WENKE CHRISTOPH / STEFANIE KRON (HRSG.)
SOLIDARISCHE
STȦ˙DTE
IN
EUROPA
Wenke Christoph und Stefanie Kron (Hrsg.)
SOLIDARISCHE
STÄDTE IN EUROPA
URBANE POLITIK ZWISCHEN
CHARITY UND CITIZENSHIP
2
INHALT
Wenke Christoph und Stefanie Kron
Solidarische Städte in Europa
Urbane Politik zwischen Charity und Citizenship
Mario Neumann
Baustelle solidarische Stadt
Berlins Landesregierung und linke Bewegungen
forcieren soziale Rechte für Migrant*innen
Katharina Morawek
Städtische Bürgerschaft und der kommunale Personalausweis
In Zürich setzen sich zivilgesellschaftliche Akteure
für «Urban Citizenship» ein
Bue Rübner Hansen
Stadt der Zuflucht und Migration
Die Bewegung «Barcelona en Comú» knüpft europäische
Netzwerke der Solidarität
Maurizio Coppola
Solidarität gegen den Rechtsruck
In Neapel setzen Aktivist*innen auf Mutualismus
und neue Klassenpolitik
Sarah Schilliger
Exkurs: Ambivalenzen einer Zufluchtsstadt
Die «Sanctuary City» Toronto versucht sich an
der Demokratisierung von Grenzen
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
5
19
37
55
79
99
116
WENKE CHRISTOPH UND STEFANIE KRON
SOLIDARISCHE
STÄDTE IN EUROPA
URBANE POLITIK ZWISCHEN CHARITY
UND CITIZENSHIP
In Europa wachsen die Bewegungen der Städte des Willkommens,
der Zuflucht und Solidarität. Zivilgesellschaftliche Gruppen, städtische
Politiker*innen und Stadtverwaltungen widersetzen sich so den wachsenden Restriktionen europäischer
und nationaler Grenz- und Migrationspolitiken. Zugleich entwickeln
sie konkrete kommunale Politiken
zum Schutz oder zur sozialen Inklusion von Menschen mit prekärem
Aufenthaltsstatus. Nicht zuletzt bilden sie diskursive Gegenpole zum
europaweiten Aufstieg rechter Parteien, welche die Abschottung der
Grenzen sowie die Kriminalisierung
von Migrant*innen vorantreiben.
Bereits seit den 1980er Jahren, als
Hunderttausende Flüchtlinge aus
den zentralamerikanischen Bürgerkriegsländern Schutz vor Verfolgung
in den USA und in Kanada suchten,
existiert in Nordamerika das Konzept
der «Sanctuary City» («Stadt der Zuflucht»). Die damalige US-Regierung
unter Ronald Reagan gewährte nur
den wenigsten zentralamerikanischen Kriegsflüchtlingen Asyl. Da-
her begannen religiöse Organisationen und migrantische Initiativen,
kommunale Politiker*innen und Behörden unter Druck zu setzen, die
Flüchtlinge vor Abschiebungen zu
schützen und deren Aufenthaltssicherheit zu verbessern. Als erste
Stadt verabschiedete San Francisco im Jahr 1985 eine «City of Refuge»-Resolution und im Jahr 1989
eine entsprechende Verordnung,
die den städtischen Behörden und
Polizist*innen die Kooperation mit
den Bundesbehörden bei der Identifikation, Verfolgung, Inhaftierung
und Abschiebung von Migrant*innen ohne legalen Aufenthaltsstatus
untersagt (Bauder 2016: 176; Lippert/Rehaag 2013). Diese «Don’t
Ask Don’t Tell»-Politik (DADT-Politik)
fand in Nordamerika schnell Verbreitung. Bis heute haben sich mehr als
500 US-amerikanische und kanadische Städte und Gemeinden sowie sogar einige Bundesstaaten der
«Sanctuary»-Bewegung angeschlossen.
Nach der Flüchtlingstragödie von
Lampedusa im Oktober 2013, bei
5
der mehr als 400 Menschen in Sichtweite zur Küste der sizilianischen Insel ertranken, war der Bürgermeister der sizilianischen Hauptstadt
Palermo, Leoluca Orlando, einer der
ersten in Europa, der seine Stadt zu
einer Stadt des Willkommens sowie
alle dort ankommenden Geflüchteten zu «Palermitanern» erklärte (vgl.
Bloch 2018). Im Jahr 2015 veröffentlichte Orlando die «Charta von Palermo».2 Ihre zentrale Botschaft lautet,
dass die Institution der Aufenthaltsgenehmigung abgeschafft werden
muss, die Rechte der Staatsbürgerschaft ausschließlich mit dem
Wohnort verbunden sein sollen und
jedem Menschen das Recht auf die
freie Wahl des Wohnortes zu gewährleisten sei.
Genau genommen war die erste
Stadt des Willkommens in Europa
aber ein Dorf: Am 1. Juli 1998 legte vor Riace, einem kleinen Ort mit
rund 2.000 Einwohner*innen an der
kalabrischen Küste in Süditalien,
ein Boot mit 300 Geflüchteten aus
den kurdischen Gebieten an. Domenico Lucano, bis vor Kurzem der
Bürgermeister des Ortes, nahm die
kurdischen Flüchtlinge in seinem
Dorf auf, das bis dahin drohte, sich
in einen Geisterort zu verwandeln,
weil immer mehr Bewohner*innen in die italienischen Metropolen oder ins Ausland abwanderten.
Mit den Einwanderer*innen begann Lucano, Riace wieder zu beleben. Er beschloss, «einen Ort zu
schaffen, an dem Flüchtlinge und
Einheimische gemeinsam arbeiten
und leben. Ein globales Dorf, in der
ärmsten Gegend einer der ärms6
ten Regionen Italiens» (vgl. Mittelstaedt 2010). Anfang Oktober 2018
nahmen die italienischen Behörden
Lucano allerdings fest und stellten
ihn unter Hausarrest. Ähnlich wie
den Crews der zivilen Rettungsschiffe wirft die Justiz Lucano unter anderem «Begünstigung illegaler Migration» vor. Inzwischen ist er
zwar wieder auf freiem Fuß, Riace
darf er allerdings nicht einmal mehr
betreten (vgl. Kron 2018).
Auch in Deutschland und den USA
gibt es Landkreise, die sich zu Kommunen der Solidarität oder Zuflucht
erklären. Dennoch ist die solidarische Kommune sowohl in Nordamerika als auch in Europa ein
vorwiegend urbanes Phänomen.
Denn erstens verdichten sich soziale Kämpfe und Konflikte, etwa im
Feld der Migration, vor allem in großen Städten. Zweitens sind die Bewohner*innen von Städten – auch
historisch – zumeist kulturell und
sozial heterogener als ländliche Bevölkerungen. Drittens sind es eher
die Städte als die ländlichen Kommunen, die vielfältige und gut vernetzte migrantische und andere zivilgesellschaftliche Organisationen
und Bewegungen der Solidarität
aufweisen. Und viertens verfügen
Politiker*innen, Verwaltungen und
zivilgesellschaftliche Gruppen in
Städten oft bereits über jahrzehntelange konkrete Erfahrungen im Zusammenleben zwischen Eingesessenen und Eingewanderten.
1 Internationale Freizügigkeit von Menschen. Charta
von Palermo 2015, unter: www.linksfraktion-hamburg.
de/wp-content/uploads/2015/12/PDF-CARTA-DI-PALERMO-GER.pdf.
NETZWERKE UND BÜNDNISSE SOLIDARISCHER STÄDTE
Seit der Krise der europäischen
Flüchtlingspolitik im Jahr 2015 und
erneut seit die neue rechte Regierung Italiens im Sommer 2018 eine
Blockade der italienischen Häfen für
die Schiffe der zivilen Seenotrettung
im Mittelmeer anordnete, haben
Idee und Praktiken der solidarischen
Stadt in ganz Europa eine beachtliche Dynamik erfahren. Transnationale Bezugspunkte sind dabei vor
allem die erwähnte «Charta von Palermo» und die «Sanctuary»-Bewegung in Nordamerika.
Viele europäische Metropolen sind
dem 2016 gegründeten Städtenetzwerk «Solidarity Cities» beigetreten.
Der Zusammenschluss im Rahmen
des Eurocities-Netzwerks ist eine
Initiative von Bürgermeister*innen
für die Aufnahme und Integration
von Geflüchteten. Diesem offiziellen Bündnis von Stadtregierungen
gehören unter anderem Athen und
Thessaloniki, Amsterdam, Barcelona, Ljubljana, Neapel, Stockholm
und – seit Januar 2019 – auch Berlin an. «Solidarity Cities» drängt auf
eine effizient koordinierte Steuerung
dessen, was im Gründungsdokument «Flüchtlingskrise» genannt
wird. Von der EU-Kommission fordert «Solidarity Cities» eine Erhöhung der Mittel für die soziale Infrastruktur jener Städte in Europa,
in denen de facto die meisten Geflüchteten ankommen oder bereits
leben.2
Im Jahr 2017 rief auch die aktivistische Basis im deutschsprachigen
Raum zu einem Bündnis solidari-
scher Städte auf. Flüchtlingsräte,
migrantische Organisationen, Willkommensinitiativen, linke Bewegungen, stadtpolitische Organisationen,
kirchliche Gruppen und Wissenschaftler*innen in Städten wie Berlin, Bern, Köln und Zürich sowie in
zahlreichen kleineren Städten gründeten das alternative Städtenetzwerk mit dem fast identischen Namen «Solidarity City».3 Aus Protest
gegen die – von fast allen Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten unterstützte – Blockade italienischer Häfen und Kriminalisierung der zivilen
Seenotrettung im Mittelmeer, riefen
Aktivist*innen aus dem Umfeld der
internationalen Seenotrettungs-Bewegung im Sommer 2018 die Kampagne «Seebrücke» ins Leben und
forderten die Regierungen deutscher Städte auf, sich zu «sicheren
Häfen» für Geflüchtete zu erklären.4
Inzwischen gehören in Deutschland
rund 40 Städte und Gemeinden einem oder mehreren der genannten Netzwerke solidarischer Städte an. Eine ähnliche Kampagne mit
dem Namen «Safe Harbours» wurde
auch in italienischen und spanischen
Städten lanciert.5 In Italien stößt das
Ende 2018 verabschiedete neue Einwanderungs- und Sicherheitsgesetz
auf den entschiedenen Widerstand
zahlreicher Kommunal- und Regionalpolitiker*innen. Es könnte rund
2 Vgl. https://solidaritycities.eu/. 3 Vgl. https://solidarity-city.eu/de/. 4 Vgl. https://seebruecke.org/startseite/sicheare-haefen-in-deutschland/. 5 Vgl. https://
alarmphone.org/en/2018/06/17/call-for-safe-and-openharbours/.
7
140.000 Menschen, die bisher unter humanitärem Schutz standen,
illegalisieren und zu Obdachlosen
machen. Nicht nur die Stadtoberen
von Neapel, Palermo, Mailand und
Florenz lehnen das neue Gesetz mit
aller Entschiedenheit ab, sondern
auch die Präsidenten der Regionen
Toskana, Kalabrien und Piemont
(vgl. Kitzler 2019).
Der politische Raum der Stadt ist
also zu einem Kampf- und Experimentierfeld rund um die Zukunft
europäischer (oder sogar globaler)
Flüchtlings-, Migrations- und Grenz-
regime geworden, aber auch für
eine grundlegende Demokratisierung städtischer Gesellschaften. Eine Besonderheit der Bewegung solidarischer Städte in Deutschland
und Europa ist, dass sie – ähnlich
der nordamerikanischen «Sanctuary»-Bewegung – aus den Praktiken
der Solidarität und den Kämpfen der
Migration entstanden ist, deren Forderungen nach Schutz und Rechten
für Menschen mit prekärem Aufenthaltsstatus nun auch in wachsendem
Maße von den Akteuren institutioneller Politiken aufgegriffen werden.
DISKURSIVE INTERVENTIONEN UND
SOLIDARISCHE PRAKTIKEN
Dennoch können zunächst zwei Ebenen des politischen Handelns unterschieden werden: erstens sogenannte diskursive Interventionen von
Bürgermeister*innen, namhaften
Politiker*innen, Kulturschaffenden
und Bewegungen in die politischen
und medialen Räume der EU-Mitgliedsstaaten. Diese kennzeichnet
ein allgemeiner Rechtstrend, der
mit migrationsfeindlichen Diskursen, Politiken der Abschottung von
Grenzen sowie der Kriminalisierung
von Migrant*innen und Initiativen
der Hilfe und Solidarität einhergeht.
Ein Beispiel für diskursive Interventionen sind die öffentlichen Stellungnahmen der Bürgermeister Neapels,
Luigi de Magistris, und Palermos,
Leoluca Orlando, gegen die restriktive und rassistische Migrationspolitik des italienischen Innenministers
Matteo Salvini. Sie fordern wieder8
holt und vehement die (Wieder-)Öffnung der italienischen Häfen für die
zivile Seenotrettung und setzen sich
(zumindest diskursiv) für die Stärkung solidarischer Stadtgesellschaften gegenüber dem Nationalstaat
und der EU ein.6
Die Selbsterklärungen deutscher
Städte zu «sicheren Häfen» und zur
direkten Aufnahme von aus Seenot
geretteten Flüchtlingen durch Städte oder Bundesländer gehören ebenfalls in die Kategorie der diskursiven
Intervention. Denn das Bundesinnenministerium muss einer direkten
Aufnahme von Geflüchteten zustimmen, was bislang nicht geschehen
ist. Auch die Erklärung der Stadtre6 Vgl. Salvini furious as Italian mayors defy new immigration rules, in: The Local, 3.1.2019, unter: www.
thelocal.it/20190103/salvini-furious-as-italian-mayors-defy-new-immigration-rulesitalian-mayors-defy-salvini-over-immigration.
gierung Barcelonas unter Bürgermeisterin Ada Colau zu einer «Stadt
der Zuflucht» zählt dazu. Nicht zuletzt
bewegt sich auch der Zusammenschluss europäischer Stadtregierungen im «Solidarity Cities»-Netzwerk
vor allem auf der Ebene der symbolischen Intervention.
Die zweite Ebene umfasst die konkreten Kämpfe, Aushandlungen und
Maßnahmen in den kommunalen
politischen Räumen – etwa für Abschiebeschutz und Aufenthaltssicherheit von Asylbewerber*innen
und Menschen mit prekärem Aufenthaltsstatus sowie für die Schaffung und Verbesserung ihres Zugangs zu sozialen Dienstleistungen,
Rechten und Ressourcen. Mancherorts sind damit zudem Forderungen
nach einer umfassenden Demokratisierung des städtischen Lebens
im Sinne eines Rechts auf «Stadt
für alle» verbunden, wie es auf der
Eingangsseite der Homepage des
alternativen «Solidarity City»-Netzwerks heißt.7 Auf dieser Ebene wie-
derum kann unterschieden werden
zwischen Anstrengungen städtischer Verwaltungen und Behörden
einerseits und sozialen Bewegungen, migrantischen Vereinen und
Verbänden, NGOs, Gewerkschaften
und religiösen Organisationen andererseits.
Inzwischen haben die Akteure beider Ebenen vielfach begonnen, miteinander zu agieren. Die Appelle zur
Institutionalisierung solidarischer
Praktiken von zivilgesellschaftlichen Akteuren fordern Stadtpolitiker*innen heraus. Die Ebene des
diskursiven Handelns dient zugleich
als Referenz für aktivistische und
zivilgesellschaftliche Praktiken. In
dieses entstehende diskursive Paradigma der solidarischen Stadt lassen sich zudem bereits existierende
Praktiken und Bewegungen der Solidarität und der Unterstützung von
und für Migrant*innen einordnen
und neu rahmen. Dennoch: Eine
gemeinsame Sprache solidarischer
Städte in Europa gibt es noch nicht.
SOLIDARISCHE STÄDTE UND «URBAN CITIZENSHIP»
Auch Wissenschaftler*innen haben in den vergangenen vier Jahren begonnen, ihre Aufmerksamkeit
auf das (entwicklungs-)politische,
ökonomische und soziale Potenzial
von Städten der Zuflucht, des Willkommens und der Solidarität zu
richten. Rechtswissenschaftler*innen beschäftigen sich vor allem mit
den juristischen Spielräumen und
Grenzen von Kommunen bezüglich der Aufnahme, des Schutzes
und der Inklusion von Flüchtlingen
und Migrant*innen (vgl. Fried 2017;
Heuser 2019). Sozialwissenschaftler*innen diskutieren die solidarische Stadt insbesondere im Kontext
der Debatten um globale Bewegungsfreiheit und «Urban Citizenship» – Stadtbürgerschaft.
Das Konzept «Urban Citizenship»
bezieht sich auf T.H. Marshalls 1950
7 Vgl. https://solidarity-city.eu/de/.
9
veröffentlichtes Essay «Citizenship
and Social Class». Der Begriff citizenship ist hier deutlich weiter gefasst als der deutschsprachige Begriff der (Staats-)Bürgerschaft und
ermöglicht ein differenziertes und
historisch informiertes Verständnis
von sozialer, politischer und ökonomischer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben (Marshall 1950). In der
Debatte um Stadtbürgerschaft wird
genau diese Perspektive auf die lokale Ebene und auf städtische Prozesse
eng geführt. Vor diesem Hintergrund
wird von städtischen oder regionalen
Formen von citizenship gesprochen,
wenn lokalpolitische Instrumente
eingeführt werden, die soziale Teilhabe nicht nur für Staatsbürger*innen
gewährleisten oder ausdehnen, sondern für alle Menschen, die in einer
Stadt leben. Zudem wird auf die politischen und sozialen Kämpfe fokussiert, durch die Anerkennung, Rechte und der Zugang zu Ressourcen
erstritten werden (vgl. García 2006).8
NEUE PERSPEKTIVEN AUF DEN URBANEN RAUM
Die Rosa-Luxemburg-Stiftung begleitet seit dem «Sommer der Migration» 2015 die Entwicklung solidarischer Städte in Europa. Innerhalb
der Stiftung gibt es mindestens drei
Perspektiven auf dieses Politikfeld:
erstens einen internationalistischen
Blickwinkel, der die Stadt als konkreten Ort der Umsetzung globaler sozialer Rechte und des Rechts auf globale Bewegungsfreiheit betrachtet
(vgl. Kron/Lebuhn 2018).9 Zweitens
ist die stadtpolitische Perspektive zu
nennen. Hier wird das Augenmerk
auf die Möglichkeiten und Herausforderungen linker Stadtpolitik gerichtet (vgl. Drunkenmölle/Schnegg
2018). Zu dieser Perspektive zählen
auch der neue Munizipalismus und
die «Rebel Cities». Beide Konzepte zielen darauf, die Gestaltung von
Politik «von unten» zu demokratisieren und zu verändern, Institutionen
(wieder) gemeinwohlorientiert auszurichten und ein neues Verhältnis
zwischen kommunalen Regierun10
gen und sozialen Bewegungen zu
schaffen (vgl. Caccia 2016; Harvey
2013; Zelik u. a. 2016). Eine dritte
Perspektive auf solidarische Städte
bilden die strategischen Debatten
um eine verbindende Klassenpolitik,
die die Diversität der Arbeiterklasse
als Ausgangspunkt linker Organisierung betrachten (vgl. Candeias 2017
und Coppola in dieser Broschüre).
Die hier angerissenen Debatten in
Politik und Zivilgesellschaft zeigen
auch das wachsende Interesse linker Akteure in Europa an Erfahrungen und Ideen aus anderen «Städten
der Solidarität». Allerdings sind die
administrativen und politischen Voraussetzungen wie auch die jeweils
involvierten Akteure, Schwerpunktsetzungen und Handlungsansätze
8 Vgl. auch Hess/Lebuhn 2014, Holston 1999, Isin/
Nielson 2008, Krenn/Morawek 2017, Kron 2017, Kuge 2017, Lebuhn 2018 und Rodatz 2014. 9 Vgl. hierzu
auch die Themenseite der Rosa-Luxemburg-Stiftung
«Migration und Metropolen»: www.rosalux.de/dossiers/migration/migration-und-metropolen/.
verschieden. In anderen Worten: Es
gibt kein einheitliches Konzept einer solidarischen Stadt. Die Unterschiede beginnen bei der Diversität
migrantischer Communities und
Flüchtlingsgruppen in den einzelnen
Städten. Sie gehen weiter bei den
Fragen, wer auf kommunaler Ebene
für was zuständig ist, etwa welche
Rolle die Polizei und welche Kompetenzen die Städte haben. Oder:
Wo liegen kommunale Einfluss- und
Entscheidungsmöglichkeiten? Wie
sehen die aufenthalts- und migrationsrechtlichen Bedingungen aus?
Wie ist der Zugang zu sozialstaatlichen Leistungen geregelt? Schon
innerhalb Deutschlands sind diese
Fragen unterschiedlich gelöst, noch
größere Unterschiede bestehen im
europäischen Vergleich. Studien,
die diese Unterschiede (und Ge-
meinsamkeiten) in international vergleichender Perspektive und empirisch fundiert betrachten, existieren
indes bislang nicht.
Die vorliegende Broschüre soll deshalb dazu beitragen, diese Wissensund Forschungslücke zu schließen.
Unser Anliegen ist es, erstens die
Befunde und Ergebnisse der Broschüre in die Debatten um die Entwicklung linker migrationspolitischer Strategien in Deutschland und
Europa einfließen zu lassen. Zweitens möchten wir die bestehenden
Ansätze und Erfahrungen solidarischer Städte bündeln und in einer
breiteren Öffentlichkeit zur Diskussion stellen. Drittens geht es uns auch
darum, die Perspektive der Migration in die Debatten um Munizipalismus und «Rebel Cities» einzubringen.
VORGEHEN UND AUSWAHL DER FALLBEISPIELE
Wir haben die vier europäischen
Städte Berlin, Barcelona, Neapel
und Zürich sowie die kanadische
Stadt Toronto ausgewählt. In jeder dieser Städte treiben jeweils
sehr verschiedene Akteure unterschiedliche Praktiken und Diskurse
der solidarischen Stadt voran. Zugleich war es uns wichtig, die unterschiedlichen Rahmenbedingungen
städtischer solidarischer Praktiken
in die Untersuchung aufzunehmen.
Hierzu gehören neben den verschiedenen migrationspolitischen
Setzungen der europäischen Nationalstaaten auch die unterschiedliche Betroffenheit der Städte von
den Folgen der europäischen Krisen- und Austeritätspolitik, die sich
erheblich etwa auf die vorhandenen Ressourcen für städtische Infrastrukturen und Dienstleistungen auswirken. Die ausgewählten
Städte repräsentieren daher unterschiedliche Praktiken, Diskurse,
Handlungsansätze und Rahmenbedingungen solidarischer Stadtpolitik.
Die fünf Fallstudien wurden von
den Autor*innen auf der Basis einer
Analyse von Sekundärquellen und
explorativen Interviews mit ausgewählten Akteuren aus Zivilgesellschaft und Stadtpolitik in den fünf
11
Städten erstellt. Die Interviews wurden im Zeitraum von November bis
Dezember 2018 durchgeführt. Gemeinsam mit den Autor*innen arbeiteten wir im Rahmen eines Tagesworkshops Anfang Dezember
2018 die folgenden leitenden Fragen heraus:
Welche Akteure engagieren sich in
den jeweiligen Kommunen für die
«solidarische Stadt»? Welche Auseinandersetzungen, Formen des
Austausches und der Kooperation
zwischen unterschiedlichen Akteursgruppen – etwa Aktivist*innen,
Parteien, Verwaltungen – finden in
diesem Feld statt? Welche Schwerpunkte werden gesetzt? Wie gestaltet sich das Verhältnis zwischen institutioneller Politik einerseits und
nichtstaatlichen Akteuren andererseits?
Welche konkreten Projekte und
Maßnahmen der Solidarität mit und
zwischen Migrant*innen wurden
und werden durch die Initiativen
solidarischer Städte angestoßen?
Wird versucht, den Zugang zu städtischer sozialer Infrastruktur und
Dienstleistungen – beispielsweise
Bildung, Gesundheit, Wohnraum –
für Migrant*innen mit prekärem
Aufenthaltsstatus, insbesondere
auch für Illegalisierte und von Abschiebung Bedrohte, zu gewährleisten oder zu verbessern? Werden politische und juristische Maßnahmen
ergriffen, um Abschiebungen zu
verhindern oder ihre Zahl zu verringern, und wenn ja welche? Gibt es
Maßnahmen zur Verbesserung der
Aufenthaltssicherheit für Menschen
mit prekärem Status? Gibt es Ansät12
ze, Flüchtlinge direkt in die Stadt zu
holen, und wenn ja, welche?
Welche Motivationen treiben die
Akteure solidarischer Städte an und
welchen Charakter haben die solidarischen Praktiken? Folgen sie
beispielsweise eher dem Humanitarismus, dem Antirassismus oder
der Idee von Migrationspolitik als
Klassenpolitik? Welche Bedeutung
haben Diskurse um Konzepte wie
«Urban Citizenship», «Recht auf
Rechte» und «Globale Soziale Rechte» in den jeweiligen Debatten und
Aushandlungsprozessen solidarischer Städte?
Baustelle Berlin
Mario Neumann begibt sich mit seinem Beitrag auf eine «Baustellenbesichtigung» in die deutsche Hauptstadt, die seit 2015 über 100.000
dokumentierte Geflüchtete aufgenommen hat und Wohnort von geschätzt mehreren Zehntausend
Illegalisierten ist. Sowohl die rotgrün-rote Landesregierung als auch
zivilgesellschaftliche Initiativen wie
etwa das Netzwerk «Solidarity City Berlin» haben seither Initiativen
zur Verbesserung des Zugangs von
Migrant*innen zu sozialen Leistungen entwickelt, insbesondere in den
Bereichen Gesundheit und Bildung.
Der Beitrag analysiert die Praktiken institutioneller wie zivilgesellschaftlicher Akteure und diskutiert
deren – oftmals auch konfliktives –
Zusammenspiel im Hinblick auf die
Durchsetzung von Rechten sowie
die strategischen Perspektiven und
Grenzen eines stadtpolitischen Ansatzes.
«Creative City» Zürich
Katharina Morawek zeichnet in ihrem Beitrag die Akteure und Aushandlungsprozesse nach, die in
Zürich im Oktober 2018 in einen Beschluss der Stadtregierung mündeten, ebenso wie in der Hauptstadt
Bern, eine sogenannte City Card
einzuführen, mithilfe derer vor allem die Zehntausenden Menschen,
die ohne Papiere (Sans Papiers) in
der Stadt leben, mehr Aufenthaltssicherheit und einen verbesserten Zugang zu sozialen Dienstleistungen
erhalten sollen. Viele der an diesem
Prozess beteiligten kulturpolitischen
und antirassistischen Initiativen sahen die City Card lediglich als eine
konkrete Maßnahme einer breiter
gefassten Kampagne für «Urban Citizenship» in Zürich. Mit der wachsenden Beteiligung institutioneller
politischer Akteure trat dieses Anliegen der sozialen Bewegungen allerdings in den Hintergrund und es begannen technische und juristische
Diskussionen bezüglich der Umsetzung des städtischen Ausweises zu
dominieren. Im Mittelpunkt des Beitrags steht also die Frage, ob und
inwieweit Konzepte (stadt-)gesellschaftlicher Transformation in den
Institutionalisierungsprozessen solidarischer Praktiken und Instrumente erhalten bleiben oder verdrängt
werden.
Zufluchtsstadt Barcelona
Bue Rübner Hansen untersucht Ansätze solidarischer Stadtpolitik in
der katalonischen Hauptstadt Barcelona, die seit 2015 insbesondere durch Akteure der munizipalis-
tischen Plattform «Barcelona en
Comú» verfolgt werden und die
Stadt. So wurde Barcelona zu einem
Lern- und Experimentierfeld für eine
andere Stadt- und Inklusionspolitik.
Zwar erklärte sich die Stadt bereits
2015 zur «Ciutat Refugi»(Zufluchtsstadt) und konnte sich gegenüber
der Zentralregierung und der europäischen Politik als Pol der Solidarität und des Willkommens aufbauen. Zugleich gestalten sich die im
städtischen Kontext konkret möglichen rechtlichen und sozialen Verbesserungen für migrantische Bewohner*innen und die öffentlichen
Auseinandersetzungen, etwa um
migrantische Straßenhändler*innen, als schwierig und konfliktiv.
Hansens Beitrag diskutiert so auch
die Logiken und Chancen zur Erweiterung des Handlungsraums städtischer Solidaritätspraktiken und Inklusionspolitiken.
Mutualismus in Neapel
Maurizio Coppola betrachtet in seinem Beitrag zur solidarischen Stadt
Neapel zum einen die vor allem diskursiven Interventionen der Stadtregierung unter Bürgermeister de
Magistris in den Auseinandersetzungen um die italienische Migrationspolitik. Zum anderen analysiert der Beitrag die solidarischen
Praktiken sozialer Bewegungen, etwa bei der Rechtsberatung für von
und Gesundheitsversorgung von
Migrant*innen. Diese solidarische
Basisarbeit hat sich im Kontext von
sozialen und politischen Stadtprojekten entwickelt, die als Reaktion
auf die tief greifende Krise in Itali13
en entstanden sind und mutualistischen Charakter haben. Coppola
diskutiert dabei die Chancen der Politisierung dieser Praktiken der Solidarität mit Migrant*innen aus einer
verbindenden klassenpolitischen
Perspektive.
Ohne Angst in Toronto?
Sarah Schilliger analysiert die Erfolge und Probleme, die der offizielle Status einer «Sanctuary City» im
nordamerikanischen Stil mit sich
bringt. Toronto, von dessen rund drei
Millionen Einwohner*innen die Hälfte nicht in Kanada geboren wurde,
war 2013 die erste kanadische Stadt,
deren Regierung eine «Sanctuary
City»-Politik beschloss. Toronto gilt
zudem als Vorbild für das deutschsprachige «Solidarity City»-Netzwerk. Der «Sanctuary City»-Status
Torontos wurde in einem fast zehnjährigen Prozess von einem breiten
Bündnis aus zivilgesellschaftlichen
Organisationen im Rahmen der
«Access without Fear»-Kampagne
gegen Abschiebungen, für Aufenthaltssicherheit und einen angstfreien Zugang zu Justiz und sozialen
Dienstleistungen für Menschen mit
prekärem Aufenthaltsstatus erkämpft. Sarah Schilliger zeigt, dass
eine «Sanctuary City» allerdings
auch mit ausreichend Budget, öffentlichen Aufklärungskampagnen
und Weiterbildungsmaßnahmen für
Beamte und Angestellte öffentlicher
Institutionen ausgestattet werden
muss, wenn Schutz und Sicherheit
für Migrant*innen mit prekärem Status nicht nur ein Lippenbekenntnis
bleiben sollen.
14
LITERATUR
Bauder, Harald (2016): Sanctuary
Cities: Policies and Practices in International Perspective, in: International Migration 55(2), S. 174−187.
Bloch, Werner (2018): Palermo ist wie
Beirut, in: Der Tagesspiegel, 3.7.2018.
Caccia, Beppe (2016): Europa der
Kommunen, unter: www.zeitschriftluxemburg.de/europa-derkommunen/.
Candeias, Mario (2017): Eine Frage
der Klasse. Neue Klassenpolitik als
verbindender Antagonismus, in:
LuXemburg, Sonderausgabe, unter:
www.zeitschrift-luxemburg.de/einefrage-der-klasse-neue-klassenpolitik-als-verbindender-antagonismus/.
Drunkenmölle, Jan/Schnegg,
Julia (2018): Teilhabe statt Ausgrenzung. Integration und Partizipation Geflüchteter in Berlin – ein
Senatskonzept, Online-Publikation
der Rosa-Luxemburg-Stiftung,
Berlin, unter: www.rosalux.de/
publikation/id/39609/teilhabestatt-ausgrenzung/.
Isin, Engin F./Nielsen, Greg M. (Hrsg.)
(2008): Acts of Citizenship, London.
Fried, Barbara (2017): «Sanctuary
Cities sind in Deutschland nicht utopisch». Interview mit Helene Heuser,
in: LuXemburg 1/2017, unter:
www.zeitschrift-luxemburg.de/
sanctuary-cities-sind-in-deutschland-nicht-utopisch/.
García, Marisol (2006): Citizenship
Practices and Urban Governance in
European Cities, in: Urban Studies
43(4), S. 745–765.
Harvey, David (2013): Rebel Cities:
From the Right to the City to the
Urban Revolution, London/New York.
Hess, Sabine/Lebuhn, Henrik
(2014): Politiken der Bürgerschaft.
Migration, Stadt, Citizenship, in:
sub/urban. Zeitschrift für kritische
Stadtforschung 3, S. 11−34.
Heuser, Helene (2019): Kommunale Spielräume zur Förderung
legaler Zufluchtswege, in: Kurzdossiers Zuwanderung, Flucht und
Asyl: Aktuelle Themen, Bundeszentrale für politische Bildung, Berlin.
Holston, James (Hrsg.) (1999): Cities
and Citizenship, Durham/London.
Kitzler, Jan-Christoph (2019):
Wachsender Widerstand gegen
Salvinis Migrationskurs, Deutschlandfunk, 8.1.2019, unter: www.
deutschlandfunk.de/italien-wachsender-widerstand-gegen-salvinis-migrationskurs.1773.de.html?dram:article_id=437754.
Krenn, Martin/Morawek, Katharina
(Hrsg.) (2017): Urban Citizenship.
Democratizing Democracy, Zürich.
Kron, Stefanie (2018): Heimat ist,
wo ich bleibe. Solidarische Städte
experimentieren mit innovativen
Ideen, um die Rechte Geflüchteter auszubauen, in: Südlink. Das
Nord-Süd-Magazin von Inkota,
Heft 186, S. 32−33.
Kron, Stefanie/Lebuhn, Henrik
(2018): Solidarische Städte: Globale Soziale Rechte und das Recht
auf Mobilität, Online-Publikation
der Rosa-Luxemburg-Stiftung,
Berlin, unter: www.rosalux.de/
publikation/id/39274/solidarische-staedte-globale-soziale-rechte-und-das-recht-auf-mobilitaet/.
Kuge, Janina (2017): Wenn Städte
rebellieren, in: iz3w 362, unter: www.
iz3w.org/zeitschrift/ausgaben/362_
Alter/wenn-staedte-rebellieren.
Lebuhn, Henrik (2018): Stadtbürgerschaft «Light». Migration und Vielfalt
in der neoliberalen Stadt, in: Prokla.
Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 191, S. 325−333.
Lippert, Randy K./Rehaag, Sean
(Hrsg.) (2013): Sanctuary Practices
in International Perspectives.
Migration, Citizenship and Social
Movements, Abingdon u. a.
Marshall, Thomas Humphrey
(1950): Citizenship and social class
and other essays, Cambridge.
Kron, Stefanie (2017): Struggles for
Urban Citizenship in Europe, in:
Krenn, Martin/Morawek, Katharina
(Hrsg.): Urban Citizenship. Democratizing Democracy, Zürich, S. 77−88.
15
Mittelstaedt, Juliane von: Mimmos
Utopia. Global Village: Wie ein kalabrischer Bürgermeister Hunderte
Bootsflüchtlinge rettete und sein
Dorf dazu, in: Der Spiegel, 1.2.2010.
Rodatz, Mathias (2014): Migration
ist in dieser Stadt eine Tatsache.
Urban politics of citizenship in der
neoliberalen Stadt, in: sub/urban.
Zeitschrift für kritische Stadtforschung 2(3), S. 35−58.
Zelik, Raul/Bruchmann, Hanno/
Candeias, Mario (2016): Rebellische Städte. Erfolg oder Frust?,
in: LuXemburg 2/2016, unter:
www.zeitschrift-luxemburg.
de/rebellische-staedte-erfolg-oder-frust/.
16
17
18
MARIO NEUMANN
BAUSTELLE
SOLIDARISCHE STADT
BERLINS LANDESREGIERUNG UND LINKE
BEWEGUNGEN FORCIEREN SOZIALE RECHTE
FÜR MIGRANT*INNEN
Berlin ist und bleibt eine Baustelle. Was für die Wohnungspolitik
gilt, gilt ebenso für den mittlerweile
weltbekannten Hauptstadtflughafen. Und es gilt für die Idee der solidarischen Stadt, die hier an vielen
Orten diskutiert, praktiziert und weiterentwickelt wird, ohne dass es ein
einheitliches Bild oder Subjekt der
«Solidarity City Berlin» gäbe. Das
ist jedoch keine schlechte Nachricht, sondern eine gute Grundlage
für existierende und kommende Experimente. Baustelle ist eben nicht
gleich Baustelle.
