen“ (ebd.: 4) gehörten „verwahrloste Immobilien“ (ebd.), Obdachlosigkeit (ebd.), fehlende Krankenversicherung (ebd.: 3), Schlepperei176, sowie „Dumpinglöhne […], Prostitution […] und Bettelei“ (ebd.). Die soziale Ungleichheit in deutschen Städten führten die Verfasser*innen des Papiers auf Diskriminierung im Herkunftsland zurück. Bei den Zuwanderer*innen, die Probleme verursachten, so legten sie nahe, handele es sich meist um Roma, die auch schon im Herkunftsland „unter prekärsten Bedingungen“ (ebd.: 2) leben. Diese würden „ethnische Diskriminierungen, teilweise offene rassistisch motivierte Gewalt [erfahren, und seien] nach wie vor von weiten Teilen gesellschaftlicher Teilhabe praktisch ausgeschlossen“ (ebd.: 2). Die Exklusion in den Herkunftsländern führe nicht nur zur Auswanderung der Betroffenen, sondern auch zur Unterwanderung der sozialen Standards in den betroffenen deutschen Kommunen: Dass die Armutszuwander*innen sich „im Zielland mit schlechten Wohnverhältnissen zufrieden“ gäben, liege etwa an den „miserablen Wohnverhältnissen im Herkunftsland“ (ebd.: 3). Es seien solche „sozialisationsbedingten Erfahrungshorizonte“, die eine „Integration erheblich erschweren“ (ebd.). Neue Integrationskonzepte müssten entwickelt werden, so forderte der Städtetag, denn die bisherigen würden sich, „bei der hier angesprochenen Klientel wenig bewähren“ (ebd.: 5). Neben Sprachkenntnissen müssten auch „europagesellschaftliche ‚Standards‘“ (ebd.: 8) vermittelt werden, denn „Integration beginnt bei den Armutszuwander/innen nicht erst bei Bildung und Fußfassen auf dem Arbeitsmarkt“ (ebd.). Indem die Verfasser*innen die Verantwortung für die angebliche Devianz der ‚Armutszuwander*innen‘ auf die „zurückgebliebenen“ Balkanstaaten schoben (die eben noch nicht reif für die EU wären), machten sie die dort Diskriminierten, die hier die soziale Sicherheit bedrohten, selbst zu Opfern und ethnisierten die Armut und Ungleichheit der EU-Migrant*innen sozusagen sekundär. Das Positionspapier schloss dabei implizit aus, dass ein Grund für die soziale Ungleichheit zum einen die (nicht zuletzt von Deutschland vorangetriebenen) neoliberalen Restrukturierungsprozesse in den Herkunftsländern sein könnte. Es 176 Als ‚Schlepper‘ werden in dem Papier Personen bezeichnet, die „gegen ein hohes Entgelt die Vorbereitung der Kindergeldanträge sowie die Vorbereitung des Gewerbezulassungsverfahrens oder die Vermittlung von Wohnraum zu Wuchermieten“ vornehmen (Deutscher Städtetag, 2013: 3). 281 blieb so außen vor, dass sozial-ökonomische Probleme in den postsozialistischen EU-Beitrittsstaaten sich zwar sicherlich mit Rassismus gegen Roma verschränkten, aber doch zum großen Teil Effekte der von der EU durchgesetzten Liberalisierungs- und Austeritätspolitik177 blieben. Kritischen Wissenschaftler*innen zufolge gehört die Ungleichheit in der Bevölkerung Bulgariens etwa zu den „continuous effects of a peculiar and detrimental mixture of capital accumulation, dispossession and overexploitation that came with western capital after 1989“ (Apostolova, 2014). Zum anderen blendet das Papier aus, dass das Problem auch in Deutschland Rassismus sein könnte. Gleichzeitig spielen die Verfasser*innen selbst ganz plakativ auf der Klaviatur des Rassismus, indem es vor allem gegen Roma gerichtete Stereotype wie ‚Bildungsferne‘ und ‚Wohnunfähigkeit‘ aufruft und die Minderheit der Roma auch direkt als Problem bezeichnet.178 Der Städtetag stellte eine breite Palette an Forderungen: Die EU und die Herkunftsstaaten sollten Diskriminierung und soziale Ungleichheit in den Herkunftsstaaten bekämpfen. Der Bund solle neue Integrationsmaßnahmen entwickeln, Mittel für Notfallhilfe bereitstellen und vor allem Abwehrinstrumente auf nationalstaatlicher Ebene implementieren. Ziel seien „nachhaltige Maßnahmen zur Abwendung einer Zuwanderungswelle und der anschließend zu erwartenden Verschärfungen der Probleme in den Städten“ bzw. die „Unterbindung der Armutszuwanderung“ (Deutscher Städtetag, 2013: 6). Die grundlegende Aussage des Papiers, dass die ‚soziale Sicherheit‘ in den Städten in Folge der ‚Armutszuwanderung‘ in Gefahr sei, sollte in der sich anschließenden Armutszuwanderungsdebatte kaum in Frage 177 Der Politikwissenschaftler Huub van Baar forscht dazu, wie die Europäisierung der Repräsentation der Roma dazu führt, dass die Politikebenen gewechselt werden (vgl. Van Baar, 2015). 178 Der Antiziganismusexperte Markus End zieht Parallelen zwischen dem rassistischen, antiziganistischen Diskurs der 1990er Jahre und der sogenannten ‚Armutszuwanderungsdebatte‘, indem er einen Artikel aus dem Spiegel von 1990 zitiert: „Im von Roma besonders angesteuerten Ruhrgebiet beriefen die Oberbürgermeister der Revierstädte demonstrativ eine Krisensitzung ein. In einem dramatischen Hilferuf (‚Die Städte sind am Ende‘) verlangten sie von Bonn den sofortigen Stopp des Roma-Trecks. Neun Oberstadtdirektoren aus Nordrhein-Westfalen sehen den ‚sozialen Frieden in unseren Städten gefährdet‘“ („Asyl in Deutschland? ‚Alle hassen die Zigeuner‘“, 1990: 35, zit. n. End, 2014: 21). 282 gestellt werden. Die Stellungnahme wurde vielmehr als berechtigter ‚Hilfeschrei‘ angesehen, welcher auf vom Bund lang vernachlässigte Probleme hindeutete. Die Reaktionen beschränkten sich nicht auf einen Medienhype. Die restriktive Kehrtwende des EuGHs, welche sich in den Urteilen in den Rechtssachen Dano und Alimanovic ausdrückte (siehe Kapitel 6), wurde von ihren Kommentator*innen auf die Problematisierung von EU-interner Migration in der europäischen Öffentlichkeit – auch in Deutschland – zurück geführt. In Deutschland griffen verschiedene Politiker*innen das Thema auf. Begünstigt wurde dies durch den zeitgleich stattfindenden Wahlkampf zur Bundestagswahl 2013. Das populistische Säbelgerassel der CSU von Wildbad-Kreuth und ihr Slogan „Wer betrügt, fliegt“ sollte dabei prägend werden (vgl. S. Friedrich, 2014). Auch der damalige Innenminister Hans-Peter Friedrich trat mit markigen Sprüchen – wie z.B. „Wir zahlen nicht zweimal“ (H.-P. Friedrich, 2013)179 – an die Öffentlichkeit und forderte Wiedereinreisesperren, um die Freizügigkeit von „Sozialbetrügern“ einschränken zu können (vgl. H.-P. Friedrich, 2013). Für die politischen Akteure auf Bundesebene geriet durch die Armutszuwanderung nicht nur die ‚soziale Sicherheit‘ in den Städten in Gefahr, sondern im Zentrum der Bedrohung stand das deutsche Sozialsystem. Durch die Verteidigung des Sozialsystems, so die Botschaft, sollte (auch) die soziale Sicherheit in den Städten gewahrt werden. Friedrichs Intervention bei den Treffen der europäischen Innenminister*innen führte im März und Dezember 2013 dann mit dazu, dass der Beitritt Bulgariens in den Schengenraum verhindert wurde.180 179 Die Forderung, dass „Sozialbetrüger aus anderen EU-Ländern […] mit einer Wiedereinreisesperre belegt werden“ können, stellte Friedrich auch in einem gemeinsamen Schreiben mit den niederländischen, österreichischen und britischen Innenminister*innen (Mikl-Leitner, Friedrich, Teeven & May, 2013; vgl. auch „Sozialleistungen: Friedrich mobilisiert EU gegen Armutszuwanderung“, 2013). 180 Vgl. „Schengen-Beitritt Rumäniens und Bulgariens - Friedrich kündigt deutsches Veto an“, 2013; „Veto in Brüssel - Deutschland verhindert SchengenBeitritt von Bulgarien und Rumänien“, 2013. Die Regelungen der Freizügigkeit werden oft mit den Schengener Abkommen in einen Topf geworfen, dabei handelt es sich um völlig unterschiedliche Dinge. Bei den Schengener Abkommen ging es um die Abschaffung der Kontrollen an den EU-europäischen Binnengrenzen. Bulgarien wurde Anfang 2013 der Beitritt zur Schengenzone versagt. Das hatte für bulgarische Staatsbürger*innen, die in andere EU-Staaten reisen wollen, aber nur zur Konsequenz, dass sie weiterhin beim Grenzübertritt ihren 283 Außerdem stieß das Papier des Städtetages mit seinen Schilderungen und Forderungen einen Prozess an, der zu einer Verschärfung des deutschen Freizügigkeitsgesetzes/EU führte. Entlang einer Reihe von bundespolitischen Sitzungen verschiedener Gremien und deren Veröffentlichungen können die Problemvorstellungen und Lösungsstrategien, die sich schließlich in der Gesetzesänderung vom November 2014 sedimentierten, nachverfolgt und direkt auf das Papier des Städtetages zurückgeführt werden: In Reaktion auf die öffentlichkeitswirksame Intervention des Städtetages gründeten der Bund und die Länder zuerst einmal die Bund-Länder-Arbeitsgemeinschaft Armutswanderung aus Osteuropa. Diese veröffentlichte am 11. Oktober 2013 einen Bericht, der direkt auf den Städtetag Bezug nahm (vgl. Freie und Hansestadt Hamburg, 2013). Auch der Koalitionsvertrag der neuen CDU, CSU und SPD-Bundesregierung vom 17. Dezember 2013 gab die Problemdarstellung des Städtetages wieder und setzte das Ziel, „im nationalen Recht und im Rahmen der europarechtlichen Vorgaben durch Änderungen [zu] erreichen, dass Anreize für Migration in die sozialen Sicherungssysteme verringert werden.“ (CDU, CSU & SPD, 2013: 108) Im März 2014 veröffentlichten dann die Staatssekretär*innen einen Bericht zu „Rechtsfragen und Herausforderungen bei der Inanspruchnahme der sozialen Sicherungssysteme durch Angehörige der EU-Mitgliedstaaten“, dem Gespräche mit verschiedenen Expert*innen und Kommunen, inklusive München, voran gegangen waren und der sich ebenfalls in eine Reihe mit den letztgenannten Papieren stellte (vgl. Bundesministerium des Inneren & Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2013). Der Bericht stellte fest: „Es kann nur darum gehen, Fälle von betrügerischer oder missbräuchlicher Inanspruchnahme der Freizügigkeit zu verhindern“ (ebd.: 6) und erarbeitete „Maßnahmen zur Missbrauchsbekämpfung“ (ebd.: 97f.). Reisepass oder ihren Personalausweis vorzeigen müssen. Der Nachweis ihrer Unionsbürgerschaft alleine reicht für den Grenzübertritt, es besteht keine Visumspflicht oder die Pflicht eines weiteren Nachweises der Freizügigkeit. 284 Auch wenn der Paritätische Wohlfahrtsverband (vgl. Voigt, 2014) und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) sich in einer Anhörung des Bundestagsausschusses (vgl. Deutscher Bundestag, 2014b) gegen den Gesetzesentwurf der Bundesregierung (Deutscher Bundestag, 2014a) aussprachen, da er gegen das EU-Recht verstieße und weder praktikabel noch sinnvoll sei, auch der Fachbereich Europa des Deutschen Bundestages (2014) „Zweifel an der Vereinbarkeit […] mit dem Unionsrecht“ anmeldete und die oppositionellen Bundestagsfraktionen Bündnis 90/Die Grünen (2014) und Die Linke (2014) Gegenanträge stellten, stimmten Bundestag (am 5.11.2014) und Bundesrat (am 28.11.2014)181 der Verschärfung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer Vorschriften (vgl. Deutscher Bundestag, 2014a) schließlich zu und entsprachen damit weitgehend den Forderungen des Deutschen Städtetages. Sie verabschiedeten u.a. folgende Änderungen (vgl. ebd.): • • • • Wiedereinreisesperren können nicht nur bei erheblichen Straftaten, sondern auch dann verhängt werden, wenn Unionsbürger*innen wiederholt vortäuschen, dass die Voraussetzungen des Rechts auf Einreise und Aufenthalt vorliegen. Arbeitssuchenden, die keine tatsächliche Aussicht auf Erfolg bei der Arbeitssuche nachweisen können, kann nach über sechs Monaten Aufenthalt die Freizügigkeit aberkannt werden. Für den Kindergeldantrag muss die Steuer-ID angegeben werden. Das Erschleichen von Aufenthaltspapieren wird zur Straftat. Es erstaunt dann auch wenig, dass sowohl die Bundesregierung wie auch der Städtetag die im letzten Kapitel dargestellte Rechtsprechung des EuGHs und besonders das Urteil im Fall Vatsouras/Koupatantze von 2009, das den Ausschluss von nichterwerbstätigen Unionsbürger*innen aus dem Hartz IV für EU-rechtswidrig erklärt hatte, ignorierten. Das 181 Die Grünen im Bundesrat ließen ihre Zustimmung zu den Verschärfungen des Freizügigkeitsgesetzes/EU durch einen Kuhhandel erkaufen, der EU-Migrant*innen gegen Asylbewerber*innen ausspielte. Der Preis war eine Finanzspritze von einer Milliarde Euro ‚für Flüchtlinge‘ an die Länder und Kommunen und Änderungen im Asylbewerbergesetz (u.a. die Erhöhung der Leistungen), die zuvor vom Bundesverfassungsgericht vorgegeben worden waren (vgl. Apostolova, 2014; „Länder erhalten eine Milliarde Euro für Flüchtlinge - Bundesrat billigt Asylbewerbergesetz“, 2014). 285 restriktive Urteil in der Rechtssache Alimanovic (2015) war zum Zeitpunkt des Gesetzgebungsprozesses noch nicht gesprochen; das ebenfalls restriktive Urteil im Fall Dano, das den Ausschluss von arbeitssuchenden Unionsbürger*innen von Hartz IV aber noch nicht pauschal absegnete, fiel am 11. November 2014 – nur zwei Wochen bevor der Bundesrat die Gesetzesänderung endgültig verabschiedete. In diesem kurzen Abriss wurde deutlich, wie die Problematisierung der „Armutszuwanderung“ und der „Migration in die sozialen Sicherungssysteme“ (CDU, CSU & SPD, 2013: 108) soziale Verhältnisse auf rechtspopulistische Art und Weise ethnisierte und versicherheitlichte und mit einer Verschärfungen des EU-Freizügigkeitsgesetzes Hand in Hand ging. Die angebliche Bedrohung des ‚sozialen Friedens‘ in den Städten wurde dabei gleichgesetzt mit der angeblichen Bedrohung der sozialen Sicherungssysteme im national-sozialen Staat. Als empirischer Befund lagen der Skandalisierung sicherlich Armut, (Über-)Ausbeutung und extrem prekäre Wohnverhältnisse von EU-Migrant*innen in Deutschland zugrunde. Statt die prekarisierten EU-Migrant*innen aber als Teil der städtischen Bevölkerung und ihre Armut als Problem zu begreifen, wurden sie als ‚Armutszuwander*innen‘ rassifiziert und selbst zum Problem erklärt, das zu bekämpfen sei. Die Städte hätten durchaus auch andere Möglichkeiten gehabt, der Armut ihrer Einwohner*innen zu begegnen – z.B. hätten sie fordern können, den Ausschluss arbeitssuchender Ausländer*innen vom Hartz IV aufzuheben und damit gerade zu dem Zeitpunkt, als das Projekt der „Sozialen Union“ mit dem EuGH-Urteil in Sachen Vatsouras/Koupatantze gerade auf dem Höhepunkt seiner Kräfte war, durchaus Anschlussmöglichkeiten in den EUeuropäischen Kräfteverhältnissen gefunden. Das sozialpolitische Paradigma der Aktivierung kam sowohl im Städtetagspapier wie auch im Gesetzgebungsprozess kaum zum Tragen bzw. fand es in der ‚Armutszuwanderung‘ sein Anderes. Das Ziel der Aktivierung tauchte eventuell noch in der Forderung nach eigenen Integrationskursen auf, da bei dem „angesprochenen Klientel“ „Integration nicht erst bei der Arbeit“ anfange (vgl. Deutscher Städtetag, 2013: 8). Ansonsten wurden die ‚Armutszuwander*innen‘ als hoffnungslos markiert. Auch die Gesetzesänderung fokussierte nicht auf ‚Potenziale‘ der Migrant*innen, sondern darauf, Betrug zu bekämpfen und – in den Worten des Koalitionsvertrages – „Anreize für Migration in die sozialen Sicherungssysteme“ (CDU, CSU & SPD, 2013: 108) zu verringern. Der 286 national-staatliche Ausschluss wurde der neoliberalen Aktivierung gegenüber also als Lösung des Problems ‚Armutszuwanderung‘ bzw. ‚Sozialleistungsbetrug‘ bevorzugt. Die Einschränkung der Freizügigkeit und der sozialen Rechte von EU-Migrant*innen diente der Migrationskontrolle und renationalisierte die europäischen Verhältnisse. Es handelt sich aber um keinen einfachen rollback zum alten Sozialstaat, sondern die Widersprüche zwischen dem national-sozialen Staat und der Europäisierung wurden hier insofern produktiv, als die Freizügigkeit mit der Konditionalisierung bzw. Ökonomisierung der sozialen Rechte kombiniert wurde. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, den bis hierher erwähnten Stellungnahmen genau zuzuhören und ihre Aussagen nicht als reine Lippenbekenntnisse abzutun, wenn sie sich für Freizügigkeit positionieren, indem sie betonen, dass es nicht um eine „Abschottung Deutschlands vor Zuwanderung“ (Deutscher Städtetag, 2013: 1) gehe, dass „die Akzeptanz für die Freizügigkeit erhalten“ (CDU, CSU & SPD, 2013: 108) werden solle und dass „die Freizügigkeit in der EU […] eine der wichtigsten Errungenschaften des europäischen Einigungsprozesses und einer der sichtbarsten Vorzüge Europas für die Bürgerinnen und Bürger“ (Deutscher Bundestag, 2014: 1) sei. Im Sinne des postliberalen Rassismus wurde zwischen den guten und den schlechten Migrant*innen unterschieden – zwischen denjenigen, die im Sinne einer Marktbürgerschaft willkommen sind und die ihre Freizügigkeit rechtmäßig ausüben, und den ‚Armutszuwander*innen‘ bzw. ‚Sozialbetrüger*innen‘. Faktisch hat diese Politik den Ausschluss der Subproletarier*innen zum Effekt bzw. die weitere Prekarisierung der von Armut betroffenen Personen ohne (dokumentierte) Arbeit, der im Zuge der austeritären Restrukturierung der europäischen Peripherie von ihren Reproduktionsmöglichkeiten enteigneten Arbeiter*innen. Es handelt sich dabei weniger um einen territorialen, als vielmehr um einen sozialen Ausschluss, denn die Betroffenen der Abschreckungspolitik halten sich schon längst nicht mehr in der territorialen Peripherie auf, sondern sind in die Zentren migriert. In transnationalen Verhältnissen hat der nationale Ausschluss auch innerhalb des nationalen Territoriums soziale Spaltungen, Ungleichheiten und differenziert-inkludierte Zonen der extremen Prekarisierung und Entrechtung zur Folge. Die differenziert Inkludierten werden dann wiederum als das zu bekämpfende Außen rassifiziert. Dieser zirkuläre Prozess entspringt dem Konflikt zwischen Europäisierung und (Re-)Nationalisierung und findet seine Fluchtlinie in der neoliberalen, 287 postrassistischen Unterscheidung zwischen den nützlichen, erwerbsfähigen Marktbürger*innen und den Anderen. Es mag scheinen, dass ich mich über die Diskussionen zum EuGH, zum Städtetagspapier, zum bundesweiten Mediendiskurs und zu den bundesdeutschen Gesetzgebungsprozessen relativ weit von den konkreten Auseinandersetzungen in München entfernt habe. Ich denke aber gezeigt zu haben, dass die verschiedenen Ebenen ineinandergreifen und nicht voneinander zu trennen sind.182 Die lokalen Auseinandersetzungen im Regime der EU-Migration sind nicht zu verstehen, ohne die EU-europäische und nationale Ebene sowie transversale Prozesse mit einzubeziehen. Dabei handelt es sich weder um stringente top-down, noch um unidirektionale bottom-up Dynamiken und auch in ihrer Temporalität sind die verschiedenen Prozesse nicht direkt aufeinander zu beziehen. Aus einer solchen Perspektive gilt es nun, zu der Frage zurück zu kommen, wie sich die Regelungen zur EU-Freizügigkeit und zu sozialen Leistungen sowie die dahinter stehenden Rationalitäten der (Re-)Nationalisierung, Europäisierung und des Postrassismus sich in den lokalen Praktiken, Strategien und Kämpfen verknüpft haben. Auch in diesem Kapitel geht es mir wieder darum, nachzuvollziehen, wie die transversalen Verhältnisse in den von mir mitverfolgten Auseinandersetzungen ganz konkret ausgehandelt wurden. Wie wurde der Zugang der EU-migrantischen Arbeiter*innen, mit denen ich im Workers’ Center zusammenarbeitete, zu sozialen Leistungen ausgehandelt? Was passierte, wenn EU-Migrant*innen in München Hartz IV beantragten? Wie reagierte das Jobcenter – und welche Rolle spielte die Ausländerbehörde zwischen aktivierendem und nationalem Sozialstaat in EU-Europa? Die Münchner Ausländerbehörde als Aktivierungsinstanz Eines Tages im Frühjahr 2012 (also sowohl vor den EuGH-Urteilen Dano und Alimanovic wie auch vor dem Städtetagspapier, der sogenannten Armutszuwanderungsdebatte und der Verschärfung des EUFreizügigkeitsgesetzes) kam Stefan Asenov in das Workers’ Center und 182 Zur Verstrickung von Lokalem, Globalem und verschiedenen Ebenen vgl. Glick Schiller & Caglar, 2011; Law & Urry, 2004; Varsanyi, 2008. 288 zeigte mir einen Brief der Ausländerbehörde, der an seinen sechsjährigen Sohn adressiert war: „da Sie nach Aktenlage Ihren Lebensunterhalt nicht ohne den Bezug von öffentlichen Leistungen sicherstellen können, genießen Sie kein Freizügigkeitsrecht/EU nach den Bestimmungen dieses Gesetzes, da Sie gemeinsam mit Ihren Eltern Leistungen nach dem SGB II beziehen. Die Ausländerbehörde München beabsichtigt daher einen Bescheid zu erlassen, in dem fest gestellt wird, dass Sie das Recht auf Einreise und Aufenthalt (FreizügG/EG) verloren haben. [...] Die Ausländerbehörde wird Ihnen eine Frist zur Ausreise setzen und Sie bei nicht fristgerechter Ausreise aus dem Bundesgebiet in Ihr Heimatland oder in ein anderes Land, das zu Ihrer Aufnahme verpflichtet ist abschieben.“ Zwar gab es vor der endgültigen Entscheidung noch Gelegenheit, sich zu den beabsichtigten Maßnahmen zu äußern. Trotzdem erschrak ich sehr, als ich den Brief las. Als ich Stefan Asenov den Inhalt des Briefs übersetzte, war er verzweifelt. Wie die Klägerinnen im zweiten Kapitel kam Stefan Asenov aus der Stadt Pazarjik in Bulgarien. Dort verdiente er den Lebensunterhalt seiner Familie damit, dass er Hochzeiten und andere Familienfeste mit Foto und Film dokumentierte. In den 1990er Jahren schlossen aber verschiedene Fabriken in und um Pazarjik. Dort, wo vorher die Fabriken standen, standen nun teilweise große Einkaufsmärkte von nach Bulgarien expandierten deutschen Unternehmen: Kaufland, Penny und Lidl, so erzählte er. Viele seiner Kund*innen, die zuvor in den Fabriken gearbeitet hatten, verloren ihre Arbeit und er selbst bekam keine Aufträge mehr. Während Stefan Asenovs Familie erst noch in Pazarjik blieb, kam er im Jahr 2001 (also etwa sechs Jahre vor dem EU-Beitritt Bulgariens) nach München und lernte seinen zukünftigen Arbeitgeber in einem Café im Bahnhofsviertel kennen. Für diesen arbeitete er acht Jahre, die ersten sechs ohne Papiere. Er putzte in Supermärkten: Kaufland, REWE, Edeka. Halb belustigt, halb erzürnt betonte er, dass dies teils die selben Märkte waren, die ihre Produkte nun dort verkauften, wo seine ehemaligen Kund*innen zuvor industriell Gemüsekonserven und andere Waren produziert hatten. Als Bulgarien im Jahr 2007 der EU beitrat und Bulgar*innen als Unionsbürger*innen nun leichter eine Arbeitsgenehmigung beantragen konnten, beantragte auch Stefan Asenovs Arbeitgeber eine Arbeitserlaubnis für ihn. Obwohl 289 Stefan Asenov Vollzeit arbeitete, verdiente er nur etwa 1300 Euro im Monat. Mit seiner vierköpfigen Familie gehört er zu den sogenannten arbeitenden Armen, den working poor in Deutschland. Inzwischen war auch Stefan Asenovs Familie nachgekommen. Weil sie keine eigene Wohnung fanden, wohnte die Familie zur Untermiete (ohne schriftlichen Mietvertrag) in einem Zimmer in der Wohnung einer entfernten Verwandten. Doch Mitte 2012, Bozhurka Asenova war gerade hochschwanger, wurden sie obdachlos. Sein langjähriger Arbeitgeber hatte ihm drei Monate keinen Lohn mehr gezahlt und deswegen hatten sie ihre Miete nicht mehr zahlen können. Stefan Asenov kündigte und fand eine neue Arbeit. Diese verlor er dann aber schnell wieder, weil er keine Adresse vorweisen konnte und außerdem ständig erschöpft war aufgrund der Obdachlosigkeit. Eines Dienstags kamen Bozhurka Asenova und Stefan Asenov dann zum ersten Mal in das Workers’ Center der Initiative Zivilcourage. Wir machten uns gemeinsam auf den umständlichen und konfliktreichen Weg, ihr Recht auf ein Existenzminimum vom Staat und von der Stadt einzufordern - zum Wohnungsamt, dem Jobcenter und der Ausländerbehörde. Obwohl die Familie, weil Stefan Asenov dokumentiert gearbeitet hatte und sie mehr als sechs Monate polizeilich gemeldet gewesen waren, anspruchsberechtigt war183, mussten wir viele Widerstände überwinden. Nach einigen Monaten aufwendiger und mühseliger Auseinanderset183 Die Personen, von deren Kämpfen ich in dieser Arbeit berichte, waren alle schon einige Zeit in München und hatten (dokumentiert) gearbeitet. In das Workers’ Center kamen aber auch viele Personen, deren Situation sich anders gestaltete, die z.B. erst wenige Monate oder Wochen in München waren, nicht oder undokumentiert arbeiteten und keine Anmeldung hatten. Diese Personen konnten wir beispielsweise dabei unterstützen, vorenthaltene Löhne einzufordern oder Schulden in Raten abzuzahlen, aber meistens versuchten wir erst gar nicht, soziale Leistungen oder eine Notunterkunft zu beantragen, weil – ob nach den internen Regelungen der Ämter oder nach der bundesdeutschen Gesetzgebung – kein Anspruch bestand. Wir organisierten aber immer wieder gemeinsam politische Proteste und Kampagnen, um diese Rechte einzufordern. Mit der Auswahl der Kämpfe von Personen, die nach den postrassistischen Maßstäben zu den ‚nicht ganz so schlechten Migrant*innen‘ gehörten – weil sie arbeiteten, ‚fleißig waren‘, ihre Papiere beisammen hatten – möchte ich keinesfalls eben diese normativen Kriterien des ‚guten Arbeiters‘ reproduzieren. Es ist aber interessant, wie die Ausschlüsse sich auf unsere Unterstützungspraxis im Workers’ Center so auswirkten, dass ich ihnen auch in dieser Arbeit bis zu einem gewissen Grade folge. 