Berlin ist seit jeher eine Einwanderungsstadt, deren Alltag undenkbar
ist ohne die Allgegenwart der Migrationsgeschichten, der Vertrags- und
Gastarbeit und der jüngsten migrantischen Bewegungen von innerhalb und außerhalb Europas. Berlin
ist Sinnbild des Zusammenlebens
der Vielen in Differenz und als Stadt
Feindbild Nummer eins des völkischen Nationalismus in Deutschland. Berlin war von 2012 an Schauplatz des O-Platz-Movements, der
fast zweijährigen Besetzung eines
zentralen Platzes in der Stadt – besetzt von Geflüchteten, die für ihre
Rechte und die Abschaffung von
Lagern und Residenzpflicht protestierten. Bei Kotti & Co und in zahllosen anderen Zusammenhängen
kämpfen seit Jahren Mieter*innen
gegen die neoliberale städtische
Wohnungspolitik. Spätestens seit
2015 engagieren sich Zehntausende in Hunderten Solidaritätsinitiativen. Im Jahr 2017 fand die «We’ll
Come United»-Parade im Regierungsviertel statt, bei der eine Woche vor der Bundestagswahl knapp
10.000 Menschen für die Rechte
von Migrant*innen demonstrierten,
die meisten von ihnen selbstorganisierte Gruppen von Geflüchteten.
Berlin ist die Geburtsstadt der Seebrücken-Bewegung. Berlin ist Stadtstaat. Und Berlin hat seit zwei Jahren eine rot-grün-rote Regierung.
Diese Fallstudie beruht auf einem
halben Dutzend Interviews, die ich
im Dezember 2018 mit migrantischen und solidarischen Initiativen,
linken Politiker*innen und Vertreter*innen von Vereinen geführt habe.
19
1 DIE SITUATION SEIT 2015 UND DIE LINKE
LANDESREGIERUNG
Im «langen Sommer der Migration» (Hess u. a. 2016) haben sich in
Deutschland und Berlin die Karten
neu gemischt – sei es für die Refugee-Bewegungen, die Solidaritätsstrukturen oder die Migrationspolitiken. Seit Beginn des Jahres 2015
sind in Deutschland mehr als 1,5 Millionen Menschen angekommen, die
einen Antrag auf Asyl gestellt haben.
Im Jahr 2015 kamen 55.005 von ihnen nach Berlin, in 2016 16.889 und
in 2017 8.285. Im Jahr 2018 kamen
ungefähr 600 Personen im Monat
nach Berlin, die hierhin vom bundesweiten sogenannten EASY-System verteilt wurden. In Berlin leben
gegenwärtig 774.234 anerkannte
Geflüchtete mit einer Aufenthaltserlaubnis oder einer Niederlassungserlaubnis, das heißt, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
(BAMF) ihre Anträge positiv beschieden hat. Knapp 15.000 Personen befinden sich derzeit im Asylverfahren
oder im Klageverfahren gegen einen
Negativbescheid. Über 12.000 Personen in Berlin sind «ausreisepflichtig», davon haben derzeit 10.744 eine Duldung (Juretzka 2018: 4).
Berlin ist aber nicht nur im Bereich
der sogenannten Fluchtmigration
ein Zentrum der Migration. Nach
unterschiedlichen Zählungen (die
Zahlen des Ausländerzentralregisters weichen von den hier zitierten
ab) besitzen mindestens 20 Prozent der in Berlin lebenden Menschen keinen deutschen Pass. Im
Juni 2018 waren dies 725.458 Men20
schen aus 193 Staaten, unter ihnen 277.002 EU-Bürger*innen und
193.270 vom restlichen europäischen Kontinent. 57.109 Menschen
haben eine polnische Staatsangehörigkeit, 98.046 eine türkische, einen
Pass aus Italien und Bulgarien haben
jeweils knapp 30.000 Menschen.
22.395 Personen haben eine rumänische Staatsangehörigkeit, knapp
35.000 eine syrische, rund 12.000
eine afghanische. 17.000 Menschen sind Staatsbürger*innen Vietnams (Amt für Statistik Berlin-Brandenburg 2018). Geschätzt mehrere
Zehntausend Menschen leben als
Illegalisierte in Berlin.
Rot-grün-rotes Berlin
Der linke Senat hat Ende 2016 in
Berlin seine Arbeit aufgenommen.
Damit fiel der Beginn der rot-grünroten Landesregierung direkt in die
Hochphase vielfältiger staatlicher
und gesellschaftlicher Anstrengungen, mit den Folgen des «langen Sommers der Migration» umzugehen. Der Koalitionsvertrag des
neuen Senats versprach die Ausschöpfung der bundespolitischen
Möglichkeiten für eine progressive
Migrationspolitik (Regierungsparteien Berlin 2016) – genauso wie
eine Überarbeitung des migrationspolitischen «Masterplans» der
Vorgängerregierung und eine systematische Einbeziehung von Zivilgesellschaft und Geflüchteten in den
politischen Prozess (Juretzka 2017).
Dieser Prozess wurde Ende 2018
mit einem neuen Gesamtkonzept
abgeschlossen (s. u.)
Die deutsche Asyl- und Migrationspolitik kennt unterschiedliche Zuständigkeiten, die bei den Kommunen, Bundesländern oder dem Bund
liegen. Im Asylverfahren ist das Bundesland Berlin über das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten
(LAF) formal zuständig für die Erstaufnahme und Registrierung von
Geflüchteten. An diesen Prozess
schließt sich die Bearbeitung des
Asylantrags an, die im Aufgabenbereich des BAMF, also einer Bundesbehörde des Innenministeriums,
liegt. Gleichzeitig fallen Asylsuchende unter das Asylbewerberleistungsgesetz, das ihnen für die Dauer des
Asylverfahrens Unterkunft und Geldbzw. Sachleistungen zugesteht und
dessen Umsetzung im Zuständigkeitsbereich der Länder und Kommunen liegt. Dazu zählen sowohl
Geldleistungen als auch der Betrieb
von Unterkünften und der Erstaufnahmeeinrichtungen. Für diesen
gesamten Bereich sind in Berlin wesentlich die Senatsverwaltung für
Arbeit, Soziales und Integration unter Senatorin Elke Breitenbach (DIE
LINKE) und das ihr unterstellte LAF
zuständig, ebenso wie für unterstützende Maßnahmen und Programme
im Zeitraum des Asylverfahrens wie
zum Beispiel Sprachkurse.
Gleichzeitig fallen alle Menschen
ohne deutschen Pass und mit befristeten Aufenthaltstiteln in den
Zuständigkeitsbereich der Ausländerbehörden, die wiederum Landesbehörden sind und die in Berlin bei
der Senatsverwaltung für Inneres an-
gesiedelt sind. Die Ausländerbehörden sind zum Beispiel zuständig für
die Entscheidungen über Arbeitserlaubnisse und verschiedene Aufenthaltstitel, sie vergeben Duldungen
und sind gemeinsam mit der Polizei
für die Anordnung und Durchführung von Abschiebungen zuständig.
Handlungsspielräume
Für den Handlungsspielraum der
Berliner Landesregierung heißt dies
konkret: Die Entscheidungen über
Asylanträge und Einreise liegen außerhalb ihrer Handlungskompetenz.
Gleichzeitig ist sie für die sozialen
Bedingungen des Asylverfahrens,
die Unterbringungssituation und die
Unterkünfte sowie im Falle einer Ablehnung für die Durchführung der
Abschiebungen verantwortlich –
ebenso wie für Duldungen. Mit anderen Worten: Das BAMF kann zwar
über den rechtlichen Status der in
Berlin lebenden Geflüchteten entscheiden, allerdings gibt es keine
Bundesbehörde, die ohne die Berliner Ausländerbehörde Abschiebungen durchführen kann.
In den zwei Jahren des Bestehens
der linken Landesregierung ist vor
allem im Zuständigkeitsbereich von
Elke Breitenbach eine Menge passiert, allen voran bei der Unterbringung von Asylsuchenden und bei
der Erstaufnahme. Die umstrittene
Ankunftsunterkunft in den Hangars
des Tempelhofer Flughafens wurde nach langen Verzögerungen zum
Jahresende 2018 geräumt, ebenso
wie beinahe alle Notunterkünfte. Das
LAF baut derzeit in einer ersten Phase an 28 Standorten sogenannte Mo21
dulare Unterkünfte für Flüchtlinge
(MUFs) mit jeweils 200 bis 450 Plätzen. Die Unterkünfte sind einfach
und werden auch vielfach kritisiert,
weil sie neue Substandards auf dem
Wohnungsmarkt etablieren. Gleichzeitig haben sie jedoch die Unterbringungssituation von vielen Menschen
verbessert. Aufgrund der Wohnungsknappheit gibt es Möglichkeiten für Menschen, auch nach einem
Positivbescheid im Asylverfahren
noch in den Unterkünften zu bleiben.
Rund 11.000 solcher statusgewandelten Menschen leben noch in Gemeinschaftsunterkünften des LAF.1
Arbeit und Integrationspolitik
Anerkannte Asylbewerber*innen
fallen sozialpolitisch in der Regel
nach Abschluss des Asylverfahrens
in die Zuständigkeit der «normalen»
Sozialsysteme. Bei Arbeitslosigkeit ist die Bundesagentur für Arbeit verantwortlich, über die neben
der Sicherung des Lebensunterhalts
dann auch die Gesundheitsversorgung, Qualifizierungsmaßnahmen
und Weiteres geregelt werden. Geduldete und auch abgelehnte Asylbewerber*innen bleiben in den
Leistungen des Asylbewerberleistungsgesetz. Anders als in vielen
anderen europäischen Ländern fallen anerkannte Asylbewerber*innen
damit in Deutschland mit dem Positivbescheid sozialpolitisch in die Regelversorgung. Sie haben Anspruch
auf Sozialhilfe (ALG II) und darüber
hinaus auch auf eine Krankenversicherung. Die Bundesagentur für Arbeit entscheidet über viele der daran anschließenden Maßnahmen
22
(Sprachkurse, Qualifizierungen, Anerkennung von Berufsabschlüssen
etc.) und ist gleichzeitig gemeinsam
mit dem Bundesministerium für
Arbeit und Soziales bestrebt, dauerhafte Bleibeperspektiven auch
an die erfolgreiche Bewährung auf
dem Arbeitsmarkt zu koppeln.
Fast eine halbe Million der rund
1,2 Millionen Menschen, die gegenwärtig über einen anerkannten
Schutz und damit über einen humanitären Aufenthaltstitel verfügen,
sind bei der Bundesagentur für Arbeit bundesweit als Arbeitssuchende registriert (Bundesagentur für
Arbeit 2018). Die Stadt Berlin ist für
diese Menschen neben der Bundesagentur für Arbeit ein zentraler
Akteur der sogenannten Integrationspolitik. Das Feld linker Migrationspolitik ist also keinesfalls dort zu
Ende, wo Geflüchtete einen Positivbescheid in ihrem Asylverfahren erhalten, der ohnehin zeitlich befristet
ist und an den sich Kämpfe um dauerhafte Aufenthaltsgenehmigungen
und Niederlassungserlaubnisse anschließen. Nichtsdestotrotz kann
gesagt werden, dass aufgrund des
Zugangs von anerkannten Asylbewerber*innen zur Regelversorgung
das zentrale Konfliktfeld einer Politik
der solidarischen Stadt im Umgang
mit illegalisierten Personen, geduldeten und abgelehnten (und damit
abschiebebedrohten) Geflüchteten
und denjenigen liegt, die sich noch
im Asylverfahren befinden.
1 Fast 2.000 Abschiebungen 2016 in Berlin, in: neues
deutschland, 17.2.2017, unter: www.neues-deutschland.
de/artikel/1042105.fast-abschiebungen-in-berlin.html.
2 «SOLIDARITY CITY BERLIN»?
EINE BAUSTELLENBESICHTIGUNG
Etwa 100.000 dokumentierte Geflüchtete haben seit 2015 Berlin erreicht. Darüber hinaus leben mehrere Zehntausend illegalisierte – und
zum Teil nicht registrierte sowie obdachlose – Personen in der Stadt.
Dem entsprechen sowohl eine Vielzahl von sozialen und politischen Initiativen als auch eine breite Palette
an Anforderungen an die institutionelle Politik. Auch wenn für Berlin
keine verlässlichen Zahlen vorliegen: Berlin ist nicht nur eine Stadt
der Migration, sondern auch eine
Stadt der Solidarität. Ein unüberschaubares Netz alter und seit 2015
neu entstandener Solidaritätsinitiativen prägt die politischen Phantasien
und Diskussionen um die solidarische Stadt wie auch das Selbstbewusstsein linker Migrationspolitik.
Für das gesamte Bundesgebiet gilt
jedenfalls, dass über 50 Prozent
der Bevölkerung ab 16 Jahren seit
2015 Hilfe für Geflüchtete geleistet haben. Im vergangenen Sommer waren 19 Prozent ehrenamtlich
in Solidaritätsstrukturen aktiv oder
spendeten Geld. Die Aktiven haben
durchschnittlich über fünf Stunden
pro Woche in diese ehrenamtliche
Tätigkeit investiert (Bundesministerium für Familie u. a. 2018). Zwischen 2015 und 2016 sind etwa
15.000 neue Projekte entstanden
(Schiffauer u. a. 2017). Diese Zahlen
können wohl ohne Weiteres auf Berlin übertragen werden und liegen
hier vermutlich noch etwas über
dem Durchschnitt.
R2G und die Linkspartei in
der Regierung
Dass der Berliner Senat sich neuerdings dem Leitbild der «Solidarity
City» verpflichtet, ist daher erst einmal keine Überraschung. Die Stadt
Berlin ist seit Januar 2019 offiziell
Mitglied im europäischen Netzwerk Solidarischer Städte der Eurocities-Initiative. Außerdem hat die
Berliner Linkspartei sich auf ihrem
Parteitag im Dezember 2018 dem
Bild der «Solidarischen Stadt Berlin»
verschrieben. Im Beschluss heißt
es unter anderem: «Wir sind überzeugt, dass die Mehrheit der Menschen dann von einer offenen Gesellschaft überzeugt bleibt, wenn
die Vision einer sozialen Einwanderungsgesellschaft sichtbar und
praktisch erlebbar gestaltet werden
kann. Es waren und sind die Städte,
die mit den Herausforderungen der
Globalisierung, mit den Verheerungen des marktradikalen Neoliberalismus zuerst konfrontiert waren.
Deshalb werden in vielen Städten
in ganz Europa und in der Welt Gegenmodelle zur Politik der Entsolidarisierung, Prekarisierung und
Vereinzelung entwickelt. Traditionelle Parteienpolitik verknüpft sich
neu mit Bewegungsaktivismus und
mehr Demokratie.» (DIE LINKE/
Landesverband Berlin 2018)
Mit diesem Vorstoß, die solidarische
Stadt zum Leitbild und Narrativ linker Regierungsbeteiligung in Berlin
zu machen und damit eine aus der
Perspektive der Migration entstan23
dene stadtpolitische Vision für alle
zu adaptieren, hat die Berliner Linkspartei – vor allem mit Blick auf die
innerlinken Auseinandersetzungen
der vergangenen Monate, die von
souveränistischen und sozial-nationalen Positionen bestimmt waren –
einen bedeutenden Schritt hin zu
einer Öffnung für Fragen der Migration und der Solidaritätsbewegungen gemacht. Es ist nicht zu unterschätzen, dass unter diesem Dach
die Fragen einer sozialen, linken Politik mit der Situation von Migrant*innen neu verbunden werden, anstatt
sie in der herkömmlichen Diktion
«Sozialstaat plus Asylrecht und Integrationspolitik» abzuhandeln und
inhaltlich zu trennen. Das Leitbild
der solidarischen Stadt für alle enthält das Versprechen, dass sich DIE
LINKE in der Berliner Regierung um
die verschiedenen Problemlagen
aller in Berlin lebenden Menschen
kümmert. Damit werden zumindest
diskursiv migrations- und sozialpolitische Fragen verknüpft, anstatt sie
gegeneinander auszuspielen.
Diese Vorstellungen werden jedoch
nicht immer als ein Projekt des politischen Konflikts organisiert. Vielmehr gibt es in der Berliner LINKEN
ein häufig bemühtes Ideal des guten linken Regierens, also einer linken, kommunalen Governance, die
bestehende Spielräume bestmöglich nutzt und dies in Anbetracht
der gesellschaftlichen Mehrheitsverhältnisse und der bundespolitischen Rahmenbedingungen eben
«so gut wie möglich». Aufgrund
der – aus Sicht der politischen Verwaltung – relativ hohen Zahlen an
24
Neuangekommenen ist dies in Berlin in den letzten Jahren nicht zuletzt
eine Frage logistischer Kompetenz
geworden, wovon das nach wie vor
bestehende Chaos beim LAF, aber
auch die zum Teil aufgrund des europäischen Wettbewerbsrecht und
der dadurch verzögerten Ausschreibungen zum Betrieb der leerstehenden MUFs zeugen. Trotzdem dürfte
klar sein, dass ein bloßes Ausnutzen
bestehender politischer Spielräume
die Idee einer solidarischen Stadt
auf Dauer limitieren würde.
Doch der ernsthafte Versuch eines
«guten Regierens» hat gerade auf
dem Feld der Migration auch eine
eminent politische Dimension, die
häufig unterschätzt wird. Denn es
ist keinesfalls so, dass alle in der Realität stattfindenden Entrechtungsund Exklusionsprozesse die Folge
der geltenden Rechtslage sind. Vielmehr gibt es zahllose Beispiele, in
denen soziale und politische Rechte faktisch bestehen, aber der Zugang zu ihnen durch vielfältige Hindernisse beschränkt oder blockiert
wird. Die Palette reicht hier von repressiver Rechtsauslegung durch
die Behörden über Sprachbarrieren
bis hin zu Ängsten von Illegalisierten, ihre Rechte wahrzunehmen,
weil sie fürchten, auf den Radar der
Ausländerbehörde zu kommen. Insofern können durchaus einige der
Maßnahmen der linken Landesregierung als Beiträge zum Kampf um
soziale Rechte interpretiert werden,
insofern sie diesen Zugang systematisch zu organisieren versuchen,
wie zum Beispiel im vom Integrationsbeauftragten neu geschaffe-
nen Willkommenszentrum (Benalia
2016). Auch viele der in 2015 entstandenen Solidaritätsinitiativen
sind mittlerweile nicht selten hauptsächlich damit beschäftigt, Geflüchtete bei der Wahrnehmung ihrer
Rechte zu unterstützen – mit Behördengängen, Rechtsberatung, Übersetzungen und Ähnlichem.
Die Solidaritätsbewegung und
das Netzwerk «Solidarity City»
Diesem eher institutionenzentrierten Konzept steht idealtypisch eine
Vorstellung der solidarischen Stadt
gegenüber, die gerade dort ihren
Ausgangspunkt hat, wo das nationale Migrationsregime systematisch und politisch herausgefordert
wird – nicht nur diskursiv, sondern
von realen gesellschaftlichen Praxen und sozialen Kämpfen. Ansatzpunkt ist nicht in erster Linie die
bestmögliche Ausnutzung und Ausgestaltung migrationspolitischer
Spielräume auf der kommunalen
Ebene, sondern die Solidarität mit all
denjenigen, die systematisch ausgeschlossen werden: Illegalisierte,
von Abschiebung Bedrohte, Geduldete und Entrechtete. Damit setzt
ein solches Verständnis der solidarischen Stadt, dass auch die kommunale Politik als potenziellen Akteur
adressiert, am Konflikt und der systematischen Überschreitung der nationalen Politiken und der Bundespolitik an.
Der Zusammenschluss «Solidarity City Berlin» existiert seit Herbst
2015 und besteht derzeit aus fünf
Gruppen: dem MediBüro Berlin, der
migrantischen Gruppe respect!, der
Kampagne Bürgerinnenasyl, der
Interventionistischen Linken und
dem Oficina Precaria. Gleichzeitig ist der Berliner Zusammenhang
Teil des bundesweiten «Solidarity City»-Netzwerks. Das Netzwerk
befindet sich einerseits zwar noch
im Aufbauprozess, soll aber hier
andererseits in gewisser Weise als
ein Knotenpunkt und Symbol der
außerinstitutionellen Akteure der
Solidaritätsbewegung gesehen
werden. Programmatischer Ausgangspunkt der Initiative ist die Idee
einer «Stadt für alle» und damit einer
sozialen und politischen Demokratisierung der Stadtgesellschaft, in
der alle Anwesenden unterschiedslos Zugang zu einem würdevollen
Leben haben. Die Gruppe knüpft
dabei vor allem an die Erfahrungen
der «Sanctuary Cities» in Nordamerika an. Dort gelang es in Ansätzen,
auf der Ebene der Stadt illegalisierte Menschen vor Abschiebungen
und der Repression der Bundesbehörden zu schützen und ihnen Zugang zu städtischer Infrastruktur zu
ermöglichen. Auch städtische Ausweispapiere («City-ID») und Anweisungen an städtische Behörden, die
die Kooperation mit Bundesbehörden verbieten, gehören zum Repertoire dieser Experimente in Toronto, New York und weiteren Städten
(Bauder 2017; Kron/Lebuhn 2018).
Wesentlich ist darin auch, dass es
sich nicht einfach um mechanische
Konzepte handelt, sondern oftmals
soziale Initiativen in ihrer konkreten
Solidaritätsarbeit den Grundstein
für bestimmte politische Experimente legten.
25
Auch in Berlin gibt es erste Diskussionen um einen Berlin-Pass.2 Das
Netzwerk in Berlin hat dementsprechend einen starken Fokus auf der
Gruppe der Illegalisierten. Erste thematische Schwerpunkte sind die
Felder Bildung und Gesundheit. Hier
wird an Erfahrungen und Projekte
angeknüpft, die in Berlin seit vielen
Jahren existieren.
Politik für Illegalisierte: anonymer
Krankenschein und Schulbildung
Auf dem Feld der Gesundheitsversorgung ist hier das MediBüro zu
nennen. Das «Netzwerk für Gesundheitsversorgung aller Migrant*innen – MediBüro Berlin» (früher Büro
für medizinische Flüchtlingshilfe)
wurde 1996 als selbstorganisiertes
und nichtstaatliches Projekt in Berlin
gegründet und verfolgt das Ziel, «die
Gesundheitsversorgung von illegalisierten Flüchtlingen und Migrant*innen auf politischem und pragmatischem Wege zu verbessern. Da
der faktische Ausschluss von Illegalisierten aus dem regulären Gesundheitssystem vor allem politisch
begründet ist, wollen wir durch Öffentlichkeitsarbeit Bewusstsein
schaffen für diese Problematik und
fordern politische Lösungen.» Das
Büro ist jedoch nicht zuerst ein politischer Akteur, sondern als solidarisches Netzwerk von Ehrenamtlichen und Ärzt*Innen aktiv und
vermittelt die anonyme und kostenlose gesundheitliche Behandlung
von Illegalisierten und Menschen
ohne Krankenversicherung.
Theoretisch haben in Deutschland
auch illegalisierte Personen das
26
Recht auf eine Gesundheitsversorgung, die über die Sozialämter als
Kostenträger organisiert werden
müsste. Gleichzeitig jedoch existiert
im Aufenthaltsrecht ein sogenannter Übermittlungsparagraf, der die
Sozialämter verpflichtet, die Daten
von solchen Personen an die Ausländerbehörde zu übermitteln – was
bedeutet, dass im Falle einer Inanspruchnahme des Rechts auf Gesundheit die illegalisierten Personen
sich gleichzeitig der Ausländerbehörde preisgeben und dadurch mit
Repressionen und Abschiebungen
rechnen müssten. Da der Übermittlungsparagraf ein Bundesgesetz ist
und es als relativ aussichtslos angesehen wurde, ihn abzuschaffen,
entstand im MediBüro um das Jahr
2005 die Idee eines «anonymen
Krankenscheins» für Illegalisierte,
der eine Gesundheitsversorgung
äquivalent zu derjenigen im Rahmen des AsylBLG fordert (eingeschränkte Leistung; MediBüro Berlin 2009).
Die Forderung ist eindeutig: Medizinische Versorgung als Menschenrecht muss entkoppelt werden von
Aufenthalt und Status. Für diejenigen, die eine Abschiebung oder
andere behördliche Repressionen
zu befürchten haben, muss daher
ein anonymisierter und geschützter
Zugang auf dieses Menschenrecht
organisiert werden. Dieser Zugang
ist auf landes- und kommunalpolitischer Ebene zu organisieren, um die
Bundesgesetzgebung zu unterlau2 Linke: Flüchtlinge sollen Berlin-Ausweis bekommen,
dpa-Meldung, in: Berliner Morgenpost, 15.12.2018.
fen. In Berlin gab es erste Gehversuche unter der rot-roten Landesregierung nach 2008, die dann jedoch
vom Senat abgebrochen wurden.
Ein Runder Tisch mit dem Senat
bzw. der Gesundheitsverwaltung
existiert jedoch seitdem und der anonyme Krankenschein schaffte es
dann wohl nicht zuletzt wegen dieses langen Atems aller Beteiligten
2016 in den Koalitionsvertrag.
Die Umsetzung erfolgte bisher jedoch nur teilweise. Im Jahr 2018
stellte der Berliner Senat erstmalig
1,5 Millionen Euro für die Gesundheitsversorgung von nicht krankenversicherten Menschen bereit, darunter auch illegalisierte Personen.
Außerdem wurde eine sogenannte
Clearing-Stelle eingerichtet, die offiziell alle Menschen ohne Krankenversicherung berät, weitervermittelt und bei Bedarf Zugriff auf das
Budget organisiert. Gleichzeitig ist
das jetzige Modell ein Fondsmodell
und damit limitiert. Bislang ist unklar, was im Falle eines verbrauchten Budgets passieren würde, ebenso bei teuren Behandlungen. Auch
scheint perspektivisch der vollwertige anonyme Krankenschein
mit der gegenwärtigen Senatsverwaltung nicht mehr durchsetzbar,
sondern es wird im bestmöglichen
Fall auf die Ausgabe von Behandlungsscheinen hinauslaufen (also
auf ein Modell, in dem keine allgemeine, der Krankenversicherung
äquivalente Versorgung garantiert
ist, sondern pro Behandlung Kostenübernahmen organisiert werden müssen). Trotzdem ist die Clearing-Stelle ein wichtiger Einstieg
in einen politischen Paradigmenwechsel, der eine Öffnung für weitere Auseinandersetzungen und
Ideen ermöglichen kann. Ebenso
ist schon jetzt deutlich geworden,
dass die Clearing-Stelle eine wichtige Anlaufstelle für unterschiedlichste Menschen ohne Krankenversicherung ist – nicht zuletzt für
EU-Bürger*innen. Ausgehend von
der Frage der gesundheitlichen Versorgung von Illegalisierten hat sich
also damit ein erster Mechanismus
entwickelt, der sich auch auf andere
marginalisierte Gruppen ausweitet
und damit verallgemeinert.
Und es gibt ein weiteres Beispiel für
einen ähnlichen Vorgang. In Berlin
haben die Kinder von illegalisierten
Personen das Recht auf Bildung und
damit auf einen Platz in einer staatlichen Schule (seit dem Jahr 2011 ist
die Übermittlungspflicht für Schulen und andere Bildungseinrichtungen abgeschafft). Mehrere Studien
haben zwar gezeigt, dass trotzdem
noch zahllose Hindernisse bestehen und die Einschulung vielfach
aus Angst vor Aufdeckung oder aufgrund hoher bürokratischer Hürden
nicht stattfindet (Solidarity City Berlin 2018). Dennoch gibt es Kinder illegalisierter Menschen, die Schulen
besuchen. Das Problem ist jedoch,
dass der Schulweg durch die relativ hohen Kosten des öffentlichen
Nahverkehrs zum Problem und Hindernis für einen Schulbesuch wird.
Da es aus verschiedenen Gründen
nicht möglich und gewollt war, nur
den Kindern von Illegalisierten eine
kostenlose Nutzung des Nahverkehrs zu ermöglichen, werden nun
27
ab dem kommenden Schuljahr auf
Initiative des Senats alle Berliner
Schüler*innen umsonst mit Bus und
Bahn fahren dürfen – so zumindest
schildern beteiligte Personen aus
der LINKEN die Entstehungsgeschichte.
Obdachlosigkeit
Schätzungen gehen davon aus,
dass in Berlin zwischen 8.000 und
10.000 Menschen obdachlos sind.
Viele von ihnen stammen aus Osteuropa, darunter geschätzte 4.000 Personen allein aus Polen (Soos/Rehkopf 2018). Obdachlosigkeit ist in
Berlin also in nicht unerheblichem
Maße mit Migrationsbiografien verknüpft – und daher zu Recht zunehmend auch Betätigungsfeld migrationspolitsicher Akteure.
Nach Auskunft des «Frostschutzengels» (einem Beratungsprojekt für
obdachlose Menschen) ist auf diesem Feld eines der wesentlichen
Probleme nicht bloß die Rechtslage,
sondern der versperrte und oftmals
komplizierte Zugang zu sozialen
Rechten, zum Beispiel für EU-Bürger*innen, die häufig Ansprüche
auf Sozialhilfe und eine Wohnung
haben. Dementsprechend ist auch
auf diesem Feld eine wesentliche
Betätigung der sozialen Initiativen
die Unterstützung bei diesen Zugängen. Auch Senatorin Breitenbach
ist auf dem Feld der Obdachlosigkeit zunehmend tätig, unter anderem im Kälteschutz (Frank/Kröger
2018). Für Maßnahmen gegen Obdachlosigkeit gibt es nicht nur sozial-, sondern auch ordnungsrechtliche Grundlagen. Die Politisierung
28
der Obdachlosigkeit und des hohen
Migrantenanteils an den Obdachlosen steht allerdings weitestgehend
noch aus.
Partizipation und Demokratie
Der rot-grün-rote Berliner Senat hat
stets betont, dass ein Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik
auch dadurch herbeigeführt werden soll, dass sich der Regierungsstil verändert und Migrationspolitik
auch Partizipationspolitik sein soll
(Rosa-Luxemburg-Stiftung 2018).
In diesem Sinne wurden die Leitlinien der zukünftigen Berliner Integrationspolitik in einem «Gesamtkonzept zur Integration und
Partizipation Geflüchteter» (Juretzka 2018) festgehalten, das nicht nur
ressortübergreifend die verschiedenen Senatsverwaltungen involviert, sondern in einem groß angelegten Partizipationsprozess mit
zivilgesellschaftlichen Akteuren,
migrantischen Vereinen und selbstorganisierten Geflüchteten, NGOs
und Wohlfahrtsverbänden über
mehrere Monate erarbeitet wurde. Das Gesamtkonzept umfasst
neun Handlungsfelder und soll als
Grundlage für die zukünftige Politikgestaltung in Berlin dienen. In themenspezifischen Arbeitsgruppen
wurden zwischen Verwaltung, Politik und Zivilgesellschaft konkrete
Maßnahmen und Ziele vereinbart.
Auch außerhalb dieses Prozesses
gibt es eine Vielzahl von Runden
Tischen, an denen sich Mitarbeiter*innen der Senatsverwaltungen
mit zivilgesellschaftlichen Akteuren
austauschen.
Während eine Begleitstudie zu einer
überwiegend positiven Einschätzung kommt und eher vertiefende
und weiterführende Prozesse anregt (Schnegg/Drunkenmölle 2018),
überwiegt bei den meisten Initiativen ein ambivalentes Fazit, das
zwar Teile des Verfahrens und der
Ergebnisse würdigt, im Ganzen
aber eine eher ernüchternde Bilanz
zieht. Vor allem wird kritisiert, dass
das politische Potenzial der partizipierenden Akteure «weichgespült»
oder schlicht «vergessen» wurde.
So wird letztlich ein «typisches» Fazit politischer Partizipationsprozesse gezogen: Die beteiligten Akteure schreiben sich als Expert*innen
durchaus in den Prozess ein, ihre
wesentlichen Punkte bleiben aber
auf der Strecke (Flüchtlingsrat Berlin e.V. 2018; Moabit hilft u. a. 2018).
In jedem Fall positiv sehen viele den
Versuch, die Stimmen der Zivilgesellschaft und der Migrant*innen zu
berücksichtigen. Ob Partizipationsprozesse dieser Art jedoch tatsächlich Beiträge zu einer Demokratisierung der Stadt leisten oder sie doch
vor allem kostenlose Regierungsberatung sind, bei der gleichzeitig
noch das Regierungs- und Verwaltungshandeln plausibilisiert und in
die sozialen Bewegungen vermittelt
wird, bleibt abzuwarten.
Neuaufnahme und Seenotrettung
Berlin war die erste Stadt bzw. das
erste Bundesland, das im Juni 2018
in der Auseinandersetzung um die
Seenotrettung, Italiens Häfen und
das Rettungsboot «Lifeline» seine Bereitschaft erklärte, Menschen
aufzunehmen. Ende September
gab es eine erneute Bekräftigung
der grundsätzlichen Aufnahmebereitschaft in einer gemeinsamen Erklärung der Stadtstaaten Hamburg,
Bremen und Berlin.3 Allerdings ist
eine Neuaufnahme von Personen
nicht ohne Zustimmung des Bundesinnenministeriums möglich, die
bislang Berlin und 30 anderen Städten verweigert wird. Im Zusammenspiel mit der Aufnahmebereitschaft
des Senats und mit dem Rückenwind der öffentlichen Erklärung
kam es in Berlin zur ersten «Seebrücke»-Aktion, die sich von Berlin aus
zu einer bundes- und teilweise europaweiten Bewegung entwickelt hat.
Abschiebungen und
angstfreie Stadt
Im Jahr 2016 gab es in Berlin 1.820
Abschiebungen. Im Jahr 2017 hat
Berlin 1.638 Menschen abgeschoben. 3.629 Menschen sind im Jahr
2017 «freiwillig» ausgereist (zum
Problem der «freiwilligen Rückkehr»
vgl. Lenz 2018). Bis September
2018 erfolgten 801 Abschiebungen
und 2.087 freiwillige Ausreisen (Juretzka 2018: 4). Im Jahr 2017 hatten
knapp 700 der abgeschobenen Personen eine moldawische, 170 eine
albanische, 107 eine serbische und
93 eine irakische Staatsangehörigkeit, was nicht gleichbedeutend mit
dem Zielort der Abschiebungen ist
(z. B. bei «Dublin-Abschiebungen»;
Abgeordnetenhaus Berlin 2018).
3 Bekenntnis zum sicheren Hafen: Hamburg, Bremen
und Berlin united, in: die tageszeitung, 1.10.2018, unter: www.taz.de/!5538930/.
29
Es gibt zwar einen leichten Rückgang der Abschiebezahlen und einen erklärten Willen, über Härtefallkommissionen und weitere Kanäle
Abschiebungen zu verhindern. Fakt
ist und bleibt jedoch, dass es im
SPD-geführten Innenressort und in
der Ausländerbehörde bislang nicht
einmal Ansätze eines Paradigmenwechsels gibt. Von einem Bekenntnis zur abschiebefreien Stadt fehlt
in der Regierungskoalition bisher jede Spur – und das, obwohl die absolute Zahl der Abschiebungen im
Verhältnis zur Gesamtbevölkerung
verschwindend gering ist. Es ist also klar: Es wird aus politischen und
symbolischen Gründen weiter abgeschoben und damit eine dauerhafte
Verunsicherung der migrantischen
Bevölkerung Berlins in Kauf genommen.
In jeder Hinsicht ist die abschiebefreie Stadt die große nächste Frage
und Bewährungsprobe für das Leitbild der solidarischen Stadt – wobei
auch gesagt werden muss, dass die
Bewegungen bisher nicht gerade
den größtmöglichen Druck entfaltet
haben.
3 SCHLUSSBEMERKUNGEN
Ich möchte auf der Grundlage dieses Einblicks in die Situation in Berlin ein paar Thesen formulieren – sowohl für die allgemeine Diskussion
um solidarische Städte als auch konkret für Berlin.