290 zungen mit dem Jobcenter und dem Wohnungsamt (die ich nur teilweise mit ausgefochten habe) dachten wir als Unterstützer*innen der Familie von der Initiative Zivilcourage schon, wir hätten alles versucht, und wollten aufgeben. Doch dann gingen Bozhurka Asenova und Stefan Asenov noch einmal in das Wohnungsamt. Als sie eine erneute Absage erhielten, protestierten sie und drohten, nicht wieder zu gehen, bevor sie ein Dach über dem Kopf bekämen. Sie hatten Erfolg. Nun wohnte die inzwischen fünfköpfige Familie in einer städtischen Notunterkunft und erhielt aufstockend Hartz IV. Doch dann kam der Brief der Ausländerbehörde. Alles, was sie erkämpft hatten, sahen sie nun in Gefahr. Nach so vielen Jahren in München sollten sie abgeschoben werden? Ich stelle das Städtetagspapier, den Gesetzesänderungsprozess und die Auseinandersetzungen der Familie Asenov nicht gegeneinander, um die Problemdarstellung der Städtevertreter*innen Lügen zu strafen und den bundesdeutschen Gesetzgeber*innen Unmenschlichkeit vorzuwerfen. Es geht mir vielmehr darum, einen genauen Blick auf die produktiven Verschränkungen der Alltagskämpfe, Rationalitäten und Technologien des Regierens zwischen den verschiedenen Ebenen zu werfen. Wie kam es zu dem Brief der Ausländerbehörde, welche Rationalität steckte dahinter? Welche Effekte hatte er? In welche lokalen Regime war er eingebettet? Die Möglichkeit der Ausländerbehörde, unter gewissen Umständen die Freizügigkeit abzuerkennen, hatte wie ein Damoklesschwert über unseren Kämpfen um soziale Leistungen für Unionsbürger*innen gehangen. Wir wussten, dass die Jobcenter der Ausländerbehörde den Bezug von sozialen Leistungen meldeten und dass diese dann tätig werden konnte. Der Brief an den Sohn der Asenovs war der erste mir bekannte Fall, in dem die Ausländerbehörde eine Aufenthaltsbeendigung einleitete. Ich rief die zuständige Sachbearbeiterin in der Ausländerbehörde an. Wie vermutet erklärte diese, dass nicht nur an das sechsjährige Kind, sondern an alle Familienmitglieder solche Briefe abgeschickt worden seien. Als ich fragte, was sie nun tun könnten, erklärte sie, Stefan Asenov müsse eben arbeiten. Als ich sagte, er arbeite ja und erhalte aufstockend Leistungen, was sie denn mit „arbeiten“ meine, antwortete sie, er solle 40 Stunden arbeiten: 291 „Wie jeder normale Mensch“. Da ich noch keine Erfahrung in dieser Sache hatte, fragte ich auf einer bundesweiten Mailingliste zu Themen der EU-Migration nach helfenden Informationen und schickte einen Scan des Briefs anonymisiert mit. Aus Berlin kam Antwort: „Dieser Bescheid (von welcher Behörde? leider fehlt der Absender usw.!) ist offensichtlich rechtswidrig und ein politischer Skandal, der (meiner Meinung nach mitsamt Kopfbogen und Name des Sachbearbeiters usw.) öffentlich gemacht werden sollte! ... Es reicht für das Freizügigkeitsrecht, wenn ein Ehepartner mindestens 6 - 10 Std/Woche arbeitet für mind. 200 bis 300 Euro oder (unter den Voraussetzungen des § 2 Abs 3 FreizügG/EU) gearbeitet hat.“ Wir atmeten vorsichtig auf. Ich machte mich an eine gründliche rechtliche Recherche und schrieb eine Email an die zuständige Stelle der Ausländerbehörde, in der ich sie auf ihren Fehler aufmerksam machte: Der Sozialleistungsbezug habe nichts mit der Aufenthaltserlaubnis zu tun, solange eine Person den Arbeitnehmerstatus besitze. Der Abteilungsleiter rief mich zurück und gab mir Recht, dass der Bezug von Sozialhilfe allein nicht zur Aberkennung der Freizügigkeit führen könne. Er nahm die Drohung für die Familie Asenov zurück und versprach, das Schreiben in Zukunft zu ändern. In den nächsten Jahren sollten mir noch öfters Briefe von Sachbearbeiter*innen der Ausländerbehörde begegnen, in denen sie Unionsbürger*innen, die Hartz IV bezogen, die Abschiebung bzw. den Verlust der Freizügigkeit androhten – meist in rechtlich korrektem Wortlaut. Die Betroffenen mussten sich in der Folge schnell eine (weitere) Arbeit suchen und viele verzichteten im Anschluss aus Angst vor Konsequenzen auf die Zahlungen des Jobcenters. Auch Stefan Asenov hatte sich, um auf der sicheren Seite zu sein, inzwischen noch einen zweiten Job im Reinigungsgewerbe gesucht und arbeitete jetzt mindestens 60 Stunden die Woche. Trotzdem lag die Familie immer noch unter der Mindesteinkommensgrenze und bezog weiterhin Hartz IV. Hier bestätigte sich die Kritik, dass der Zwang zur Arbeit Jobs im Niedriglohnsektor fördert, die nicht zum Überleben reichen (vgl. Dickinson, 2016; Fox Piven, 1998; Peck, 2001). Bei einem späteren Treffen erklärte mir der Abteilungsleiter der Ausländerbehörde, welche Rationalität hinter dem Brief gesteckt habe: Seine 292 Behörde wolle die Personen nicht außer Landes befördern, sondern integrieren. Es lohne sich ausländerrechtlich gar nicht, die Ausweisung einzuleiten, da sie gleich wieder einreisen könnten. Nur die Fünfjahresfrist fange von vorne an, das lohne sich eventuell.184 Die Intervention der Ausländerbehörde sei hingegen als „Initialzündung zur gelungenen Integration“ gedacht. Ziel sei, dass die Betroffenen sich Arbeit suchten, denn Integration gelinge nur über Arbeit.185 Zu dieser Logik passte auch die Aussage der Sachbearbeiter*in, Stefan Asenov müsse eben, „wie jeder normale Mensch, 40 Stunden in der Woche arbeiten.“ Sie konstruierten eine gesellschaftliche Norm der (Vollzeit-)Lohnarbeit, wie sie typische für die heutige Arbeitsgesellschaft ist, in der immer mehr Menschen dieser Norm aber nicht gerecht werden (vgl. Hirsch, 2015). Der Brief verweist auch darauf, dass Prozesse des policy making eben nicht top-down strukturiert sind, sondern lokale street-level bureaucrats und Kommunalpolitiker*innen ihre Strategien in relativer Autonomie gestalten. Neue Vorgaben können sie dabei entweder ignorieren, besonders schnell aufnehmen oder umgestalten – sei es aus dezidiertem Widerstand zu den höherinstanzlichen Regelungen, aus Unwissenheit oder aus Versehen. Zu diesem Schluss kommen auch verschiedene Studien zu street-level bureaucracy, wie etwa die ethnografische Forschung der Kulturanthropologin Sharon Elizabeth Wright (2013) zu einem Jobcentre in Schottland oder auch die in Kapitel 5 schon erwähnte Studie zu den Reaktionen der städtischen Verwaltung auf Familien mit beschränktem Zugang zu sozialen Leistungen in Berlin und Madrid (vgl. Price & Spencer, 2014). Die Mitarbeiter*innen der Ausländerbehörde München haben in ihrer eigenwilligen Umsetzung des Freizügigkeitsgesetzes die nationalstaatliche 184 Zu einem ähnlichen Schluss kam das KVR auch offiziell im Bericht Runder Tisch Armutszuwanderung von 2014: „Derartige Bescheide entfalten – sofern die Betroffenen freiwillig ausreisen – keine Wiedereinreisesperre, d.h. nach erfolgter Ausreise ist eine erneute Einreise und ein Aufenthalt zumindest für drei Monate jederzeit möglich. Dennoch kann durch diese Bescheide zumindest das Entstehen eines Daueraufenthaltsrechts verhindert werden“ (Stelle für Interkulturelle Arbeit, 2014: 6). 185 Dazu reproduzierte er eine Zeitungsmeldung, derzufolge vor kurzem der gesamte Münchner S-Bahnverkehr gestoppt worden sei, weil Unionsbürger*innen illegal ein Haus zwischen den Gleisen bewohnt hatten und von der Polizei geräumt werden mussten. Mit diesem Bild kontrastierte er die gelungene Integration, die sein Amt fördere. 293 Exklusionslogik jedenfalls zum einen verschärft, indem sie die Freizügigkeit alleine vom Sozialhilfebezug abhängig machten und den Arbeitnehmerstatus dabei ignorierten. Gleichzeitig haben sie die Ausschlusslogik dieser Regelung, die zur Bekämpfung von Sozialtourismus dienen soll, zu einer aktivierenden Inklusionspolitik umgedeutet. Sie bekämpfen den ‚Sozialhilfebetrug‘ so im positiven, integrativen und paternalistischen Sinne durch Aktivierung, statt im negativen und exklusiven Sinne durch Ausschluss, wobei die Aktivierung paradoxerweise durch die Androhung des Ausschlusses erfolgen soll. So machen sie Sinn aus dem Widerspruch in der Gesetzgebung, die zwar eine Aberkennung des Aufenthaltsrechts, aber keine Wiedereinreisesperren (wie sie Außenminister Friedrich in nationalstaatlicher Rationalität im Frühjahr 2013 folgerichtig fordern sollte) vorsieht. Eine Abschiebung brächte nichts, weil die Abgeschobenen ja gleich wiederkommen könnten. Die Androhung der Abschiebung könne aber den ‚Sozialhilfebetrug‘ durch den Zwang zur Arbeit bekämpfen. Sie gehen so über den Punkt, an dem sich der europäisierte Status der Freizügigkeit mit der nationalen Exklusionslogik bricht, kreativ hinaus. Die Ausländerbehörde, traditionell die Vollstreckungsbehörde der nationalen Exklusionslogik, wird hier zur Aktivierungsinstanz, zum Akteur im workfare-Regime. Bis hierher bin ich an verschiedensten Stellen auf Artikulationen des ‚Workfarism‘ (Peck, 2001), z.B. die mit workfare verbundenen Rationalitäten und Regierenstechnologien der Aktivierung getroffen und habe diese nachverfolgt. Einige davon waren eher unvermutet: Elemente der Wohnungslosenpolitik der Stadt München etwa oder eben die Strategien der Ausländerbehörde. Einige Male kam die Logik der Aktivierung durch ihr Außen, die ‚Nicht-Aktivierbaren‘ und in den Aushandlungen der Linie zwischen diesem ‚Innen‘ und ‚Außen‘ in der Arbeitsgesellschaft, zum Tragen. Sie artikulierte sich in den Aushandlungen um die Deutung des ‚Tagelöhnermarktes‘ und bei den sicherheitspolitischen Maßnahmen im Bahnhofsviertel, aber auch in der Wohnungslosenpolitik, in der obdachlosen Personen nur dann ein Anspruch auf eine Notunterkunft eingeräumt wurde, wenn sie ‚eine Perspektive in München‘ hatten, während der Aufenthaltsstatus oder die Staatsbürger*innenschaft nur indirekt eine Rolle spielte. Die workfare-Rationalität der Aktivierung hat sich dabei immer wieder mit dem Staatsrassismus der nationalsozialen Exklusionsweise, humanitärer Moral und teilweise mit linken Forderungen nach grundlegenden sozialen Rechten verschränkt. Wie 294 sieht es aber im Herzstück der deutschen Ausprägung des Workfarism, dem Jobcenter aus? Das Münchner Jobcenter als Grenzbehörde Die Gründung der Jobcenter wurde in den Hartz-Reformen im Jahr 2004 beschlossen. Die Jobcenter sollten die mit der weitgehenden Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld neu geschaffene und im Sozialgesetzbuch II verrechtlichte „Grundsicherung für Arbeitssuchende“ administrativ umsetzen. Die Hartz-Reformen gingen aus der Neuorientierung der Sozialdemokrat*innen um die Jahrtausendwende als Teil der Agenda 2010 hervor. Dem gingen wiederum Kritiken am keynesianischen Wohlfahrtsstaat als paternalistisch, extrem bürokratisch, bevormundend und als soziale Hängematte voraus. Er verstärke die ‚Antriebslosigkeit‘ und ‚Faulheit‘ der Armen, belaste die Wirtschaft und blähe den Staat unnötig auf. Der damalige britische Premierminister Tony Blair und der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder, beide Sozialdemokraten, hatten in einer gemeinsamen Veröffentlichung, die wegweisend sein sollte, schon im Jahr 1999 die Devise, „das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen in ein Sprungbrett in die Eigenverantwortung um[zu]wandeln“ (Schröder & Blair, 1999) zur Aufgabe der sozialdemokratischen neuen Mitte ausgerufen. Die Umstrukturierung des deutschen Sozialhilfesystems lag dabei ganz im Trend des Workfarism (Peck, 2001), wie er in den USA unter dem Schlagwort „Work first“ durch Bill Clinton, und in Großbritannien eben durch Blair umgesetzt wurde. Diese Programme verbinden den Bezug von sozialen Leistungen mit dem Zwang zur Lohnarbeit und rekonfigurieren das alte Wohlfahrtssystem. „Where welfare stood for passive income support, workfare stands for active labour inclusion. And where welfare constructed is [sic] subjects as claimants, workfare reconstitutes them as jobseekers.