Jenseits der Integration
Auch wenn die Idee der solidarischen Stadt vielleicht etwas an
Schärfe verliert, wenn sie verallgemeinert wird und die Aufmerksamkeit weg von all denjenigen nimmt,
die im Zentrum der ursprünglichen
Idee standen (Illegalisierte), so ist es
doch begrüßenswert, dass die Akteure in der Stadtregierung diesen
Begriff aufnehmen und für sich weiterentwickeln. Gleichzeitig ist die
Öffnung und Erweiterung des Begriffs nur solange produktiv, wie sie
den Kern der Idee nicht verwässert.
Von daher ist es einerseits zu begrüßen, wenn sich die Idee diskur30
siv auch in der institutionellen Politik durchsetzt und zumindest Einzug
in die Rahmung der Regierungsgeschäfte erhält. Andererseits bleibt
von zentraler Bedeutung, dass eine
reale Überschreitung des nationalen Migrationsregimes und seiner
Integrationspolitik der Horizont sein
muss, in dem die Fragen der Zugehörigkeit und des «Wir» neu gestellt
und beantwortet werden. Ansonsten besteht die reale Gefahr, dass
ein gutes kommunalpolitisches Regieren bloß in der bestmöglichen
Umsetzung der «Integrationspolitik» besteht und die (ebenfalls bundespolitischen) Mechanismen des
Ausschlusses und der Entrechtung,
aber auch der Assimilation unangetastet bleiben. Die Alternative ist natürlich nicht der Verzicht auf diese
Umsetzung, wenn sie Migrant*innen individuelle Chancen auf ein
neues und besseres Leben ermög-
licht. Das heißt mit anderen Worten:
Eine systematische Überschreitung
der Integrationspolitik ist Anforderung an jede linke Politik, wenn sie
das Transformationspotenzial der
migrantischen Bewegungen politisch nutzen möchte. Für Berlin
kann das in naher Zukunft nur bedeuten, endlich Modelle einer abschiebefreien – und damit auch
angstfreien – Stadt zu entwickeln.
Regierung und Bewegung
Die Übersetzung von gesellschaftlichen Prozessen in institutionelle
Logiken – ob es sich nun um Projekte oder Begriffe handelt – vollzieht sich nie ohne Verluste und
Reibungen. Die institutionelle Politik hat ihre eigene Schwerkraft:
Bürokratie, Verwaltung, die rechtlichen Hindernisse und Hürden des
Regierungshandelns. Die Autonomie von Solidaritätsstrukturen und
Bewegungen ist daher immer auch
zu schützen, wenn sie sich in die
Nähe der Logik der institutionellen
Akteure begibt – und zwar auch im
Interesse der institutionellen Akteure, sofern sie an den Transformationspotenzialen interessiert sind,
die in dieser Autonomie entstehen.
Gleichzeitig zeigt sich, dass diese
Autonomie häufig nur dann Erfolge
produziert, wenn sie auch über eine institutionelle Strategie verfügt.
Das konfliktive Zusammenspiel der
verschiedenen Akteure scheint das
adäquate Modell zu sein. Einerseits
um zu vermeiden, dass die Logik
institutioneller Politik die sozialen
Prozesse absorbiert und politische
Veränderungen einseitig auf insti-
tutionelle Verfahren festlegt. Andererseits um neue Formen zu entwickeln, in denen sich die Prozesse
sozialer Transformation auch in Politik übersetzen lassen und zur Erneuerung der Linken beitragen. Das
strategische Zentrum dieser Transformationsprozesse liegt jedoch außerhalb der Institutionen und kann
nur dort lebendig gehalten werden.
Parallelstrukturen und Beratung
als Zwischenschritte
Gleichzeitig ist das Modell des anonymen Krankenscheins sowie
das vorläufige Resultat der diesbezüglichen Verhandlungen eine interessante Blaupause für zukünftige Projekte: Anstatt direkt in die
Konfrontation mit Bundesgesetzen
zu gehen, wird eine neue Struktur
aufgebaut, womit einige politische
Schwierigkeiten zunächst umgangen und vereinfacht werden können. Die Lehre kann also auch heißen: Man muss manchmal nicht
das eine Gesetz ändern, sondern
kann auch auf eine neue Struktur
ausweichen und eigene Institutionen schaffen. Dazu zählen auch Beratungsstrukturen, die – indem sie
Menschen befähigen, ihre formalen
Rechte wahrzunehmen – die politischen Architekturen gewissermaßen von innen herausfordern. Es
ist bereits mehrfach angeklungen:
In einer Vielzahl von Fällen bestehen soziale Rechte zwar juristisch,
aber ihre Wahrnehmung ist faktisch
versperrt. Die Unterstützung von
migrantischen Personen, aber auch
von anderen marginalisierten sozialen Gruppen, ihre Rechte zu ken31
nen, zu verstehen und geltend zu
machen, ist ein politisches Feld, das
viele Möglichkeiten bietet – nicht zuletzt der Politisierung der Praxis der
Bundesbehörden (konkret des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge und der Bundesagentur für
Arbeit) und ihrer strukturellen Ähnlichkeiten bei der oftmals rechtswidrigen Verweigerung von Ansprüchen.
«Rebel Cities»
«Gutes Regieren» ist selbstverständlich viel wert. Dennoch: Früher oder
später sind die Grenzen jeder linken
Politik politische Grenzen. Es wird
nicht möglich sein, ein Transformationsprojekt zu entwickeln, ohne dabei auch Konflikte mit den nationalen
Machtarchitekturen und den eingespielten politischen Verfahren einzugehen. Ob in Italien oder in Nord-
amerika: Wenn Städte die Rolle der
politischen Opposition spielen, stoßen sie an die Grenzen ihrer Kompetenzen und müssen Konflikte mit den
nationalen Regierungen eingehen.
Die Frage einer Rebellion der Städte – einer Art institutioneller Rebellion – wird sich auch in Deutschland
zunehmend als strategische Aufgabe stellen, denn (so formulierte es
die Aktivistin Roula Saleh bei einer
Pressekonferenz in Hamburg anlässlich der «United Against Racism»Parade): «Ich frage mich immer:
Müssen wir wirklich diskriminierende und restriktive Gesetze akzeptieren, nur weil sie in juristischer Sprache verfasst sind?» Diese Rebellion
ist jedoch ganz sicher nicht alleinige
Aufgabe der Landesregierung. Wie
auf allen Handlungsfeldern der solidarischen Stadt muss sie von unten
ins Spiel gebracht werden.
INITIATIVEN
Seebrücke: https://seebruecke.org/
Frostschutzengel: www.frostschutzengel.de/
MediBüro Berlin: https://medibuero.de/
Solidarity City Netzwerk: https://solidarity-city.eu/de/
http://solidarity-city-berlin.org/
Respect!: www.respectberlin.org/wordpress/
Oficina Precaria: http://oficinaprecariaberlin.org/
Interventionistische Linke: https://interventionistische-linke.org/
Linke Berlin: https://dielinke.berlin
Berlin hilft!: http://berlin-hilft.com/
Kotti & Co: https://kottiundco.net/
32
LITERATUR
Abgeordnetenhaus Berlin (2018):
Drucksache 18/13106, Berlin.
Amt für Statistik Berlin-Brandenburg
(2018): Einwohnerinnen und
Einwohner im Land Berlin am
30. Juni 2018, Berlin.
Bauder, Harald (2017): Sanctuary
Cities: Policies and Practices
in International Perspective, in:
International Migration 55(2),
S. 174–187.
Benalia, Emina (2016): Neues
Willkommenszentrum in Berlin
nimmt seine Arbeit auf, in: Berliner
Morgenpost, 18.8.2016.
Bundesministerium für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend
(2018): Engagement in der Flüchtlingshilfe. Ergebnisbericht einer
Untersuchung des Instituts für
Demoskopie Allensbach, Berlin,
unter: www.bmfsfj.de/blob/122010/
d35ec9bf4a940ea49283485db4625aaf/engagement-in-derfluechlingshilfe-data.pdf
DIE LINKE/Landesverband Berlin
(2018): Wem gehört die Stadt?
Für eine solidarische Stadtpolitik in
einer offenen Gesellschaft, Berlin,
unter: https://dielinke.berlin/
parteitag/det/news/wem-gehoertdie-stadt-fuer-eine-solidarischestadtpolitik-in-einer-offenengesellschaft/.
Flüchtlingsrat Berlin e.V. (2018):
Gesamtkonzept zur Integration und
Partizipation von Geflüchteten
in Berlin: Viel Worte statt Taten,
Pressemitteilung vom 17.12.2018,
unter: http://fluechtlingsrat-berlin.de/
presseerklaerung/17-12-2018gesamtkonzept-zur-integrationund-partizipation-von-gefluechtetenin-berlin-viel-worte-statt-taten/.
Frank, Marie/Kröger, Martin (2018):
Jeder Mensch muss untergebracht
werden. Berlins Sozialsenatorin
Elke Breitenbach (LINKE) will
Obdachlose bald statistisch erfassen, um sie besser versorgen zu
können, in: neues deutschland,
26.12.2018.
Hess, Sabine/Kasparek, Bernd/
Kron, Stefanie u. a. (Hrsg.) (2016):
Der lange Sommer der Migration:
Grenzregime III, Berlin/Hamburg.
Juretzka, Imke (2017): Gesamtkonzept Integration und Partizipation Geflüchteter. Stand 10.8.2017 –
Kurzfassung, Berlin, unter: www.
berlin.de/lb/intmig/themen/fluechtlinge/fluechtlingspolitik/.
Juretzka, Imke (2018): Angekommen in Berlin: Gesamtkonzept
zur Integration und Partizipation
Geflüchteter, Berlin, unter:
www.berlin.de/lb/intmig/themen/
fluechtlinge/fluechtlingspolitik/.
33
Kron, Stefanie/Lebuhn, Hendrik
(2018): Solidarische Städte: Globale Soziale Rechte und das Recht
auf Mobilität, Online-Publikation
der Rosa-Luxemburg-Stiftung,
Berlin, unter: www.rosalux.de/
publikation/id/39274/solidarische-staedte-globale-soziale-rechte-und-das-recht-auf-mobilitaet/.
Lenz, Ramona (2018): «Freiwillige
Rückkehr» – Entwicklungshilfe für
die deutsche Innenpolitik?, medico
international», 9.4.2018, unter:
www.medico.de/blog/entwicklungshilfe-fuer-die-deutscheinnenpolitik-17026/.
Medibüro Berlin (2009): Aktualisiertes Konzeptpapier Anonymer
Krankenschein, Berlin, unter: https://
medibuero.de/wp-content/uploads/
sites/10/2016/03/Beitrag_KonzeptAnonyKrankenschein_091006.pdf
Moabit hilft/Be an Angel/
Schöneberg hilft u. a. (2018):
Stellungnahme der Initiativen zum
Gesamtkonzept zur Integration und
Partizipation Geflüchteter, Berlin.
Regierungsparteien Berlin (2016):
Koalitionsvertrag 2016−2021: Berlin
gemeinsam gestalten. Solidarisch.
Nachhaltig. Weltoffen, Berlin.
Rosa-Luxemburg-Stiftung (2018):
«Wir machen diese repressive
Bundespolitik nicht mit!». Interview mit Katina Schubert, Berlin,
unter: www.rosalux.de/publikation/
id/39316/wir-machen-diese-repressive-bundespolitik-nicht-mit/.
34
Schiffauer, Werner/Eilert, Anne/
Rudloff, Marlene (Hrsg.) (2017):
So schaffen wir das – eine Zivilgesellschaft im Aufbruch: 90 wegweisende Projekte mit Geflüchteten,
Bielefeld.
Schnegg, Julia/Drunkenmölle,
Jan (2018): Teilhabe statt Ausgrenzung. Integration und Partizipation
Geflüchteter in Berlin – ein Senatskonzept, Online-Publikation der
Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin,
unter: www.rosalux.de/fileadmin/
rls_uploads/pdfs/Online-Publikation/
10-18_Online-Publ_Teilhabe.pdf.
Soos, Oliver/Rehkopf, Julia (2018):
Obdachlose aus Osteuropa in Berlin. «Trinken, trinken, trinken – dann
spürst du nichts mehr», in: rbb24,
17.11.2018, unter: www.rbb24.de/
politik/beitrag/2018/11/obdachlose-osteuropa-themenwoche-gerechtigkeit.html.
Solidarity City Berlin (2018): Angst
vor der Anmeldung. Wie das Recht
auf Bildung praktisch untergraben
wird, in: Hinterland Magazin Nr. 40,
unter: www.hinterland-magazin.de/
wp-content/uploads/2019/01/hinterland-magazin-HL40-43.pdf.
35
36
KATHARINA MORAWEK
STÄDTISCHE BÜRGERSCHAFT
UND DER KOMMUNALE
PERSONALAUSWEIS
IN ZÜRICH SETZEN SICH ZIVILGESELLSCHAFTLICHE
AKTEURE FÜR «URBAN CITIZENSHIP» EIN
Die Schweiz ist eine mehrsprachige Einwanderungsgesellschaft,
deren politische, soziale und kulturelle Entwicklung durch Migration
vorangetrieben wurde und wird.
So hat laut Statistik mehr als ein
Drittel der in der Schweiz registrierten Menschen einen sogenannten
Migrationshintergrund.1 Diese Tatsache bildet sich – abgesehen von
der Bedeutung der vier offiziellen
Sprachregionen – im schweizerischen Selbstverständnis und institutionell allerdings kaum ab. Einerseits ist jener Teil der Bevölkerung,
der keinen schweizerischen Pass
und damit kein Stimm- und Wahlrecht besitzt, von der formalpolitischen Repräsentation ausgeschlossen. Dabei handelt sich um rund
25 Prozent der Bevölkerung, während es in Österreich 15 Prozent
und in Deutschland 12 Prozent sind.
Zudem wird im alltäglichen Sprachgebrauch zwischen «richtigen»
Schweizern» und sogenannten Papierlischwiizern (Eingebürgerten)
unterschieden. Hinzu kommt eine
hierarchische Kategorisierung der
Bevölkerung ohne Pass entlang verschiedener Aufenthaltstitel.
Auch wenn es in der Schweiz nie eine offizielle Anerkennung der Tatsache gab, eine Einwanderungsgesellschaft zu sein, ist das Land zu einem
Schauplatz von Debatten und Projekten rund um Migration, Bürgerrechte
und Zugehörigkeit in einer pluralen
Gesellschaft geworden. Ein Beispiel
dafür sind die inzwischen in ganz
Europa diskutierten Konzepte von
«Urban Citizenship» (García 2006),
«Sanctuary City» und «Solidarity City», die spätestens seit Beginn des
Jahres 2015 in der Schweiz aufgegriffen wurden und die inzwischen in
mehreren Städten der Schweiz in der
kommunalen parlamentarischen Politik zum Tragen kommen (Krenn/Morawek 2017). Dabei ist insbesondere
das Thema der Aufenthaltssicherheit
gegenüber anderen Themen wie Teilhabegerechtigkeit, Zugang zu Rechten und Ressourcen für alle oder Zu1 Vgl. Bundesamt für Statistik, Bevölkerung nach
Migrationsstatus unter: www.bfs.admin.ch/bfs/de/
home/statistiken/bevoelkerung/migration-integration/
nach-migrationsstatuts.html.
37
gehörigkeit und Demokratisierung
in den Vordergrund der öffentlichen
Aufmerksamkeit gerückt.
Im Fokus der Diskussion steht vor
allem die Einführung eines kommunalen Personalausweises, der sogenannten City Card. Sie wurde von
zivilgesellschaftlichen Gruppen vorgeschlagen. Dieser Vorschlag ist von
der kommunalen Politik, insbesondere in Zürich und Bern, aufgegriffen
worden. Die geplante Züri City Card
ist vor allem auf die schätzungsweise 14.000 Personen ohne geregelten
Aufenthaltstitel (Sans Papiers) zugeschnitten, die in Zürich leben und arbeiten.
In der vorliegenden Studie analysiere
ich im Kontext der europaweiten Debatte um postmigrantische Gesellschaften (Foroutan u. a. 2018) und
solidarische Städte Diskussionen
und Akteure sowie das Potenzial, die
Probleme und neuen Ausschlüsse,
die mit der Züri City Card verbunden
sind. Dabei gehe ich auch der Frage
nach, welche Aspekte der geplanten Züri City Card mit welchen Argumenten als Erfolg einer solidarischen
politischen Praxis beurteilt werden
können. Außerdem rekonstruiere
ich, welche Praktiken konkreter Solidarität bereits vor 2015 in der Stadt
existierten, welche davon in das Projekt der Züri City Card eingegangen
sind und welche nicht.
Die Ergebnisse basieren auf einer Literaturrecherche, meinen eigenen
Erfahrungen als Akteurin innerhalb
der sozialen, politischen und kulturellen Prozesse rund um «Urban Citizenship» in der Schweiz sowie auf
explorativen Interviews mit fünf Expert*innen aus Politik, Wissenschaft
und Zivilgesellschaft, die an den Debatten um die Züri City Card beteiligt
waren oder sind. Hierzu gehören:
Ezgi Akyol, Gemeinderatsmitglied in
Zürich für die Alternative Liste und
Vorstandsmitglied der Arbeitsgruppe Züri City Card; Kijan Espahangizi,
Historiker, Mitorganisator der Initiativen «Kongress der MigrantInnen
und Migranten und Menschen mit
Migrationshintergrund» sowie «Wir
alle sind Zürich» und Mitbegründer
und Ko-Präsident des Instituts Neue
Schweiz (INES); Christof Meier, Leiter Integrationsförderung der Stadt
Zürich; Peter Nideröst, Rechtsanwalt und Vorstandsmitglied der Arbeitsgruppe Züri City Card sowie
Bea Schwager, Leiterin der Sans Papiers-Anlaufstelle Zürich und Vorstandsmitglied der Arbeitsgruppe
Züri City Card.2
1 «GLOBAL CITY» ZÜRICH
In Zürich leben nur rund 430.000
Menschen. Dennoch gilt die Stadt
als «Global City», weil sie der größte Offshore-Finanzplatz der Welt
ist (Hitz u. a. 1995). Zürich erwirtschaftet elf Prozent des Schweizer
38
Bruttoinlandprodukts. Jährlich werden hier Steuern in der Höhe von
2 Alle Interviews habe ich im Dezember 2018 geführt.
An dieser Stelle möchte ich den Genannten meinen ausdrücklichen Dank für die intensiven und produktiven Gespräche aussprechen.
2,5 Milliarden Schweizer Franken
(umgerechnet 2,22 Milliarden Euro) eingenommen. Von jedem Franken bezahlter Steuer bleiben 30 bis
40 Prozent in der Stadt. Zum Vergleich: In München etwa sind es
nur zehn Prozent. Zugleich liegen
auf Schweizer Bankkonten Vermögen nationaler und insbesondere internationaler Herkunft in Höhe von
5.000 bis 7.000 Milliarden Schweizer Franken (vgl. Gross 2018).
Zürich ist also eine sehr internationale Stadt. Während auf den Servern der Großbanken im Stadtzentrum täglich Milliarden Schweizer
Franken ihre Besitzer*innen wechseln und gut ausgebildete Expats
(vorübergehend in der Schweiz lebende und in meist gut bezahlten
Sektoren Beschäftigte) in den Glasbetontürmen im Westen der Stadt
oder in den wohlhabenden Altbauquartieren in Seenähe arbeiten und
wohnen, kümmern sich Portugiesinnen ohne gültigen Aufenthaltstitel um deren Kinder. Diese Kinder
schätzen Spaghetti Pomodoro und
ihre Eltern den Espresso im Straßencafé. Dies ist ein Ergebnis der «Mediterranisierung» des Landes durch
die italienische Gastarbeitergeneration. So begann in der Schweiz
bereits 1946 die Anwerbung junger Frauen aus Italien für eine Saison. Dieses Modell der Gastarbeit,
dessen Kernelement der temporäre
«Saisonnierstatus» war (vgl. Holenstein u. a. 2018), ist neben den kolonialen Verstrickungen der Schweiz
ein Phänomen, das auch «Kolonialismus ohne Kolonien» genannt wird
(Purtschert u. a. 2013), ein Grund-
stein für den Wohlstand des Landes,
der die Gesellschaft bis heute prägt.
Heute setzt Zürich vor allem auf das
Konzept der «Creative City». Dieses
Konzept geht davon aus, dass kreativer Output zu Innovation führt und
ein wichtiger Faktor für das Wirtschaftswachstum einer Stadt ist. Die
kreative Innovation soll in erster Linie in wissensintensiven Branchen
stattfinden, in denen meist gut ausgebildete Personen arbeiten, von denen eigenständiges Denken erwartet
wird, etwa Wissenschaftler*innen,
Künstler*innen, Unternehmer*innen, Anwält*innen, Manager*innen,
Facharbeiter*innen oder Ärzt*innen (Florida 2002). Im sogenannten
Mercer-Ranking der Städte mit der
besten Lebensqualität liegt Zürich
seit einigen Jahren auf dem zweiten
Rang.3 Entsprechend definiert die
Stadt «Innovation und Weltoffenheit»
als Erfolgsindikatoren ihrer Standortpolitik (vgl. Mauch 2017). Große Konzerne beurteilen die Stadt als sehr
attraktiv für ihre Mitarbeiter*innen.
Die wichtigsten Faktoren für diese
Attraktivität sind das Kultur- und Bildungsangebot, die gute Infrastruktur
für die außerfamiliäre Kinderbetreuung sowie ein Gefühl von Stabilität
und Sicherheit. Und tatsächlich leben viele junge und gut ausgebildete
Zugewanderte in Zürich. Jeder fünfte
Einwohner der Stadt ist zwischen 30
und 39 Jahre als – mit Job, aber ohne
Stimmrecht.4
3 Vgl. https://mobilityexchange.mercer.com/Insights/
quality-of-living-rankings. 4 Vgl. auch das Projekt Stadt
der Zukunft – ZRH3039 der Abteilung Stadtentwicklung
der Stadt Zürich, unter: www.stadt-zuerich.ch/prd/de/index/stadtentwicklung/stadt-der-zukunft/zrh3039.html.
39
Tatsächlich hat Zürich eine Geschichte des gesellschaftlichen
Wandels, die auch durch widerständige und migrantisch geprägte
Entwicklungen gekennzeichnet ist.
Der Strukturwandel und die Ölkrise
in den 1970er Jahren veränderten
die industriell geprägte Stadt. Rund
60.000 Menschen verloren damals
ihren Arbeitsplatz. So ging die Bevölkerungszahl Zürichs bis Mitte der
1980er Jahre zurück.5 Viele Fabriken
lagen brach, während im Stadtzentrum der Dienstleistungs- und Finanzsektor zu boomen begann und
hoch qualifizierte Arbeitskräfte aus
anderen Teilen der Schweiz und dem
Ausland zuwanderten. Sie und ihre
Nachkommen prägten die schweizerische Gesellschaft und viele soziale Kämpfe entscheidend mit.
In den 1980er Jahren begannen soziale Bewegungen wie «Züri brännt»
mit Besetzungen der brachliegenden Flächen und Gebäude, während migrantisch geprägte zivilge-
sellschaftliche Initiativen wie die
«Mitenand-Initiative» einen demokratischen, partizipativen Zugang
zur Einwanderungsgesellschaft entwarfen und Wege zu einer integrationspolitischen Öffnung aufzeigten
(Espahangizi 2018). Im Jahr 1994
kam im Zürcher Stadtrat erstmals
eine rot-grüne Regierung an die
Macht, die nach wie vor eine stabile Mehrheit hat. Einige Akteure der
oben erwähnten sozialen Bewegungen der 1980er Jahre sind mittlerweile in die Zürcher Kommunalpolitik eingebunden. Zu ihnen gehört
etwa der Stadtrat Richard Wolff von
der Alternativen Liste, eine in Zürich
relevante Linkspartei. Wolff ist Geograf, Stadtsoziologe und Mitbegründer des urbanistischen Forschungsnetzwerks INURA (Hitz u. a. 1995).
Zwischen 2013 und 2018 war Wolff
Präsident der Zürcher Stadtpolizei.
Daher kam ihm in den Aushandlungsprozessen um die Züri City
Card eine wichtige Rolle zu.
2 SOLIDARISCHE STADT ZÜRICH?
Auf der offiziellen europäischen
Ebene ist Zürich Mitglied des «Solidarity Cities»-Netzwerks der Eurocities-Initiative, einem 2016 im
Kontext der sogenannten Flüchtlingskrise gegründeten Zusammenschlusses von Regierungen europäischer Großstädte. Diese fordern
unter anderem von der EU-Kommission höhere Haushalte für Infrastruktur- und Integrationsprojekte in jenen Städten, wo de facto
die meisten Geflüchteten ankom40
men oder leben.6 Auf der Ebene zivilgesellschaftlicher Initiativen und
Grassroots-Organisationen gibt es
in Zürich bereits seit vielen Jahren
konkrete Praktiken der Solidarität.
In Bezug auf Sans Papiers sind hier
vor allem die «Sans Papiers-Anlaufstelle Zürich» (SPAZ), das «Colectivo Sin Papeles» und die Organisati5 Vgl. www.stadt-zuerich.ch/prd/de/index/statistik/themen/bevoelkerung/bevoelkerungsentwicklung/bisherige-bevoelkerungsentwicklung.html. 6 Vgl. https://
solidaritycities.eu.
on «Meditrina» zu nennen. Die SPAZ
existiert seit 2005 und ist eine professionelle, zivilgesellschaftlich getragene und durch private Spenden
finanzierte Sozial- und Rechtsberatung. Sie vertritt Sans Papiers auch
juristisch gegenüber Behörden.
Das «Colectivo Sin Papeles» wurde
2003 gegründet. Die Aktivist*innen
des Colectivo bieten Informationsund Beratungsangebote für Sans
Papiers an, die sie gemeinsam mit
der SPAZ und der spanischsprachigen katholischen Mission in Zürich
durchführen. «Meditrina» ist eine
auf die Bedürfnisse von Sans Papiers spezialisierte medizinische Anlaufstelle mit einem Netzwerk von
Kinderärzt*innen, Gynäkolog*innen
und Psychotherapeut*innen.
Die genannten zivilgesellschaftlichen Organisationen haben in Zürich verschiedene Möglichkeiten
erkämpft, wie Sans Papiers ihre
Grundrechte in Anspruch nehmen
können. Dazu gehört erstens der
Schulbesuch für Kinder. Auch eine Berufslehre ist derzeit für Sans
Papiers möglich, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind.
Es kann auch ein Härtefallgesuch
eingereicht werden. Einige städtische Betriebe zeigen Offenheit,
Sans Papiers eine Lehrstelle zuzusichern, bis deren Härtefallgesuch eingereicht ist, zum Beispiel
die Verkehrsbetriebe (Interview
mit Bea Schwager, 17.12.2018).
Sollten Sans Papiers einen Krankenhausbesuch oder -aufenthalt
benötigen, kontaktiert der Krankenhaus-Sozialdienst die SPAZ, die
dann rückwirkend eine Kranken-
versicherung mit Prämienvergünstigung für die entsprechende Person abschließen kann. So ist, wie
sonst bei Menschen ohne Krankenversicherung üblich, eine Meldung
beim kantonal zuständigen Sozialamt nicht notwendig. Mithilfe der
SPAZ können Sans Papiers auch
eine Anmeldung bei der Sozialversicherungsanstalt vornehmen und
Sozial versicherungsbeiträge einzahlen. Seit Einführung des «Gesetzes gegen Schwarzarbeit» sollten
Sans Papiers vor einer Anzeige geschützt sein, wenn der Arbeitsplatz
kontrolliert wird. Daran halten sich
jedoch viele Kontrolleure nicht und
kontaktieren dennoch die Polizei.
Per definitionem sind Sans Papiers
jedoch vor allem vom Mangel an
Schutz und Rechten im Bereich
der Aufenthaltssicherheit betroffen. So leben Menschen ohne Aufenthaltstitel begründet in ständiger
Angst vor Polizeikontrollen. Zürich
ist somit keine «Sanctuary City» im
nordamerikanischen Stil, die den
städtischen Behörden die Kooperation mit den Bundesbehörden bei
der Identifikation, Verfolgung und
Inhaftierung von Sans Papiers verweigert und «Illegale» somit vor
Deportationen schützt. Peter Nideröst, Rechtsanwalt und Vorstandsmitglied der Arbeitsgruppe Züri City Card, schätzt die Bedeutung der
«historischen» solidarischen Praktiken von Initiativen wie der SPAZ
sehr hoch ein. Nideröst meint aber
auch, dass die Aufenthaltssicherheit
hier mangelhaft sei, eine Situation,
die mit der Züri City Card verbessert
werden könne:
41
«Es gab in der Vergangenheit […] teilweise kirchlich, teilweise politisch motivierte Schutzaktionen für Flüchtlinge. Aber für Sans Papiers lief der Weg immer entweder auf die Forderung einer großzügigen Amnestie, also Legalisierung, hinaus oder [...] einer einfach
strukturierten, relativ großzügigen Einzelfallregelung über eine humanitäre Aufenthaltsbewilligung. Der größte politische Erfolg – das
muss man sich mal vorstellen – dieser schon lang bestehenden Sans
Papiers-Bewegung auf nationaler Ebene ist, dass Jugendliche Sans
Papiers eine Berufslehre machen können. Eigentlich unglaublich
dürftig, oder? Und das hat dazu geführt, dass viele Anlaufstellen der
Sans Papiers und soziale Bewegungen lokal, also städtisch versucht
haben, informelle Wege zu beschreiten, um die Lebenssituation der
Sans Papiers zu verbessern: Zugang zu Gesundheit, Bildung, auch zu
sozialen Rechten. Ich würde sagen, das ist in Zürich durch die Arbeit
der Sans Papiers-Anlaufstelle [SPAZ] wirklich gut gelungen, nicht nur
weil die Anlaufstelle gute Arbeit geleistet hat, sondern auch weil die
städtischen Behörden hier wirklich kooperativ sind. […] Das größere Problem, nämlich die bessere Aufenthaltssicherheit, die erreichen
wir aber nur abseits der informellen Absprachen. Es braucht etwas,
das auf Recht fußt. Die Züri City Card ist da nicht das Endziel, aber ein
wichtiger Schritt.» (Interview mit Peter Nideröst, 14.12.2018)
3 «URBAN CITIZENSHIP» UND «SANCTUARY CITY»
In Zürich hatte die Nachricht aus
New York, wo im November 2014
per Gesetz die sogenannte New York
City – Identification Card (NYC-ID)
eingeführt und damit die Kooperation der Stadt mit den nationalen
Einwanderungsbehörden weiter
eingeschränkt wurde, für große Aufmerksamkeit gesorgt. Nicht nur Bea
Schwager, die Leiterin der Zürcher
Sans Papiers-Anlaufstelle SPAZ,
sondern auch weitere Personen
schlugen daraufhin eine ähnliche City Card auch für Zürich vor (vgl. Interview mit Bea Schwager 17.12.2018).
Mitte 2015 stellte ich in meiner damaligen Funktion als Leiterin der
Shedhalle Zürich, ein Zentrum für
42
zeitgenössische und kritische Kunst,
die Idee der City Card für einen neue
politische Praxis im Umgang mit
Migration auf lokaler Ebene nochmals öffentlich zur Diskussion (vgl.
Morawek 2015).7 Bereits seit Mitte
2014 planten wir in der Shedhalle ein
Projekt mit dem Titel «Die ganze Welt
in Zürich», welches das Schweizer
Demokratiedefizit adressieren sollte.
Dieses Projekt sollte einen direkten
Einfluss auf Prozesse der Politikgestaltung im Sinne einer Demokratisierung und Ausweitung von Rechten für alle ausüben. Die im Rahmen
des Projekts etablierte Arbeitsgruppe
7 Vgl. https://archiv.shedhalle.ch/institution/.
operierte mit dem Begriff der «Urban
Citizenship» (vgl. García 2006). Hierzu gehörten Unterprojekte, welche
die politischen und rechtlichen sowie kulturellen und repräsentativen
Aspekte von citizenship/citoyenneté
thematisierten sowie jene, die sich
mit den Prozessen der Politikgestaltung und der Handlungsmacht sozialer Bewegungen auf städtischer, also
kommunaler Ebene beschäftigten.
Im Februar 2015 fand in der Hauptstadt Bern der landesweite «Kongress
der Migrantinnen und Migranten
und Menschen mit Migrationshintergrund» statt. Der Kongress wurde
vor allem von der größten Schweizer Gewerkschaft unia sowie von den
Migrantenorganisationen Second@s
Plus und Colonie Libere Italiane und
Einzelpersonen getragen. Ziel war,
aus migrantischer Perspektive Protest gegen die ein Jahr zuvor von der
Schweizerischen Volkspartei zur Abstimmung gebrachte sogenannte
Eidgenössische Volksinitiative gegen
Masseneinwanderung zu formulieren
und mit Demokratisierungsforderungen auf Bundesebene zu vertiefen.8
Der Historiker Kijan Espahangizi, der
den Kongress damals mitorganisierte und anschließend die städtische
Initiative «Wir sind alle Zürich» mitbegründete, misst dem Kongress von
2015 eine wichtige Bedeutung für die
Öffnung der Debatte um Migration,
Demokratisierung und «Urban Citizenship» bei:
«Die Idee war, eine neue Plattform zu öffnen, die versuchte, aus
der Logik der Integrationspolitik der 1990er und 2000er [Jahre] sowie aus der sogenannten Migrantenpolitik herauszukommen. Man
spürte, dass das in der Form einfach nicht mehr stimmte. Die Räume, die im Namen der Integration erkämpft wurden, sind da, aber
es gab noch keine Sprache, kein Instrumentarium, um den nächsten Schritt zu machen, nämlich: Wir reden nicht mehr von Integration, sondern von Demokratie. Also der Schritt in ein anderes Register politischer Kommunikation. Auch um aufzuzeigen, dass man in
dem vorigen Register nicht mehr weiterkommt.» (Interview mit Kijan Espahangizi, 4.12.2018)
Die aus dem «Kongress der Migrantinnen und Migranten und Menschen mit Migrationshintergrund»
entstandene Initiative «Wir alle sind
Zürich» trug den Demokratisierungsanspruch weiter und organisierte im Frühjahr 2016 einen Nachfolgekongress in Zürich, der eng mit
dem Projekt der Shedhalle «Die ganze Welt in Zürich» verbunden war
und an dem mehr als 550 Personen
von rund 30 Organisationen teilnahmen. Seit 2017 ist die aus dem Projekt «Die ganze Welt in Zürich» hervorgegangene «Arbeitsgruppe Züri
City Card» ein eigenständiger Verein, der im permanenten Dialog mit
politischen Entscheidungsträgern
steht. Im Vorstand des Vereins, der
im Juli 2018 in Zürich eine Petition
8 Vgl. www.unia.ch/de/aktuell/events/detail/a/10528/.
43
zur Umsetzung der City Card lancierte, engagieren sich ehemalige Sans
Papiers ebenso wie Jurist*innen, zivilgesellschaftliche Akteure und Parlamentarier*innen. Bei einer Umfrage unter den Kandidat*innen für die
Gemeinderatswahlen im März 2018
beantworteten schließlich 80 Prozent der Politiker*innen die Frage:
«Soll die Stadt Zürich eine städtische
Identitätskarte (City ID) ausgeben,
mit der sich Sans-Papiers innerhalb
des Stadtgebiets ausweisen könnten?», mit «Ja» oder «eher Ja».9
Nach zahlreichen Lobbygesprächen
der AG Züri City Card mit Entscheidungsträger*innen in politischen
Ämtern und öffentlichen Institutionen wurde im Juli 2018 im Zürcher
Gemeinderat eine sogenannte Motion zur Einführung der Züri City Card
eingebracht. Mit einer Motion verlangt ein Parlamentsmitglied von der
Regierung die Ausarbeitung einer
Gesetzesänderung, eines Beschlusses oder einer Maßnahme nach eidgenössischem, kantonalem oder
kommunalem Recht. Dieser Auftrag
ist verbindlich, wenn ihm das Parlament zustimmt. Die Motion wurde
im Gemeinderat angenommen und
im Oktober 2018 die oben erwähnte
Petition mit über 8.400 Unterschriften an die Stadtpräsidentin Corine
Mauch überreicht. Am 31. Oktober 2018 beschloss der Zürcher Gemeinderat schließlich die Einführung der City Card für Zürich. Die
politische Umsetzung obliegt dem
Stadtrat, der nun bis 2022 Zeit hat,
an der Einführung zu arbeiten.10
Neben der Initiative «Wir alle sind Zürich» entstand eine ähnliche Initiative
44
mit dem Namen «Wir alle sind Bern»,
welche unter anderem eine City Card
für die Schweizer Hauptstadt vorschlug. Dieser Vorschlag wurde von
kommunalpolitischen Akteuren aufgegriffen, in den Berner «Schwerpunkteplan Integration 2018−2021»
und damit in die politische Agenda der Stadt Bern aufgenommen.11
Auch in Bern steht die Umsetzung
allerdings noch aus. Die Stadt Zürich
gab im Kontext der Debatten um die
Züri City Card zwei Rechtsgutachten
in Auftrag: Eines behandelt die Frage
des Zugangs zur Justiz für Sans Papiers sowie jene der Polizeikontrollen (vgl. Kiener/Breitenbücher 2018).