“ (Peck, 2003: 76) Workfarism ist im Rahmen der Arbeitsgesellschaft (vgl. Hirsch, 2015) zu verstehen, in der Lohnarbeit zum Dreh- und Angelpunkt der Moralvorstellungen, der Subjektivierungen und eben auch der Technologien des Regierens wird. Arbeitslosigkeit liegt in der Schuld der Einzelnen, statt 295 als systemischer Teil der Marktwirtschaft begriffen zu werden. Deshalb ist die Aktivierung der Einzelnen, ihre Erziehung zu marktwirtschaftlichem Verhalten, zur Optimierung ihrer Erwerbsfähigkeit, das Ziel der workfare-Programme. Die sozialdemokratische neue Mitte erfordere so auch „einen modernen Ansatz des Regierens – Der Staat soll nicht rudern, sondern steuern, weniger kontrollieren als herausfordern“ (Schröder & Blair, 1999). Zum 1. Januar 2005 wurden für erwerbsfähige Personen, die länger als ein Jahr erwerbslos sind, das Arbeitslosengeld und die Sozialhilfe zur Grundsicherung für Arbeitssuchende – auch Alg II oder Hartz IV genannt – zusammengelegt. Die Umsetzung wurde in die Hände der Jobcenter gelegt und auf den einfachen Slogan gebracht: Fördern und Fordern. Hinter dieser „Formel [...] verbirgt sich die programmatische Idee, die Erwerbslosigkeit sei vor allem dadurch zu bekämpfen, dass man bei der Eigenverantwortung und Beschäftigungsfähigkeit des Erwerbslosen ansetzt.“ (Scherschel & Booth, 2012) Die Aufgabe der Jobcenter ist die Aktivierung der Erwerbslosen zur erfolgreichen Jobsuche, statt die bloße Sicherstellung ihres Existenzminimums. Wer alle Bedingungen erfüllt, bekommt den Regelsatz, der auf dem niedrigen Niveau der Sozialhilfe angesiedelt wurde, Kosten für Unterkunft und Heizung und bei gewissen Mehrbedarfen gegebenenfalls Sonderleistungen. Zum Fördern gehören Qualifizierungsprogramme und Ein-Euro-Jobs. Individualisierte Ziele werden in sogenannten Wiedereingliederungsvereinbarungen, die die Verantwortung den Arbeitssuchenden zuschieben, festgehalten. Wenn die Leistungsbeziehenden sich in diesem Prozess nicht (ausreichend) engagieren, wenn sie etwa Termine nicht wahrnehmen oder Jobangebote ablehnen, dann drohen Sanktionen, die bis zur hundertprozentigen Reduzierung der Leistungen reichen können. Der Druck hinter der staatlichen Forderung, einen Job – egal welchen – anzunehmen, steigt – „workfarism seeks to push the poor into the labour market“ (Peck, 2003: 78). Durch die Produktion eines spezifischen Angebots an Arbeitskraft sollte diese Reform auch in den Arbeitsmarkt eingreifen und Hand in Hand gehen mit den Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010, die contingent jobs, wie den Niedriglohnsektor, förderten. „Der Arbeitsmarkt braucht 296 einen Sektor mit niedrigen Löhnen, um gering Qualifizierten Arbeitsplätze verfügbar zu machen“ (Schröder & Blair, 1999), deswegen gelte es, „Arbeitgeber durch den gezielten Einsatz von Subventionen für geringfügige Beschäftigung [… zu …] ermutigen, ‚Einstiegsjobs‘ in den Arbeitsmarkt anzubieten“ (ebd.), so hatten es Schröder und Blair schon im Jahr 1999 vorgeschlagen. Jamie Peck merkt kritisch an, dass auf diese Weise die Löhne in eine staatlich geförderte Abwärtsspirale getrieben wurden: „In contrast to the welfarist dynamic, in which the establishment of a ‚floor‘ of welfare standards effectively set (and raised) standards at the bottom of the labor market, the workfarist dynamic pulls in the opposite direction, drawing down conditions in the lowest reaches of the labor market, as uncommodified shelters from wagelabor are closed off and as former welfare recipients are compelled to accept whatever the market makes available to them locally.“ (Peck, 2003: 82) In der Bundesrepublik sind es vor allem die Jobcenter aber auch andere Behörden, die die Politik des workfare bzw. des aktivierenden Sozialstaats ausführen. Zu der spezifischen Schnittstelle von Aktivierungs-, Prekarisierungs- und Migrationspolitiken in lokalen Behörden und Regimen gibt es meines Wissens nach noch keine Forschungen.186 Auch 186 Zum wissenschaftlichen Kontext: Im Bereich der Soziologie haben sich Debatten zu Aktivierung (vgl. etwa Lessenich, 2013; Eversberg, 2015) und Prekarisierung (vgl. Castel & Dörre, 2009) entwickelt, die aber selten beide Entwicklungen miteinander in Verbindung setzen und außerdem das Thema Migration tendenziell ausblenden, wie auch in der Einleitung zu dem Sammelband Neue Prekarität zu lesen ist (Scherschel, Streckeisen & Krenn, 2012). Kulturanthropologische Arbeiten zum Jobcenter in Deutschland gibt es bisher kaum. Eine Ausnahme bildet Katrin Lehnerts (2009) diskursanalytische Magisterarbeit zur Figur des ‚Sozialschmarotzers‘. Es gibt zwar fachspezifische Arbeiten, die sich um verwandte Themen, wie etwa die Prekarisierung von Arbeits- und Lebensverhältnissen (vgl. Götz, Huber & Kleiner, 2010; Götz, Lehnert, Lemberger & Schondelmayer, 2010; Götz & Lemberger, 2009; Seifert, Götz & Huber, 2007) drehen, sie fokussieren aber eher auf den Wandel in den Arbeitsverhältnissen und den Umgang von Lohnabhängigen mit ihm. Im englischsprachigen Raum gibt es dagegen bereits einige kulturanthropologische Forschungen zu Institutionen des workfare. So etwa die Dissertation der Sozialwissenschaftlerin Sharon Elizabeth Wright, die die sozialen Prozesse herausarbeitet, in denen die gesetzlichen Vorgaben in einem Jobcentre in Schottland sowohl von 297 ich kann diese Forschungslücke hier nur in kleinem Maßstab füllen. Für meine Forschungsfrage nach den Versuchen des Regierens von EU-interner Migration in München, stellt das Jobcenter nur eine unter vielen Komponenten dar – aber eine bedeutende. Perspektiven aus dem Jobcenter München Im Rahmen des städtischen Fachaustausches Südliches Bahnhofsviertel, der den ‚Tagelöhnermarkt‘ zum Thema hatte, lernte ich Anfang 2013 den Leiter eines Münchner Jobcenters, der auch die Geschäftsführung der Münchner Jobcenter in Bezug auf das Thema Migration vertrat, kennen. Als ich ihn um ein Interview bat, reagierte er erst überrascht. „Bulgar*innen“ seien eigentlich kein spezifisches Thema für ihn. Denn wenn Personen zum Rechtskreis SGB II gehörten, wäre es eigentlich egal, ob sie Migrationshintergrund hätten, oder nicht. Und wenn sie nicht zum Rechtskreis gehörten, dann hätte er ja auch nicht mit ihnen zu tun. Ziel des Jobcenters sei es, so erklärte Herr Müller mir, als wir im April 2013 dann doch mit Kaffee und Aufnahmegerät bei ihm im Büro saßen, die anspruchsberechtigten Klient*innen in Arbeit zu vermitteln. Der Migrationshintergrund sei da eigentlich nicht ausschlaggebend. „Migrationshintergrund als solches, das wird ja in den Medien immer als etwas Negatives dargestellt. Die Erfahrung machen wir hier nicht. [...] Wenn ich jetzt einen Bulgaren nehme, der zum Rechtskreis SGB II gehört und der kann gut Deutsch, dann ist die Tatsache, dass er aus Bulgarien kommt, belanglos. Den kriegen wir auch irgendwo unter.“ Zum Rechtskreis SGB II gehören erwerbsfähige Deutsche, die in den letzten 24 Monaten weniger als ein Jahr gearbeitet haben und deren Einkommen und Vermögen unter den Richtwerten liegt. Auch Drittstaatler*innen können unter bestimmten Umständen Sachbearbeiter*innen wie von Klient*innen ausgehandelt wurden, durch die also policy in der Praxis entstand (vgl. Wright, 2013). In ihrer Untersuchung, wie sich foodstamp-Programme in New York transformiert haben, kommt die Anthropologin Maggie Dickinson zu dem Ergebnis: „This conservative, paternalistic welfare regime commodifies labor, creates new patterns of stratification among the urban poor, and redraws the terms of economic citizenship“ (Dickinson, 2016: 270). 298 – dazu gehört ein gefestigter Aufenthaltsstatus – Anspruch auf Hartz IV haben. Unionsbürger*innen, die (oder deren Familienangehörigen) weniger als ein Jahr dokumentiert gearbeitet haben und weniger als fünf Jahre rechtmäßigen Aufenthalt nachweisen können, haben nur Anspruch, wenn sie arbeiten. Dann gehören sie zu den sogenannten Aufstocker*innen, deren geringe Löhne von sozialen Leistungen aufgestockt und damit subventioniert werden. Unionsbürger*innen, die weniger als ein Jahr gearbeitet haben, haben für sechs Monate Anspruch auf Hartz IV. Bei anspruchsberechtigten Arbeitssuchenden kämen eigentlich nur dann Probleme auf, so der Jobcenterleiter, wenn Qualifikationen fehlten, und das gelte genauso für Deutsche wie für Migrant*innen: „ ... und wenn man jetzt mal deutsche Jugendliche nimmt, zum Beispiel, wenn die keinen Hauptschulabschluss haben, die sitzen in dem selben Dilemma, auch wenn sie keinen Migrationshintergrund haben.“ Ein Problem für die Integration in den Arbeitsmarkt stellten mangelnde Sprachkenntnissen dar, darauf sei das Jobcenter aber nicht spezialisiert. Deswegen habe er eine Kooperationsvereinbarung getroffen, die dem Jobcenter Arbeit spart: „ ... dass wir unsere Zuwanderer zwischen 15 und 25 dem Jugendmigrationsdienst weiterleiten. Die prüfen, muss er noch einen Integrationskurs machen und kümmern sich um die Zuleitung zum Integrationskurs. Und wir kriegen den Kunden erst wieder zurück, wenn er beim Integrationskurs war. Das heißt, wir haben einen Teil der Tätigkeit, die wir sonst selber machen müssten, ausgelagert.“ Im Laufe des Interviews wunderte sich Herr Müller aber dann doch, „wieso der vermehrte Zuzug von Bulgaren und Rumänen sich nicht im SGB II widerspiegelt“, wieso also relativ viele leistungsberechtigte EU-Migrant*innen keine Leistungen bezögen.187 Auch hier sah er die 187 Laut Bundesagentur für Arbeit erhielten zum 31. August 2013 816 Bulgarinnen und Bulgaren sowie 634 Rumäninnen und Rumänen Leistungen nach dem SGB II vom Jobcenter München. Insgesamt betrug die Zahl der leistungs- 299 fehlenden Sprachkenntnisse auf Seiten der potenziellen ‚Kund*innen‘ als mögliche Erklärung: „Das stellen wir bei Ausländergruppen fest, wenn die Sprachkenntnisse nicht da sind, dass da ein Informationsproblem da ist. Also wie erfahren sie von den Angeboten, die es gibt.“ Gleichzeitig sei es aber nicht Aufgabe des Jobcenters, für „die verschiedenen Nationalitäten eine Extrawurst zu braten“, denn „die Grundstrategie ist, dass die Angebote, die wir insgesamt haben, ja allen offen stehen“. Auch wenn Herr Müller zugab, dass die Sachbearbeiter*innen aufgrund von sehr hohen Fallzahlen nicht immer ihrer erweiterten Beratungspflicht nachkämen, bestand das Problem aus Sicht von Herrn Müller nicht in zu wenig Unterstützung oder in der Einsprachigkeit der Behörden, sondern in den mangelnden Sprachkenntnisse der Kund*innen.188 Insgesamt hatte ich nach dem Interview den Eindruck, dass die anfängliche Überraschung des migrationspolitischen Sprechers der Münchner Jobcenter zu einem migrationsspezifischen Thema angefragt zu werden, seine Taktik, migrationsrelevanten Fragen und Aufgaben eher aus dem Weg zu gehen, widerspiegelte. Dies führt mich zu der Frage, welche Erfahrungen wir als Initiative Zivilcourage im Rahmen der Unterstützung von antragstellenden oder leistungsbeziehenden EU-Migrant*innen in Konflikten mit den Münchner Jobcentern gemacht haben. Hartz IV beantragen In der Arbeit der Initiative war uns bis etwa 2013 gar nicht bewusst, dass viele der Personen, die wir unterstützten, tatsächlich einen Anspruch berechtigten Personen knapp 74.000. (Vgl. Stelle für Interkulturelle Arbeit, 2014) 188 Grundsätzlich könne das Jobcenter Dolmetscher*innen stellen, in der Praxis würden die Kund*innen aber immer gefragt, ob sie selber eine Person mitbringen könnten, die beim Übersetzen helfe. Wenn sie verneinten, könne ein*e Dolmetscher*in bestellt werden, so der Jobcenterleiter. Aus seiner Sicht stellte das erhöhte Arbeitspensum von 130 Fällen pro Sachbearbeiter*in ein weiteres Problem dar, das es den Mitarbeiter*innen erschwere, ihrer erweiterten Beratungspflicht nachzukommen. 300 auf Hartz IV hatten – dies wurde nicht nachgefragt und unsere Tätigkeiten richteten sich nach den Anfragen und Konflikten, die aufkamen. Wir selbst verbanden Hartz IV wohl zu dieser Zeit noch so sehr mit dem Inländerstatus, dass wir gar nicht auf die Idee kamen, dass ausländische Staatsbürger*innen einen Anspruch haben könnten. Zudem lebten viele der Personen, mit denen wir arbeiteten, in so prekären Verhältnissen, dass sie die für einen solchen Anspruch nötigen Papiere nicht vorweisen konnten. So hatten viele keine Anmeldung, für die ein schriftlicher Mietvertrag nötig gewesen wäre. Bevor die Einschränkungen der Arbeitnehmer*innenfreizügigkeit Ende 2013 aufgehoben wurden, hatten auch noch weniger Arbeiter*innen schriftliche Arbeitsverträge. Als wir herausfanden, dass viele der Personen, mit denen wir zusammenarbeiteten, Anspruch auf Hartz IV hatten, sahen wir hier eine Chance auf bessere Lebensverhältnisse. Schnell wurde es eine unserer regelmäßigen Tätigkeiten im Workers’ Center, Hartz IV Anträge und Wiederbewilligungsanträge auszufüllen, sowie Telefonate mit Sachbearbeiter*innen des Jobcenters zu führen. Wenn eine Person Anspruch hatte (etwa weil sie arbeitete oder mehr als fünf Jahre Aufenthalt nachweisen konnte) und Leistungen beantragen wollte, dann konnten wir den Anspruch für gewöhnlich auch durchsetzen. Dies bedeutete, den Antrag auszufüllen, viele Papiere zu besorgen und diese fristgerecht abzugeben. Wenn der Antrag zunächst abgelehnt wurde – was immer wieder geschah – schaltete sich ein mit der Initiative Zivilcourage zusammenarbeitender Jurist ein. Nicht wenige Personen und Familien konnten so aus der extremsten Unsicherheit und Armut heraustreten. Krisensituationen, wie sie etwa durch Krankheit, Schwangerschaft, Jobwechsel, Lohnbetrug und Arbeitslosigkeit auftraten, wurden durch die Leistungen aufgefangen. Mit der Bestätigung des Jobcenters, für die Kosten von Unterkunft und Heizung aufzukommen, war es auch einfacher, eine Wohnung zu finden. Doch um zu der Frage zurückzukommen: Wieso spiegelte sich die Zuwanderung nicht in den Jobcentern wieder? Gab es Hürden, die es erschwerten, Hartz IV zu beantragen? Die Gründe waren offensichtlich vielfältig. Viele Anspruchsberechtigte, die ich auf ihren Anspruch hinwies, wollten gar keine Sozialleistungen beantragen. So hätten einige der Frauen aus dem zweiten Kapitel, die unter der Einkommensgrenze verdienten, Anspruch auf aufstockende Leistungen gehabt, lehnten mein Angebot aber ab, sie beim Beantragen zu unterstützen, denn sie wollten mit dem Jobcenter nichts zu tun haben, sondern ihren Lebensunterhalt 301 mit den eigenen Händen verdienen. Eine von ihnen zeigte mir, als sie dies erklärte, mit Stolz ihre Hände, denen die schwere Arbeit als Reinigungskraft deutlich anzusehen waren. Als ich versuchte, sie zu überzeugen, dass sie so vielleicht sogar eine eigene Wohnung finden könne und dass sie, die jetzt Ende 50 sei, ja auch immer älter werde, sagte sie mir: „Vielleicht im nächsten Monat…“ Aber auch im nächsten und im übernächsten Monat wollte sie keine Leistungen beantragen. Für mich werden hier die verschiedenen Dimensionen der Subjektivierung in der Arbeitsgesellschaft deutlich: Auf der einen Seite stellen das Beharren auf Eigenständigkeit und der Arbeitsethos genau das Ziel der Politiken, die Arbeitslosigkeit und den Bezug von sozialen Leistungen als moralische Verfehlung des Einzelnen markieren, dar.189 Auf der anderen Seite ist die Weigerung, sich in die Abhängigkeit vom (workfare-)Staat zu begeben, oder überhaupt nur in Kontakt mit staatlichen Akteuren zu kommen, eine Form des Widerstands, eine Bewegung des escape und des Entgehens (vgl. Lorey, 2011; Papadopoulos, Stephenson & Tsianos, 2008). Hier zeigt sich, wie nah Unterwerfung und Entunterwerfung in Subjektivierungsprozessen zusammenliegen (vgl. Foucault 1988; 1994), oder nach dem Hamburger Forschungsteam von Marianne Pieper, Efthimia Panagiotidis und Vassilis Tsianos: „Subjektivierungsprozesse im Kontext von Prekarität implizieren eine doppelte Dynamik: die einer Flexibilisierung ‚von oben‘ und die der Dynamik von ‚Selbstverhältnissen‘ oder ‚Technologien des Selbst‘ einer produktiven Subjektivierung, die sich zugleich in einer Immanenzbeziehung mit der Macht befindet und – als Fluchtlinie – über diese hinausweist.“ (Pieper, Panagiotidis & Tsianos, 2009) Gleichzeitig gab es, wie gesagt, auch viele Arbeiter*innen, die Hartz IV beantragen wollten. Für fast alle EU-migrantischen Arbeiter*innen, die in das Workers’ Center kamen, stellte es aber ein Ding der Unmöglichkeit dar, einen Antrag auf Leistungen nach SGB-II (Hartz IV) selbstständig auszufüllen. Eigentlich haben die Sachbearbeiter*innen in den Jobcentern eine erweiterte Beratungspflicht, unter der sie beim Ausfüllen, nötigenfalls auch mit Dolmetscher*innen, helfen müssen. Die wenigsten 189 Auch im Realsozialismus, in dem die Frauen aufgewachsen waren, spielte die Subjektivierung als ‚gute Arbeiter*innen‘ eine zentrale Rolle. 302 kommen dem aber nach, was auch der Jobcenterleiter bestätigte und mit den hohen Fallzahlen begründete. Meinen Erfahrungen im Kontext des Workers’ Centers nach sind die Jobcenter nicht auf die mehrsprachigen gesellschaftlichen Realitäten eingestellt. Die Anträge sind in bürokratischem Deutsch gehalten und waren auch für mich, als ich mich das erste Mal mit einem Antrag auseinandersetzte, in mehreren Details unverständlich. Zwar gibt es die Ausfüllungsanleitungen in verschiedenen Sprachen, aber die Anträge nur auf Deutsch. Auch mehrsprachige Sachbearbeiter*innen sind angewiesen, mit ihren Klient*innen Deutsch zu sprechen und alle Bescheide und Briefe werden in deutscher Sprache verschickt, Formulare auf Deutsch ausgefüllt, denn die Amtssprache im Jobcenter, wie in anderen Behörden in Deutschland, ist Deutsch. Für Personen, die kein Deutsch sprechen oder mit dem Amtsdeutsch nicht vertraut sind, stellt dies eine Hürde dar, die sie nur mit Unterstützung überwinden können. Eine weitere Hürde stellen die vielen Papiere dar, die verlangt werden: Kontoauszüge der letzten drei Monate, Mietvertrag, Informationen zu den Arbeitsverhältnissen der letzten Jahre, vom Arbeitgeber ausgefüllte Arbeitsbestätigung, Nachweise über Vermögen und einige mehr. Welche Schwierigkeiten dies in den prekarisierten Lebens- und Arbeitsverhältnissen der EU-migrantischen Arbeiter*innen hervorruft, wurde im zweiten Kapitel schon deutlich, als es um die Beantragung von Gerichtskostenhilfe ging. Auch der im dritten Kapitel und in Bezug auf das Wohnungsamt im fünften Kapitel beschriebene Generalverdacht schlug uns in der Kommunikation mit den Sachbearbeiter*innen der Jobcenter regelmäßig entgegen: Die Person müsse doch ein Einkommen haben, von was solle sie denn sonst leben? Es könnten ja nicht alle kommen, wieso gingen sie nicht nach Bulgarien zurück, wenn sie hier nicht klarkämen? So erklärte mir eine Sachbearbeiterin eines Tages am Telefon, als ich mich nach dem Stand des Antrags von Familie Asenov erkundigte. Oft waren die Probleme, die wir im Workers’ Center zu lösen versuchten, auch zu brennend, um ihnen mit der langwierigen Beantragung von Hartz IV zu begegnen. Um eine längerfristige Lösung wie Hartz IV anzugehen, hatten wir dann oft keine Kapazitäten mehr. Wenn ich vorschlug, Leistungen nach SGB II zu beantragen, sagte ich dazu immer, dass dies eine sehr langsame Sache sei (bzw. sagte ich ‚cok yavaș bir șey‘ 303 auf Türkisch), die bis zu drei Monaten oder mehr dauern könne, bis das Geld käme. Es gelte, viele Papiere zu besorgen und dann regelmäßig zum Jobcenter zu gehen und schließlich wahrscheinlich einen Integrationskurs zu besuchen. Möglicherweise melde sich dann die Ausländerbehörde (‚yabancilar polisi‘, Fremdenpolizei auf Türkisch), woraufhin sie mit dem Brief der Ausländerbehörde so schnell wie möglich in das Workers’ Center kommen sollten. Immer wieder entschieden sich berechtigte Personen dann auch aufgrund dieser Komplikationen dagegen, die Leistungen zu beantragen. Bis hierher ging es um das Jobcenter in Bezug auf Leistungsberechtigte. Spielten Personen, die nicht zum ‚Rechtskreis SGB II‘ gehörten, wirklich keine Rolle für das Jobcenter, so wie es Herr Müller in seinem obigen Zitat behauptet hat? Ich möchte hier argumentieren, dass sie in der Figur der ‚Sozialhilfebetrüger*innen‘ und in den Überlegungen und Praktiken zur Bekämpfung von ‚Sozialhilfemissbrauch‘ eine zentrale Rolle auch innerhalb des Jobcenters spielen. Sozialhilfemissbrauch bekämpfen Als ich den Jobcenterleiter fragte, ob seiner Meinung nach alle Unionsbürger*innen freien Zugang zu Sozialleistungen in Deutschland haben sollten, lachte er auf und meinte, das halte er für schwierig, denn das große Problem bei der Globalisierung sei das wirtschaftliche Gefälle, das zwischen den Ländern herrsche. Die Schwierigkeit läge darin, so glaube er, „den Sozialleistungsmissbrauch einzudämmen“, weil „[e]s kann ja niemand ein Interesse daran haben, dass ich ein Sozialhilfesystem aus den Angeln nehme. Weil ja dann auch die darunter leiden, für die es da ist“. Sozialhilfemissbrauch zu bekämpfen, sah er als eine der wichtigsten Aufgaben des Jobcenters an. So sprach er sich beispielsweise dafür aus, mehr Mitarbeiter*innen einzustellen, um aufgrund eines zu hohen Fallaufkommens unbemerkt erschlichene Leistungen einzusparen, was die entstehenden Kosten für mehr Personal wieder decken würde. In der Frage der mangelnden Unterstützung beim Ausfüllen der Anträge hatte er sich hingegen nicht für mehr Personal ausgesprochen. Mit diesem Fokus auf Verfolgung und dem Misstrauen, dass das Verhältnis zu den ‚Kund*innen‘ prägte, entsprach er damit ganz dem Credo der Hartz-Reform. Doch was definierte er als Sozialleistungsmissbrauch 304 und wieso sprach er von ihm so explizit in Zusammenhang mit Unionsbürger*innen? Wer sind die, „für die es da ist“ und für wen ist das Sozialhilfesystem nicht da? Als ich ihn fragte, was er unter Sozialleistungsmissbrauch verstehe, antwortete er: „Zum Beispiel mit dem Ziel nach Deutschland zu kommen, Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen. Weil es sie zum Beispiel im Heimatland nicht gibt. Da muss ich noch gar nichts ... ähm ... jetzt hier irgendeine Straftat begehen. Weil im engeren Sinne ist ja Sozialhilfemissbrauch, wenn sie Angaben verschweigen und sie eigentlich gar keinen Anspruch hätten und sie die Leistungen trotzdem erschleichen – wider besseren Wissens. Aber im weiteren Sinne ist es für mich auch eine Form von Sozialhilfemissbrauch, wenn ich nach Deutschland komme mit dem Ziel, sie in Anspruch zu nehmen. Weil es mir dann einfach besser geht wie daheim. Also wenn jemand nach Deutschland kommt, mit dem Ziel zu arbeiten und wenn jemand sich selber unterhalten kann, ist das ja o.k. so. Aber wenn er ganz genau weiß, dass er das nicht kann, finde ich das schon problematisch.