Das zweite Rechtsgutachten, dessen Veröffentlichung noch aussteht,
soll die Vereinbarkeit der City Card
mit dem kantonalen und nationalen
Recht prüfen.
Das Gutachten zu Justiz und Polizei stellt zunächst fest, dass der
«faktische Ausschluss vom Rechtsschutz» in einem «Spannungsverhältnis zu den staatlichen Pflichten
steht, welche sich aus den Grundund Menschenrechten ergeben und
welche alle Behörden und Akteure
in die Pflicht nehmen, die staatliche
Aufgaben wahrnehmen» (ebd.). Das
Gutachten lotet zudem den rechtlichen Spielraum in Bezug auf die
9 Fragebogen Gemeinderatswahlen Zürich am
4.3.2018, unter: smartvote.ch/18_st_zuerich_leg/questionnaire. 10 Zürcher Gemeinderat will mit Züri City Card
Stadtausweis für alle, 3.10.2018, unter: https://www.
toponline.ch/news/zuerich/detail/news/zuercher-gemeinderat-will-mit-zueri-city-card-stadtausweis-fuer-alle-0098741/. 11 Schwerpunkteplan Integration Stadt
Bern, unter: www.bern.ch/politik-und-verwaltung/stadtverwaltung/bss/kompetenzzentrum-integration/fachbereich-information-und-vernetzung/leitbild-zur-integrationspolitik/schwerpunkte-plan-2018-2021.
Wahrung der Grundrechte von Sans
Papiers aus, etwa in Bezug auf Personenkontrollen. Das Vorzeigen einer
City Card, so heißt es in dem Gutachten, begründe grundsätzlich keinen
Anfangsverdacht auf einen irregulären Aufenthalt und löse deshalb keine Ermittlungs- und Anzeigepflichten aus, weswegen die Nutzung der
City Card unter der Bevölkerung weit
verbreitet sein sollte. Es dürfe allerdings nicht dazu führen, dass der
Vollzug der Ausländergesetzgebung
vereitelt würde (ebd.).
Diese Schlussfolgerung kann je
nach Rechtsverständnis unterschiedlich ausgelegt werden. Ein
Anfangsverdacht liegt nach wie vor
im subjektiven Empfinden der jeweiligen Polizeibeamten. So nutzt
etwa die Stadtpolizei Zürich eine interne App, in der die Gründe für eine
Kontrolle festgehalten werden. Eine Analyse zeigte, dass als einer der
Hauptgründe für eine Kontrolle der
Faktor «Aussehen» genannt wird –
ein Hinweis darauf, dass in der polizeilichen Praxis «Racial Profiling»,
also das Kontrollieren von Personen
aufgrund ihres Äußeren, verankert
ist (vgl. Interview mit Ezgi Akyol,
3.12.2018). Daran würde auch die
City Card nichts ändern, wenn die
polizeiliche Praxis des «Racial Profiling» fortbesteht.
Bea Schwager, Leiterin der SPAZ
und Vorstandsmitglied der AG Züri
City Card, sieht die entscheidende
Verbesserung durch die City Card
dennoch im Bereich der Aufenthaltssicherheit und des Zugangs zur Justiz für Sans Papiers. In anderen Bereichen, so Schwager weiter, diene die
City Card gegebenenfalls einer Vereinfachung der Abläufe. Sie sieht die
Züri City Card nicht im Widerspruch
zum nationalen Recht, sondern als
«rechtsgenüglichen» Nachweis eines Wohnorts in Zürich. So schaffe
die City Card zwar keine gerechteren gesellschaftlichen Verhältnisse,
sie wirke aber als «Antibiotikum»
gegen Situationen der Entrechtung,
im Falle einer Nichtgewährleistung
von Grundrechten (vgl. Interview mit
Bea Schwager, 17.12.2018).
4 KÄMPFE UM DIE CITY CARD: MENSCHENRECHTE
VERSUS DEMOKRATISIERUNG?
Die Idee eines kommunalen Personalausweises, der unabhängig vom
rechtlichen Aufenthaltsstatus einer
Person vergeben werden soll, hat
immer wieder große Resonanz in
den medialen und politischen Öffentlichkeiten der Schweiz erzeugt.
So erschienen zwischen der Lancierung des Projekts im Jahr 2015
und Erscheinen dieser Studie min-
destens 27 Berichte in Schweizer
Medien allein zum Thema Züri City
Card.12 Im Prozess der beginnenden Institutionalisierung fand zugleich eine Verengung der Debatten
um die Züri City Card auf technische
und juristische Fragen der Umsetzbarkeit statt, während die anfangs
12 Vgl. www.zuericitycard.ch/news.
45
insbesondere von bewegungspolitischen Akteuren eingebrachten breiteren gesellschaftspolitischen Fragen von «Urban Citizenship», also
Aspekte einer generellen Demokratisierung des städtischen Lebens für
alle, in den Hintergrund traten.
Die Bewegung für die Züri City Card
trennte sich nach und nach einerseits in bewegungspolitische Akteure, die auch «Urban Citizenship»,
also urbane Bürgerschaft ausweiten
und demokratisieren möchten, und
andererseits in institutionelle Akteure, die die City Card als Versuch
der Intervention in das rechtliche
Vakuum für eine bestimmte Gruppe von Migrant*innen, der Sans Papiers, ansehen. Letztere Vision der
City Card ist eher an das Modell der
nordamerikanischen «Sanctuary
Cities» angelehnt, in dem die Aufenthaltssicherheit von Menschen
ohne Aufenthaltstitel im Vordergrund steht. Begleitet von einer antimigrantischen politischen Haltung
auf nationaler Ebene wurde schließlich das Erbe migrationspolitischer
Bewegungen in der Schweiz, die
entscheidende Vorarbeit für die Züri
City Card geleistet hatten, mehr und
mehr verdrängt. Die bewegungspolitischen Impulse für «Urban Citizenship» konnten in den parlamentarischen Debatten um die Züri City
Card bislang nicht erneuert und reaktiviert werden. Kijan Espahangizi
vertritt hierzu die folgende These:
«Erstens speist sich Aktivismus ja aus begrenzten Ressourcen, weil
[diese Aktivismen] nicht bezahlt sind, weil sie prekär sind, weil sie
nur mit enorm großer individueller Motivation aufrechterhalten
werden können. Um hier das Risiko zu minimieren, gibt es – sicherlich nicht nur in der Schweiz – die Tendenz zu sagen‚ wir machen
möglichst konkrete Projekte mit einer klar definierbaren Opfergruppe, mit einer klar definierbaren Regulationsschnittstelle, wo man
etwas verändern kann. Sicherlich spielen hier aber auch bestimmte übergreifende Werte in der politischen Kultur der Schweiz eine
Rolle, wo die vermeintlich großen Würfe nicht gern gesehen werden [...] Und da sind dann die Projekte zu Urban Citizenship in der
Schweiz, insbesondere die Züri City Card, in ein Fahrwasser geraten, das in der Schweiz seit einiger Zeit deutlich wird. Die Arbeit
ging in den letzten Jahrzehnten zunehmend auf die lokale Ebene.
Die Mitenand-Initiative, die in den 1970ern mobilisierte und über
die 1981 abgestimmt wurde, war das letzte große Projekt, das versucht hat, Dinge grundsätzlicher zu ändern, und ab da gingen alle Initiativen ins Lokale – mit gutem Grund. Das Schulsystem etwa kann man nur von der Gemeinde her angehen. Es gab also von
der Sache her Gründe, das zu tun, aber es ging dann in Richtung
Gemeindestimmrecht, in Richtung Schulpolitik auf Gemeinde und
-Kantonsebene, auch in der Kulturförderung.» (Interview mit Kijan
Espahangizi, 4.12.2018).
46
Ein weiterer Grund für die Verengung des Konzepts «Urban Citizenship» auf eine City Card, die vor allem
auf Aufenthaltssicherheit fokussiert,
könnten im Verständnis der Schweiz
als Ort des humanitären Schutzes lie-
gen, das viele Akteure haben. Humanitäre Gründe und die Wahrung der
Menschenrechte sei der kleinste gemeinsame Nenner in Bezug auf die
City Card, meint Peter Nideröst vom
Vorstand der AG Züri City Card:
«Ich vermute, dass der politische Diskurs der City Card stark mit
dem Menschenrechtsdiskurs verbunden ist. Der Wind in der Menschenrechtsdebatte hat sich gedreht, und eben nicht nur in der politischen Linken, wo das vielleicht auch bereits etwas erodiert war,
sondern auch in der politischen Mitte. Beispielsweise haben die
[rechtsliberale] FDP und die [christdemokratische] CVP gemerkt,
dass sie dort Profil gegenüber der [rechtsnationalen] SVP gewinnen müssen, da sie sonst von rechts außen vereinnahmt würden.
Wenn diese These stimmt und die City Card mit einer Stärkung der
Menschenrechte in Verbindung gebracht wird, dann ließe sich das
von den Mehrheitsverhältnissen her gesehen erklären. In diesem
Zusammenhang gibt es nämlich nur schlechte Argumente gegen
die City Card.» (Interview mit Peter Nideröst, 14.12.2018)
Christof Meier, Leiter der Integrationsförderung der Stadt Zürich, unterstreicht, dass die Gründe für die
Zustimmung zur Züri City Card vor
allem in ihrem Projektcharakter und
ihrer Lösungsorientierung liegen:
«Eine Gesamtidee zum gesellschaftlichen Zusammenleben hat sich
hier in Zürich unter anderem auf das Thema Sans Papiers fokussiert.
Dieses Thema hat sich angeboten, weil es konkret ist, es sind konkrete Personen mit konkreten Geschichten, es hat mit Menschenrechten
zu tun, es gibt Problemstellungen und es gibt eine für viele auf den
ersten Blick einleuchtende Idee zu deren Lösung. Zudem gibt es eine
links-grüne Mehrheit, die jetzt auch Mehrheiten für entsprechende
Vorstöße bietet.» (Interview mit Christof Meier, 18.12.2018)
Das sieht Kijan Espahangizi ähnlich,
der diese Feststellung in eine These
zur Verdrängung historischer Reali-
täten zugunsten der Imagination eigener Handlungsmacht einbettet:
«Man hätte auf viele wichtige Erkenntnisse und Erfahrungen etwa
der Mitenand-Initiative zurückgreifen können oder auch [auf] die Erfahrungen der Kämpfe um das lokale Ausländerstimmrecht, die ja
in Zürich kurz vorher noch gescheitert sind. Vielleicht muss man
nochmal zurückgehen in die 1960er und 1970er Jahre, wo vieles
47
zu tun hatte mit der internationalen Ebene. Es wird vergessen, dass
die relevanten Momente, in denen sich auf lokaler und nationaler
Ebene etwas verändert hat, immer verzahnt waren mit der internationalen Ebene, ob es das Frauenstimmrecht war, die Einführung der
europäischen Menschenrechtskonvention oder in den 1990ern die
Doppelstaatsbürgerschaft. All das war nur aufgrund von Opportunitätsfenstern möglich, weil man merkte, man wird sonst nicht mehr
konkurrenzfähig sein, beispielsweise auf einem EU-Arbeitsmarkt.
Es sind immer diese drei Momente, wo etwas ineinandergreift, das
Lokale, das Nationale und das Internationale, und wo sich dann etwas tut. Aber dieses Wissen um das Ineinandergreifen ist nicht tief
verankert. Stattdessen gibt es eine Tendenz ins Mikrokonkrete zu
gehen. Und genau das ist passiert.» (Interview mit Kijan Espahangizi vom 4.12.2018)
Zudem gibt es bezüglich «Urban Citizenship» einige ungeklärte Punkte,
betont Ezgi Akyol, Gemeinderats-
mitglied und Vorstand der AG Züri
City Card:
«Auf einige offene Fragen und Widersprüche haben wir noch keine
offensive Antwort geliefert, etwa auf verschiedene rechtliche Aspekte. Es wäre wichtig gewesen, dass wir den Motionstext in eine Vernehmlassung bringen und breit abstützen. Eigentlich wäre
das Thema Urban Citizenship prädestiniert dafür, um verschiedene Kämpfe miteinander zu verbinden, etwa Wohnen, Arbeit und so
weiter. Aber derzeit läuft alles unter dem Titel des Sans Papiers-Projekts.» (Interview mit Ezgi Akyol, 3.12.2018)
5 FAZIT UND AUSBLICK
Die erste Phase der Kampagnen für
einen kommunalen Personalausweis (City Card) in Zürich war vor allem von bewegungspolitischen Akteuren geprägt. Dabei dominierten
Debatten um «Urban Citizenship»,
also um Fragen gesellschaftlicher
Gerechtigkeit und Demokratisierung. Anschließend kristallisierten
sich unterschiedliche Zugänge heraus: erstens der lösungsorientierte Ansatz, der die Züri City Card vor
48
allem als Instrument der Verbesserung der Aufenthaltssicherheit für
die Sans Papiers begreift und insbesondere von der AG Züri City Card
vertreten wird. Den zweiten Zugang
nenne ich transformativ. Dieser wurde von bewegungspolitischen Initiativen wie «Wir alle sind Zürich»
eingebracht und zielt auf ein umfassenderes gesellschaftliches Demokratisierungsprojekt. Daneben
existiert ein dritter, integrationspo-
litischer Ansatz der Stadtregierung
und -verwaltung von Zürich, die
angesichts der bestehenden Umsetzungsschwierigkeiten eine eher
kritische Haltung zur City Card einnimmt.
Zwischen diesen Positionen werden
sich in den kommenden Jahren die
Prozesse der Aushandlung über das
Zusammenleben in einer Einwanderungsstadt wie Zürich bewegen.
Bisher haben die Initiator*innen das
Potenzial von «Urban Citizenship»
als Projekt der Demokratisierung
noch wenig genutzt. Dabei würde
es sich lohnen, «Urban Citizenship»
genauer zu betrachten und zu fragen: Welches Demokratisierungsprojekt muss auf welcher Ebene im
Verhältnis zwischen Stadt/Kommune, Kanton und Bund ansetzen, damit es funktioniert?
Obwohl die offizielle Selbstdarstellung der Stadt Zürich als «Creative
City» Innovation als wichtigsten Motor städtischer Entwicklung nennt,
fehlt die Motivation, sich unter dem
Label «Urban Citizenship» ein Alleinstellungsmerkmal in der Schweiz
oder sogar in Europa zu erarbeiten. Denn dort, wo die Stadt Zürich
selbst gestalten und finanziell entscheiden kann und entsprechende Spielräume in Richtung solidarischer Stadt sieht, nutzt sie diese.
Dort, wo sie «Urban Citizenship» gegen Widerstände etwa auf Kantonsebene durchsetzen müsste, tut sie
es nicht.
Der Gemeinderatsbeschluss von
Ende 2018, also der bislang erreichte Status quo in Bezug auf die Züri
City Card, wird von beteiligten Ak-
teuren entsprechend unterschiedlich bewertet. Peter Nideröst, Vorstandsmitglied der Arbeitsgruppe
Züri City Card, verspricht sich durch
den kommunalen Personalausweis
eine Verschiebung des gesamten
Migrationsdiskurses hin zur Frage
eines «Rechts auf Rechte» für alle, insbesondere auch für jene, die
bereits einen gesicherten Aufenthalt haben, aber faktisch ihre Rechte nicht vollumfänglich in Anspruch
nehmen können. Die Bestrebungen
zur Einführung der City Card sieht er
als Modell für emanzipatorische Bewegungen, die versuchen, die Verhältnisse «von unten» zu ändern,
indem sie durch Alltagsbeschreibungen ans Licht kommen. Nideröst formuliert zudem die Einschätzung, dass sich, einmal umgesetzt,
auch in Bezug auf die City Card ein
gewisser sachspezifischer Realismus durchsetzen und die Karte sich
bewähren wird (vgl. Interview mit
Peter Nideröst, 14.12.2018).
Die meisten Mitglieder der AG Züri City Card bewerten den Gemeinderatsbeschluss von 2018 grundsätzlich als Erfolg, sehen aber auch
damit verbundene Herausforderungen. Die AG verspricht sich vom
kommunalen Personalausweis eine Verbesserung im Bereich der
Aufenthaltssicherheit. Der Schutz
vor Ausschaffungen (Abschiebungen) ist der Kern ihres Anliegens.
Die AG orientiert sich also vor allem
am nordamerikanischen Modell der
«Sanctuary Cities». Dieser Fokus
stellt allerdings auch ein Problem
dar, weil die rechtliche Auslegung
nicht geklärt und die konkrete Aus49
gestaltung der City Card Gegenstand
einer noch ausstehenden politischen
Debatte ist, wie Rechtsanwalt Peter
Nideröst von der AG ausführt:
«Die Frage der Übereinstimmung der City Card mit übergeordnetem Recht ist eine juristische Frage. Dazu habe ich in einem frühen
Stadium auch einen Kommentar geschrieben – so vorausschauend
waren wir da schon. Ich habe mich eingehend mit der Rechtslage
befasst, und aus meiner Sicht gibt es diesen Widerspruch nicht. Da
kann man anderer Meinung sein, bisher hat mir das aber niemand
widerlegt. Und das andere ist, dass man sagen muss, inwiefern der
Identitätsausweis neben dem Schutz im Fall einer Polizeikontrolle
auch weitere Türen öffnet. Das ist Gegenstand der politischen Debatte. Welche Rechte und Pflichten daran geknüpft sind, da können
wir der politischen Debatte nicht vorausgreifen, das muss demokratisch ausgehandelt werden. Wir haben schon das Ziel, dass weitere soziale Rechte bis hin zu politischen Rechten mit der Karte verknüpft sein sollen, aber wir versprechen es nicht. Aber Schutz vor
der Polizei, ohne das geht es nicht.» (Ebd.)
Der städtische Integrationsbeauftragte Christof Meier hingegen zählt
zur Kernfrage des Aufenthaltsschut-
zes eine Reihe von Schwierigkeiten
auf, die den bisherigen Prozess prägen:
«Es hat sich alles auf diese City Card fokussiert, und wir wissen
wirklich noch nicht, wem sie wirklich etwas nützen könnte. Sie
nützt nicht gegen Racial Profiling, nicht gegen Alltagsdiskriminierung. Im Moment wird sie so aufgeladen mit dem Versprechen von
‹Sicherheit›, dass sie Erwartungen auslöst, die unrealistisch sind.
Ich bin überzeugt, dass viele Sans Papiers dieses Risiko nicht eingehen werden [...] Für New York schätzt man, dass etwa 50 Prozent
der Nutzer*innen [der City-ID] Sans Papiers sind. In Zürich, die ja
keine Sanctuary City ist und aufgrund der gegebenen Rechtslage
auch keine sein kann, würde das bedeuten, dass jeder zweite Karteninhaber ein Sans Papier ist. Das schafft keine Sicherheit, sondern
begründet einen Anfangsverdacht für eine Kontrolle. In der Stadt
müssten vielleicht 30.000, 40.000 Karten im Umlauf sein und – unter anderem – bei Polizeikontrollen aktiv genutzt werden, bevor die
Ausgabe [der City Card] an Sans Papiers erfolgen könnte.» (Interview mit Christof Meier, 18.12.2018)
Diese Einschätzung entspricht auch
jener einer vergleichenden Studie von
50
«Urban Citizenship»-Bewegungen in
Bern und Zürich (Brunner 2017):
«So ist in der Bundesverfassung [...] festgehalten, dass die Gemeindeautonomie nach Maßgabe des kantonalen Rechts gewährleistet
ist. Aufgrund der kantonalen Gesetzgebungen gestaltet sich diese Autonomie in den Städten Bern und Zürich unterschiedlich und
stellt insbesondere die Realisierung konkreter Forderungen der Bewegungen vor Schwierigkeiten. Als Beispiel ist hier wiederum die
Implementierung der City Card zu nennen, deren Umsetzung aufgrund der territorialen Zuständigkeitsregelungen der Polizei in Zürich größere Chancen als in der Stadt Bern hat. Der Grund dafür ist,
dass in Zürich die Stadtpolizei für die verwaltungsrechtliche Einheit
der Stadt zuständig ist und die entsprechende Rechtspraxis umzusetzen hätte. In der Stadt Bern gestaltet sich die Situation komplexer, da die Kantonspolizei für das städtische Gebiet zuständig ist
und dementsprechend auf der Gebietseinheit der Stadt eine andere
Rechtspraxis auszuüben hätte, als auf derjenigen des Kantons.»
Die Autorin verweist auch auf die
Kritik von García (2006) am Konzept «Urban Citizenship». García
argumentiert, dass (rechtliche) Ansprüche als Resultat lokaler «Citizenship»-Praktiken selten allein auf
kommunaler Ebene ohne die Zustimmung anderer territorialer Gebietseinheiten, gelöst werden können (vgl. Brunner 2017).
Mein Anliegen war es, herauszuarbeiten, anhand welcher Punkte und
Überlegungen die beschriebene
Trennung in eine pragmatische, eine integrationspolitische und eine
transformatorische Haltung verlief.
In der Rückschau wird ersichtlich,
dass diese Trennung sich als nicht
produktiv für eine proaktive Gestaltung einer demokratischeren Stadt
für alle erwiesen hat. Für die kommenden zwei Jahre ist zu erwarten,
dass die lokalen Debatten in Bezug auf die Ergebnisse des zweiten
Rechtsgutachtens sowie auf konkrete Umsetzungsvorschläge für die
City Card seitens des Stadtrats von
den beschriebenen Widersprüchen
geprägt sein werden. Offen bleibt,
ob und wie sich die Konflikte um die
Züri City Card in den nächsten Jahren entwickeln werden. Sicher ist
hingegen, dass sich die Realität der
Einwanderung in der Stadt weiter
entfalten wird.
LITERATUR
Brunner, Simone (2017): Urban
Citizenship. Eine Analyse von Urban
Citizenship in der Schweiz am Beispiel der sozialen Bewegungen der
Städte Bern und Zürich, Master-Thesis, Kooperationsstudiengang Soziale Arbeit der Fachhochschulen
Bern, Luzern u. a. (unveröffentlicht).
Espahangizi, Kijan (2018): Ein civil
rights movement in der Schweiz?
Das vergessene Erbe der Mitenand-Bewegung (1974−1990), unter:
https://institutneueschweiz.ch/De/
Blogs/178/Espahangizi_Mitenand.
51
Foroutan, Naika/Karakayali,
Juliane/Spielhaus, Riem (Hrsg.)
(2018): Postmigrantische Perspektiven. Ordnungssysteme, Repräsentationen, Kritik, Frankfurt a. M.
Florida, Richard (2002): The Rise of
the Creative Class, New York.
Kiener, Regina/Breitenbücher,
Danielle (2018): Justizzugang von
Sans-Papiers. Gutachten zuhanden
der Integrationsförderung der Stadt
Zürich, unter: www.stadt-zuerich.
ch/prd/de/index/stadtentwicklung/
integrationsfoerderung/integrationsthemen/sans-papiers.html.
García, Marisol (2006): Citizenship
Practices and Urban Governance in
European Cities, in: Urban Studies
43(4), S. 745–765.
Krenn, Martin/Morawek, Katharina
(2017): Urban Citizenship. Zur
Demokratisierung der Demokratie,
Wien.
Gross, Dominik (2018):
Zwerge wollen Zwerge bleiben,
in: alliance sud, 27.9.2018, unter:
www.alliancesud.ch/de/politik/
steuer-und-finanzpolitik/zwerge-wollen-zwerge-bleiben.
Mauch, Corine (2017): Zürich –
attraktiv durch Innovation und
Weltoffenheit, Referat der Stadtpräsidentin vor der Volkswirtschaftlichen Gesellschaft Zürich,
29.3.2017, unter: https://zuerich.
spkantonzh.ch/aktuell/artikel/
zuerich-attraktiv-durch-innovationund-weltoffenheit/.
Hitz, Hansruedi/Schmid, Christian/
Wolff, Richard (1995): Boom, Konflikt und Krise – Zürichs Entwicklung zur Weltmetropole», in: Hitz,
Hansruedi u. a. (Hrsg.): Capitales
Fatales. Urbanisierung und Politik
in den Finanzmetropolen Frankfurt
und Zürich, Zürich.
Holenstein, André/Kury, Patrick/
Schulz, Kristina (2018): Schweizer
Migrationsgeschichte. Von den
Anfängen bis zur Gegenwart,
Zürich.
52
Morawek, Katharina (2015):
Städte statt Staaten, in: WOZ – Die
Wochenzeitung, Nr. 28, 9.7.2015.
Purtschert, Patricia/Lüthi, Barbara/
Falk, Francesca (Hrsg.) (2013):
Postkoloniale Schweiz. Formen und
Folgen eines Kolonialismus ohne
Kolonien, Bielefeld.
53
54
BUE RÜBNER HANSEN
STADT DER ZUFLUCHT
UND MIGRATION
DIE BEWEGUNG «BARCELONA EN COMÚ» KNÜPFT
EUROPÄISCHE NETZWERKE DER SOLIDARITÄT
1 EINLEITUNG
Seit 2015 gilt Barcelona als Vorbild
unter den solidarischen Städten, also Städten, die sich mit Geflüchteten und Migrant*innen solidarisieren. Im Frühjahr 2015 gewann die
aus sozialen Bewegungen hervorgegangene Bürgerplattform «Barcelona en Comú» die Kommunalwahlen
mit einem Programm, das etwa die
Schließung des lokalen Abschiebelagers (Centro de Internamiento de
Extranjeros, CIE) vorsah. Im September desselben Jahres ergriff Bürgermeisterin Ada Colau die Initiative
zur inzwischen berühmt gewordenen Erklärung der Städte zur Unterstützung von Geflüchteten «We, the
Cities of Europe» (Colau u. a. 2015).
Das Schreiben, das von den Bürgermeister*innen von Paris, Lesbos
und einer Reihe spanischer Städte
gemeinsam unterzeichnet wurde,
erregte schnell weltweite Aufmerksamkeit und diente als Katalysator
für die Mobilisierung der Zivilgesellschaft Barcelonas im Hinblick auf
Solidaritätsinitiativen.
Das Besondere an Barcelona ist,
dass die Stadt zu einem Ort des Experimentierens geworden ist, in
dem die bestehende Willkommenspolitik auf die Probe gestellt wird.
Das Vorhandensein eines starken
gesellschaftlichen und politischen
Willens zu solidarischem Handeln
hat die Widersprüche, denen «Solidarity City»-Aktivist*innen und
Stadtverwaltungen auch andernorts gegenüberstehen, nicht beseitigt, sondern einen Raum des Lernens geschaffen. Warum sieht sich
beispielsweise dieselbe Stadtregierung, die das Abschiebelager schließen wollte, unter Druck gesetzt,
gegen migrantische Straßenverkäufer*innen vorzugehen?
Die Untersuchung Barcelonas als
solidarische Stadt ist daher nicht nur
im Hinblick auf ihre institutionellen
Initiativen und die kommunale Politik wichtig, sondern auch als Beispiel für die Herausforderungen der
Solidaritätspolitik. Die vorliegende
Fallstudie stellt die Auseinanderset55
zungen um Bedeutung und Umfang
des Solidaritätsbegriffs sowie die
taktischen und strategischen Überlegungen in den Mittelpunkt, die die
konkreten Solidaritätspolitiken und
-praktiken gestalten, einschränken
und inspirieren. Die Studie basiert
auf fünf Interviews, die Ende 2018
mit leitenden Mitarbeiter*innen der
Stadtverwaltung Barcelonas, Aktivist*innen von «Barcelona en Comú»
und der Bewegung für Migrantenrechte geführt wurden, sowie auf
partizipativer Aktionsforschung aus
den Jahren 2015 bis 2016, die aus
denselben Kontexten stammt.1
2 HINTERGRUND UND HERAUSFORDERUNGEN
Barcelona blickt auf eine langjährige
Geschichte der Solidarität zurück:
von den Arbeitergenossenschaften und anarchistischen und kommunistischen Gewerkschaften der
1930er Jahre über den Widerstand
gegen den Franquismus bis hin zum
Aufschwung der sozialen Bewegungen, Genossenschaften und Nachbarschaftsverbänden des letzten
Jahrzehntes. Auch die Anti-KriegsBewegung gegen den Irakkrieg Anfang der 2000er Jahre ist zu nennen,
hat sie doch viel dazu beigetragen,
den Raum für Islamophobie in Spanien zu begrenzen.
Die Solidarität mit Geflüchteten und
Migrant*innen ist jedoch relativ neu,
herausfordernd und umstritten.
Jahrhundertelang galt Spanien als
ein Land der siedlerkolonialen Auswanderung und das 20. Jahrhundert
war von großen Binnenmigrationen
geprägt. Allerdings war Spanien
erst um das Jahr 2000 herum mit einer starken Zuwanderung aus dem
Ausland konfrontiert und bis 2015
suchten nur wenige Geflüchtete hier
Asyl. Anfang der 1990er Jahre war
nur ein Prozent der spanischen Bevölkerung im Ausland geboren, eine
56
Zahl, die bis 2010 auf 12,2 Prozent
stieg. In Barcelona, einer großen und
relativ wohlhabenden Stadt, ist dieser Anteil mit 26,6 Prozent doppelt
so hoch, wobei rund 18,5 Prozent
der Einwohner*innen keine spanische Staatsbürgerschaft besitzen.
Die Einwander*innen kommen überwiegend aus Europa (35,6 Prozent),
Lateinamerika (32,5 Prozent) und
Asien (24,9 Prozent), nur 6,9 Prozent
stammen aus Afrika (Ayuntamiento
de Barcelona 2018a).
Diese Zahlen bergen eine Vielzahl
von persönlichen Geschichten und
Lebenswegen – etwa 300.000 bis
400.000, je nach Schätzungen, wie
viele Einwohner*innen undokumentiert bleiben. Doch die explizite und
vor allem die institutionelle Solidaritäts- und Willkommenspolitik knüpft
nur an einen Bruchteil dieser Geschichten an, nämlich an die der zuletzt Angekommenen, insbesondere
der Asylbewerber*innen und der Illegalisierten. Die Gründe hierfür sind
sowohl politisch wie auch instituti-
1 Der Autor möchte Manuela Zechner für ihre Unterstützung danken, die den vorliegenden Text deutlich
verbessert hat.
onell bedingt. Vor 2015 wurde das
Thema Einwanderung durch einen
breiten politischen Konsens in der
Stadtverwaltung, Einwanderung mit
ihren arbeitsrechtlichen, kulturellen und humanitären Dimensionen
als administrative Frage zu betrachten, weitgehend entpolitisiert. Die
meisten Migrant*innen in Barcelona
stammten aus Lateinamerika oder
aus anderen EU-Staaten, kurz, viele
besaßen bereits Spanischkenntnisse oder eine Form von Arbeitserlaubnis und fanden im Wirtschaftsboom
der 2000er Jahre problemlos Arbeit.
Unterdessen behielt der spanische
Staat seine extrem hohen Ablehnungsquoten in Asylfällen bei, oft
wurden über 70 Prozent der Anträge
abgewiesen (Sanahuja 2017).
In den Vorkrisenjahren entsprach
die kommunale Aufnahme- und Integrationsfähigkeit mehr oder weniger der Anzahl der Ankommenden.
Um fremdenfeindliche Reaktionen
auf die zunehmende Migration zu
vermeiden, startete die Stadtverwaltung Anfang der 2000er Jahre das
Netzwerk «Xarxa Antirumors» zur
Bekämpfung von Gerüchten, Vorurteilen und Stereotypen. Dieses Programm bildet sogenannte «Anti-Gerüchte-Agent*innen» dazu aus, um
Gerüchte und Irrtümer über Migration in Nachbarschaften und Schulen
auszuräumen, und wurde bislang in
zahlreichen Städten national und international nachgeahmt (Antirumores 2019; Cities of Migration 2018).
In vielerlei Hinsicht ist das heutige
System seit 2015 unverändert geblieben. Die staatlichen Programme stellen Asylsuchenden eine Un-
terkunft und ein Taschengeld für die
ersten sechs Monate des Verfahrens zur Verfügung (in Härtefällen
bis zu neun Monate). Vor und nach
diesem Zeitraum bietet die Stadt
Unterkunft und finanzielle Unterstützung sowie Rechtsbeistand.
Migrant*innen, die einen Wohnsitz in Barcelona vorweisen können
(z. B. anhand von Betriebskostenabrechnungen oder Mietverträgen auf
ihren Namen), sind zur Anmeldung
bei den kommunalen Behörden
(empadronamiento) berechtigt – ungeachtet ihres Aufenthalts- und Einbürgerungsstatus in Spanien. Damit
erhalten sie Zugang zu den gleichen
kommunalen Sozialleistungen wie
langfristig Aufenthaltsberechtigte – zumindest in der Theorie. Tatsächlich gibt es viele Fälle, in denen
Menschen keinen Zugang zu diesen
Rechten erhalten, unter anderem
wegen mangelnder Information und
Diskriminierung. Die Verwaltungen verfolgen darüber hinaus einen
zweistufigen Ansatz, dem zufolge
einer ersten Phase der Aufnahme
(acogida) eine zweite Phase der Autonomie im Hinblick auf die Integration in den Arbeits- und Wohnungsmarkt folgen sollte.
Vor der Wirtschaftskrise gehörten
Solidaritätspolitiken vorwiegend
zu den Aufgaben der sozialen Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) oder Untergrundbewegungen, in denen
sich Migrant*innen über soziale
und familiäre Netzwerke selbst organisierten. Als mit dem Ausbruch
der Krise viele ihre Beschäftigung
verloren, gewannen solche Netz57
werke zunehmend an Bedeutung –
nicht nur für Migrant*innen, sondern auch für Millionen spanischer
Staatsbürger*innen. Wohnraum
wurde zu einem dringlichen Thema für die Bevölkerung, ungeachtet ihrer Herkunft. Migrant*innen
mit afrikanischer Herkunft gründeten 2011 das besetzte Zentrum
«Cal África» in einem alten Industriegebiet, das zu einem wichtigen
Ort der gegenseitigen Hilfeleistung
und des Zusammenlebens für Hunderte von Menschen wurde, die ihren Lebensunterhalt vorwiegend als
Altmetallsammler*innen bestritten
(Geddis 2013). In Barcelona sank die
Zahl der Menschen aus Lateinamerika zwischen 2009 und 2016 um
50.000, da viele ihre Arbeit verloren
und dadurch auch ihre Fähigkeit,
Mieten und Hypotheken zu bezahlen. Viele, vor allem Familien, deren
Kinder fest in Barcelona verwurzelt
waren, engagierten sich in der Plattform gegen Zwangsräumungen
(Plataforma de Afectados por la Hipoteca, PAH). Eine der Gründer*innen dieser Bewegung ist Ada Colau.
Nach dem Vorbild des Arabischen
Frühlings besetzten am 15. Mai
2011 landesweit Hunderttausende
Menschen öffentliche Plätze, um
gegen die Austeritätspolitik und für
«echte Demokratie» zu protestie-
ren. Auch Migrant*innen spielten
in dieser Bewegung eine prominente Rolle und die migrantischen
Kämpfe gewannen im Verlauf der
Ereignisse an Bedeutung. Eine der
augenfälligsten Solidaritätsinitiativen für Migrant*innen war die «Tanquem els CIEs»-Kampagne gegen
Abschiebelager, die im Januar 2012
nach dem Tod von Idrissa Diallo im
örtlichen Abschiebelager Barcelonas ins Leben gerufen wurde. 2013
entstand der von den Zapatistas inspirierte «Espacio del Inmigrante»
(Raum der Migrant*innen) im Stadtteil Raval, der sich zu einem wichtigen Versammlungsort für migrantische Selbstorganisation entwickelte
und Personen aus dem inzwischen
geräumten «Cal África» sowie eine
zunehmende Anzahl von irregulären
Migrant*innen zusammenbrachte, die sich mit Straßenverkauf über
Wasser hielten, die sogenannten
manteros. Zentrales Merkmal dieses Ortes war eine radikale Kritik
an dem Ausschluss von Menschen
ohne spanische Staatsbürgerschaft
an der politischen Teilhabe. Ein früheres Mitglied des «Espacio» bringt
dies mit folgendem Slogan auf den
Punkt: «[Der Migrant ist] ein Subjekt
der Politik und ein politisches Subjekt, nicht ein Objekt der öffentlichen Ordnung.»
3 «BARCELONA EN COMÚ»
Mit dem Amtsantritt der neuen, aus
der Bewegung hervorgegangenen
Stadtregierung 2015 wurde Migration zu einem Kernthema der Stadt58
politik Barcelonas. Obwohl die Stadt
niemals zu einem bedeutenden Ankunfts- oder Transitort wurde, wurde dem Thema Flucht und Migration
eine große Bedeutung beigemessen, wobei die beiden Kategorien
im öffentlichen Diskurs streng voneinander getrennt werden. Die zwei
zentralen Themen waren einerseits
die Nichtankunft syrischer Geflüchteter in Barcelona und andererseits
das zahlenmäßig geringe, aber sehr
sichtbare Phänomen des informellen Straßenverkaufs durch meist
subsaharische Migrant*innen ohne
Papiere.2
In vielerlei Hinsicht verlief die Entstehung und Entwicklung dieser beiden
Phänomene auf entgegengesetzte
Weise. Da keine Geflüchteten nach
Barcelona kamen, beruhte die Politisierung des Rechts auf Asyl und
Aufnahme auf der Entschlossenheit der neuen Stadtverwaltung, auf
sozialer und institutioneller Ebene
gegen die Weigerung des Zentralstaates zu mobilisieren, Geflüchtete
aufzunehmen. Mit der Entwicklung
von Taktiken, um die staatliche Politik und die Legitimität der konservativen PP-Regierung (Partido Popular)
sowie die Schließung der EU-Grenzen infrage zu stellen, reagierte die
Stadtverwaltung auf eine starke Solidarisierungswelle innerhalb der
Bevölkerung. Der Kampf der Straßenverkäufer*innen hingegen wurde von der politischen Rechten und
den Mainstream-Medien skandalisiert mit dem Bestreben, die Stadtregierung als «zu tolerant» gegenüber
«illegalen Migranten, die den öffentlichen Raum besetzen, um illegale,
gefälschte Gegenstände zu verkaufen» darzustellen und zu schwächen.
Während das Ausüben wie auch die
Repression des Straßenhandels in
der Stadt auf eine jahrhundertealte Tradition zurückblickt, war eine
migrationsfreundliche, basisdemokratische Stadtregierung ein neues Phänomen – und eine willkommene Angriffsfläche. «Barcelona en
Comú» (BComú) versuchte hier, eine
unmögliche Stellung einzunehmen –
zwischen den Forderungen der Bewegung für Flüchtlingsrechte einerseits und dem Ruf nach öffentlicher
Ordnung durch die Medien und Opposition andererseits.
Um also die öffentliche Debatte
rund um das Thema Migration zu
verstehen, die die Wahrnehmung
Barcelonas als solidarische Stadt
so nachhaltig geprägt hat, müssen
wir uns die Position und Entwicklung von BComú vergegenwärtigen. Die migrationspolitischen
Positionen wurden durch einen Beteiligungsprozess entwickelt, geprägt von Menschen, die über Fachwissen und Erfahrung verfügen:
Normalbürger*innen, Aktivist*innen, Forscher*innen, Kommunalund NGO-Mitarbeiter*innen – viele
von ihnen Migrant*innen aus Europa oder Lateinamerika, manche
mit nordafrikanischer oder südasiatischer Herkunft. Beim Gespräch
mit Teilnehmer*innen des Kampagnenarbeitskreises von 2015 wird
2 Der für diese Fallstudie interviewte Aktivist des
«Espacio del Inmigrante» schätzte die Zahl der manteros zwischen 300 und 400. Unterdessen wurde von
den Medien behauptet, deren Zahlen seien unter der
Colau-Regierung zwischen 2014 und 2018 von 400 auf
600 gestiegen (Lopez/Sust 2016). Meinen Alltagseindrücken aus den Straßen Barcelonas zufolge erscheint
mir die letzte Zahl übertrieben. Die Zahl der in Barcelona
registrierten Menschen westafrikanischer Herkunft lag
2018 bei 3.794, das sind 1,26 Prozent der Migrantenpopulation (Ayuntamiento de Barcelona 2018a).
59
ein Spannungsfeld zwischen dem
Fokus auf konkrete Politik und einer
breiteren politischen Neuausrichtung der Migrationsfrage sichtbar.
Eine befragte Person, eine Forscherin, die in der Stadtverwaltung arbeitete, beschrieb einen offenen und
oft schwierigen Prozess, in dem es
nur allmählich gelang, konkrete und
tragfähige politische Maßnahmen
zu entwickeln, indem sie die Funktionsweise der Stadtverwaltung in
Migrationsfragen analysierten und
deren Herausforderungen und Fehler herausarbeiteten. Ein weiterer
Befragter, ein Forschungsaktivist,
der mit den Altmetallsammler*innen
und dem «Espacio del Inmigrante»
zusammengearbeitet hatte, äußerte
sein Unbehagen bei der Darstellung
von Migration als ein Einzelthema
und sprach von seinen Versuchen,
diesen Diskurs mit den Forderungen der Bewegung für Migrantenrechte in Einklang zu bringen. Maßgebend für diesen Versuch war in
seinen Worten «die grundsätzliche
Betrachtung von Migrant*innen als
politische Subjekte und Menschen
mit Handlungskompetenz anstelle
eines zu verwaltenden Objekts oder
einer zu verwaltenden Bevölkerung»
sowie die Universalisierung von Forderungen («für alle») und der Fokus
auf spezifisch gefängniskritische,
antirassistische Forderungen.
Im Abschlussdokument des Arbeitskreises Migration ist die Rede
vom Hinarbeiten auf soziale Inklusion – insbesondere die Erleichterung
des kommunalen Anmeldeprozesses und des Zugangs zur Gesundheitsversorgung – und vom Kampf
60
für Inklusionsmechanismen im
Schulwesen, auf dem Wohnungsmarkt und im Abschiebelager (Barcelona en Comú 2015a). Das allgemeine Wahlprogramm von 2015
spiegelt die Anliegen der beiden
Interviewpartner*innen wider. Das
Programm beinhaltet eine Reihe
von konkreten Vorschlägen: Während manche davon sich eher als
Teilaspekte universeller Forderungen lesen, sind andere hochspezifisch in ihrer Formulierung (z. B. die
Schließung des Abschiebelagers)
und wiederum andere befassen sich
mit der Frage, wie die Stadt selbst
die politische Handlungsfähigkeit
von Migrant*innen respektieren und
fördern könnte (Barcelona en Comú
2015b). Dies beweist die Macht partizipativer Politikgestaltung als Prozess kollektiver Wissensproduktion
und politischen Denkens, die von
den Erfahrungen und dem Wissen
ihrer Teilnehmer*innen ausgeht.
Das Spannungsfeld zwischen politischen Maßnahmen und radikaler
Politik wird so, zumindest im diskursiven Sinne, zum fruchtbaren Nährboden. Während des kommunalen
Wahlkampfes 2015 beteiligte sich
BComú auch an einer Kampagne,
die Migrant*innen über ihr Wahlrecht bei den Kommunalwahlen aufklärte.
Seit ihrem Amtsantritt hat BComú
zwei Grundannahmen überwunden,
auf denen der bisherige parteiübergreifende politische Konsens innerhalb der Stadtverwaltung hinsichtlich Aufnahme- und Asylfragen von
Geflüchteten beruhte. Statt eines
entpolitisierten liberalen Humani-
tarismus sollten Migrationsfragen
aufbauend auf dem Diskurs und den
Forderungen der sozialen Bewegungen und fortschrittlichen NGOs
in diesem Bereich politisiert werden. Mit dieser Einstellung brach
BComú mit einer zweiten Vorannahme, nämlich dass die Stadt Geflüchteten- und Migrationsangelegenheiten einfach im Rahmen ihrer
Zuständigkeiten regeln sollte, ohne
öffentlich von der Politik der Zentralregierung abzuweichen. So trug die
Stadt beispielsweise dazu bei, ein
Bewusstsein für die Ungerechtigkeiten zu schaffen, denen die Insassen des Abschiebelagers ausgesetzt
sind, auch wenn dessen Schließung
letztendlich nicht in ihrer Macht lag.
Als der sogenannte Sommer der
Migration kurz nach Ada Colaus
Amtsantritt begann, war es daher
nicht verwunderlich, dass Barcelona
in der Forderung nach einem Bruch
mit der grausamen und tödlichen
Grenzpolitik der EU und der nationalen Regierungen eine Führungsrolle unter den europäischen Städten
übernahm. Auch war es keine große Überraschung, dass die migrationspolitische Positionierung der
Stadtregierung innerhalb der politischen Rechten und in den Medien
für großen Aufruhr sorgte. In den
letzten Jahren haben diese beiden
entgegengesetzten Kämpfe über
Legitimitäts- und Gerechtigkeitsfragen die alltäglichen Bemühungen
der Stadt, die Aufnahmekapazitäten
angesichts der jährlich steigenden
Asylanträge auszuweiten, weitgehend überschattet. Während erstere Position maßgeblich zum Ruf Barcelonas als führende solidarische
Stadt beitrug, trug letztere eher zu
dessen Rufschädigung bei.
4 CIUTAT REFUGI
Als die Zahl der Geflüchteten im
Sommer 2015 auf tragische Weise
anstieg, ergriffen soziale Bewegungen und Organisationen in Barcelona entsprechende Maßnahmen.
Neue Organisationen wie die Bürgerplattform «Stop Mare Mortum»,
die sich für die Rechte von Geflüchteten und Migrant*innen einsetzt,
sowie die Seenotrettungs-NGO
«Proactiva Open Arms» wurden im
Großraum Barcelona gegründet.
Ada Colau schickte eine Mitteilung
an den spanischen Staatspräsidenten Mariano Rajoy mit der Ankündigung, Barcelona würde sich in eine
Stadt der Zuflucht transformieren
(Colau 2015). Innerhalb eines Tages
wurden daraufhin über 1.000 Nachrichten mit Erklärungen der Hilfsbereitschaft an die neu eingerichtete
E-Mail-Adresse von «Ciutat Refugi»
verschickt. Am 12. September 2015
nahm Barcelona an den europaweiten #europesayswelcome-Protesten
teil, und am 15. September veröffentlichte Ada Colau gemeinsam mit
den Bürgermeistern von Lesbos und
Paris ein Schreiben, das von vielen
spanischen Bürgermeister*innen
mitunterzeichnet wurde. Darin erklären sie:
61
«Wir, die Städte Europas, sind bereit, Orte der Zuflucht zu werden.
Wir wollen diese geflüchteten Menschen willkommen heißen.
Staaten gewähren Asylstatus, aber die Städte bieten Obdach. […]
Wir haben hierfür den Platz, die Infrastruktur und, was am wichtigsten ist, auch die Unterstützung unserer Bürger*innen. […] Das Einzige, was uns fehlt, ist staatliche Unterstützung.» (Colau u. a. 2015)
Mit dieser Willkommenshaltung seitens der Stadt boten immer mehr
Bürger*innen an, bei der Aufnahme mitzuhelfen – doch blieben die
Geflüchteten aus. Hohe Arbeitslosigkeit, eine einschneidende Wohnungsmarktkrise und Austeritätspolitik machten Spanien, fernab
von den Krisengebieten des Nahen
Ostens, zu keinem attraktiven Zielland. Erschwerend kam hinzu, dass
die spanische Regierung ihren Verpflichtungen, Geflüchtete aus Italien
und Griechenland im Rahmen des
europäischen Umverteilungsprogramms aufzunehmen, nicht nachkam. Ein Jahr nach Inkrafttreten des
EU-Beschlusses, im Oktober 2016,
hatte Spanien von den vereinbarten 17.680 nur 481 Geflüchtete aufgenommen (Suanzes 2016). Da nur
wenige Geflüchtete aus Syrien kamen, musste die soziale und kommunale Aufnahmebereitschaft neu
ausgerichtet werden. Die Stadtregierung begann, Strategien zur Anfechtung der vom spanischen Staat
auferlegten Blockade zu entwickeln,
während sich soziale Bewegungen,
NGOs und neu gebildete Nachbarschaftsinitiativen, wie die «Barris
Refugi», auf die Solidaritätsarbeit im
Ausland, insbesondere in Griechenland, konzentrierten. Landesweit
wurden in anderen Städten, die von
62
progressiven Bürgerplattformen regiert werden, nach dem Beispiel
Barcelonas ähnliche Maßnahmen
ergriffen.
Die «Abteilung für Globale Gerechtigkeit und Zusammenarbeit» der
Stadtregierung begann nach Möglichkeiten zu suchen, in Griechenland und Italien festsitzenden Geflüchteten den Weg nach Barcelona
zu erleichtern. Die Idee, hierzu eigens ein Schiff zu chartern wurde
schnell verworfen, da der Hafen Barcelonas in staatlicher Hand liegt und
die Stadt somit die Sicherheit der an
Bord befindlichen Personen nicht
gewährleisten konnte. Eine Vielzahl
an Möglichkeiten wurden geprüft,
darunter auch die Unterstützung der
Ausstellung von Visa aus humanitären Gründen und Städtekooperationen etwa mit Athen, Lesbos und
Melilla (Comas u. a. 2016). Diese Bemühungen führten im März 2016 zu
einer Vereinbarung mit Athen, der
zufolge 100 Geflüchtete aus Athen
in Barcelona aufgenommen werden sollten (La Vanguardia 2016).
In dieser Vereinbarung wurde angeprangert, dass der spanische Staat
durch die Nichteinhaltung seiner
eigenen Menschenrechtsverpflichtungen alle spanischen Staatsbürger*innen zu Mitschuldigen mache.
Wenn der Staat seiner Verantwor-
tung nicht gerecht werde, müsse
die Stadt nun gegen diese kollektive Belastung aktiv werden. Zudem
widersprach die Vereinbarung den
Behauptungen der Zentralregierung, dass Spanien nicht genügend
Kapazitäten habe, um Geflüchtete aufzunehmen. Allerdings lehnte Präsident Rajoy das Angebot mit
Verweis auf die Vorrechte des Zentralstaates in allen Fragen der Asylund Grenzpolitik ab. Auch wenn der
Deal mit Athen an der praktischen
Umsetzung scheiterte, verdeutlichte er doch, dass Spaniens Verstoß
gegen das europäische Umverteilungsprogramm eine aktive Blockade darstellte. Auch im Rahmen der
Kommunalpolitik setzte der Deal ein
starkes Zeichen, dass Städte dazu
berechtigt sind, Macht und Handlungskompetenzen vom Staat zurückzuerobern, wenn dieser seiner
Verantwortung nicht nachkommt.
Darüber hinaus brachte sich Barcelonas Regierung in eine Reihe von
Städtenetzwerken ein. Für die Initiativen waren der Aufbau eines Netzwerks von spanischen Städten der
Zuflucht (Spanish Refuge Cities),
das bald 25 Städte umfasste, sowie
des europäischen Netzwerks der solidarischen Städte im Rahmen des
Eurocities-Netzwerks 3 ein zentrales Anliegen. Der Leiter des «Ciutat
Refugi»-Programms, Ignasi Calbó,
erzählte mir, dass beide Netzwerke
wichtigen technischen Austausch
und gegenseitige Besuche förderten, während das Eurocities-Netzwerk insbesondere im Bereich der
Lobbyarbeit über mehr Ressourcen
und Einfluss verfügte. Die Städte-
netzwerke und das bilaterale Abkommen mit Athen bekräftigen die
Bedeutung von interkommunaler
Diplomatie, die über die hierarchische nationalstaatliche Logik, die internationale Beziehungen zwischen
öffentlichen Einrichtungen auf die
Interaktion zwischen Zentralstaat
und den jeweiligen Stadtregierungen reduziert, hinausgeht.
Für das kleine Team des in Barcelonas Stadtverwaltung angesiedelten «Ciutat Refugi»-Büros war das
zur Aufnahme der neu Angekommenen geleistete Arbeitspensum
schier überwältigend. Auch wenn
nur wenige Syrer*innen ankamen,
so sind die Zahlen der in Barcelona
gestellten Asylanträge in den letzten
Jahren massiv angestiegen und stehen in keinem Verhältnis zu den vorhandenen Fördermitteln. Die Anzahl
der Neuankünfte, die von SAIER
(Servicio de Atención a Inmigrantes, Emigrantes y Refugiados), Barcelonas Erstaufnahmedienst für
Migrant*innen und Geflüchtete, betreut werden, sind zwischen 2012
und 2018 erheblich gestiegen: von
etwa 300 auf 7.500 Personen (Ayuntamiento de Barcelona 2016;
2018d). Die meisten dieser Personen stammen aus Venezuela, Georgien und der Ukraine. Die Anzahl der
Asylanträge hat die Bearbeitungszeiten drastisch erhöht, wobei die
Mehrzahl der Anträge abgelehnt
wurde. In absoluten Zahlen und im
Vergleich zu Städten in Italien und
Griechenland sind diese Zahlen
moderat, doch angesichts des Ver3 Vgl. https://solidaritycities.eu/about.
63
säumnisses des spanischen Staates, die nötigen Mittel bereitzustellen, ist der Druck auf kommunale
Infrastrukturen, die für die Aufnahme und Integration zuständig sind,
erheblich. Zudem hat sich die Anzahl von Migrant*innen, die über die
Straße von Gibraltar nach Spanien
kommen, seit 2015 etwa verzehnfacht (UNHCR 2019; Alarm Phone
2018).
Das spanische Asylsystem ist
grundsätzlich äußerst dysfunktional. Hochgradig zentralisierte Planungs- und Regulierungsmechanismen treffen hier auf eine extrem
dezentralisierte Implementierung
durch NGOs, Wohltätigkeitsorganisationen und Stadtverwaltungen,
wobei es an jeglicher Form von Koordinierung oder zuverlässigen Informationskanälen fehlt. Die Zentralregierung erteilt den Städten
zudem keine Vorankündigung, ob
und wann Geflüchtete dorthin geschickt werden. Unterdessen führen
die hohen Ablehnungsquoten kontinuierlich zu Obdachlosigkeit, Armut
und Irregularität, und die damit einhergehenden Formen der Ausgrenzung und Hyperausbeutung bieten
den Nährboden für Xenophobie,
Rassismus und Klassismus. Um diesen Problemen entgegenzuwirken,
hat die Stadt zahlreiche Initiativen
gestartet, von denen an dieser Stelle
nur einige erwähnt werden können.
Das im April 2016 gestartete kommunale «Nausica»-Programm bietet eine Vielzahl an Dienstleistungen
für Asylbewerber*innen oder -empfänger*innen, die vom begrenzten
staatlichen Aufnahme- und Inte64
grationsprogramm ausgeschlossen
sind. Hierzu gehören unter anderem
Hilfeleistungen bei der Wohnungssuche, Rechtsberatung sowie Jobund Sprachtrainings (Barcelona
Ciutat Refugi 2018). Das Programm
wurde gemeinsam von einer Reihe
von NGOs, zivilgesellschaftlichen
Gruppen und kommunalen Institutionen entwickelt. Eine umfangreiche
unabhängige Evaluierung (Ayuntamiento de Barcelona 2018b) zeigte,
dass das Programm Erfolge in der
Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Autonomie sowie der
Spanischkenntnisse der Programmteilnehmer*innen erzielen konnte.
Der ganzheitliche Ansatz erkennt
die Teilnehmer*innen als vollwertige
Individuen mit zusammenhängenden Bedürfnissen an und ermöglicht
koordiniertes Handeln der verschiedenen beteiligten kommunalen Einrichtungen und NGOs. Der Fokus
auf soziale Autonomie sig nalisiert
eine wichtige Abkehr von einem
rein ökonomisch gedachten Autonomiekonzept sowie eine Wertschätzung der Beteiligung an Gruppen- und Gemeinschaftsaktivitäten,
Freundschaftsnetzwerken und der
Fähigkeit der Teilnehmer*innen, ohne professionelle Anleitung auf das
Dienstleistungsangebot der Stadt
(Gesundheitswesen, Bibliotheken,
Gemeindezentren usw.) zuzugreifen. Allerdings bleibt das Programm
unterfinanziert und erreicht nur einen Bruchteil der Bedürftigen.
Seit 2017 bietet das sogenannte
Nachbarschaftsdokument (documento de vecindad) Menschen, die
sich in aufenthaltsrechtlicher Irre-
gularität befinden, Unterstützung
beim Nachweis ihres Zugehörigkeits- und Integrationsstatus in Barcelona. Dieses Dokument kann im
Falle einer möglichen Inhaftierung
oder Abschiebung als Beweismittel
herangezogen und von den jeweils
zuständigen Richtern und Gerichten
berücksichtigt werden. Interviews
mit Fachleuten der Abteilung für die
Aufnahme und Versorgung von Geflüchteten (Dirección de Atención y
Acogida a Inmigrantes) der Stadtverwaltung zufolge bescheinigt dieses Dokument die Zugehörigkeit
einer Person zur Stadt (Legal Team
2019; Ayuntamiento de Barcelona
2018c). Obwohl das Dokument auf
kommunaler Ebene als rechtmäßig
gilt, ist es für den spanischen Staat
nicht rechtsverbindlich, sodass dessen Anerkennung nach wie vor im
Ermessen der jeweiligen Einwanderungsbehörde liegt (Esbert-Pérez
2017). Darüber hinaus hat eine Reihe von kommunal geförderten Ausstellungen in städtischen Kultureinrichtungen und auf öffentlichen
Plätzen die Aufmerksamkeit auf die
Notlage von Migrant*innen gelenkt.
Ein Beispiel ist die Auflistung von
35.597 dokumentierten Todesfällen
im Mittelmeer in der stark frequentierten U-Bahn-Station Paseig de
Gracia.
Auch wenn die anfängliche Symbolkraft inzwischen nachgelassen
hat, ist Barcelona dennoch zu einer Stadt der Zuflucht geworden.
Gloria Rendón, Direktorin des SAIER und des «Nausica»-Programms,
fasste diese Entwicklung wie folgt
zusammen: «Als der Plan für ‹Bar-
celona Ciutat Refugi› entwickelt
wurde, war die Wirkung in der Stadt
eher medial als in der Praxis spürbar.
Jetzt gibt es eine konkrete Wirkung,
aber weniger mediale Aufmerksamkeit» (Barcelona Ciutat Refugi 2017).
Die Unterstützung von sozialen und
zivilgesellschaftlichen Initiativen
hat aber auch nicht an Priorität verloren. 2017 unterstützte Ada Colau
die Mobilisierung sozialer Bewegungen für die «Unser Heim ist euer Heim»-Kampagne (Casa nostra,
casa vostra), deren Höhepunkt eine
Demonstration mit 160.000 Teilnehmer*innen war. Im selben Jahr unterstützte die Stadt mit 100.000 Euro die Seenotrettungsmissionen
der Organisation «ProActiva Open
Arms» und mit 60.000 Euro «Stop
Mare Mortum» und versicherte
beiden Organisationen politische
Unterstützung. Wie Ada Colau bekräftigte: «Wer [diese Organisationen] attackiert, greift auch die Stadt
Barcelona an, und wir werden alles
Nötige tun, um ihre Arbeit zu schützen.» (Espanyol 2018)
Diese Botschaft der Angstlosigkeit hat sowohl international wie
auch unter den Bewohner*innen
Barcelonas zweifellos eine große
Rolle gespielt. Die zur Verfügung
stehenden Ressourcen und Kompetenzen reichen jedoch nach wie
vor nicht aus, damit die konkreten
städtischen Initiativen wirklich effektiv und universell sein können.
Städtevertreter*innen klagen über
unzureichende Unterstützung vom
spanischen Staat und über EU-Fördergelder, die nie auf kommunaler
Ebene ankommen. Darüber hinaus
65
bleibt die Wirksamkeit des «Documento de vecindad» – das wichtigste Instrument der Stadt, um undokumentierte Einwohner*innen vor
polizeilicher Schikane und Abschiebung zu schützen – weiterhin unklar. Während die Stadt auf der einen Seite von den Medien und der
Opposition wegen der unzureichenden polizeilichen Überwachung von
Migrant*innen kritisiert wurde, hat
ein großer Teil der migrantischen,
antirassistischen und dekolonialen
Bewegung in Barcelona sie andererseits der Heuchelei beschuldigt,
da die großen Gesten der Solidarität
mit Geflüchteten im Widerspruch
zur anhaltenden Repression von
Migrant*innen auf den Straßen Barcelonas stehen.
5 DIE GEWERKSCHAFT DER STRASSENHÄNDLER*INNEN (MANTEROS)
BComú übernahm mit dem Amtsantritt auch die formale Kontrolle des
kommunalen Polizeiapparates (Guardia Urbana). Unverzüglich reichte der amtierende Polizeipräsident
unter Berufung auf die vermeintlich
polizeifeindliche Einstellung von
BComú seine Rücktrittserklärung
ein (Navarro 2015). Mit der Lockerung der polizeilichen Kontrolle der
Armen ließ auch die Schikane der
Straßenverkäufer*innen (manteros)
nach, und ihre Präsenz im öffentlichen Raum nahm zu. Es dauerte
nicht lange, bis die Mainstream-Medien gemeinsam mit dem Einzelhandelsverband den moralischen Zeigefinger erhoben und den Verkauf
von gefälschten Nike-Schuhen und
anderen illegalen Waren auf den
Straßen Barcelonas anprangerten.
Mit Ada Colau als Bürgermeisterin
gelangten die bislang als unwichtig erachteten Überlebensstrategien der Armen plötzlich auf die Titelseite der Zeitungen, und Bedenken
hinsichtlich der Verletzung geistigen
Eigentums, unfairen Wettbewerbs,
66
der öffentlichen Ordnung und des
Ansehens Barcelonas in der Welt
wurden laut. So kritisierte die spanische Tageszeitung La Vanguardia,
die überfüllten Straßen seien eine
Gefahr für die öffentliche Sicherheit
(die immensen Touristenströme wurden nicht problematisiert). Die Kampagne wurde im Verlauf des Sommers 2015 intensiv vorangetrieben.
Im August desselben Jahres stürzte
der mantero Mor Sylla während einer Polizeirazzia in einer Ortschaft bei
Barcelona und starb an seinen Verletzungen. Kein*e Polizist*in wurde
für seinen Tod zur Rechenschaft gezogen und der Vorfall führte zu Demonstrationen (Rovira 2015).
Unter diesen angespannten Bedingungen trafen sich die manteros im
«Espacio del Inmigrante», wo sie
die Gewerkschaft der Straßenhändler*innen gründeten (Sindicato Popular de Vendedores Ambulantes).
Die Idee für eine solche Gewerkschaft entstand bei Gesprächen mit
den dortigen Aktivist*innen und wurde bald von der neu entstandenen
«Tras la Manta»-Initiative unterstützt,
die von Veteranen der 15M-Bewegung und des Kampfes gegen das
Abschiebelager gegründet wur-
de. Eine Person im «Espacio del Inmigrante» beschrieb die politischen
Auswirkungen der Gewerkschaftsgründung wie folgt:
«[Die manteros] waren im wahrsten Sinne des Wortes ein politischer
Akteur, und ihre Selbstorganisation war ein natürliches Produkt des
Antagonismus, den sie ohnehin schon im Alltag praktizierten – in
den von ihnen geschaffenen Selbsthilfe- und Solidaritätsnetzwerken, um tagtäglich in einem System zurechtzukommen, das ihre
bloße Existenz kriminalisiert. Hierdurch wurden sie jedoch zum öffentlichen politischen Akteur – durch die Gewerkschaft.» (Interview
durch den Autor)
Die Gewerkschaft der Straßenhändler*innen wurde gegründet, um den
Gerüchten und rassistischen Stereotypen entgegenzuwirken, die ihre Arbeit begleiten, und um eine Verhandlungsbasis mit den örtlichen
Behörden und der Polizei zu schaffen. Ihre zentrale Botschaft lautete
«Überleben ist keine Straftat» und
sie forderten, die Menschenwürde
über geistige Eigentumsrechte zu
stellen. Bald begann die Gewerkschaft, mit der Unterstützung von
«Tras la Manta» und «Espacio del Inmigrante» sogenannte rebellische
Flohmärkte zu organisieren (Espinosa Zepelda 2017). Hier wurde die
Trennung der schwarzen Straßenhändler*innen von der allgemeinen
Bevölkerung aufgehoben, was ihre
polizeiliche Kontrolle erschwerte.
Das Bündnis organisierte auch Demonstrationen, die die Kämpfe der
manteros mit jenen anderer Gruppen verbanden: «Wir sind gekommen, weil spanische und europäische Schleppnetzfischer die Fische
von der Küste Westafrikas wegfischen und uns Arbeit und Nah-
rungsmittel nehmen. Wir versuchen
nur, uns über Wasser zu halten, so
wir ihr es auch tut, und so wie ihr
wurden wir von den Reichen verarscht» (Gespräch mit einem mantero 2017, nach der Erinnerung zitiert; siehe auch Siberia TV 2015).
Unterdessen wurden die Angriffe auf BComú von der Presse, dem
Einzelhandelsverband und der Polizeigewerkschaft verschärft. Diese
Strategie ist keineswegs neu – sie
wurde schon 2004 gegen die damals amtierende linke Regierung
angewendet, die dazu genötigt wurde, den «Civismo-Code» einzuführen, der die Art und Weise, wie Arme den öffentlichen Raum nutzen,
kriminalisiert (Alkoholkonsum im
öffentlichen Raum, Herumlungern,
Straßenverkauf, Betteln usw.). Zeitgleich mit der Gründung von «Ciutat
Refugi» im September 2015 stellte
die Opposition (mit Ausnahme der
linken CUP-Partei) einen Misstrauensantrag aufgrund von Ada Colaus
«Unfähigkeit, mit den manteros fertigzuwerden» (Blanchar 2015). Die
unmittelbare Reaktion des stellver67
tretenden Bürgermeisters Geraldo
Pisarello – zu dieser Zeit die einzige
nicht-weiße Person im Rathaus –
war entschieden. Er nannte den Ansatz der Opposition «rassistisch und
klassistisch» und ihre Kritik «zynisch
und demagogisch», hatten sie während ihrer eigenen Amtszeit die Problematik doch selbst nicht in den
Griff bekommen (ebd.). Der darauffolgende Aufschrei in den Medien
zwang Pisarello dazu, seine Aussagen zurückzuziehen, mit Ausnahme
des impliziten Bekenntnisses, dass
es hier ein Problem gäbe. BComú
war in die Defensive gedrängt worden.
Die Bemühungen der Stadt, in Gesprächen mit Polizei und Unternehmensverbänden Anerkennung für
die Gewerkschaft der Straßenhändler*innen zu schaffen, scheiterte,
weil diese die Legitimität der Gewerkschaft abstritten. Während die
Bemühungen um den Aufbau der
«Ciutat Refugi» intensiviert wurden,
begann die Stadtverwaltung, sich
dem Druck zu beugen. Angesichts
der überwältigenden Macht der Medien, der Opposition und der Verbände von fest entschlossenen Ladenbesitzer*innen griff BComú auf
ihren eigenen Diskurs zurück, der
als Teil ihres Kampfes um Hegemonie entwickelt worden war: Ziel sei
es, «für alle zu regieren», nicht nur
für spezifische Interessengruppen –
und wie immer schließt die Standarddefinition von «alle» vor allem
Bürger*innen und Wähler*innen
ein.
Die Stadtregierung befand sich auf
einem schmalen Grat. Wie Pisarello
68
der bewegungsnahen Zeitung Diagonal erklärte, war die Stadt noch
immer entschlossen, «den Ansatz
der Kriminalisierung und der polizeilichen Kontrolle des Straßenverkaufs zu umgehen und sich dafür
einzusetzen, dass die Menschen,
die Straßenhandel betreiben, Nachbar*innen sind, deren Grundrechte anerkannt werden müssen»
(Fernández Redondo 2016). Nichtsdestotrotz arbeitete die Stadtregierung daran, «Ordnung in den öffentlichen Raum zu bringen, um zu
verhindern, dass Einzelhändler*innen in eine rechtspopulistische Koalition gegen die manteros gezogen
werden» (ebd.). Dieser Versuch gipfelte im Sommer 2016 in einer stadtweiten Kampagne, die zu einem respektvollen Zusammenleben aufrief
und unter anderem Tourist*innen
und Einwohner*innen davon abriet,
die Waren der manteros zu kaufen.
Die Kampagne wurde von verstärkten Polizeikontrollen an öffentlichen
Plätzen begleitet.
Die Gewerkschaft der Straßenhändler*innen wies darauf hin, dass diese
Maßnahmen ihre Überlebensstrategien und Existenzen kriminalisierten
und delegitimierten. Die Kritik aus
den antirassistischen und dekolonialen Bewegungen war kompromisslos und voller Misstrauen gegenüber den Absichten und dem
Diskurs der Stadt. «Ciutat Refugi»
wurde als inhaltslose Farce und «beschissene Heuchelei» angeprangert. In einer Videobotschaft gegen
die Stadtverwaltung beschrieb Mohamed, ein syrischer Palästinenser,
«Ciutat Refugi» als einen «boost für
das Selbstwertgefühl der Mittelschicht, als ob sie etwas in dieser
Krise unternehmen würden», während Daouda aus Senegal feststellte, dass «sie nicht verstehen, was
wir durchmachen, weil sie es nicht
wissen und nicht wissen wollen»
(Alsharqawi/Almodóvar 2016). Die
Gewerkschaft der Straßenhändler*innen, die ein Eigeninteresse an
den Verhandlungen mit der Stadt
und an freundschaftlichen Beziehungen zu BComú besaß, verfolgte
einen weniger abweisenden Ansatz.
Das Ergebnis dieser Verhandlungen
war schließlich die Gründung einer städtisch geförderten Kooperative von manteros, der DiomCoop,
im Jahr 2017 sowie die Etablierung
von Verkaufspunkten für manteros
bei Stadtfesten und Märkten (López
2017). Dennoch bietet die Kooperative nur 40 Arbeitsplätze für 300
bis 400 Straßenhändler*innen, und
zwar nur denjenigen mit Zugang
zu einer Arbeitserlaubnis, das heißt
jenen, die für ihre kriminalisierten
Überlebensstrategien noch keinen
Eintrag ins Strafregister bekommen
haben.
Den informellen Straßenverkauf
gibt es auch heute noch, er wird nur
an den geschäftigsten zentralen Orten polizeilich verhindert. Proteste
gegen polizeiliche Repression und
Gewalt bestehen weiterhin, nicht
zuletzt in Form der Großdemonstration anlässlich Mame Mbayes
Tod, der nach einer Verfolgungsjagd
durch die Polizei in Madrid starb
(Faye 2018). Die Zugeständnisse
von BComú konnten die politische
Opposition letztlich nicht zufrieden-
stellen und die Frage der manteros
nicht entpolitisieren. Sie haben sogar dazu beigetragen, ihre eigenen
Bemühungen zur Schaffung eines
Diskurses, der den Straßenverkauf
als komplexe, strukturelle Frage und
eine des Überlebens, der Arbeit und
der politischen Vertretung illegalisierter Migrant*innen anerkennt, zu
schwächen. Die Situation von Menschen mit prekärem und irregulärem Rechtsstatus bleibt dabei bestehen und spitzt sich Jahr für Jahr
zu, während BComú auf Legalisierungsansätze (z. B. durch Kooperativen, Arbeitserlaubnisse) setzt. Im
Vorfeld der Kommunalwahlen 2019
fokussiert die Organisation allerdings zunehmend auf polizeiliche
Maßnahmen gegen den Straßenhandel.4
Aktuell dient die Frage des Straßenhandels der politischen Rechten weiterhin als Keil, mit dem sie
versucht, die Bewohner*innen der
Stadt zu entzweien, Rivalitäten und
Misstrauen auf der Basis ethnischer
Zuschreibungen zu säen und damit das städtische Zusammenleben (convivencia), die Unterstützung von universellen Rechten und
die Konditionen der sozialen und
Klassensolidarität zu untergraben.