“ Der Jobcenterleiter problematisiert nicht Migration per se. Mit denjenigen Migrant*innen, die sich selbst ernähren können, hat er kein Problem. Eine Bedrohung stellten diejenigen dar, die gar nicht nach Arbeit suchen möchten, sondern alleine mit dem Ziel kommen, Sozialleistungen zu beziehen. Sein Verdacht ging aber noch weiter. Da für Unionsbürger*innen allein Erwerbstätigkeit den Zugang zu Hartz IV ermöglichte, wurde ihm selbst die Arbeitssuche – der Logik des Generalverdachts folgend – zum Betrugsversuch: „…und da war ja die Frage mit den in Anführungszeichen modernen Tagelöhnern, da war mein Eindruck, dass sie das machen, um den Schritt ins SGB II machen zu können“, so erklärte er. Hier beißt sich die Katze in den Schwanz: Migrant*innen sollen arbeiten, aber gerade die Arbeit – bzw. die prekäre Arbeit und Arbeitssuche im Fall der ‚Tagelöhner‘ – weist für den Sprecher des Jobcenters darauf hin, dass die ‚Tagelöhner*innen‘ eigentlich nur Leistungen missbrauchen möchten. 305 Sozialhilfe zu beziehen ist für Migrant*innen nach dieser Logik – unabhängig davon, ob sie sich den Anspruch erschleichen oder regelgerecht wahrnehmen – illegitim. Die Kategorie des Missbrauchs folgt hier den nationalen Grenzen zwischen In- und Ausländer*innen. Der Kontrast zwischen den Erwartungen, die der Jobcenterleiter an in- und ausländische Subjekte stellt, wurde noch klarer, als er später, als es nicht mehr um Migration ging, sagte, dass das Jobcenter für die Menschen zuständig sei, „die ihr Leben nicht so gut in die Hand nehmen können“, denn „das ist ja auch eine Funktion der Sozialleistungssysteme, auch solchen Menschen eine Existenzgrundlage zu verschaffen, die sie sonst nicht hätten“. Migrant*innen müssen sich dagegen selbst ernähren – oder eben wieder gehen. Im Endeffekt denkt er in Bezug auf Ausländer*innen die Logik des workfare stringent zu Ende: Nur diejenigen werden als Teil der Gesellschaft (und des Sozialleistungssystems) aufgenommen, die arbeiten (und auch das kann, wie bei den ‚Tagelöhner*innen‘, verdächtig wirken). Für Unionsbürger*innen wird der Zwang zur Arbeit nicht nur durch Sanktionen durchgesetzt, sondern ist Grundlage des Anspruchs auf Leistungen. Arbeit wird zur Grundlage des Rechts auf ein Existenzminimum – keine Arbeit, kein Existenzminimum. In der pauschalen Bindung des Existenzminimums an den Zwang zur Arbeit wird workfare und die Aktivierungslogik radikalisiert und das Sozialstaatsprinzip verletzt. Im Lichte der Transformationen von Welfare zu Workfare überrascht es dann eher, dass er sich als Leiter des Jobcenters auch für diejenigen Inländer*innen zuständig fühlt, „die ihr Leben nicht so gut in die Hand nehmen können“, denn hier kommt das alte, keynesianische welfare-Regime zum Tragen, in dem das Existenzminimum derer gesichert werden sollte, die arbeitslos sind, auch wenn sie wenig Nützlichkeitspotenzial hatten – solange sie zur nationalstaatlichen (sowie heteronormativen und männlichen) Gemeinschaft gehörten. Der Ausschluss von arbeitssuchenden bzw. ohne-Aussicht-aufErfolg-arbeitssuchenden Unionsbürger*innen aus den Zonen der Gesellschaft, für die sich der Sozialstaat zuständig fühlt, wurde im 306 Paragraphen 77 (Abs. 1 S. 2 Nr. 2) des SGB II zum Gesetz gemacht.190 Neben den Hürden, die auch Leistungsberechtigten den Zugang zu Hartz IV erschweren, war es sicherlich dieser Paragraph, der eine wichtige Rolle dabei spielte, dass so wenig Bulgar*innen und Rumän*innen Leistungen bezogen. Anträge von Personen, die nicht arbeiteten, nicht gerade eine Arbeit unfreiwillig verloren hatten und weniger als fünf Jahre rechtmäßigen Aufenthalt in Deutschland nachweisen konnten, wurden – wenn sie überhaupt einen Antrag stellen – entweder schon im Eingangsbereich des Jobcenters oder von den Sachbearbeiter*innen abgelehnt. Die Frage, inwiefern der Ausschluss von arbeitssuchenden Ausländer*innen aus dem Hartz IV extreme Armut in München befördert, stellte auch die Fraktion der Grünen und der rosa liste im Münchner Stadtrat im Jahr 2006, wie im Kapitel zur Wohnungslosenpolitik dargestellt (vgl. Stadtratsfraktion Die Grünen/rosa liste, 2006). Der Ausschluss, so die Prognose des Sozialreferats, würde nicht zu mehr Armut in München, sondern zu Abschreckung führen. Diese Position folgte der nationalstaatlichen These, dass Migration durch den Ausschluss aus den national-sozialen Sicherungssystemen verhindert werden könne. Alleine schon die hartnäckige Existenz des selbstorganisierten Arbeitsmarkts und die Tatsache, dass das Thema ‚Armutszuwanderung‘ einige Jahre später zu einem hot topic auch in der Münchner Kommunalpolitik wurde, sollte diese These aber widerlegen. Vor die Herausforderung, dass die Migration von Unionsbürger*innen 190 Das Bundessozialgericht hat im Jahr 2010 entschieden, dass der Leistungsausschluss von Unionsbürger*innen, die sich zum Zwecke der Arbeitssuche in Deutschland befinden, für Staatsbürger*innen von Vertragsstaaten des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA) keine Anwendung finden darf (BSG v. 19.10.10 - B 14 AS 23/10R). Daraufhin setzte die Bundesregierung das EFA, das seit 1953 gegolten hatte, im Jahr 2011 außer Kraft. Um gegen diese weitere Stufe im Abbau der sozialen Rechte von Unionsbürger*innen einzutreten, gründete sich in Berlin das Netzwerk gegen den deutschen EFA-Vorbehalt (vgl. http:// efainfo.blogsport.de). Auch rechtlich blieb der Ausschluss umstritten. Für die meisten Unionsbürger*innen, mit denen die Initiative Zivilcourage zusammen arbeitete, spielten die Auseinandersetzungen um das EFA aber keine Rolle, da für sie als bulgarische Staatsbürger*innen das Fürsorgeabkommen nie gegolten hatte. Vertragsstaaten des EFA sind Belgien, Dänemark, Deutschland, Estland, Frankreich, Griechenland, Irland, Island, Italien, Luxemburg, Malta, Niederlande, Norwegen, Portugal, Schweden, Spanien, Türkei und Großbritannien. 307 doch nicht so einfach zu regulieren war, gestellt, verknüpften verschiedenste Akteure des Regierens Aufenthaltsrecht und Sozialrecht noch fester. In diesem Zusammenhang wurde die Androhung der Abschiebung zur „Initialzündung zur gelungenen Integration“ und der migrationspolitische Sprecher des Jobcenters erklärte es zur wichtigsten Aufgabe der Sachbearbeiter*innen des Jobcenters, Sozialhilfebetrug (auch von leistungsberechtigten Ausländer*innen) zu bekämpfen. Die hier aufgezeigten Verschränkungen von Aufenthalts- und Sozialpolitiken sind also nicht nur eine radikale Schlussfolgerung aus den Glaubenssätzen des workfare, sondern sie machen auch aus der Perspektive des Nationalprotektionismus Sinn, indem die nationale und städtische Bevölkerung vor der ‚Bedrohung der Sozialsysteme‘, die auch eine Bedrohung des ‚sozialen Friedens‘ darstelle, geschützt wird. Über Aktivierung und Ausschluss hinaus Dieses Kapitel ist von dem Positionspapier des Städtetages vom Januar 2013 ausgegangen, das urbane soziale Ungleichheit im Kontext der EU-Migration rassifizierte und skandalisierte und damit sowohl die sogenannte ‚Armutszuwanderungsdebatte‘ in den Medien, wie auch die Verschärfung des deutschen Freizügigkeitsgesetzes anstieß. Nicht die Armut der EU-Migrant*innen wurde problematisiert, sondern die sogenannten ‚Armutszuwander*innen‘ selbst wurden als Problem und Bedrohung für den ‚sozialen Frieden‘ in den Städten und auch für das deutsche Sozialsystem markiert. Dann bin ich darauf eingegangen, wie das Jobcenter und die Ausländerbehörde auf EU-Migrant*innen reagiert haben. Ihre Praktiken, Rationalitäten und Strategien gingen kreativ mit dem Widerspruch zwischen nationalstaatlicher Exklusion und EU-europäischer Freizügigkeit (und der Autonomie der Migration) um, indem sie den Fluchtlinien des workfare folgten. Die Ausländerbehörde wurde zur Aktivierungsinstanz und das Jobcenter zur (internen) Grenzbehörde.191 191 Auch Claudius Voigt hat schon darauf hingewiesen, dass das Sozialrecht in Deutschland immer mehr zum migrationspolitischen Instrumentarium wird mit dem Ziel, ‚gute‘ von ‚schlechten‘ Migrant*innen zu unterscheiden. „Die soziale und physische Exklusion der einen geht mit der möglichst umfas- 308 Diese empirischen Beobachtungen entsprechen den Analysen des postliberalen Rassismus, der zwischen guten und schlechten Migrant*innen anhand von liberalen Normen unterscheidet. Vassilis Tsianos und Marianne Pieper sprechen von einer Flexibilisierung der rassistischen Grenzziehungen im Rahmen von Bürgerschaftspolitiken: „Es gilt, die rassistischen Praktiken nicht nur über binäre Differenzierung und Prozesse der Exklusion zu bestimmen, sondern primär über neuartige Prozesse einer limitierten Inklusion bzw. einer egalitären Exklusion, d.h. über Politiken einer reversiblen Staatsbürgerschaft postnationaler Subjekte.“ (Tsianos & Pieper, 2011: 118) Und auch Étienne Balibar hat auf die Individualisierung und Ökonomisierung der Vorstellungen von ‚Innen‘ und ‚Außen‘ bzw. auf die Verschränkung von neoliberal-kapitalistischen und rassistischen Dynamiken hingewiesen: „[W]o auf der einen Seite die Nation oder der politische Nationalismus steht, der sich auf die Vorstellung einer ‚essenziellen Gemeinschaft‘ und deren einzigartigen Schicksal gründet, und auf der anderen Seite der auf Konkurrenz beruhende Markt, der - im Unterschied zur Nation - weder einen inneren noch einen äußeren ‚Feind‘ zu haben und niemand auszuschließen scheint, der aber eine allgemeine individuelle Selektion institutionalisiert, deren untere Grenze die soziale Eliminierung der ‚Unfähigen‘ und ‚Unnützen‘ darstellt.“ (Balibar, 2008: 23) An dem Migrationsprojekt und den Kämpfen der Familie Asenov, die in Konflikt mit Ausländerbehörde, Jobcenter und auch Wohnungsamt getreten sind, zeigt sich jedenfalls, dass die Versuche des Regierens ihre Lebensverhältnisse weiter prekarisiert und ihre Obdachlosigkeit und Armut perpetuiert haben. Sie waren zwar nicht ‚wirklich‘ in Gefahr, abgeschoben oder inhaftiert zu werden, aber durchaus kurz davor, durch alle städtischen und staatlichen Sicherungsnetze zu fallen – was auch einem ‚sozialen Tod‘ gleichkommt. Ihr Schritt aus der akuten Krise lässt sich nicht auf die Androhung senden Unterwerfung der anderen unter die ökonomische Verwertung einher“, so Voigt (2016) am 12. Mai 2016 in der Wochenzeitung Jungle World. 309 der Abschiebung als angeblich integrationsfördernde Maßnahme oder auf den Ausschluss von Arbeitssuchenden aus dem Hartz IV, mit dem Armutszuwanderung bekämpft werden soll, zurückführen, sondern auf die Hartnäckigkeit und Kämpfe der Familie Asenov, ihre Koalition mit der Initiative Zivilcourage und auf das Recht auf soziale Leistungen, das zumindest für erwerbstätige Unionsbürger*innen (noch) gilt. Gleichzeitig zeigte sich die Wirkmacht des Zwangs zur Arbeit, die dazu führte, dass Stefan Asenov zwischenzeitlich über 60 Stunden die Woche im Niedriglohnbereich arbeitete. 310 311 „What sort of crisis is this?