In diesem Sinne ist Solidarität mit
4 Anfang 2019 wurden im Pressespiegel von BComú
zwei Artikel zum Straßenhandel verbreitet. Ein Artikel
beschäftigt sich mit der Forderung des kommunalen
Sicherheitsbeauftragten, die Polizei solle Straßenhändler*innen in einer zentralen Metrostation räumen und
Strafanzeigen aufgrund des Verkaufs von gefälschten
Waren stellen (El Periódico 2019). Ein weiterer Artikel
titelt, die Stadtverwaltung wolle den Straßenhandel beseitigen (Betevé 2019). Diese Schlagzeilen entsprechen
zwar nicht den Positionen von BComú, allerdings beinhaltet der Pressespiegel in der Regel nur Darstellungen,
die die Plattform unterstützt.
69
Migrant*innen nicht nur eine Frage
der moralischen Verantwortung gegenüber unseren schutzbedürftigen
Mitbürger*innen, sondern auch eine
Frage strategischer Notwendigkeit
auf allen Ebenen.
6 LEKTIONEN UND ERFINDUNGEN DER ZUKUNFT
Die von «Barcelona en Comú» gewonnenen Erfahrungen und durchgeführten Experimente legen nahe,
dass progressive Städte und Parteien dann an Boden gewinnen, wenn
sie solidarische und emanzipatorische Bewegungen der Gesellschaft
erweitern und ausbauen, und Rückschläge erzielen, wenn sie nur den
vorherrschenden, durch Massenmedien und Mechanismen der Ausgrenzung geformten Alltagsverstand
der Bürger*innen repräsentieren.
BComú konnte dort am wirkungsvollsten agieren, wo es ihnen gelang,
auf gesellschaftlichen Kräften aufzubauen, die es vermögen, Subjektivitäten neu zu gestalten und den vorherrschenden Alltagsverstand durch
in politischen Auseinandersetzungen
erlerntes Wissen zu transformieren.
Aktuell ist vieles in Bewegung. Mehr
Geflüchtete und Migrant*innen erreichen Barcelona. Die extreme Rechte in Spanien hat eine unabhängige
Wahlplattform, «Vox», gegründet.
Obwohl diese in Barcelona kaum
Chancen auf Mandate bei den Kommunalwahlen im Mai 2019 haben
wird, beeinflusst sie die politischen
Dynamiken in der Stadt. Vor diesem
Hintergrund lohnt ein Blick auf die
Erkenntnisse der letzten Jahre.
«Ciutat Refugi» hat nur wenigen der
syrischen Geflüchteten, für deren
Aufnahme es ursprünglich gegrün70
det worden war, geholfen. Noch
konnte der spanische Staat nicht
dazu gebracht werden, seinen Verpflichtungen nachzukommen: Im
Oktober 2018 hatte Spanien nur
16,7 Prozent der Geflüchteten aufgenommen, zu deren Umsiedlung
es sich 2018 verpflichtet hatte. Das
ist ein Bruchteil der syrischen Geflüchteten in Europa und noch weniger im Vergleich zu jenen Syrer*innen, die in der Türkei, im Libanon
und in Jordanien feststecken (La
Vanguardia 2018). Allerdings können berechtigte Forderungen nicht
nur danach beurteilt werden, ob
sie auch tatsächlich in der Praxis
erreicht wurden. Die entschlossene und kompromisslose Willkommenshaltung der Stadtregierung
ermutigte lokale Aktivist*innen und
baute auf einem Moment der allgemeinen Empathie auf. Dadurch
konnte ein öffentlicher Diskurs
eingeleitet werden, der über den
apolitischen Humanitarismus hinausging, der angesichts der europaweiten migrationsfeindlichen
Stimmung gescheitert ist. Über den
Versuch hinaus, eine Willkommenskultur in der Stadt zu etablieren und
Druck auf den Zentralstaat auszuüben, muss «Ciutat Refugi» als europaweite Kampagne gegen ein Klima
der Angst und der Abschottung interpretiert werden. Diese Kampagne
half, einen Gegendiskurs und neue
Netzwerke der Solidarität und der
Kooperation zwischen verschiedenen Orten, Bewegungen und Institutionen europaweit zu entwickeln.
Auf zentralstaatlicher Ebene sind
die direkten Auswirkungen der
Kampagne weniger klar: In vielerlei Hinsicht wurden die antirassistischen Forderungen der Städte von
den Auseinandersetzungen um
die katalanische Unabhängigkeit
überschattet (Hansen 2017). Auf
kommunaler Ebene, wo Asyl- und
Migrationsfragen immer konkreter
und dringlicher werden, ist die Situation unübersichtlich und voller
Herausforderungen. Dennoch nehmen fremdenfeindliche Reaktionen
in Barcelona dank der Bewegung
für Migrantenrechte und «Ciutat Refugi» sowie der allgemeinen Erfahrungen der Solidarität, die für das
Nachbarschafts-, Kollektiv- und Vereinsleben in Barcelona charakteristisch sind, deutlich weniger Raum
ein als in Städten, die von Konkurrenz und Misstrauen gekennzeichnet sind. Dies zeigte sich auch in der
gefassten und nicht-islamfeindlichen Reaktion auf die Anschläge in
Barcelona im Jahr 2017.
Die Symbolkraft Barcelonas als
Stadt der Zuflucht ist groß, aber prekär. Die Gründung und internationale Ausrichtung von «Ciutat Refugi» zeigt, dass Städte auch breitere
ideologische Kämpfe zur Wahrung
von Menschenrechten und Solidarität mit Geflüchteten erfolgreich
führen können, auch bei Fragen,
die über ihre formalen Zuständigkeiten und rechtlichen Kompeten-
zen hinausgehen. Der Fall der manteros zeigt zugleich, wie schwierig
und kontraproduktiv es sein kann,
sich taktisch aus breiteren Gerechtigkeitskämpfen zurückzuziehen.
Grenzen durchziehen die Stadt,
und die Institution der nationalen
Staatsbürgerschaft entzweit ihre
Bewohner*innen. Im Allgemeinverständnis der repräsentativen
Politik werden nur wahlberechtigte Bürger*innen als politische Akteur*innen und Träger*innen politischer Legitimität berücksichtigt,
während Migrant*innen kaum politische Handlungsspielräume zur
Verfügung stehen. Sie sind entweder gute Opfer oder böse Eindringlinge, Geflüchtete oder Wirtschaftsmigrant*innen. Der Alltagsverstand
betrachtet die Repression irregulärer Überlebensstrategien zudem als
«öffentliche Ordnung» und somit als
zentrale Aufgabe der Verwaltung.
BComú hat ursprünglich dafür gekämpft, dieses Allgemeinverständnis zu überwinden – mit dessen impliziter Übernahme wurde wenig
gewonnen. Migrant*innen ohne
Arbeitserlaubnis müssen trotzdem
überleben, und die Repression einer
Überlebensstrategie wie des Straßenhandels zwingt sie unweigerlich dazu, andere irreguläre oder illegale Praktiken aufzunehmen. Die
Stadtverwaltungen haben kaum
Möglichkeiten zur Legalisierung
und Ausweitung der Rechte von Illegalisierten, während der öffentliche Druck, sie zu kontrollieren,
nicht nachlässt. Wenn Städte anerkennen, dass Irregularität als Phänomen nicht verschwinden, son71
dern von nationalen Grenzen und
Staatsbürgerschaft immer wieder
reproduziert wird, stehen sie vor der
Wahl: Akzeptieren sie die Teilung
der Bevölkerung durch den Staat,
oder arbeiten sie daran, das nationale Recht zu ändern? Versuchen sie,
Irregularität durch polizeiliche Maßnahmen zu unterdrücken, oder finden sie Wege, in den Städten Raum
für Irregularität zu schaffen?
Hinsichtlich des Straßenverkaufs
könnten solidarische Städte eine
altbewährte neoliberale Strategie
nutzen: Dereguliere deine Freunde
und reguliere deine Feinde. Für die
Neoliberalen bedeutete dies Deregulierung und Subventionierung
von Kapital durch Outsourcing und
Privatisierung, andererseits etwa die
verstärkte Regulierung von Gewerkschaften und Kontrolle von Arbeiter*innen, Arbeitslosen, Migrant*innen und Nicht-Migrant*innen. So
wurde der Einfluss des Kapitals erhöht und damit der Einfluss neoliberaler Regierungen gestärkt.
Die Stadt Barcelona subventioniert
die Armen de facto bereits auf irreguläre Weise durch die Ausweitung
des Zugangs zu vielen Sozialdiensten, wo de jure Rechte nicht gewährt
werden können. Die neoliberale
Strategie umzukehren in Richtung
einer Deregulierung der Armen hieße also nicht, sie aufzugeben, sondern Räume zu schaffen für Formen
der Selbstorganisation, individuell
72
und kollektiv, in denen Menschen
Grundlagen für Stabilität und Solidarität entwickeln. Dies würde bedeuten, ihren Forderungen nach
Deregulierung und Entkriminalisierung – zum Beispiel bei der Nutzung
des öffentlichen Raums – Gehör zu
schenken, und somit ihre politische
Handlungsfähigkeit und Selbstorganisation unabhängig von ihrer nationalen Staatsbürgerschaft anzuerkennen im Sinne des Konzepts der
«Urban Citizenship» (Isin/Siemiatycki 1999; Hansen/Zechner 2016).
Allgemeiner sollten wir die Frage stellen, ob wir «Integration» als
wechselseitige Integration von Formen der Solidarität und gegenseitiger Hilfe neu denken können. Dann
geht es nicht mehr nur darum, Geflüchteten und Migrant*innen zu
helfen, sondern darum, ihre Formen des Mutualismus mit lokalen
Formen der Solidarität wie Gewerkschaften, Kooperativen und Commons zu verbinden. Was, in anderen Worten, geschieht, wenn wir
aufhören, über die Solidarität mit
Geflüchteten und Migrant*innen
als eine ausschließlich moralische
und humanitäre Frage zu sprechen,
sondern beginnen, darüber als Frage von Strategie, Organisation und
Wandel nachzudenken?
Aus dem Englischen übersetzt von
Joanna Mitchell, lektoriert von Cornelia Gritzner für LinguaTransFair.
LITERATUR
Alarm Phone (2018): Und wir bewegen uns doch – 2018, ein umkämpftes Jahr, 28.12.2018, unter: https://
alarmphone.org/de/2018/12/28/
und-wir-bewegen-uns-doch-2018ein-umkaempftes-jahr/.
Alsharqawi, M/Almodóvar, M.
(2016): Barcelona, Ciutat Refugi?,
unter: www.youtube.com/watch?v=G_y6reeT4Ck.
Ayuntamiento de Barcelona
(2018c):Document de veïnatge,
unter: http://legalteam.es/lt/
wp-content/uploads/2018/02/
Folleto-informativo-sobre-eldocumento-de-vecindad-Barcelona-Legalteam.pdf.
Ayuntamiento de Barcelona
(2018d): Informe Qualitatiu SAIER –
Refugi, Oktober 2018.
Antirumores (2019): Antirumour
strategy for the prevention of
racism, unter: www.antirumores.
com/eng/project.html.
Barcelona Ciutat Refugi (2017):
En Barcelona atendemos a once
perfiles de refugiados diferentes,
unter: https://ajuntament.barcelona.
cat/turisme/es/noticia/en-barcelona-atendemos-once-perfiles-derefugiados-diferentes_537361.
Ayuntamiento de Barcelona
(2016): Informe de govern: Balanç
del primer any «Barcelona, Ciutat
Refugi», unter: https://mediaedg.barcelona.cat/wp-content/
uploads/2016/11/InformeGovern
1anyBCNCiutatRefugi.pdf.
Barcelona Ciutat Refugi (2018):
An appraisal of Nausica, the municipal reception programme, unter:
http://ciutatrefugi.barcelona/en/
noticia/infobarcelonaenan-appraisal-of-nausica-the-municipal-reception-programme_727110.
Ayuntamiento de Barcelona
(2018a): La població estrangera a
Barcelona – La població de Barcelona nascuda a l’estranger, Gener
2018, Departament d’Estadística i
Difusió de Dades, unter: www.bcn.
cat/estadistica/catala/dades/inf/
pobest/pobest18/pobest18.pdf.
Barcelona en Comú (2015a): Eje
Migraciones, unter: https://barcelonaencomu.cat/sites/default/files/
pdf/02_migraciones-cast.pdf.
Ayuntamiento de Barcelona
(2018b): Informe de govern:
Avalucació del programa Nausica,
14.9.2018, unter: https://mediaedg.barcelona.cat/wp-content/
uploads/2018/10/08114136/
Informe-de-Govern-Nausica-.pdf.
Barcelona en Comú (2015b): Programa electoral – municipales 2015,
unter: https://barcelonaencomu.
cat/sites/default/files/programaencomun_cast.pdf.
73
Betevé (2019), L’Ajuntament aposta per un acord de país per erradicar la venda a la manta, 29.1.2019,
unter: https://s3-eu-west-1.amazonaws.com/kmplus-account-files/
743137/2019/1/29/XaZFMZimNE
O2LByI6Bs5g.mp4.
El Periódico (2019), Barcelona pide
un operativo permanente contra el
top manta en la plaza Catalunya,
9.1.2019, unter: www.elperiodico.
com/es/barcelona/20190109/
top-manta-plaza-de-catalunya7236342.
Blanchar, Clara (2015): L’oposició denuncia la «ineficàcia» de
Colau amb els manters, in: El
País, 14.9.2015, unter: https://cat.
elpais.com/cat/2015/09/14/catalunya/1442227501_098635.html.
Esbert-Pérez, Jara (2017): La
gestión de la irregularidad administrativa a nivel local: El Documento de
Vecinidad del Ayuntamiento de Barcelona, MA-Arbeit, Universitat de
Barcelona y Universidad Autonoma
de Barcelona.
Cities of Migration (2018): From
Barcelona to Toronto: Myth-busting and migration, unter: http://
citiesofmigration.ca/ezine_stories/
from-barcelona-to-toronto-mythbusting-and-migration/.
Colau, Ada (2015): Carta a Rajoy,
Ajuntament de Barcelona, 5.9.2015,
unter: http://ajuntament.barcelona.
cat/alcaldessa/ca/blog/carta-rajoy.
Colau, Ada/Hidalgo, Anne/Galinos,
Spyros (2015): We, Cities of
Europe, 17.9.2015, unter: https://
ajuntament.barcelona.cat/alcaldessa/en/blog/we-cities-europe.
Comas/Hansen/Salvini/Zechner
(2016): Construyendo Rutas Seguras – Propuestas de reubicación,
visados humanitarios y acogida
integral para personas refugiadas,
desde el ámbito municipal, Asociación Ália, hrsg. von der Serveis de
Justícia Global i Cooperació Internacional, Ayuntament de Barcelona.
74
Espanyol, M. (2018): Open Arms y
Save the Children tendrán la protección de Barcelona en el Mediterráneo, in: La Razon, 17.2.2018, unter:
www.larazon.es/local/cataluna/
open-arms-y-save-the-childrentendran-la-proteccion-de-barcelona-en-el-mediterraneo-FA17713688.
Espinosa Zepelda, Horacio (2017):
El mercadillo rebelde de Barcelona.
Prácticas antidisciplinarias en la
ciudad mercancía, in: Quaderns-e
de l’Institut Català d’Antropologia,
1/2017.
Faye, Azis (2018): Sindicato Mantero Bcn en memoria de Mame
Mbaye, Trans La Manta, unter:
www.youtube.com/watch?v=
rnmNnloyEJ0.
Fernández Redondo, Rebeca
(2016): Colau y los manteros: un
año de conflicto, in: Diagonal,
unter: www.diagonalperiodico.net/
global/31015-manteros-se-enfrentan-Marca-Barcelona.html.
Geddis, Paul (2013): Los últimos días de Cal África, in: Vice,
4.12.2013, unter: www.vice.com/
es/article/bn4zbw/los-ultimosdias-de-cal-africa.
García Agustín, Óscar/Jørgensen,
Martin Bak (2019): Institutional
Solidarity: Barcelona as a Refuge
City, in: Solidarity and the «Refugee
Crisis» in Europe, S. 97–117.
Hansen, Bue Rübner (2017):
Winter in Catalonia, in: Viewpoint
Magazine, 17.12.2017, unter: www.
viewpointmag.com/2017/12/19/
winter-in-catalonia/.
Hansen, Bue Rübner/Zechner,
Manuela (2016): More Than a
Welcome: The Power of Cities, in:
OpenDemocracy, 7.4.2016, unter:
www.opendemocracy.net/caneurope-make-it/manuela-zechnerbue-r-bner-hansen/more-thanwelcome-power-of-cities.
Isin, Engin F./Siemiatycki, Myer
(1999): Fate and Faith: Claiming
Urban Citizenship in Immigrant
Toronto, Joint Centre of Excellence
for Research on Immigration and
Settlement – Toronto, Working
Paper 8, unter: www.urbanlab.
org/articles/Faith%20and%20
Urban%20Citizenship.pdf.
La Vanguardia (2016): Colau
preacuerda con Atenas acoger
a 100 refugiados y pide a Rajoy
que lo autorice, in: La Vanguardia, 16.3.2016, verfügbar unter:
www.lavanguardia.com/local/barcelona/20160316/40472621995/
colau-refugiados-resiliencia-atenas-tiassale.html.
La Vanguardia (2018): España
tiene pendiente acoger al 80%
de los refugiados que se comprometió a recibir, in: La Vanguardia, 11.11.2018, unter:
www.lavanguardia.com/politica/20181111/452848222139/
espana-acoger-refugiados-comprometio-recibir.html.
Legal Team (2019): ¿Qué es el
documento de vecindad para los
inmigrantes en Barcelona?, unter:
http://legalteam.es/lt/que-es-eldocumento-de-vecindad-paralos-inmigrantes-en-barcelona.
López, Helena (2017): La cooperativa de manteros empieza a andar,
in: El Periódico, 23.3.2017, unter:
https://www.elperiodico.com/es/
barcelona/20170323/la-cooperativa-de-manteros-empieza-a-andar5920353.
Lopéz, Helena/Sust, Toni (2016):
El número de manteros se ha doblado en Barcelona en el último año,
in: El Periódico, 1.8.2016, unter:
www.elperiodico.com/es/barcelona/20160801/el-numero-de-manteros-se-ha-doblado-en-barcelonaen-el-ultimo-ano-5302069.
75
Navarro, Mayka (2015): La cúpula
de la Guardia Urbana dimitirá ante
la llegada de Colau, in: El Periódico,
29.5.2015, unter: www.elperiodico.
com/es/barcelona/20150528/lacupula-de-la-guardia-urbanadimitira-ante-la-llegada-de-colau4228782.
Rovira, Marc (2015): El juez
archiva el caso de la muerte del
mantero de Salou, in: El País,
15.9.2015, unter: https://elpais.
com/ccaa/2015/09/15/catalunya/1442315905_559071.html.
Sanahuja, Ramon (2017): Cities of
Refuge – a more inclusive approach?,
Runder Tisch am CIDOB – Barcelona Centre for International Affairs,
18.5.2017, unter: www.youtube.
com/watch?v=HFA0xcXzJ_Y.
76
Siberia TV (2015): Sindicato de
Manteros, Interviews, unter: www.
youtube.com/watch?v=WwMemZYJdlA.
Suanzes, Pablo R. (2016): España
sólo ha acogido a 481 refugiados
de los 17.680, pese a los anuncios del Gobierno, in: El Mundo,
unter: www.elmundo.es/sociedad/2016/10/13/57ff76ec46163f0c698b45fc.html.
UNHCR (2019): Mediterranean
situation: Spain, unter: https://
data2.unhcr.org/en/situations/
mediterranean/location/5226.
77
78
MAURIZIO COPPOLA
SOLIDARITÄT GEGEN
DEN RECHTSRUCK
IN NEAPEL SETZEN AKTIVIST*INNEN AUF
MUTUALISMUS UND NEUE KLASSENPOLITIK
Neapel in Kategorien und Begrifflichkeiten der solidarischen Stadt
zu analysieren bietet das Potenzial,
soziale Aktivitäten unter die Lupe zu
nehmen, die in der städtischen und
aktivistischen Politik in den letzten
Jahrzehnten der Krise entwickelt
wurden. Es handelt sich dabei um
oft unabhängig voneinander entwickelte soziale und politische Stadtprojekte, die nicht unter dem Label
der solidarischen Stadt laufen. Vielmehr folgen sie oft dem Verständnis von Mutualismus im Sinne der
französischen Frühsozialist*innen.
Dieser Mutualismus zielte darauf,
durch die Abstimmung von wirtschaftlichen und politischen Bedürfnissen in kleinen Gruppen den Staat
als Herrschaftsinstanz überflüssig
zu machen. Demgegenüber werden
Praktiken des Mutualismus gelebt,
die sich – wie im Folgenden gezeigt
wird – als Wiederaneignung eines
gesellschaftlichen Terrains verstehen und den Anspruch haben, Klassensolidarität zu organisieren, politische Konflikte auszutragen und so
die Machtfrage zu stellen.
Gerade was die Frage der Solidarität
mit Migrant*innen aus klassenpolitischer Perspektive angeht, sind die
Aktivitäten des politischen Kollektivs «Ex Opg Je so‘ pazzo» (deutsch:
«Ich bin verrückt») in Neapel beispielhaft. Sie reagieren einerseits
auf die allgemeine gesellschaftliche,
politische und ökonomische Krise
Italiens. Andererseits wird eine solidarische Basisarbeit mit Migrant*innen entwickelt, die diese nicht paternalistisch behandelt, sondern als
Teil der Arbeiterklasse zu organisieren versucht. Diesen Aspekt der
Klassenpolitik möchte ich in dem
vorliegenden Beitrag in den Mittelpunkt stellen.
Mit der Besetzung des ehemaligen
psychiatrischen Gefängnisses im
Jahr 2015 entfaltete das «Ex Opg
Je so‘ pazzo» zahlreiche soziale und
politische Aktivitäten: Juristische
Anlaufstellen für Migrant*innen
und Arbeiter*innen, medizinische
Ambulatorien, Sprachkurse und Interventionen in den Asylzentren haben sich zu regelrechten selbstorganisierten sozialen Infrastrukturen
79
und Dienstleistungen entwickelt.
Sie sind eine konkrete Antwort auf
unmittelbare soziale Bedürfnisse
von Arbeiter*innen sowohl migrantischer wie auch italienischer Herkunft. Die Tradition des Mutualismus dient hier zur Produktion eines
Narrativs des Wandels sowie als organisatorisches Vehikel. Denn das
«Ex Opg» knüpft an die historische
Erfahrung des Mutualismus Mitte
des 19. Jahrhunderts während der
Entstehung der ersten Arbeiterorganisationen in Italien an. Hierzu
gehören einerseits Formen kollektiver Widerstandsfähigkeit (Resilienz)
gegen die dramatischen Auswirkungen der Massenproletarisierung und andererseits Instrumente
des politischen Widerstands gegen
die Ausbeutung der Arbeiter*innen.
Während Ersteres aufgrund des Effekts einer autonomen Reproduktion der ausbeutbaren Arbeitskraft
Akzeptanz bei den bürgerlichen
Klassen fand, wurde Zweiteres bekämpft und kriminalisiert (Meriggi
2016). Der Mutualismus weist historisch also einen Doppelcharakter
auf, der bis heute besteht: Mutualistische Interventionen können – einfach ausgedrückt – reinen karitativen Charakter haben, falls sie nicht
in eine breitere Perspektive des sozialen Konflikts eingebettet werden.
Kirchliche Armenhilfe, selbstorganisierte Quartiervereine und viele weitere ähnliche Projekte können auch
als Basisinitiativen der gegenseitigen Hilfe bezeichnet werden. Dort,
wo der Staat aufgrund von Bürokratie, finanzieller Schwäche, Krise
und krimineller Infiltrierung nicht
80
der Befriedigung der unmittelbaren Bedürfnisse der Bevölkerung
nachkommt, entstehen mutualistische Projekte von unten. Geht es
aber darum, eine Klassenperspektive bei der Erfüllung dieser unmittelbaren Bedürfnisse einzunehmen,
sollte es nicht bei den selbstorganisierten Basisinitiativen bleiben.
Eine Form der Vertikalisierung des
gesellschaftlichen Konflikts und die
Konfrontation mit den öffentlichen
Institutionen erscheinen daher notwendig.
Die Politisierung des Mutualismus
hängt also von der Existenz eines
politischen Projektes ab, das nicht
innerhalb der Gemeinschaft einer
Besetzung oder einer Kommune
bleibt, sondern die Frage ums Ganze stellt. Die Erfahrungen aus Neapel zeigen diesbezüglich zweierlei:
erstens die materiellen und politischen Grenzen des Munizipalismus,
verstanden als kommunale Organisationsform einer politischen Opposition gegen die von der Zentralregierung und den europäischen
Institutionen auferlegten rassistischen Gesetze und Austeritätsprogramme, zweitens aber auch das
politische und organisatorische Potenzial des Mutualismus als soziale
Praxis von und für die Arbeiterklasse. Neapel fungiert dabei nicht einfach als Spiegel der sozialen und
politischen Konflikte Italiens und Europas, sondern vielmehr als regelrechtes Vergrößerungsglas, das uns
die Dynamiken der Konflikte – und
die Organisierung der Ausgebeuteten – filterlos und unmittelbar vor
Augen führt.
Um diese politische Realität zu analysieren, habe ich Interviews mit
fünf Basisaktivist*innen des «Ex
Opg» durchgeführt, die in unterschiedlichen Bereichen tätig sind.
Zur Ergänzung des empirischen Materials habe ich zahlreiche schriftliche Beiträge und eigene Notizen
aus der (teilnehmenden) Beobachtung herbeigezogen, weil ich selbst
im «Ex Opg» organisiert und aktiv
bin. Der Versuch, mit Vertreter*innen der kommunalen Regierung Gespräche zu führen, scheiterte, entsprechende Anfragen wurden nie
beantwortet.
1 ARBEIT UND MIGRATION IN NEAPEL
Neapel ist eine klassische Stadt
Südeuropas, in der nicht erst seit
dem Ausbruch der Krise 2008 soziale Konflikte den Alltag prägen
(vgl. historisch Lay 1980). Offiziell
sind 30,5 Prozent der Bevölkerung
arbeitslos, das sind 113.000 Menschen (+ 3,9 Prozent zwischen 2016
und 2017). Bei den 15- bis 24-Jährigen liegt die Arbeitslosenquote bei
54,7 Prozent. Die Krise und die letzte Arbeitsmarktreform haben die Arbeit noch stärker prekarisiert. In der
ganzen Region Kampanien werden
unbefristete Verträge stetig durch
befristete Arbeitsverhältnisse ersetzt.
Neben der wachsenden Prekarisierung der regulären Arbeit nehmen
auch irreguläre Arbeitsbeziehungen zu. 2017 zählten die Statistiken
382.900 irregulär arbeitende Personen in der Region Kampanien, was
rund neun Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmacht. Betroffene
Sektoren sind in der nördlichen Peripherie und in der Provinz Caserta die
Landwirtschaft und in den größeren urbanen Zentren haushaltsnahe
Dienstleistungen, Gastronomie und
Tourismus.
Das Bild der städtischen Prekarität
kann um die Emigrationszahlen ergänzt werden: Innerhalb von 15 Jahren, zwischen 2002 und 2016, sind
über 1,8 Millionen junge Italiener*innen aus dem Süden des Landes
weggezogen. Die schwache ökonomische Entwicklung führt zu einer
sich stetig verkleinernden Bevölkerung im Süden. Kampanien gehört
dabei zu den am stärksten von Auswanderung betroffenen Regionen.
Es wird geschätzt, dass die Region
in den kommenden 50 Jahren etwa 1,5 Millionen Menschen durch
Emigration verlieren wird (Svimez-Bericht 2018).
Migrationspolitik und
Aufenthaltstitel
Die italienische Migrationspolitik ist
noch heute von der Gesetzgebung
aus dem Jahr 2002 geprägt. Die sogenannte legge Bossi-Fini regelt die
Genehmigung von Aufenthaltstiteln
dadurch, dass nur ein gültiger Arbeitsvertrag eine Arbeits- und damit eine Aufenthaltserlaubnis garantiert. Gerade in einem stark von
der Irregularität der Arbeit geprägten Land verhindern solche Bestim81
mungen die Regularisierung von Arbeitsmigrant*innen ohne gültigen
Arbeitsvertrag. Erst die sogenannte sanatoria (deutsch: Regularisierung) in den Jahren 2009 und 2012
hat dieses Phänomen abschwächen
können, wenn auch nur unzureichend.1
Die italienische Asylpolitik sieht
grundsätzlich drei Möglichkeiten
für einen geregelten Aufenthalt
vor: Erstens existiert das politische
Asyl zur Erlangung des international anerkannten Flüchtlingsstatus. 2017 erhielten 8,4 Prozent aller
81.000 Menschen, die einen Asylantrag gestellt hatten, diesen Status
(ISMU 2017). Diese Aufenthaltsbewilligung wird für fünf Jahre vergeben, kann erneuert werden und beinhaltet das Recht auf Zugang zum
Arbeitsmarkt und zu sozialstaatlichen Leistungen. Nach fünf Jahren
kann die italienische Staatsbürgerschaft beantragt werden.
Zweitens gibt es den subsidiären
Schutz (2017: 8,4 Prozent; ISMU
2017), welcher vergeben wird, wenn
nach Ansicht der Behörden keine
persönliche Verfolgung nach der
Genfer Flüchtlingskonvention vorliegt, jedoch dem bzw. der Asylsuchenden im Herkunftsland schwerer Schaden drohen würde. Auch
diese Aufenthaltserlaubnis wird für
fünf Jahre ausgestellt, ermöglicht
den Zugang zum Arbeitsmarkt, zu
sozialstaatlichen Leistungen und
kann in eine Arbeitsbewilligung umgewandelt werden.
Drittens gibt es den humanitären
Schutz (2017: 24,7 Prozent; ISMU
2017), welcher denjenigen Personen gewährt wird, die Fluchtgründe
humanitären Charakters angeben,
ohne aber die Kriterien für politisches Asyl zu erfüllen. Hierzu gehören gesundheitliche Gründe, Alter,
politische Instabilität oder ökologische Krisen im Herkunftsland. Diese Art Duldung wird für maximal
zwei Jahre ausgestellt und kann verlängert werden, verfällt jedoch, sobald der Grund für den humanitären
Schutz nicht mehr existiert.
Darüber hinaus gibt es sieben weitere Wege, um in Italien eine Aufenthaltsbewilligung zu erhalten.
Unter diesen speziellen Bewilligungen ist vor allem jene für Opfer von
Ausbeutung in Arbeitsverhältnissen hervorzuheben. Artikel 18 und
Artikel 22 des Migrationsgesetzes
ermöglichen die Vergabe einer Aufenthaltsbewilligung aus humanitären Gründen in Fällen gravierender
Ausbeutung und Gewalt am Arbeitsplatz.
1 2009 wurden nur Gesuche von migrantischen Hausangestellten akzeptiert, 2012 wurde von den Antragssteller*innen die Zahlung einer einmaligen Steuer von
1.000 Euro und die rückwirkende Bezahlung der Lohnnebenkosten der letzten sechs Monate verlangt.
82
Eine der ersten Gesetzesänderung des neuen Innenministers Matteo
Salvini war die Abschaffung des humanitären Schutzes. Ende November 2018 wurde eine entsprechende Gesetzesänderung vom Parlament angenommen und trat sogleich in Kraft. Die Vergabe von Aufenthaltstiteln in Italien erfolgt bei einem Viertel aller anerkannten Fälle
über diesen Weg. Die Abschaffung des humanitären Schutzes, die in
der Kontinuität mit den im Sommer 2017 vom damaligen Innenminister Marco Minniti (decreto Minniti) verfügten Einschränkungen der Einspruchsmöglichkeiten gegen negative Asylentscheide steht, wird den
Zugang zum Asylrecht deutlich behindern.
Die ersten Konsequenzen dieser neuen Praxis sind bereits dokumentiert: Geflüchtete mit humanitären Bewilligungen werden mit der Abschaffung dieses Status aus den Notunterkünften geworfen, weil ihre
Bewilligung abläuft und nicht in eine Arbeitsbewilligung umgewandelt
werden kann. Auf einen Schlag drohen somit in den nächsten Monaten bis zu 39.000 Geflüchtete status- und obdachlos zu werden.
Erst- und Zweitempfang,
Herkunftsländer, Dimensionen
der Migration
Bei den Aufnahmestrukturen für Geflüchtete in Italien handelt es sich
um ein duales System mit zwei unterschiedlichen Verwaltungsmerkmalen. Zum einen gibt es die SPRAR
(Servizi Protezione Richiedenti Asilo e Rifugiati; deutsch: Dienste zum
Schutz von Asylsuchenden und Geflüchteten), welche von den kommunalen Ämtern in Zusammenarbeit mit dem sogenannten Dritten
Sektor (NGOs und karitative Einrichtungen) betrieben werden. Sie
bestehen aus kleinen Wohneinheiten, sind geografisch gleichmäßig
verteilt und sollen die Integration
von Geflüchteten fördern. Die Vergabe für den Betrieb dieser SPRAR
wird über öffentliche Ausschreibungen der Kommunen geregelt. Ak-
tuell leben annähernd 25.000 Menschen in Einrichtungen, die über die
SPRAR-Strukturen finanziert werden (ISPI 2018).
Zum anderen gibt es die CAS (Centri di Accoglienza Straordinaria;
deutsch: Außerordentliche Zentren
der Zuflucht). Die Verwaltung dieser
Zentren liegt in den Händen privater
Dienstleister in diesem Bereich. Die
regionalen Präfekturen (Vertretungen des Innenministeriums in den
Regionen) regeln die Vergabe der
Aufträge für das Betreiben der CAS.
Die ersten CAS wurden 2015 mit Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise eröffnet. Schnell mutierte der
Flüchtlingssektor zu einem neuen
Geschäftsbereich. Denn der Betrieb
der CAS wird oft an sogenannte Kooperativen privater Dienstleister erteilt, die keinerlei Erfahrung mit der
Aufnahme und Unterbringung von
83
Geflüchteten haben und nicht selten
aus mafiösen Unternehmerkreisen
stammen. Der Staat bezahlt den Kooperativen täglich 35 Euro pro Person für Aufnahme, Unterbringung,
Essen und Kleidung sowie für kulturelle und sprachliche Mediation,
juristische Unterstützung und medizinische Ersthilfe. Diese 35 Euro dienen den Zentrumsbetreibern jedoch
häufig als Quelle von Profiten, während die Lebensbedingungen der
Geflüchteten in den CAS zumeist
schlecht sind. Aufgrund der unübersichtlichen Verteilung im Land und
der mafiösen Infiltration ist die Kontrolle über die CAS seitens der Behörden völlig unzureichend. Zurzeit
leben in Italien um die 160.000 Geflüchtete in solchen Zentren (ISPI
2018). Es ist vorhersehbar, dass die
Gesetzesänderung von Innenminister Salvini diese Zahl erhöhen wird,
denn die SPRAR sollen abgeschafft
und gänzlich durch CAS ersetzt werden.
Kampanien gehört zu den Regionen mit der höchsten Anzahl von
Geflüchteten in Italien: 1.031 Menschen leben in den durch die SPRAR
finanzierten Strukturen, 4.587 in den
sogenannten CAS. In der Provinz
Neapel zählt man knapp 2.000 Geflüchtete, von denen 300 über
das Programm SPRAR untergebracht sind, in der Stadt selbst sind
1.400 Geflüchtete registriert. Was
die problematischen CAS angeht,
zählt die Stadt Neapel 23, davon 13
mit insgesamt 965 Menschen. Sie
leben rund um das innerstädtische
Quartier Garibaldi, das eine überdurchschnittlich hohe Arbeitslosenund Armutsquote aufweist und in
dem die irreguläre und illegale Ökonomie weit verbreitet ist.
In Neapel lebten am 1. Januar 2018 dem italienischen Statistikinstitut ISTAT (2018) zufolge 58.203 Menschen ohne italienische Staatsbürgerschaft, das sind 6 Prozent der Gesamtbevölkerung der Stadt. Es
sind vor allem Menschen aus folgenden Ländern: Sri Lanka (26,1 Prozent der ausländischen Bevölkerung Neapels), Ukraine (14,8 Prozent),
Volksrepublik China (9,3 Prozent), Pakistan (4,6 Prozent), Rumänien
(4,4 Prozent), Nigeria (2,14 Prozent), Senegal (1,75 Prozent), Dominikanische Republik (1,87 Prozent). Nach Schätzungen der Fondazione Ismu (ISMU 2017) lebten 2017 etwa 491.000 illegalisierte Menschen in
Italien. Es ist schwer abzuschätzen, wie viele von ihnen sich in Neapel
aufhalten, aber die Anzahl der Illegalisierten ist in Neapel besonders
hoch, während der Anteil von Migrant*innen in der Stadt insgesamt
mit 6 Prozent niedriger ist als im Landesdurchschnitt (8,2 Prozent).
84
2 STÄDTISCHE AKTEURE DER SOLIDARITÄT
Im Mai 2011 wurde Luigi de Magistris erstmals zum Bürgermeister der Stadt Neapel gewählt. Zuvor
war er Staatsanwalt in Kalabrien.
2016 wurde er im Amt des Bürgermeisters bestätigt, unter anderem
dank der Unterstützung der sozialen Bewegungen der Stadt. Am
Anfang war der Hauptgrund für die
breite Zustimmung die repressive
und konservative Politik seines mit
der organisierten Kriminalität verbundenen Konkurrenten der Mitte-rechts-Koalition. Heute zählen
bekannte Aktivist*innen von «Insurgencia», einem in der Tradition
der «Disobbedienti» stehenden politischen Kollektiv, zum Regierungsteam von de Magistris. Anfang
2017 verwandelte sich seine zivilgesellschaftliche Liste «Democrazia Autonomia» (DemA) in eine politische Organisation, die auch auf
regionaler, nationaler und europäischer Ebene zu Wahlen antreten
möchte.
Die Stadtregierung von de Magistris versteht sich als Opposition zur
Zentralregierung. Der Bürgermeister stellt sich oft auf die Seite der sozialen Bewegungen der Stadt, bewertet ihre Aktivitäten positiv und
pflegt einen informellen Dialog mit
ihnen. Unter de Magistris wurde
2012 auch ein stadteigenes Unternehmen gegründet, um die Wasserversorgung zu rekommunalisieren.
Als es 2011 zur sogenannten Müllkrise kam, ließ er ökologische Entsorgungshöfe einrichten und intensivierte die Müllabholung. Zudem
hat de Magistris eine breite zivilgesellschaftliche Solidarität erfahren,
als er einen anderen Umgang mit
der auf die 1980er Jahre zurückgehenden Verschuldung Neapels anmahnte. «Wir bezahlen eure Schulden nicht» wurde zum Motto von
Kampagnen und Bewegungen, die
sich gegen das Diktat der europäischen und zentralstaatlichen Austeritätspolitik richteten.
Initiativen von unten
Als Basisinitiativen können all jene Aktivitäten bezeichnet werden,
die selbstorganisiert sind und nicht
in einem institutionellen Rahmen
stattfinden. In Neapel gibt es etwa
zahlreiche besetzte Häuser, in denen verschiedene kostenlose soziale und kulturelle Aktivitäten angeboten werden (von diversen
Sportangeboten über Kunst- und
Kulturaktivitäten bis hin zu Sprachkursen). Immer wieder kommt es
auch zu Besetzungen von Wohnungen durch armutsbetroffene Menschen. In den centri sociali werden
selbstverwaltet soziale Aktivitäten
mit dem Ziel angeboten, den Zusammenhalt in Nachbarschaften
und Communities zu stärken. Diese
Projekte springen dort ein, wo die
öffentliche Politik versagt. Nicht selten gehören Migrant*innen zu den
Nutzer*innen dieser Orte. In diesem
Sinne sind diese Basisinitiativen
als Bestandteil einer solidarischen
Stadt zu sehen.
Das politische Kollektiv «zero81 –
laboratorio di muto soccorso» hat
85
hingegen einen definierteren politischen Ansatz. Dieses Kollektiv
wurde im Zuge der Universitätsbesetzungen, die zwischen 2008 und
2010 überall in Italien stattfanden,
gegründet. In den vergangenen Jahren hat sich «zero81» zu einer wichtigen Anlaufstelle für Migrant*innen
entwickelt, die Rechtsberatung und
eine medizinische Versorgung anbietet. Leider wurden diese Aktivitäten inzwischen entweder wieder
eingestellt oder auf ein Minimum reduziert.
«Laboratorio Politico Iskra» hingegen heißt ein politisches Kollektiv,
das in der westlichen Peripherie Neapels aktiv ist. In den vergangenen
zwei Jahren entwickelte das Kollektiv eine enge Zusammenarbeit mit
der Basisgewerkschaft S.I. Cobas.
Seit Ende 2018 bietet es irregulären
Arbeiter*innen in der Gastronomie
rechtliche Beratung und Unterstützung an.
Das eingangs erwähnte Kollektiv
«Ex Opg Je so‘ pazzo» besetzte vor
vier Jahren die Räumlichkeiten einer
ehemaligen Psychiatrie. Heute bietet das «Ex Opg» in der Woche rund
40 verschiedene Aktivitäten an, von
Boxtrainings und Tanzkursen über
selbstorganisiertes Volkstheater bis
hin zu Rechtsberatungen und einem medizinischen Ambulatorium.
Auch hier ist das Grundprinzip, dass
die Angebote und Dienste kostenlos
sind.
Die Basisgewerkschaft «Unione
Sindacale di Base» (USB) ist einem
klassischeren gewerkschaftlichen
Ansatz verpflichtet. Die USB verfolgt seit ihrer Gründung 2010 nicht
nur das Ziel, in den wichtigen Sektoren des Arbeitsmarktes unabhängige und selbstorganisierte Strukturen
und Repräsentanzen zu aufzubauen
und zu stärken, sondern auch soziale Dienstleistungen anzubieten. So
schuf die USB ebenfalls Anlaufstellen
für Migrant*innen, die eine Rechtsberatung benötigen. Insbesondere
aber hilft die USB Arbeitsmigrant*innen, die auf den Feldern nördlich von
Neapel und in der Region Caserta
meist illegal und unter extrem ausbeuterischen Bedingungen ihr Geld
verdienen und in extrem prekären
und Verhältnissen leben, einen offiziellen Aufenthaltsstatus zu erlangen.
3 MUNIZIPALISMUS, MUTUALISMUS,
SOLIDARISCHE STADT
Wie im vorherigen Kapitel dargestellt, können wir von zwei Ansätzen
der solidarischen Stadt in Neapel
sprechen. Einerseits existieren munizipalistische Ansätze, vorangetrieben von Bürgermeister Luigi de Magistris; andererseits der innerhalb
der Bewegungslinken weitverbrei86
tete Mutualismus, der in erster Linie
vom Kollektiv des «Ex Opg» vertreten wird und in das landesweite politische Projekt einer neuen linken Organisation, dem «Potere al Popolo»,
eingebettet ist. Diese beiden Ansätze möchte ich im Folgenden genauer beschreiben.
Der Munizipalismus rebellischer
Bürgermeister
In der Berichterstattung über die
Seenotrettung auf dem Mittelmeer
und die europäische wie italienische
Migrationspolitik sind in den vergangenen Monaten vermehrt italienische Bürgermeister aufgrund ihrer
«Rebellion» gegenüber der Zentralregierung in Rom in die Schlagzeilen
geraten. Den Anfang machte Mimmo Lucano, Bürgermeister von Riace, der bereits seit den 1990er Jahren eine alternative Flüchtlingspolitik
betreibt und mit der gezielten Ansiedlung von Geflüchteten die kleine
kalabresische Gemeinde wiederbelebte. Lucano wurde im Herbst 2018
angeklagt, illegale Einwanderung
begünstigt und die lokale Abfallentsorgung unrechtmäßig an zwei lokale Kooperativen vergeben zu haben.
Seither ist es ihm untersagt, sich in
Riace aufzuhalten. Hinter den Anklagen steckt jedoch ein gezielter Angriff auf ein Modell der Zuflucht.
Ende Dezember 2018 richtete sich
die Aufmerksamkeit dann auf den
Bürgermeister von Palermo, Leoluca Orlando, und auf Luigi de Magistris. Sie hatten sich öffentlich
und in Widerspruch zu Innenminister Salvini für die Aufnahme von
49 Geflüchteten, die auf den zivilen
Rettungsschiffen Sea Watch und
Sea Eye festsaßen, ausgesprochen
und erklärt, sich dem neuen italienischen Sicherheitsgesetz widersetzen zu wollen. Die beiden Bürgermeister reihen sich ein in Proteste
und andere Aktivitäten des zivilen
Ungehorsams, die sich seit der Verabschiedung des neuen Sicherheits-
gesetzes in ganz Italien ausgebreitet
haben und an denen sich inzwischen
Bürgermeister aus 20 Städten beteiligen. Die Ankündigungen, geflüchtete Menschen aufnehmen zu
wollen, blieben allerdings Lippenbekenntnisse, denn ein Dekret, welches die italienischen Häfen tatsächlich geschlossen hätte, wurde von
der Regierung nie erlassen.
Auf die Ankündigung von Leoluca
Orlando, die Verfassungswidrigkeit
einiger Elemente des Sicherheitsgesetzes nachweisen zu wollen, reagierte Salvini mit Angriffen auf den
Bürgermeister, was wiederum eine
Welle der Solidarität mit Orlando
auslöste. Anfang Januar 2019 protestierten rund 5.000 Menschen auf
den Straßen Palermos für Orlando.
So wichtig öffentlicher Widerspruch
zu Salvinis Migrationspolitik auch
ist, er sollte in einem breiteren politischen Zusammenhang betrachtet
werden. Denn der Bürgermeister
Palermos hat in den vergangenen
Jahren stillschweigend die Politik
der Demokratischen Partei, der er
angehört, unterstützt und sämtliche vom ehemaligen Innenminister Marco Minniti verfügten Maßnahmen umgesetzt, auch wenn sie
verfassungswidrig, menschenunwürdig und gegen Migrant*innen
gerichtet waren. So hat Marco Minniti Straßenverkäufer*innen – meist
Migrant*innen – im Namen der öffentlichen Ordnung kriminalisiert
und das Einspruchsrecht von abgelehnten Asylsuchenden massiv
eingeschränkt (Bleiberecht für alle
2017). Lokale Aktivist*innen haben
immer wieder kritisiert, dass Orlan87
do besetzte Wohnungen und Häuser hat räumen lassen. Er leistete
auch einer Verordnung von 2014
Folge, die von der damals von Matteo Renzi angeführten PD-Regierung beschlossen wurde und die besagt, dass es Bewohner*innen von
besetzten Wohnungen oder Häusern nicht mehr möglich ist, sich
beim Einwohneramt registrieren zu
lassen.
Bürgermeister de Magistris hingegen lud die Crew vom Rettungsschiff Sea Watch offiziell dazu ein, in
den Hafen von Neapel einzulaufen,
und lancierte einen Appell auf der
kommunalen Internetseite, der die
Bevölkerung dazu aufrief, sich für
den Fall, dass das Schiff tatsächlich
ankommen sollte, bereitzuhalten
und Hilfe zu leisten. Tatsächlich haben über 9.000 Menschen darauf reagiert. Das öffentliche Agieren des
Bürgermeisters hat somit auch eine
zivilgesellschaftliche Mobilisierung
ermöglicht. Andererseits kritisierten zivilgesellschaftliche Hilfsorganisationen und soziale Bewegungen
schon lange vor Inkrafttreten der
neuen Sicherheitsmaßnahmen die
unzureichende Politik des Bürgermeisters in Sachen Migration. So
nimmt das städtische Einwohneramt die Anmeldung von Menschen
ohne festen Wohnsitz nicht an und
stellt keine Identitätspapiere aus,
was den Betroffenen den Zugang zu
grundlegenden Rechten erschwert.
Die Stadtregierung hat diesbezüglich lange nichts unternommen und
scheint nun erst nach monatelangem öffentlichen Druck sich des
Problems anzunehmen.
88
Die «rebellischen Bürgermeister» haben gegenüber der medialen Hetze
von Salvini gegen Migrant*innen sicherlich eine diskursive Trendwende
eingeläutet. Mimmo Lucano (2019)
unterstreicht diesen Aspekt: «Die Unmenschlichkeit gewinnt immer mehr
die Oberhand und Salvini ist nur die
Spitze des Eisbergs einer abdriftenden Gesellschaft. Die rebellischen
Bürgermeister repräsentieren einen
Moment des Stolzes derjenigen, die
sich weigern, Komplizen zu sein.»
Doch Lippenbekenntnisse reichen
nicht aus, um die Lebensbedingungen von Geflüchteten in den Kommunen zu verbessern und eine tatsächliche politische und gesellschaftliche
Opposition aufzubauen. Auch diesbezüglich ist Lucano weitsichtig: «Es
reicht jedoch nicht, sich auf die Konfrontation zu beschränken: Wir müssen eine politische und soziale Opposition schaffen und uns nicht nur
darauf beschränken zu sagen, dass
wir nicht einverstanden sind.»
Der munizipalistische Ansatz der rebellischen Bürgermeister hat das Potenzial, einen diskursiven Gegenpol
zur unmenschlichen Politik der rechten Regierung Italiens zu bilden und
damit eine diffuse zivilgesellschaftliche Mobilisierung anzuschieben.
Doch der munizipalistische Ansatz
reicht bislang nicht aus, um all die
Hürden abzubauen, welche den Geflüchteten das Leben schwer machen: Institutioneller Rassismus in
den Einwanderungsbehörden sowie
menschenunwürdige und gesetzeswidrige Formen der Unterbringung
sind sowohl in Neapel wie auch in
Palermo noch Alltag.
«Ex Opg Je so‘ pazzo»:
Mutualismus und soziale
Konflikte
Das politische Kollektiv «Ex Opg Je
so‘ pazzo» steht dagegen für eine
mutualistische Herangehensweise. Die zahlreichen sozialen Aktivitäten für Geflüchtete und Arbeitsmigrant*innen sind eine Antwort
auf die Probleme der herrschenden Migrationspolitik in Italien, für
die auch die Stadtregierungen und
-verwaltungen keine Lösung haben. Zu den wichtigsten Aktivitäten
des «Ex Opg» gehört eine juristische
Anlaufstelle für Geflüchtete und Arbeitsmigrant*innen. Organisiert und
geleitet wird diese von politischen
Aktivist*innen und Anwält*innen,
die hier ehrenamtlich tätig sind.
Sie kümmern sich einerseits vor allem um jene Geflüchtete, die in den
CAS untergebracht sind. Die Notunterkünfte determinieren das gesamte
Leben der Geflüchteten, weshalb die
Anlaufstelle in Kombination mit weiteren Angeboten des «Ex Opg» versucht, die betroffenen Migrant*innen
in all ihren Lebensbereichen zu begleiten. Im Wesentlichen interveniert
die Anlaufstelle hier auf drei Ebenen:
Sie informiert erstens über die allgemeinen politischen Entwicklungen
und die vorgesehenen Gesetzesänderungen im Bereich der Migrationspolitik. Zweitens begleitet sie die Geflüchteten im gesamten Asylprozess.
Hierzu gehören individuelle Gespräche, um persönliche Schwierigkeiten zu erkennen, wie auch die Vorbereitung des Asyldossiers und des
Erstgespräches mit der zuständigen
Asylkommission. Drittens suchen
die Ehrenamtlichen der Anlaufstelle
den direkten Dialog mit der Einwanderungsbehörde, falls bei der Ausstellung der Aufenthaltspapiere Probleme auftauchen. So häuften sich
in den ersten Jahren des Bestehens
der Anlaufstelle die unbearbeiteten
Asylgesuche. Durch Mobilisierungen und konkrete Forderungen gegenüber der Einwanderungsbehörde
konnte in der Folge ein Runder Tisch
erzwungen werden, der monatlich
tagt und darauf zielt, die Asylverfahren zu beschleunigen und dem institutionellen Rassismus der Behörden
entgegenzuwirken.
Andererseits arbeiten die Aktivist*innen der Anlaufstelle des «Ex Opg»
mit Migrant*innen, die schon seit
Längerem in Neapel leben und arbeiten. Diese Arbeitsmigrant*innen
kommen in erster Linie aus Ländern
außerhalb der EU und verfügen über
eine reguläre Arbeit und eine Aufenthaltsbewilligung, die sie alle zwei
Jahre erneuern müssen. Dafür müssen allerdings drei Kriterien erfüllt
sein: Erstens braucht man einen regulären Arbeitsvertrag, zweitens einen festen Wohnsitz, also eine den
Lebens- und Familienumständen als
angemessen definierte Wohnung
mit gültigem Mietvertrag, und drittens ein jährliches Mindesteinkommen von rund 8.000 Euro.
Die Probleme der Arbeitsmigrant*innen, die von der Anlaufstelle dokumentiert werden, sind vielfältiger Natur. Einerseits ist es für
Migrant*innen sehr schwierig, einen
Mietvertrag zu erhalten. Der Wohnungsmarkt in Neapel ist von irregulären Mietverhältnissen geprägt.
89
Dieses Phänomen wird durch die
Verdrängungsprozesse einkommensschwacher Menschen aus vielen Quartieren des Stadtzentrums
verstärkt (Ascione 2018). Diese Situation wiederum hat zur Entstehung
eines Schwarzmarktes geführt, auf
dem gefälschte Mietverträge und
Meldeadressen zu hohen Preisen
verkauft werden. Andererseits existieren zahlreiche bürokratische Hürden: So verlieren Migrant*innen im
Schnitt neun Monate der zweijährigen Gültigkeit der Aufenthaltsbewilligung durch die behördliche Bearbeitung ihres Antrags. Während
dieser Zeit erhalten die Migrant*innen eine Art Bestätigung, die sie
bei einer Polizeikontrolle vorweisen
können. Diese Bestätigung hat aber
keine Gültigkeit für die kommunalen
Behörden, etwa beim Wechsel der
Meldeadresse.
Die juristische Anlaufstelle richtet
sich an die unterschiedlichen öffentlichen Stellen, welche mit der
Ausstellung von Aufenthaltsbewilligungen zu tun haben, um die zahlreichen Probleme zu melden und
die Verfahren zu beschleunigen.
Trotz großer Nachfrage wurden vonseiten der kommunalen Verwaltung
bisher aber keine Maßnahmen zur
Verbesserung der Situation eingeleitet. Von September 2017 bis Juni 2018 hat die Anlaufstelle über
300 Migrant*innen unterstützt.
Italienisch-Sprachkurse. Obwohl die
Zentren für Erwachsenenbildung in
Italien Abendkurse für Migrant*innen jeglichen Status anbieten, kann
von einer angemessenen Planung
90
der (Weiter-)Bildung von Migrant*innen vonseiten der öffentlichen Institutionen keine Rede sein. Diese
Kurse starten auf dem Level A1, was
bereits Lese- und Schreibfähigkeiten voraussetzt. Viele Migrant*innen können aber wegen fehlender
Schulbildung im Herkunftsland nicht
ausreichend lesen und schreiben
oder sie kommen zum ersten Mal in
Kontakt mit dem lateinischen Alphabet. Die Sprachkurse im «Ex Opg»
knüpfen an diese Ausgangssituation der Migrant*innen an. Es gibt zurzeit sechs Klassen mit jeweils zehn
Schüler*innen und ein bis zwei Lehrer*innen, die vier Sprachniveaus
abdecken. Seit 2016 haben rund
350 Migrant*innen aus 15 unterschiedlichen Ländern die Sprachkurse des «Ex Opg» durchlaufen. Über
eine Vereinbarung zwischen dem
«Ex Opg» und drei Sprachschulen in
Neapel sind die Kurse offiziell anerkannt: Die Schüler*innen, welche die
Kurse im «Ex Opg» besucht haben,
dürfen kostenlos an den Prüfungen
zur Erlangung eines entsprechenden
Sprachdiploms teilnehmen.
Die politische Kontrolle der CAS. Ein
weiterer Aspekt solidarischer Intervention besteht in der politischen
Kontrolle (controllo popolare) der
Notunterkünfte CAS. In diesen Notunterkünften herrschen prekäre Lebensbedingungen und auch die von
Gesetzes wegen obligatorischen minimalen Standards werden zumeist
nicht eingehalten. Diese Orte sind
Orte der Marginalisierung, der Infantilisierung und der Disziplinierung der
Geflüchteten und zugleich Orte des
Zusammenlebens, der Organisierungsmöglichkeit und des sozialen
Konflikts (Blanc/Coppola 2012). Das
Instrument der politischen Kontrolle
wird angewendet, um die unmittelbaren Lebensbedingungen der Geflüchteten zu verbessern und sich mit
ihnen gemeinsam zu organisieren.
Im Fall von Neapel funktioniert die
controllo popolare folgendermaßen:
Die Aktivist*innen der «politischen
Kontrolle» organisieren sich mit den
im «Ex Opg» tätigen Anwält*innen,
Ärzt*innen und Dolmetscher*innen und suchen die Notunterkünfte auf. Bei der Ankunft erklären sie,
dass sie für einen Verein arbeiten,
der kostenlose Hilfeleistungen für
Geflüchtete anbietet. Auf einer Vollversammlung im Zentrum selbst
werden zuerst besonders hilfsbedürftige Personen identifiziert (Minderjährige, die eigentlich nicht in
solchen CAS untergebracht werden dürfen, schwangere Frauen,
Menschen mit psychischen Leiden)
und unmittelbar von Spezialist*innen unterstützt. Während der Versammlung wird über die Rechte der
Geflüchteten und die Pflichten der
Aufnahmestrukturen informiert. Darüber hinaus werden politische Mobilisierungen zur Verbesserung der
Lebensbedingungen in den Notunterkünften organisiert.
Die politische Kontrolle der Notunterkünfte kann als erfolgreich betrachtet werden, denn es konnten bereits
unmittelbare Verbesserungen der
Lebensbedingungen der Geflüchteten in den CAS erkämpft werden.
So wurden fehlende gesetzlich vorgeschriebene Leistungen eingefor-
dert (beispielsweise die Auszahlung
von Taschengeld an die Geflüchteten) und Unterbringungsmängel behoben (Zugang zu Warmwasser in
den Duschen, Entfernung von gesundheitsschädlichem Asbestmaterial, regelmäßige Reinigung der Gebäude). Darüber hinaus entwickelten
sich politische und freundschaftliche
Kontakte zwischen Migrant*innen,
Geflüchteten und Aktivist*innen des
«Ex Opg». Die besonders Engagierten unter den Geflüchteten sind so zu
wichtigen Bezugspersonen und politischen Aktivist*innen in den Notunterkünften geworden.
Anlaufstelle für Aufenthaltsrecht.
In Italien ist die Registrierung beim
Einwohneramt Voraussetzung, um
den Zugang zu grundlegenden sozialen Rechten zu erhalten. Hierzu
gehören auch die Anmeldung beim
Hausarzt und damit das Recht auf
medizinische Versorgung sowie das
Recht auf staatliche Unterstützung
wie Arbeitslosengeld und Sozialhilfe. In der Regel sind Geflüchtete in
der Aufnahmeeinrichtung gemeldet,
in der sie untergebracht sind. Dieses
automatische Recht entfällt, wenn
die Geflüchteten von der Verwaltung
der Notunterkünfte diskriminierend
behandelt werden oder der Aufnahmeeinrichtung verwiesen werden.
Auch wenn diese Menschen eine
Wohnung finden, haben sie meist
keinen Mietvertrag, der jedoch für
die Anmeldung notwendig ist.
Die italienischen Kommunen haben
das Problem der fehlenden Registrierung mit einigen Beschlüssen zumindest teilweise lösen können. Sie
91
übergeben zivilgesellschaftlichen
Vereinen und fiktiven Adressen eine sogenannte residenzielle Vollmacht über die nicht registrierten
Personen, damit der Zugang zu den
Grundrechten garantiert werden
kann. Auch das «Ex Opg» hat bei der
Gemeindeverwaltung eine solche
«Residenzadresse» eintragen lassen
und kann so besser einige bürokratischen Hürden überwinden: Dank
der virtuellen Residenz, die durch
die residenzielle Vollmacht garantiert wird, kann nun die Aufenthaltsbewilligung erneuert werden und
mit den Aufenthaltspapieren wiederum bekommen die Migrant*innen
eine gültige Registrierung.
Migrant*innen mit einer Arbeitsaufenthaltsbewilligung haben andere
Probleme. Neben einer echten Registrierung verlangen die Behörden
ein Gutachten über die Angemessenheit der Wohnung. Zudem können Arbeitsverträge nur mit gültigen
Personaldokumenten unterzeichnet
werden. Aufgrund der hohen bürokratischen Hürden zur Erlangung
einer gültigen Registrierung sind
Migrant*innen oft gezwungen, eine
Arbeitssituation ohne Vertrag zu akzeptieren.
Das medizinische Ambulatorium. In
den vergangenen drei Jahren ist das
medizinische Ambulatorium schnell
gewachsen. Heute betreuen hier
30 Ärzt*innen über 2.500 Personen
medizinisch. Das Ambulatorium
kooperiert eng mit der Anlaufstelle für Geflüchtete. So werden hier
die für die Einreichung des Asylantrags notwendigen ärztlichen Atteste ausgehändigt, die aufgrund des
institutionellen Rassismus und der
Überlastung der italienischen Gesundheitsinstitutionen oft nicht ausgestellt werden. Zudem organisiert
das Ambulatorium mit Psycholog*innen einen Raum für Menschen
mit einem Fluchttrauma, begleitetet die Geflüchteten zu Spezialuntersuchungen und zu öffentlichen
Stellen für spezifische Dokumente,
die nicht vom Ambulatorium ausgehändigt werden können. Das
Ambulatorium unterhält keine institutionalisierten Kontakte mit den
öffentlichen Gesundheitseinrichtungen, doch die intensive Zusammenarbeit mit einzelnen dort arbeitenden Ärzt*innen hat dazu geführt,
dass diese nun als wichtige Unterstützung im formalen Gesundheitswesen fungieren.
4 NEUE KLASSENPOLITIK: MUTUALISMUS
UND «POTERE AL POPOLO»
Es ist deutlich geworden, dass die
kommunale Politik Neapels an die
Grenzen der Umsetzungsmöglichkeiten solidarischer Praktiken stößt.
Zu oft treffen Basisaktivist*innen in
ihrer alltäglichen Solidaritätsarbeit
92
auf politische und bürokratische
Hürden oder es bleibt schlicht bei
Absichtserklärungen vonseiten der
kommunalen Politiker*innen und
der Verwaltung. Aus einer diskursiven Perspektive können progressi-
ve Aussagen der «rebellischen Bürgermeister» zur Öffnung der Häfen
und zur Stadt der Zuflucht durchaus
positive Effekte haben. Doch diesen
diskursiven Interventionen fehlt es
an strategischen Perspektiven, um
auch die materielle Situation von
Migrant*innen und Arbeiter*innen
zu verbessern.
Die hier skizzierten Aktivitäten des
«Ex Opg» hingegen sind «populare Praxen», die durch die alltägliche und enge Kooperation mit
Migrant*innen und Arbeiter*innen
entstanden sind und auf mutualistischen Solidarstrukturen basieren
(Candeias 2018). In dieser Perspektive ist der Mutualismus erstens
ein Instrument zur Herstellung von
Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Gruppen der Arbeiterklasse, die keine sozialstaatliche
Antwort auf ihre Probleme und Bedürfnisse finden. Zweitens bietet er
eine wertvolle Möglichkeit, Untersuchungen im Marx‘schen Sinne
innerhalb dieser sozialen Klassen
durchzuführen, um Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Organisationspotenziale zu eruieren (Clash
City Workers 2014). Drittens dient
der Mutualismus als Vehikel des sozialen Konflikts, wenn nicht bei der
Konstruktion von autonomer sozialer Reproduktion haltgemacht, sondern die Konfrontation mit den Institutionen gesucht wird. Genau hier
setzt eine solidarische Klassenperspektive ein, die zusammenbringt,
wen das Kapital täglich trennt.
Wenn der Mutualismus also ein Instrument zur Entwicklung einer neuen Klassenpolitik sein soll, dann ist
die mutualistische Basisarbeit mit,
von und für Migrant*innen ein zentraler Bestandteil dessen. Die Räume des «Ex Opg» haben dabei eine
wichtige Funktion, denn sie sind ein
Ort der Begegnung für Menschen
und Gruppen unterschiedlicher Herkunft, die eine gemeinsame soziale Situation erkennen. Damit wird
die Entwicklung eines Klassenbewusstseins gefördert. Darüber hinaus stellen die einzelnen sozialen
Aktivitäten des «Ex Opg» nicht in
sich abgeschlossene und voneinander unabhängige Dienste dar, sondern entwickeln sich stets in einem
wechselseitigen Prozess weiter. Sie
werden so zu integrierten Diensten,
in deren Zentrum der Mensch mit all
seinen Problemen und Bedürfnissen
steht.
Politisch können die Mobilisierungen der Migrant*innen als Kämpfe für allgemeine demokratische
Rechte verstanden werden, also
für menschliche Lebensbedingungen in den Notunterkünften, für den
Zugang zu grundlegenden staatlichen Leistungen und gegen den
institutionellen Rassismus. Sie haben Klassencharakter, denn erstens
können Migrant*innen und Geflüchtete aufgrund ihrer materiellen Situation und ihrer Position als letztes
Glied in der kapitalistischen Ausbeutungskette eine zentrale Rolle
im Klassenkampf einnehmen. Die
Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen bedeutet gleichzeitig eine Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der
gesamten Arbeiterklasse. Zweitens
dienen die Kämpfe um demokrati93
sche Rechte als Katalysator für die
Entwicklung des Klassenbewusstseins: «In dem Kampfe um die Demokratie, in der Ausübung ihrer
Rechte kann das Proletariat zum Bewusstsein seiner Klasseninteressen
[...] kommen.» (Luxemburg 1982)
Dafür ist jedoch die Organisierung
von Migrant*innen als Teil der Arbeiterklasse und nicht als Opfer von
Diskriminierung und Marginalisierung von fundamentaler Bedeutung.
Es geht also darum, diese Kämpfe
der Migration für die soziale und politische Zusammensetzung der Arbeiterklasse fruchtbar zu machen.
Der Mutualismus kann eine Antwort auf diese Schwierigkeiten sein,
weil er sich selbst als organisierende
Kraft versteht, die die Selbstaktivität und Selbstrepräsentation der Arbeiterklasse befördert. Er ist jedoch
bei Weitem keine hinreichende Bedingung für den Erfolg einer neuen
Klassenpolitik, denn diese solidari-
94
schen Praktiken haben noch keinen
angemessenen politischen Ausdruck gefunden (Candeias 2017).
Doch auch diesbezüglich bewegt
sich etwas in Italien: Im November
2017 wurde «Potere al Popolo» ins
Leben gerufen, eine Organisation,
welche die aktivistischen Erfahrungen von Basisgewerkschaften und
Graswurzel-Initiativen im Feld des
Mutualismus zu einem politischen
Subjekt formen möchte. Der Aufruf zur Gründung von «Potere al
Popolo» kam nicht zufällig aus den
Reihen des «Ex Opg Je so‘ pazzo»
Neapels. «Potere al Popolo» hat bei
den letzten nationalen Wahlen vom
4. März 2018 1,1 Prozent der Stimmen erlangt und legt seither bei den
Umfragen zu. Ihr Potenzial liegt jedoch weniger im elektoralen Feld,
sondern in der Fähigkeit, die solidarischen Aktivitäten zu politisieren
und sie in eine neue linke Organisationsform zu bringen.
LITERATUR
Ascione, Gennaro (2018):
Quel solco tra patrizi e plebei, in:
Corriere della Sera, 22.11.2018,
unter: https://corrieredelmezzogiorno.corriere.it/napoli/
cronaca/18_novembre_22/
quel-solco-patrizi-plebei-88f50152ee2d-11e8-993b-8ac03140d230.
shtml.
Associazione per lo Sviluppo
dell’Industria nel Mezzogiorno
(2018): Rapporto Svimez 2018
sull’Economia e la Società del
Mezzogiorno, Rom.
Blanc, Philippe/Coppola, Maurizio
(2012): ArbeitsmigrantInnen im
Widerstand, in: Emanzipation. Zeitschrift für sozialistische Theorie und
Praxis, Jg. 2, Nr. 2, S. 94–107.
Bleiberecht für alle (2017): Solidarität gegen das tödliche Asylregime in Italien, 29.7.2017, unter:
www.bleiberecht.ch/2017/05/29/
bericht-solidaritaet-gegen-dastoedliche-asylregime-in-italien/.
Candeias, Mario (2017): A Question of Class. New Class Politics –
A Connective Antagonism, in:
LuXemburg – We The People
Defend Dignity, S. 2–13.
Candeias, Mario (2018): Populistisches Momentum? Lernen von
Corbyn, Sanders, Mélenchon,
Iglesias (Ein indirekter Kommentar
zur Kampagne von #aufstehen), in:
LuXemburg, Oktober 2018.
Clash City Workers (2014): Dove
sono i nostri? Lavoro, classe e movimenti nell’Italia della crisi, Lucca.
Iniziative e Studi sulla Multietnicità
ISMU (2017): Ventitreesimo
Rapporto sulle migrazioni 2017,
Mailand.
Istituto Nazionale di Statistica
ISTAT (2018): Andamento della
popolazione con cittadinanza
straniera, Rom.
Istituto per gli Studi di Politica
Internazionale ISPI (2018):
Fact Checking: migrazioni 2018,
Mailand.
Lay, Conrad (1980): Das tägliche
Erdbeben. Ein Bericht über die
Stadt Neapel: Arbeitslosigkeit,
Schmuggel, Mafia, Revolten, Berlin.
Lucano, Mimmo (2019): L’odio per i
migranti? È solo la punta dell’iceberg
di un Paese alla deriva, unter: www.
linkiesta.it/it/article/2019/01/07/
mimmo-lucano-salvini-migranti-sea-watch-sea-eye-riace-sindaci-ribelli/40639/?fbclid=IwAR2dwcgE5gfFINv4icAjKfWAN3Tzfl1Xs2QrZAe5VKXLgo5Cc5T_R6Csel4.
95
Luxemburg, Rosa (1982): Sozialreform oder Revolution?, in: dies.:
Gesammelte Werke, Bd. 1, Berlin.
Meriggi, Maria Grazia (2016):
Il mutualismo delle origini tra resilienza e resistenza, unter: www.
commonware.org/index.php/neetwork/666-mutualismo-meriggi.
Svimez-Bericht (2018): Svimez
Report2018 presented to
the Foreign Press in Rome,
4.12.2018, unter: https://www.
european-news-agency.de/
wirtschaft_und_finanzen/svimez_report_2018_presented_
to_the_foreign_press_in_rome72876/.
96
97
98
SARAH SCHILLIGER
EXKURS: AMBIVALENZEN
EINER ZUFLUCHTSSTADT
DIE «SANCTUARY CITY» TORONTO VERSUCHT SICH
AN DER DEMOKRATISIERUNG VON GRENZEN
«Toronto hat sich selbst zur Sanctuary City erklärt, mit einer formalen Richtlinie, die es allen Einwohner*innen Torontos erlaubt,
unabhängig vom Aufenthaltsstatus
Zugang zu den städtischen Diensten zu erhalten – sodass alle unsere Bibliotheken und Parks nutzen,
alle gesund bleiben und sich sicher
fühlen können. Jetzt ist für uns der
Zeitpunkt gekommen, dieses Engagement zu bekräftigen und die
klare Botschaft auszusenden, dass
Toronto jede Spaltung, Intoleranz
und jeden Hass ablehnt. Niemand
sollte dazu gebracht werden, Angst
haben zu müssen aufgrund von
Herkunft oder Glauben. [...] Jetzt
ist es an der Zeit, dass Toronto den
von dieser diskriminierenden Politik Betroffenen zeigt, dass sie hier
willkommen sind. Jetzt ist es an der
Zeit, dass Toronto zusammenhält,
vereint über unsere Differenzen hinweg, damit wir stark bleiben und an
den Grundrechten und Werten festhalten, die unsere Freiheit ermöglichen.» (City of Toronto 2017, Motion MM 24.23)1
Mit diesen Worten bekräftigte Bürgermeister John Tory am 31. Januar
2017 in einem Dringlichkeitsantrag
ans Stadtparlament, dass sich Toronto weiterhin als eine «Sanctuary City» versteht. Tory reagierte damit auf
die Schießerei in einer Moschee in
Québec in der Woche zuvor. Zudem
waren seine Worte eine Antwort auf
«hasserfüllte und diskriminierende
Handlungen und Politiken» – konkret auf das von US-Präsident Donald Trump ausgesprochene Einreiseverbot gegenüber Bürger*innen
aus mehreren muslimisch geprägten Ländern. In dem Antrag heißt es,
dass der Stadtrat »mit Städten auf
der ganzen Welt vereint gegen Islamophobie, Xenophobie und Rassismus steht» (ebd.).