“192 In den sieben Kapiteln dieses Buches bin ich der Frage nachgegangen, wie EU-interne Migration in München regiert wird und wie die Versuche des Regierens ausgehandelt werden. Die ethnografische Regimeanalyse als kulturanthropologische Herangehensweise hat es erlaubt, verschiedene Orte und Handlungsebenen der Auseinandersetzungen einzubeziehen und mit radikal-sozialkonstruktivistischer Aufmerksamkeit nachzuspüren, zu welchen Brüchen, Widersprüchen und unerwarteten Produktivitäten es in den Aushandlungsfeldern gekommen ist. Aus einer positionierten und selbstreflexiven Perspektive der Kämpfe und mit Konflikt als Methode habe ich mich in die konkreten Auseinandersetzungen der EU-Migrant*innen mit Arbeitgeber*innen, auf den Ämtern, mit Polizei und Geschäftsleuten eingebracht. Ausgehend von den Konfliktlinien, die sich in diesen Auseinandersetzungen aufgetan haben, habe ich darüber hinaus verschiedene Veröffentlichungen, die in den Aushandlungsfeldern eine Rolle gespielt haben, in die Analyse mit einbezogen – wie etwa Papiere aus dem Stadtrat, den Rechtsprechungsdiskurs am EuGH oder Medienberichte. Ausgegangen bin ich vom selbstorganisierten Arbeitsmarkt im Münchner Bahnhofsviertel (Einleitung) und von den Arbeitskämpfen sowie dem Migrationsprojekt einer Gruppe von EU-Migrantinnen (Kapitel 3). Die soziale Formation des selbstorganisierten Arbeitsmarkts war Treffpunkt von Arbeiter*innen, von denen die meisten (zumindest die ältere Generation) im Zuge der postsozialistischen Transformationen ihre Lohnarbeit (meist ungelernte Arbeiten in Fabriken) und Existenzgrundlage in Bulgarien verloren hatten und auf der Suche nach einem besseren Leben nach München kamen. Der selbstorganisierte Arbeitsmarkt kann gleichzeitig als Ausbeutungstechnologie und als widerständige kollektive Praxis analysiert werden und wurde der Stadt München als ‚Tagelöhnermarkt‘ zum Problem – zu einem Teilproblem des neuen Politikfeldes ‚Armutszuwanderung‘. Die Entdeckung des ‚Tagelöhnermarkts‘ trug dazu bei, dass in der Stadt München die Auseinandersetzungen dazu begannen, wie die Stadt auf die EU-interne Migration reagieren bzw. wie sie sie regieren solle. Zuerst einmal sahen sich die stadtpolitischen Akteure mit der 192 312 Clarke, 2012: 44; Hall 2012: 56 Situation konfrontiert, dass es sich hier um Personen handelte, die weder Inländer*innen, noch Ausländer*innen (aus Staaten, die nicht zur EU gehören) waren, sondern einer dritten Kategorie angehörten: Sie waren Unionsbürger*innen und somit freizügig. Sie konnten sich in München und auf den Münchner Straßen aufhalten, hatten aber nicht dieselben Rechte wie deutsche Bürger*innen. Der Bund hatte im Jahr 2006 vorgesehen, arbeitssuchende Ausländer*innen von der Grundsicherung für Arbeitssuchende und damit faktisch vom Recht auf ein Existenzminimum gesetzlich auszuschließen. Auch wenn dieser Ausschluss auf EUEbene stark umkämpft war, schloss sich die Stadt ihm fraglos an. Wie sollten aber die städtischen Institutionen mit diesen subproletarischen, freizügigen, von Hartz IV ausgeschlossenen ‚EU-Ausländer*innen‘ umgehen? Diese Frage wurde heiß umkämpft. Auf der einen Seite stand die pauschale Kategorisierung der Menschen, die in München leben, als Münchner*innen – wie es EU-Migrant*innen und die Initiative Zivilcourage forderten. Dies kann auch als Forderung nach einer postnationalen urban citizenship (vgl. Bauböck, 2003; Lebuhn, 2013) gelesen werden. Auf der anderen Seite stand die rassistische Skandalisierung der ‚Tagelöhner‘ als Fremdkörper, als Bedrohung für ein „humanes und zivilisiertes Leben und Arbeitsumfeld“, wie es die Petition von Geschäftsleuten im Bahnhofsviertel im August 2013 ausdrückte. Rassismus und Nationalprotektionismus artikulierten sich auch in den staatlichen Institutionen, sei es bei den street level bureaucrats oder in höheren Rängen. In diese Richtung ging spätestens ab dem Jahr 2013 (nach dem Wegfall der Einschränkungen der Freizügigkeit für rumänische und bulgarische Arbeitnehmer*innen) auch der mediale Diskurs im Zuge der lokal wie auch bundesweit Wellen schlagenden ‚Armutszuwanderungsdebatte’. Das im siebten Kapitel analysierte Städtetagspapier (Deutscher Städtetag, 2013) hatte diese Debatte mit losgetreten. Die genannten Diskursbeiträge betrachteten EU-Migration als Bedrohung für den sogenannten ‚sozialen Frieden‘ in der BRD bzw. den Städten und rassifizierten und versicherheitlichten in diesem Zuge soziale Ungleichheiten. Ganz offene Formen des antimigrantischen und antiziganistischen Rassismus verschränkten sich dabei in einer Assemblage des Rassismus (wie sie auch anhand des medialen Diskurs zum ‚Tagelöhnermarkt‘ im vierten Kapitel analysiert wird), mit postliberalen Spielarten des Rassismus, die scheinbar liberale und vernünftige Argumente und eine universelle, selektierende und individualisierende Rationalität einbrachten, die 313 Vielfalt affirmierte, aber zwischen guten und schlechten Migrant*innen unterschied. Hier verschmolzen rassistische und klassistische Zuschreibungen zur Figur der ‚Armutszuwanderung‘, die der ‚arbeitenden Bevölkerung‘ und den ‚Steuerzahlern‘ aber auch ‚unseren Obdachlosen‘ gegenübergestellt wurde. Diese diskursiven Formationen artikulierten sich in spezifischen Ein- und Ausschlüssen, die wiederum Lebensrealitäten (ko-)produzierten, in denen sich Rassismus und Klassenverhältnisse untrennbar miteinander verschränkten. Konkret konnte ich diese Dynamiken auf der kommunalen Ebene beobachten. Auch im städtischen Regime wurde nach und nach die Überzeugung hegemonial, dass es sich bei den neuen urbanen Entwicklungen um das Problem der ‚Armutszuwanderung‘ handelte. Die hegemoniale Problematisierung folgte weder dem pauschalen Einschluss, noch dem pauschalen Ausschluss, sondern fragte vielmehr: Wer gehört zur Münchner Bürgerschaft? Welche Bedingungen müssen Migrant*innen erfüllen, um dazuzugehören? Wie mit den unerwünschten ‚Zuwander*innen‘ umgehen, nun da die migrationspolitische Technologie der Außengrenzen (zumindest für Unionsbürger*innen) weggefallen war und da die Menschen das Recht hatten, auf dem Gehweg zu stehen, und eigentlich auch das Recht, bei Obdachlosigkeit in einer Notunterkunft untergebracht zu werden? Anhand der politics of security am ‚Tagelöhnermarkt‘ (Kapitel 5) und insbesondere der Münchner Wohnungslosenpolitik (Kapitel 6) konnte ich herausarbeiten, wie umstritten diese Fragen waren. Das Patchwork der verschiedenen Ansätze, Akteure, Institutionen, Argumentationen und Problematisierungen veränderte sich in kontingenten Aushandlungsprozessen immer wieder. Es folgte dabei keiner einzelnen Logik, insgesamt haben sich aber doch zwei ineinander verschränkte Selektionsmechanismen sedimentiert: Zum einen die nationalstaatlichen Grenzziehungen (es gab eine extra Dienstanweisung für Unionsbürger*innen); zum anderen wurde zwischen Menschen ‚mit Perspektive‘ und jenen ‚ohne Perspektive‘ unterschieden. Jene Personen, die keine Münchner*innen sein und „keine Perspektive“ in München haben sollten, wurden gänzlich ausgeschlossen, beziehungsweise in einer humanitären Geste durch das Kälteschutzprogramm im Winter vor dem Erfrieren geschützt. Diese Prozesse gingen Hand in Hand mit der Transformation des nationalsozialen Wohlfahrtsstaates, dessen Aufgabe zunächst die Absicherung eines gesellschaftlichen sozialen Mindeststandards (für Bürger*innen) 314 gewesen war, der sich nun aber zu den Sozialtechnologien des workfare hin veränderte, die die Individuen in ihren Potenzialen aktivieren sollten. ‚Integrationshilfen‘ für Menschen, die ‚keine Perspektive haben‘, machen in dieser Logik des Aktivierungsimperativs keinen Sinn. Eine solche multiple, flexible Grenzziehung zeichnete sich auch in den Aushandlungen am EuGH ab (Kapitel 6). Auch hier konnte ich mit einem Fokus auf die Brüche und Komplexität dieser Prozesse zeigen, dass diese Entwicklung nicht von vornherein feststand. So setzte sich zwischenzeitlich der Standpunkt durch, dass auch nichterwerbstätige Unionsbürger*innen unter Umständen Anspruch auf soziale Leistungen haben können; somit wurde die Marktbürgerschaft (Bürgerschaftsrechte und Freizügigkeit nur für Erwerbstätige und Vermögende) hin zu einer sozialeren Unionsbürgerschaft reformiert. Die neue Grenzziehung gab die Logik des Marktes aber letztlich nicht auf, sondern verfeinerte sie, indem sie nur denjenigen einen Anspruch einräumte, die erwerbsfähig waren bzw. eine ‚tatsächliche Verbindung zum Arbeitsmarkt‘ nachweisen konnten (wobei es auch zu Entscheidungen für soziale Leistungen für Personen kam, die diese Konditionen nicht erfüllten). Dies stellte einen Kompromiss zwischen dem Nationalprotektionismus und der sozialen Union/Europäisierung auf dem Feld der Verhältnismäßigkeitsprüfung dar, der Rechte nicht grundlegend gewährte, sondern an Bedingungen knüpfte. Mit dem Erstarken der nationalprotektionistischen Bewegungen und der rassistischen Skandalisierung von ‚Armutszuwanderung‘ um das Jahr 2013 herum änderten sich die Kräfteverhältnisse wiederum und die Europäisierungsansätze des Sozialrechts wurde zumindest im Fall von Hartz IV zurückgedreht (Rechtsachen Dano und Alimanovic), indem der deutschen Ausschlussklausel (§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II) Recht gegeben wurde. Anhand von Konflikten und Interviews mit Akteuren der Jobcenter und der Ausländerbehörde in München konnte ich in einem weiteren Aushandlungsfeld des fragmentierten, multiskalaren Regimes der EUinternen Migration darstellen, wie die wechselseitige Beziehung zwischen Freizügigkeit und Sozialrecht produktiv wurde (Kapitel 7). Auch das Jobcenter und die Ausländerbehörde gingen kreativ mit dem Widerspruch von Freizügigkeit und Nationalprotektionismus um: das Jobcenter wurde zur Grenzbehörde und die Ausländerbehörde zur Aktivierungsinstanz, wie an der Androhung der Abschiebung deutlich wurde, die nach Aussage des stellvertretenden Leiters der Ausländerbehörde 315 als „Initialzündung zur gelungenen Integration“ gedacht war. Die „Migrationssteuerung wird […] immer mehr von den Ausländerbehörden an die Sozialleistungsträger ausgelagert“, so auch der Experte für die sozialrechtliche Situation von Unionsbürger*innen in Deutschland Claudius Voigt (2016): „die Verweigerung des Zugangs zum Existenzminimum ersetzt in Deutschland die Grenzkontrollen und wird zugleich zu einem zentralen Instrument der Verhaltenskontrolle“. Die in diesem Zusammenhang entstehenden Technologien des Regierens können mit Isabel Lorey (2012) als gouvernementale Prekarisierung analysiert werden, die die Aktivierung der Individuen zum Ziel hat und sowohl mit der Herabsetzung sozialer Absicherung wie auch mit der „Kategorisierung von ‚Überflüssigen‘“ (Lorey, 2012: 94) einhergeht. Die Überflüssigen - die „bad diversity“ im Sinne von Alana Lentin und Gavin Titley (2011) - werden zum Objekt von Abschreckungs- und Ausschlussmaßnahmen, wenn der Münchner Stadtrat explizit „unnötige Anreizeffekte“ (Stelle für interkulturelle Arbeit, 2014: 40) vermeiden will, die Bundesregierung „Anreize für Migration in die sozialen Sicherungssysteme“ (CDU, CSU & SPD, 2013: 108) verringern möchte und die Sozialbehörden ihre Aufgabe darin sehen, das Aufenthaltsgesetz durchzusetzen (vgl. Kapitel 5 und 7). In entscheidenden Punkten geht das Regime der EU-internen Migration über das Moment der liberalen Marktorientierung und der Potenzialorientierung hinaus. Kennzeichnend dafür war die Entstehung der Figuren des ‚Sozialtourismus‘ und der ‚Armutszuwanderung‘, mit denen die neuen Entwicklungen in der urbanen Gesellschaft migrantisiert und versicherheitlicht wurden. Diese Diskurse folgten einer Assemblage an rassistischen Rationalitäten und forderten autoritäre Antworten auf die Krise. Die Figur der Bedrohung und die Versicherheitlichung der EU-internen Migration machten es möglich, nicht die Probleme der EU-Migrant*innen in München, sondern die ‚Armutszuwanderung‘ als Problem zu betrachten und auch nicht von einer Krise des Kapitalismus und dem Problem der sozialen Ungleichheit zu sprechen, sondern von einer Krise der staatlichen Souveränität, des sozialen Friedens und der nationalen Sozialsysteme, die durch die ‚Armutszuwanderung‘ als unerwünschter Nebeneffekt der Europäisierung ausgelöst würde. Die Krise selbst wurde zum Modus des Regierens, der autoritäre und austeritäre Maßnahmen zum Schutze der Sicherheit legitimierte. 316 Nach Ende des Untersuchungszeitraums sollte es nicht besser werden: Ende Dezember 2016 schloss die Bundesregierung arbeitssuchende (EU-)Ausländer*innen entgegen der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nicht nur von der Grundsicherung für Arbeitssuchende (Leistungen nach SGB II) sondern auch von Sozialhilfe (Leistungen nach SGB XII) aus.193 Dieses sogenannte Unionsbürgerausschlussgesetz unterscheidet zwischen dem sogenannten ‚materiellen‘ und dem ‚formalen‘ Freizügigkeitsrecht: Ohne dass die Ausländerbehörden die Freizügigkeit formal aberkannt haben, können die Sozialbehörden schon den ‚materiellen‘ Aufenthalt entziehen. Es wurde also eine rechtliche Zone geschaffen, in der aufenthaltsberechtigte Personen keinen Anspruch auf ein Existenzminimum haben. Diese Regelung steht im Widerspruch zu den grundlegenden Prinzipien des Sozialstaats bzw. dem Anspruch auf ein Existenzminimum (vgl. Riedner 2017). Durch das „sozialrechtlich normierte Aushungern wirtschaftlich unproduktiver EU-Bürger“ (Voigt, 2016) – durch den Ausschluss der postliberal Bedrohlichen, der ‚nichterwerbsfähigen Ausländer*innen‘, der ‚Armutszuwander*innen ohne Perspektive‘ – wird soziale Ungleichheit perpetuiert und (relativ) entrechtete Zonen in der Gesellschaft produziert, in denen Prekarisierung existenzielle Not bedeutet und der Zwang zur Arbeit maximiert wird. Meine Forschung hat aber nicht nur gezeigt, wie neue Versuche des Regierens in erratischen Prozessen ausgehandelt wurden, sondern auch, dass die Autonomie der Migration, die hartnäckigen widerständigen Praktiken der migrantischen Arbeiter*innen eine treibende Kraft in diesen Aushandlungen waren. Die EU-Migrant*innen kamen und blieben trotz Versuchen der Abschreckung. Die Menschen am selbstorganisierten Arbeitsmarkt ließen sich nicht vertreiben. Diese Antagonismen zwischen den multiplen Grenzziehungen, Regierungs- und Ausbeutungstechnologien und den Praktiken der Migrant*innen artikulierten sich in Verhältnissen der differenzierten Inklusion und der Multiplikation von Arbeit (Mezzadra & Neilson, 2014) – in einer stratifizierten, vielfältigen Gesellschaft, in der Bürger*innen und Migrant*innen auf 193 Mit dem ‚Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch‘ hat die Bundesregierung alle Unionsbürger*innen mit einem Aufenthaltsrecht allein zur Arbeitssuche oder ohne materielles Aufenthaltsrecht von Leistungen nach SGB II und XII ausgeschlossen. 317 unterschiedliche Arten und Weisen in den Zwang zur (Lohn-)Arbeit, Prekarisierung und weitere Machtverhältnisse verstrickt sind. Während ich diese Schlussworte in ihrer ersten Version schrieb, hatten sich die Wähler*innen im Vereinigten Königreich in einem Referendum (23.06.2016) mit knappen 52 Prozent für den sogenannten Brexit, den Austritt Großbritanniens aus der EU, ausgesprochen. Bis heute (Mai 2018) blieben die Auseinandersetzungen zum Brexit vom Thema (EU-) Migration geprägt. Rechte Kräfte schürten den Rassismus gegen EUMigrant*innen und auch gegen (Flucht-)Migrant*innen von außerhalb der EU, indem sie Migration in einem diffusen Bedrohungsszenario für die sozialen Missstände verantwortlich machten. Auch wenn Einwände gegen den brachialen Rassismus laut wurden, herrschte (ähnlich wie in der deutschen Armutszuwanderungsdebatte 2013) weitestgehend Konsens, dass Migration unter den Gesichtspunkten der ökonomischen Nützlichkeit zu betrachten und zu bewerten sei und dass unregulierte Migration den Sozialstaat bedroht.194 In den Verhandlungen zu den Konditionen eines potenziellen Verbleibs in der EU (2015-2016) forderte der britische Premier, der für die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens zu bestimmten Konditionen warb, den Zugang von Unionsbürger*innen zu sozialen Leistungen im Vereinigten Königreich zu erschweren. Auch einige Linke sprachen sich unter dem Schlagwort Lexit für einen Austritt aus der EU aus. Sie begründeten ihre Ablehnung des EU-europäischen Projektes u.a. damit, dass die EU auf der Ausbeutung ihrer Peripherien beruht, austeritäre Politik durchsetzt, die europäische Identität nach außen abgrenzt, das Recht auf Asyl faktisch abschafft und das Sterben an den Außengrenzen verursacht. Gleichzeitig sprachen sich Stimmen aus dem Lexit-Lager für eine Rückkehr zum national-sozialen Staat aus, der Arbeitsrechte und einen Anteil am erwirtschafteten Mehrwert durch soziale Absicherung und relativ hohe Löhne garantiere – und seine Grenzen schütze. Heute, fast zwei Jahre später (Mai 2018), nimmt die Frage, wie eine britische Migrationspolitik gegenüber EU-Bürger*innen zu gestalten sei, immer noch eine zentrale Stelle in den Austrittsverhandlungen sowie in den nationalen Wahlkampagnen ein. Dabei fordert nicht nur die Rechte eine restriktive Migrationspolitik. Auch auf 194 Ich möchte Veit Schwab dafür danken, dass er einen früheren Entwurf der vorliegenden Überlegungen zum Brexit/Lexit gelesen und kommentiert hat. Insbesondere die Beobachtungen eines nützlichkeitsrassistischen Konsens und des diffusen Bedrohungsszenarios gehen auf seine Kommentare zurück. 318 Seiten der Linken werden nationalprotektionistische Positionen vertreten. Nach Meinung des Parteivorsitzenden der Labour-Partei, dem Hoffnungsträger vieler britischer Linken, sollte sich eine Migrationspolitik unter Labour an der Nachfrage der britischen Wirtschaft orientieren und deshalb Einwanderung beschränken, um Lohndumping zu verhindern: „What there wouldn‘t be is whole-scale importation of underpaid workers from central Europe in order to destroy conditions, particularly in the construction industries.“ (Elgot, 2017; vgl. auch Angry Workers of the World, 2018) Auch in Deutschland stellt die These, dass Migration die Arbeitsstandards und den Sozialstaat bedroht, sowohl für rechte Kräfte wie auch für Teile der ‚Linken‘ eine handlungsleitende Maxime dar. Als prägnantes Beispiel kann etwa das Thesenpapier zu einer human und sozial regulierenden linken Einwanderungspolitik einiger prominenter Vertreter*innen der Partei Die LINKE dienen, die im Frühjahr 2018 für einen besseren Schutz nationalstaatlicher Grenzen sowie die Regulierung der Einwanderung von Niedrigqualifizierten eintreten und dabei die Einschränkung der Arbeitnehmer*innenfreizügigkeit für rumänische und bulgarische EU-Bürger*innen als positives Beispiel heranziehen (Bimboes et al., 2018). Auf Grundlage der vorliegenden Diskussion des EU-europäischen Migrationsregimes in München bieten sich einige Argumente an, wieso ein solcher ‚linker‘ Nationalprotektionismus nicht nur politisch gefährlich ist, sondern auch analytisch zu kurz greift. Die Untersuchung der konkreten Aushandlungen um die EU-Freizügigkeit und den sozialen Gehalt der Unionsbürgerschaft verweist darauf, welche Fragen gestellt werden können, um einer Analyse der Widersprüche und Handlungsspielräume in der aktuellen krisenhaften Konjunktur näher zu kommen. Erstens enthüllt die Perspektive der Migration den methodologischen und politischen Nationalismus hinter der Forderung nach dem Schutz des nationalen Wohlfahrtsstaats – für Nicht-Bürger*innen bedeutet der Nationalstaat Ausschluss und Entrechtung (oder zumindest die Drohung damit). Indem sie den nationalen Bezugsrahmen erweitert, macht die Perspektive der Migration zudem darauf aufmerksam, wie nationalprotektionistische Projekte globale postkoloniale und kapitalistische 319 Machtverhältnisse mit durchsetzen – auch innerhalb EU-Europas. Zweitens wurde deutlich, wie sich neue Versuche des Regierens und neue gesellschaftliche Verhältnisse sedimentieren, die nicht allein in der EU oder in einzelnen Staaten zu lokalisieren sind, sondern in transversalen, transnationalen Verknüpfungen. Nationalprotektionistische Projekte rufen den Nationalstaat tendenziell als einzige handlungsfähige Schutzmacht gegenüber der EU (oder wahlweise ‚Globalisierung’) an und blenden weitere politische Ebenen und Akteure (wie etwa Städte, transnationale Organisationen oder Netzwerke) aus. Hinzu kommt, drittens, dass im Zuge der Transformation der Sozialsysteme hin zum aktivierenden workfare und der damit einhergehenden Deregulierung der Arbeitsmärkte die soziale Absicherung auch für diejenigen, die sich innerhalb des nationalen Kompromisses befinden und von ihm profitieren, zusehends herabgesetzt wird. Für eine fundierte Kritik des Nationalprotektionismus muss die Analyse vom national-sozialen Staat, die auf dem fordistischen Klassenkompromiss beruht, aktualisiert werden. Der sozialstaatliche Klassenkompromiss ist zwar in Deutschland noch nicht gänzlich aufgekündigt worden, aber die sozialen Rechte werden doch immer weiter abgebaut. Die Radikalisierung des Zwangs zur Arbeit, wie sie gegenüber Unionsbürger*innen bereits durchgesetzt wurde, erscheint aus dieser Perspektive nicht als Schutzmaßnahme für soziale und arbeitsrechtliche Standards, sondern als neoliberalautoritäres Projekt, das perspektivisch auch vor anderen Gruppen nicht Halt macht und die gesellschaftlichen Zonen der Exklusion und extremen Prekarisierung auch in den ökonomischen Zentren des globalen Nordens potenziell ausweitet. Um in den Städten, den einzelnen Mitgliedsstaaten, in der EU, über sie hinaus und transversal zu ihnen eine linke Bewegung gegen die rassistischen, nationalistischen und austeritären Kräfte aufbauen und stärken zu können, gilt es, die aktuelle Konjunktur genauer zu betrachten – „to analyse ruthlessly what sort of crisis it is“ (Hall & Massey, 2012: 56) – und in ihrer Komplexität und in ihren Widersprüchen rassismus- und kapitalismusanalytisch fundiert zu untersuchen. Dazu ist es hilfreich, die soziale Frage in trans- und postnationalen Zusammenhängen zu stellen sowie die 320 Migrations- und Grenzforschung in sozialen und kapitalistischen Verhältnissen zu kontextualisieren. Eine Forschungspraxis, die sich auf reflektierte Weise in konkreten Konflikten in den umkämpften, transnationalen Regimen positioniert, ermöglicht es, eine solche Perspektive einzunehmen. Diese Arbeit konnte Verschiebungen und Auseinandersetzungen, Brüche und Öffnungen im urbanen Regime der EU-internen Migration in München aufzeigen. Sie weist darauf hin, wie wichtig es ist, aufmerksam nicht nur für reaktionäre Nationalismen zu sein, sondern auch für die Doppelbewegung von Aktivierung und Ausschluss, die im Kleid einer potenzialorientierten Inklusionspolitik und mit dem vorgeblichen Ziel, die Sozialstandards in der vielfältigen Stadtgesellschaft zu schützen, zwischen ‚guten‘ und ‚schlechten‘ Migrant*innen unterscheidet. Im relativ jungen Regime der EU-internen Migration soll ein Set an aufenthalts- und sozialpolitischen Instrumenten die ersteren unter den Bedingungen der Arbeitsgesellschaft integrieren und die letzteren mit Zwang zum Arbeiten aktivieren oder als Personen ‚ohne Perspektive‘ bzw. ‚ohne Aussicht auf Erfolg bei der Arbeitsuche‘ von gesellschaftlichen Mindeststandards ausschließen. 321 Literaturverzeichnis Adam, Jens & Vonderau, Asta (2014): Formationen des Politischen. Bielefeld. Alberti, Gabriella (2014): Mobility strategies, ‚mobility differentials’ and ‚transnational exit’. The experiences of precarious migrants in London’s hospitality jobs. In: Work, Employment & Society. 1–17. Alberti, Gabriella (2017): The government of migration through workfare in the UK. Towards a shrinking space of mobility and social rights? In: movements. Journal für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung, 3(1). 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