Zwar ist die «Sanctuary City»-Bewegung nicht gänzlich neu in Kanada. Sie hat in den vergangenen
Jahren jedoch neuen Schwung und
eine stärkere mediale Öffentlichkeit
erfahren – insbesondere seit dem
1 Alle Übersetzungen aus dem Englischen durch die
Autorin.
99
Amtsantritt von Präsident Trump
2016, seit den in den Medien stark
diskutierten Grenzübertritten von
Tausenden Asylbewerber*innen von
den USA nach Kanada ab 2017 und
der Zunahme von rassistischer Gewalt in kanadischen Städten. Toronto war 2013 die erste kanadische
Stadt, deren Regierung eine «Sanctuary City»-Politik beschloss und
sich damit offiziell dazu bekannte,
den »angstlosen Zugang zu Dienstleistungen für alle Migrant*innen
unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus gewähren zu wollen» (City
of Toronto 2013, Motion CD 18.5).
2014 wurde auch Hamilton zu einer
«Sanctuary City», es folgten 2016
Vancouver und 2017 London (Ontario) sowie Montreal.
Wie ist es dazu gekommen? Wer
sind die Akteure hinter dieser «Sanctuary City»-Politik? Und wie sieht
es heute, fünf Jahre nach deren Verabschiedung und zwei Jahre nach
der erneuten Bekräftigung durch
den Bürgermeister von Toronto, hinsichtlich der Umsetzung aus? Ein
genauerer Blick auf die Geschichte der Bewegung für eine «Sanctuary City Toronto» lohnt sich.2 Die
Erfahrungen aus dieser Mobilisierung für die Rechte von illegalisierten Migrant*innen und deren Übersetzung in kommunales Handeln
sind zweifellos auch für den europäischen Kontext inspirierend und
lehrreich.
Die vielfältigen Kampagnen für Toronto als «Sanctuary City» laufen
nun bereits seit über einem Jahrzehnt und werden angeleitet von
«No One is Illegal», einem Netzwerk
100
von Aktivist*innen aus antirassistischen und antikolonialen Initiativen, das direkt mit migrantischen
Communities zusammenarbeitet.
Die Kampagnen eint das Ziel, dass
alle Bewohner*innen von Toronto
ohne Angst vor Abschiebung in der
Stadt leben und das Stadtleben aktiv mitgestalten können sowie einen
sicheren Zugang zu sozialen Diensten und städtischer Infrastruktur erhalten, und zwar unabhängig von
Aufenthaltsstatus, finanziellen Möglichkeiten, Hautfarbe, Geschlecht,
Sexualität oder Religion.
Gleichzeitig wird am Beispiel Toronto deutlich, dass die Kämpfe um
«Urban Citizenship» und dessen Institutionalisierung ein widersprüchliches politisches Feld darstellen. Die
Bewegung für eine «Sanctuary City
Toronto» liefert Einblicke sowohl in
die Chancen und Spielräume wie
auch in die Herausforderungen und
Grenzen städtischer Politiken in Bezug auf Migration und citizenship.
Die Antwort auf die Frage, wie erfolgreich die «Sanctuary City»-Politik in Toronto ist, hängt davon ab,
mit welchen Zielen diese Politik verbunden und woran deren Erfolg gemessen wird. Dabei zeigt sich, dass
unter einer «Sanctuary City» sehr
Unterschiedliches verstanden werden kann – je nachdem, ob damit
2 Dieser Beitrag basiert auf Gesprächen im Sommer
2018 mit Aktivist*innen von NOII Toronto, Parkdale
Community Legal Services und der Migrant Workers
Alliance for Change, auf Austausch mit kritischen Wissenschaftler*innen der York University und der Ryerson
University sowie auf der Analyse von verschiedenen
Berichten, Websites und Dokumentationen, die innerhalb der «Sanctuary City»-Bewegung entstanden sind.
eine formal-juristische, kommunale politische Richtlinie gemeint ist
oder vielmehr ein transformativer
Prozess. Mit Letzterem sind politische und soziale Kämpfe gemeint,
durch die Rechte erstritten werden,
eine solidarische Praxis innerhalb
städtischer Communities etabliert
wird und Ideen um nationale Gemeinschaft und Zugehörigkeit neu
definiert werden. Zugleich offen-
baren sich in der «Sanctuary City»Kampagne auch Widersprüche von
kommunalen Politiken innerhalb eines souveränen Staates und – im kanadischen Kontext – einer starken
Rolle der Provinzen, die im Fall von
Ontario (wozu Toronto zählt) zudem
seit dem Sommer 2018 mit Premierminister Doug Ford von einem Vertreter rechtskonservativer Politik regiert wird.
1 GRENZERFAHRUNGEN VON MIGRANT*INNEN MIT
PREKÄREM AUFENTHALTSSTATUS
In der Stadt Toronto leben schätzungsweise 200.000 Menschen mit
prekärem Aufenthaltsstatus 3 und
weitere 200.000 undokumentierte bzw. illegalisierte Migrant*innen,
also Menschen, die über gar keinen
rechtlichen Status verfügen (Solidarity City 2013). In den 1990er Jahren
setzte in Kanada ein tief greifender
Wandel in der Migrationspolitik ein.
Dieser führte weg von humanitären
Lösungen und dauerhaften Wegen
zur Staatsbürgerschaft und hin zu
einer stark neoliberal geprägten Politik, bei der Migrant*innen immer
häufiger nur ein befristeter Rechtsstatus verliehen wird (Goldring/Landolt 2013). Temporäre Arbeitsmigrationsprogramme für bestimmte
Tätigkeitsbereiche und Berufsgruppen (z. B. das Temporary Foreign
Worker Program und das Caregiver
Program 4) gewannen an Bedeutung, womit ein wachsender Anteil
der in Kanada lebenden Migrant*innen nur noch über einen befristeten
Aufenthaltsstatus verfügt. Insbe-
sondere nach dem 11. September
2001 verschärfte die kanadische Regierung in vielerlei Hinsicht Asylgesetze und Einreisebestimmungen,
schränkte die Möglichkeiten der Familienzusammenführung ein und
erschwerte den Wechsel von einem
temporären zu einem permanenten
Aufenthaltsstatus. Diese Einschränkungen verschlechtern insbesondere die Situation von Migrant*innen,
die über ein Arbeits- oder Studenten-Visum oder als Asylbewer-
3 Dieser Begriff wird im kanadischen Kontext von kritischen Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen verwendet, um Legalität/Illegalität als ein Kontinuum zu
fassen und zu unterstreichen, dass viele während der
Dauer ihrer Anwesenheit in Kanada Verschiebungen
zwischen verschiedenen Arten von Rechtsstatus erfahren (Goldring/Landolt 2013). 4 Für Migrant*innen,
die durch das Temporary Foreign Worker Program (TFWP) oder das Caregiver Program (ehemals Live-in Caregiver Program) rekrutiert wurden, ist der Aufenthaltsstatus an ihren Arbeitgeber gebunden. Dies bedeutet,
dass sie nur begrenzte Möglichkeiten haben, unsichere
oder ausbeuterische Arbeitsplätze zu verlassen. Menschen, die sich gegen Überarbeitung, Lohnbetrug oder
unsichere Arbeitsbedingungen wehren, riskieren, nicht
nur ihren Job zu verlieren, sondern gleichzeitig auch ihren Aufenthaltstitel.
101
ber*innen5 nach Kanada eingewandert sind: Viele werden nach Ablauf
ihres befristeten Aufenthaltsstatus
zu illegalisierten Migrant*innen.
Die Einschränkungen beim Zugang zu einem permanenten Status gingen gleichzeitig mit einem
verschärften Abschiebesystem einher: Die Zahl der Deportationen hat
in Kanada von 2004 bis 2014 um
50 Prozent zugenommen. Seither
ist der Umfang der Abschiebungen zwar wieder zurückgegangen.
Nun hat jedoch Ende Oktober 2018
der kanadische Minister für öffentliche Sicherheit eine Quote von
10.000 Abschiebungen pro Jahr
festgesetzt, wobei vor allem abgewiesene Asylsuchende ins Visier
kommen sollen. Dies würde einen
Anstieg von 35 Prozent im Vergleich
zu den vergangenen beiden Jahren
bedeuten (Harris 2018).
Die staatlichen Grenzpolitiken haben sich zudem stark ins Landesinnere hinein verlagert (Berinstein
u. a. 2006: 9): Für undokumentierte
Migrant*innen liegt die Grenze nicht
nur an den physischen Einreisepunkten wie Häfen, Flughäfen oder
an der US-kanadischen Grenze. Vielmehr wandert die Grenze mit den
Migrant*innen in die sozialen Räume hinein, in denen sie leben. Sie
manifestiert sich am Arbeitsplatz,
wo die Ausbeutbarkeit aufgrund
fehlender Aufenthaltstitel deutlich
erhöht ist. Die Grenze reproduziert
sich zudem bei alltäglichen Aktivitäten wie dem Schulbesuch, dem
Gang ins Krankenhaus oder wenn
Polizeidienste beansprucht werden: Wer nicht die richtigen Papie102
re nachweisen kann, wird vom Zugang zu grundlegenden sozialen
Dienstleistungen ausgeschlossen
und kann zudem kriminalisiert werden. Denn wenn bei einer Interaktion mit Behörden der fehlende Aufenthaltsstatus aufgedeckt wird,
droht die Verhaftung und Abschiebung. Die Angst, von der Polizei aufgegriffen zu werden, ist deshalb für
Migrant*innen mit prekärem Aufenthaltsstatus omnipräsent.
Sozialpolitik kann somit auch als ein
indirektes Instrument der Migrationskontrolle gesehen werden (vgl.
Ataç/Rosenberger 2018). Die Stadt
hat dabei innerhalb des Grenzregimes eine zentrale Funktion, weil sie
die nationalen Regelungen in Bezug auf soziale Dienstleistungen interpretiert und entsprechend eine
Praxis der Umsetzung entwickelt.
Während die Einschränkung von
sozialen Rechten für Migrant*innen
mit prekärem Status eine Form der
Migrationsabwehr (im Innern) darstellt, kann die Schaffung eines Zugangs zu sozialen Dienstleistungen
für irreguläre Migrant*innen auf lokaler Ebene die existierenden nationalstaatlichen Grenzen auch heraus5 Für Geflüchtete gibt es zwei Wege der Einwanderung: Flüchtlinge, die über das Refugee Settlement
Program nach Kanada migrieren, sind bereits vor ihrer
Einreise nach Kanada als Flüchtlinge eingestuft worden und werden sofort nach ihrer Ankunft dauerhaft
ansässig. Sie werden bei ihrer Ansiedlung in Kanada
im ersten Jahr entweder von der Regierung (governement assisted refugees) oder von privaten Sponsoren
(private sponsored refugees) unterstützt. Alle anderen
Geflüchteten durchlaufen den «Refugee Claim Process»
und müssen nach der Einreise ins Land auf eine Anhörung warten. Abgelehnte Asylsuchende können gegen
einen negativen Bescheid Beschwerde einlegen, in dieser Übergangszeit leben sie jedoch ohne festen Status.
Viele Geflüchtete warten Jahre, bis über ihre Anträge
endgültig entschieden ist.
fordern. Eine Form der Bekämpfung
und Zurückdrängung dieser Grenzen im Innern ist die Mobilisierung
für eine »Don’t Ask, Don’t Tell»
(DADT)-Politik in Toronto: Unter diesem Label widersetzt sich eine Vielzahl von Akteuren seit 2004 in der
Stadt auf verschiedene Weise den
nationalstaatlichen Grenzpraktiken.
Sie versuchen stattdessen, Barrikaden beim Zugang zu öffentlichen
Dienstleistungen wie Gesundheit,
Bildung, Notunterkünften, Frauenhäusern, Freizeitprogrammen oder
Nahrungsmittelhilfen zu beseitigen
oder zu umgehen.
GLOBAL CITY TORONTO
– Toronto hat offiziell 2,9 Millionen Einwohner*innen und ist damit die
größte Stadt in Kanada.
– Die Weltstadt ist stark von Migration geprägt: Mehr als die Hälfte der
Einwohner*innen von Toronto ist außerhalb Kanadas geboren, davon
mehr als die Hälfte in asiatischen Ländern (vor allem Philippinen, China und Indien).
– Rund die Hälfte der Einwohner*innen von Toronto zählt als visible
minority, wie rassialisierte Bewohner*innen offiziell genannt werden:
13 Prozent der Stadtbevölkerung sind südasiatisch, 11 Prozent chinesisch und 9 Prozent schwarz.
– Toronto ist eine typische Global City mit einer stark polarisierten Bevölkerung: Einerseits ist Toronto Kanadas Finanz- und Wirtschaftshauptstadt und boomt wirtschaftlich. Die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei 8,2 Prozent. Gleichzeitig ist es die Stadt mit den größten
sozialen Ungleichheiten in Kanada. Sehr viele Menschen sind sogenannte working poor und immer mehr Personen arbeiten in prekären
Jobs (rund 40 Prozent der Arbeitskräfte).
– Jede fünfte Person lebt in Toronto nach offiziellen Angaben in Armut,
wobei die migrantische sowie die indigene Bevölkerung überdurchschnittlich von Einkommensarmut betroffen ist.
– Die Bevölkerung ist zudem stark segregiert und von Gentrifizierung
betroffen. Eine der dringendsten sozialen Fragen in Toronto ist das
Wohnen. 46,8 Prozent der Stadtbevölkerung gibt mehr als 30 Prozent ihres Einkommens für Wohnen aus. Während die Stadt 94.000
social housing units (Sozialwohnungen) zur Verfügung stellt, stehen
derzeit 98.000 Personen auf der Warteliste. Die durchschnittliche
Wartezeit beträgt 8,5 Jahre.
(Zahlen aus dem Zensus von 2016, Statistics Canada)
103
2 DIE MOBILISIERUNG FÜR EINE «DON’T ASK,
DON’T TELL-POLICY»
Mitte der 2000er Jahre startete eine
Koalition aus vielzähligen Community-Organisationen, rechtlichen Anlaufstellen, basisgewerkschaftlichen
Initiativen, der «Ontario Coalition
against Poverty» und Aktivist*Innen
von «No One Is Illegal Toronto» (NOII)
die »Access without Fear»-Kampagne (Kampagne für einen Zugang ohne Angst). Sie stellten dabei einen
Zusammenhang zwischen staatlichen Abschiebepraktiken und der
sozialen Ausgrenzung von illegalisierten Migrant*innen her, die aus
Angst vor Inhaftierung und Abschiebung am Zugang zu grundlegenden
sozialen Rechten gehindert werden
und somit unter prekären Bedingungen leben. Die Kampagne warb
für eine »Don’t Ask, Don’t Tell»-Politik, indem von der Stadt Toronto ein
zweifaches Zugeständnis verlangt
wurde. Erstens sollte die Stadt ihren
Angestellten untersagen, bei der Gewährleistung von öffentlichen Diensten nach dem Migrationsstatus zu
fragen (»Don’t Ask»), und zweitens,
falls diese Information dennoch ans
Licht kommen sollte, darf sie weder
an die Polizei noch an andere staatliche Behörden weitergegeben werden (»Don’t Tell»). Der Zugang zu
städtischen Dienstleistungen sollte
damit auf Grundlage des Wohnsitzes, gemeint ist die Präsenz in der
Stadt, erfolgen, womit eine Diskriminierung aufgrund des Aufenthaltsstatus einschränkt wird.
Im Juli 2004 brachte diese Koalition zum ersten Mal die Idee einer
104
DADT-Richtlinie in den politischen
Diskurs ein, als eine 16-jährige Frau
ohne regulären Aufenthaltsstatus
von der städtischen Polizei (Toronto
Police Services/TPS) an die nationale Einwanderungsbehörde (Canadian Border Services Agency/CBSA)
ausgeliefert wurde, nachdem sie
sich wegen sexuellen Missbrauchs
gemeldet hatte. Daraufhin wurde
vom Toronto Police Services Board
(TPSB) eingefordert, dass Menschen ohne Aufenthaltsstatus Polizeidienste in Anspruch nehmen und
als Betroffene oder Zeuginnen von
Straftaten ohne Angst eine Anzeige
oder Zeugenaussage machen können. Knapp zwei Jahre später, im
Februar 2006, verabschiedete der
TPSB eine entsprechende Richtlinie, die jedoch nur den Aspekt des
»Don’t Ask» bei Opfern und Zeugen
von Verbrechen und keine »Don’t
Tell»-Komponente umfasste.
Weiter an Dynamik gewann die »Access without Fear»-Kampagne mit
dem öffentlichen Protest gegen die
Verhaftung von zwei Kindern einer
Familie aus Costa Rica. Am 24. April 2006 hatten Beamte der kanadischen Einwanderungsbehörde
CBSA die beiden Geschwister Kimberly und Gerald Lizano-Sossa in ihren Klassenzimmern verhaftet und
für mehrere Tage festgehalten. Auf
diese Weise sollte der Vater der Kinder – ein Bauarbeiter mit irregulärem Aufenthaltsstatus – unter Druck
gesetzt werden, sich der CBSA zu
stellen.
Die Aktivist*innen des «No One is
Illegal»-Netzwerks waren rasch zur
Stelle und unterstützten die Familie. Sie skandalisierten in medienwirksamen Kundgebungen, dass
Kanada ein Zweiklassensystem geschaffen habe, welches Kindern
von Familien ohne Aufenthaltsstatus das Grundrecht auf Bildung verwehre (NOII 2006). Lehrer*innen
meldeten sich öffentlich zu Wort
und bekundeten ihren Unmut darüber, dass in ihren Schulklassen ein
Klima der Angst herrsche, was eine produktive Lernumgebung verhindere. Eltern und Schüler*innen
solidarisierten sich und prangerten
den brutalen Umgang mit den beiden Kindern aus Costa Rica an. Gemeinsam mit Gewerkschaften und
migrantischen Communities wurde ein intensiver politischer Druck
auf die CBSA aufgebaut. Diese sollte aufgefordert werden, sich für die
Verhaftungen zu entschuldigen und
eine Richtlinie zu erlassen, die den
Beamten der CBSA in Zukunft den
Aufenthalt auf dem Gelände von
Schulen und der unmittelbaren Umgebung untersagt.
Der Protest, der fortan unter dem
Slogan «Education Not Deportation»6 geführt wurde, erhielt in den lokalen und nationalen Medien große
Aufmerksamkeit und setzte in der
Stadt eine breite Solidaritätsbewegung in Gang. Zwar gelang es nicht,
die Abschiebung der betroffenen
Familie zu verhindern, doch führte die anhaltende Lobbyarbeit und
Mobilisierung dazu, dass der Toronto District School Board (TDSB) im
Mai 2007 einstimmig die Richtlinie
«Students Without Legal Immigration Status Policy» verabschiedete. Demnach soll keinem Kind aufgrund seines Aufenthaltsstatus‘ der
Zugang zu öffentlicher Bildung verweigert werden. Den Schulen wird
untersagt, Informationen über den
Einwanderungsstatus von Schüler*innen oder deren Familienangehörigen anzufordern, zu melden
und weiterzugeben (Villegas 2017:
1184 f.).
Als erste konkrete DADT-Politik in
Kanada stellte dies einen großen
Erfolg für Menschen ohne Aufenthaltsstaus in Toronto dar. Die Kampagne »Education Not Deportation»
wurde in der Folge auch an Universitäten lanciert. So konnte beispielsweise 2008 an der York University
die Abschiebung der Studentin Sarah Leonty verhindert werden. Beflügelt von den Erfolgen wurde die
»Access without Fear»-Kampagne
auf weitere städtische Bereiche, in
denen Menschen mit prekärem Status leben und arbeiten, ausgeweitet.
Es entstanden lebhafte, autonome
Teilkampagnen. Hierzu gehörten etwa «Food For All», eine Kampagne,
die den Zugang aller zu Essensausgabestellen (sogenannte food banks)
forderte. «Health4All» wiederum
setzte sich für den Abbau von Grenzen beim Zugang zur Gesundheitsversorgung ein und thematisierte
darüber hinaus die Beeinträchtigung
der Gesundheit durch einen unsicheren oder fehlenden Aufenthaltsstatus (Villegas 2013). In der «Shel6 Vgl. den Film über die Kampagne «Education Not Deportation» unter: https://vimeo.com/7698225.
105
ter/Sanctuary/Status»-Kampagne
mobilisierte sich ab 2008 eine breite
Allianz von Frauen- und Menschenrechtsorganisationen, um Unterkünfte für gewaltbetroffene Frauen
zu sicheren Zufluchtsorten auch für
illegalisierte Migrant*innen zu machen und durchzusetzen, dass Frauen aufgrund der Erfahrung von geschlechtsspezifischer Gewalt Asyl
gewährt wird (Bhuyan 2013: 253 ff.;
Abji 2016).
Für die verschiedenen Aktivitäten
im Zuge der »Access without Fear»Kampagne war insbesondere die
Art und Weise von Bedeutung, wie
die Aktivist*innen versuchten, ganz
konkrete Grenzen und Barrieren
sichtbar zu machen, die illegalisierte Migrant*innen in ihrem städtischen Alltag erfahren. Mit Aktionen
in Nachbarschaften und migrantischen Communities sollten diese
Grenzen hinterfragt und politisiert
werden. Dieses Konzept der Demokratisierung des städtischen Raums
wird von Aktivist*innen auch als
«Undoing borders» bezeichnet (vgl.
Walia 2013; Nyers 2019: 16). Dabei sollen bestimmte Institutionen
und Räume von der Kontrolle und
Überwachung durch die nationale
Einwanderungsbehörde CBSA befreit und «sichere Räume» geschaffen werden. Mohan Mishra und Faria Kamal von NOII beschreiben das
Konzept des «Undoing borders» folgendermaßen: «Wir müssen unsere Community-Zentren, Schulen,
Gesundheitszentren und Stadtviertel zurückerobern, indem wir sie zu
Sanctuary-Zonen erklären, die frei
von Migrationskontrollen sind. Wir
106
müssen den Kampf aufnehmen, um
Gerechtigkeit und einen regulären
Aufenthaltsstatus für alle zu fordern,
nicht nur national, sondern auch lokal. Das ist die Idee hinter der ‹Don‘t
Ask, Don‘t›-Tell-Kampagne in Toronto.» (Mishra/Kamal 2007)
Die Aktivist*innen nutzen dabei den
Begriff der «Regularisierung von unten», um zu beschreiben, wie auf lokaler Ebene illegalisierte Migrant*innen in die städtische Gemeinschaft
einbezogen und mit Teilhaberechten ausgestattet werden. Interessant am Konzept des «Undoing Borders» ist, wie der städtische Raum
genutzt wird, um zwei verschiedene politische Strategien miteinander zu verbinden: Mit dem Versuch,
Menschen dazu zu bringen, in ihrer
direkten lokalen Umgebung gegen
die Durchsetzung von restriktiven
nationalen Migrationsgesetzen zu
rebellieren, wird einerseits der Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen eingefordert, indem der Zugang
zu öffentlichen Diensten auf Menschen ohne Aufenthaltsstatus ausgedehnt wird. Gleichzeitig wird das
nationalstaatliche Grenzregime, das
Migrant*innen illegalisiert, fundamental infrage gestellt (Fortier 2013:
285).
Darüber hinaus ist die Einforderung
von «Sanctuary»-Zonen eine unmittelbare politische Praxis, mit der, wie
es die Aktivistin Fariah Chowdhury
formuliert, «denjenigen von uns,
die von den traditionellen Machtverhältnissen ausgeschlossen sind,
ermöglicht wird, die Entscheidungen und Richtlinien, die unser ganzes Leben betreffen, direkt infrage
zu stellen. Sanctuary/Solidarity City
delegitimiert die Rolle des Staates,
weil wir nicht warten, bis die Regierung etwas ändert, sondern darum
kämpfen, eine gerechte Stadt für
uns selbst zu schaffen» (zit. nach
Nail u. a. 2010: 155).
«Taking, not waiting» lautet die Devise (vgl. Squire/Bagelman 2012).7
Damit wird nicht nur betont, dass im
Hier und Jetzt ein politischer Wandel
angestoßen werden kann, sondern
auch, dass diejenigen, die Rechte
einfordern, sich selbst zu Rechtssubjekten machen: Obwohl sie formal keine Bürger*innen (citizens)
sind, haben sie eine Stimme, bringen sich in den politischen Diskurs
ein und müssen nicht warten, bis jemand für sie spricht (Nyers 2019).
3 COMMUNITY ORGANIZING, SOLIDARITÄT
UND ZUGEHÖRIGKEIT JENSEITS DER NATION
Die jahrelangen Kämpfe und Mobilisierungen des «Solidarity City Network»8 bereiteten den Weg,
«Access without Fear» zur Leitlinie
für alle städtischen Dienstleistungen zu machen und damit die für
gewisse Bereiche bereits erkämpfte Praxis in eine institutionelle Politik zu überführen. Am 21. Februar
2013 verabschiedete der Stadtrat
in Toronto nach einer langen Debatte fast einstimmig die Motion
CD 18.5. Darin wurde festgehalten,
dass Menschen ohne geregelten
Aufenthaltsstatus in Toronto der Zugang zu städtischen Dienstleistungen gewährt werden soll, ohne dass
sie sich fürchten müssen, an die nationalen Einwanderungsbehörden
ausgeliefert und abgeschoben zu
werden. Die Stadt ist zudem verpflichtet, ausreichend Ressourcen
zur Verfügung zu stellen, um Mitarbeitende der öffentlichen Dienste
mit speziellen Weiterbildungen entsprechend zu schulen. Zudem soll
die Stadt Maßnahmen ergreifen, um
das öffentliche Bewusstsein für die-
se Politik und für die Situation von Illegalisierten zu erhöhen.
Die Vertreter*innen des «Solidarity City»-Netzwerkes, die während
der Debatte im Stadtrat anwesend
waren, feierten den Beschluss als
großartigen Sieg für die Rechte von
Menschen mit prekärem oder fehlendem Aufenthaltsstatus sowie als
Beweis, was eine gemeinsame Organisierung an der Basis bewirken
kann. Gleichzeitig waren sich die
Aktivist*innen durchaus bewusst,
dass hier formale Rechte auf dem
Papier festgeschrieben wurden, die
jedoch nicht automatisch in die Praxis umgesetzt werden. So sagte die
7 Eine ähnliche Praxis beobachten Squire/Bagelman für
die «Sanctuary»-Bewegung in Sheffield/UK. 8 Hierzu
gehörten: Health for All, Immigration Legal Committee
of Toronto, Justice for Migrant Workers, Law Union of
Ontario, No One Is Illegal – Toronto, Parkdale Community Legal Services, Roma Community Centre, Social
Planning Toronto, South Asian Legal Clinic of Ontario,
South Asian Women’s Rights Organization, Thorncliffe Neighbourhood Office, The Wellesley Institute und
Workers Action Centre. Die Motion 18.5 wurde zudem
unterstützt von: Advocacy Centre for Tenants of Ontario, Alliance for South Asian Aids Prevention, AWCCA
at George Brown College, Jane Finch Action Against
Poverty, GOAL, Migrant Workers Alliance for Change
und Ontario Coalition Against Poverty.
107
Aktivistin Tzazna Miranda Leal vom
«Solidarity City Network» nach der
Ratsdebatte: «Es ist bloß eine Richtlinie. Der einzige Weg, wie wir Veränderungen in unserer Community erreichen können, ist, wenn wir
uns organisieren und dafür einstehen, dass sich die Ratsmitglieder an
das halten, was sie heute versprochen haben» (zit. in Toronto Star,
21.2.2013).
Die eigentliche Arbeit begann damit
also erst, nämlich das Organizing innerhalb der Community, am Arbeitsplatz und in der Nachbarschaft, mit
der Absicht, ein Bewusstsein für die
neuen Richtlinien zu schaffen und
die Bevölkerung aufzuklären. Denn
das Wissen um Rechte und die Fähigkeit, diese Rechte auch geltend
machen zu können, gelangen nicht
automatisch zu den Bewohner*innen der Stadt. Mit mehrsprachigen
Flyers, grafischen Materialien und
Community-Workshops verbreiteten die Aktivist*innen des «Solidarity City»-Netzwerks Informationen
über städtische Dienstleistungen.
Eine Hotline wurde eingerichtet, um
Dienstleistungen melden zu können, bei denen der Zugang nicht befriedigend gewährleistet ist. Um die
Umsetzung der politischen Richtlinien zu evaluieren, führten die Aktivist*innen eigene Audits (das heißt
Überprüfungen) durch, kontaktierten Hunderte Einrichtungen telefonisch und testeten deren Zugänglichkeit (Solidarity City 2013).
Innerhalb des «Solidarity City»-Netzwerks ist man sich einig, dass die
Politiken der sozialen Exklusion gegenüber illegalisierten Migrant*in108
nen da bekämpft werden müssen,
wo sie täglich stattfinden. Nach
Syed Hussan, einem langjährigen
Aktivisten und Organizer von NOII,
geht es neben dem politischen
Kampf für Gesetzesänderungen
ebenso sehr um einen politischen
Kulturwandel: «Der Zweck unserer
Arbeit ist es, eine Kultur zu schaffen, in der die Illegalisierung von
Menschen strikt abgelehnt wird.»
(Zit. in Trew 2017: 23) Denn in der
täglichen Praxis sind es konkrete
Menschen, die Grenzen durchsetzen oder sich ihnen widersetzen.
Lokale Anbieter und Mitarbeitende
von städtischen Dienstleistungen
spielen eine bedeutende Rolle beim
«Gatekeeping» – das heißt, sie entscheiden mit ihren Handlungen mit,
ob Menschen ohne Aufenthaltsstatus der Zugang zu sozialen Dienstleistungen gewährt oder verweigert
wird. Es sind die Fahrkartenkontrolleure, die Verwalter*innen von öffentlichen Schulen oder die im Gesundheitssektor Angestellten, die
bei ihrer täglichen Arbeit je nach
Werthaltungen und Bewusstsein
agieren und damit politische Richtlinien einhalten oder sich ihnen widersetzen.
Darin zeigt sich ein Verständnis,
nach dem Bürgerschaft (citizenship)
nicht bloß ein formaler Status ist,
«sondern ein Prozess, der Verhandlungen über den Zugang zu und die
Ausübung von Rechten beinhaltet»
(Basok 2004: 48). Dabei wird weniger Gewicht auf gesetzliche Regelungen gelegt denn auf konkrete
soziale Beziehungen, auf Normen,
solidarische Praktiken und die Ver-
handlung von Zugehörigkeiten. Entsprechend wichtig ist die Präsenz
an den realen Orten, an denen citizenship verhandelt wird und dort,
wo neue Formen der Solidarität innerhalb städtischer Communities
gelebt werden. Der Kulturwandel,
den die Aktivist*innen von NOII mit
dem «Community Organizing» anstreben, soll sich nicht nur auf die
Praxis der Dienstleister*innen beziehen, sondern umfassender alle Bewohner*innen der Stadt ansprechen
und auf kommunaler Ebene den solidarischen Umgang der Menschen
miteinander stärken.
Denn nur, wenn die Grenzziehungen und grenzziehenden Denkweisen in den Köpfen der Menschen
überwunden werden, können
Migrant*innen mit prekärem Status als normale Mitbürger*innen
der Stadt angesehen werden – als
Nachbar*innen, Mitstudent*innen,
Arbeitskolleg*innen, Freund*innen.
Dies unterstreicht auch Faria Kamal
von NOII (zit. in Nagel u. a. 2010):
«Was ich besonders hervorheben
möchte, ist die Tatsache, dass es so
etwas wie ‹die Ausgeschlossenen›
oder ‹die Marginalisierten› nicht
gibt. Wir alle sind auf einer gewissen
Ebene ausgeschlossen. In den Kampagnen von Sanctuary/Solidarity City haben wir versucht, die falsche
Trennung aufzuzeigen zwischen denen, die einen Aufenthaltsstatus haben, und denen, die keinen haben.
Einen regulären Rechtsstatus zu haben, bedeutet den Zugang zu guten
Arbeitsplätzen, Gesundheitsversorgung, Bildung, Wohnen, Kinderbetreuung, Gerechtigkeit und Würde –
und die meisten Menschen können
irgendwann in ihrem Leben einen
Status nicht erlangen.»
Die Betonung gemeinsamer Betroffenheit durch verschiedene Formen sozialer Exklusion machte breite politische Allianzen möglich. Der
Kampf für ein besseres Leben wird
von verschiedenen Organisationen
des Netzwerks an konkreten Orten in der Stadt ausgetragen. Dieser fußt auf einem intersektionalen Zugang, bei dem nicht nur auf
Ausschlüsse durch fehlenden Aufenthaltsstatus fokussiert wird. Vielmehr geht es auch um den Kampf
gegen die kapitalistische Ausbeutung, gegen die Marginalisierung
der indigenen Bevölkerung und gegen die Unterdrückung aufgrund
von Geschlecht und institutionellem Rassismus. Beispielhaft ist hier
die Arbeit von «Parkdale Community
Legal Services», einer Organisation,
die sich in einem Stadtteil mit hoher
Armut und einer starken Gentrifizierung insbesondere an Bewohner*innen mit geringem Einkommen wendet. Die Institution versteht sich als
»Law Clinic» und bietet kostenlose rechtliche Beratung in verschiedenen Bereichen (u. a. Mietrecht,
Migrationsrecht, Arbeitsrecht) an.
Sie bleibt aber nicht bei der individuellen Fallarbeit stehen, sondern
lanciert auch politische Kampagnen
und betreibt Organizing im Stadtteil, etwa gegen Verdrängung, Obdachlosigkeit und für bezahlbaren
Wohnraum, gegen prekäre Arbeit
und für 15 Dollar Mindestlohn sowie
für eine bedürfnisgerechte Gesundheitsversorgung. Zusammen mit
109
verschiedenen anderen Organisationen innerhalb der Bewegung gehen die Aktivist*innen der «Parkdale
Community Legal Services» bei ihrer Arbeit für eine solidarische Stadt
von den unmittelbaren materiellen
Bedürfnissen der Bewohner*innen
aus und schaffen ein wachsendes
Bewusstsein für gemeinsame sozialpolitische Interessen über verschiedene Gruppen und Sektoren
hinweg.
4 KOMMUNALE PRAXIS ZWISCHEN
LIPPENBEKENNTNIS UND SPARPOLITIKEN
Während die Bewegung für eine solidarische Stadt mit ihrer Praxis in
verschiedenen Stadtteilen und innerhalb einzelner Sektoren und Institutionen seit vielen Jahren großartige Arbeit für einen angstlosen
Zugang zu sozialen Dienstleistungen leistet, hat die Stadtregierung
in Bezug auf die Umsetzung der
2013 beschlossenen «Sanctuary City»-Politik kaum etwas unternommen. Die eingangs zitierten Worte
von Bürgermeister Tory bedeuteten
daher nicht viel mehr als ein Lippenbekenntnis. Zwar demonstrierte die
Stadtregierung und -verwaltung auf
der diskursiven Ebene, dass Maßnahmen ergriffen würden, doch
mangelt es offensichtlich am politischen Willen, die Umsetzung dieser
Maßnahmen auch voranzutreiben.
Es folgten insgesamt nur wenige
konkrete Taten, um den «Zugang
ohne Angst» Wirklichkeit werden zu
lassen.
Die hoffnungsvolle Bezeichnung
als «Sanctuary City» ist damit eher
irreführend. Die Stadt agierte sogar
verantwortungslos, weil sie ein Infoblatt herausgab, in dem alle Bereiche aufgezählt wurden, die nun
«angstlos» zugänglich seien – dar110
unter auch die Polizei. Wie der Bericht «Often Asking, Always Telling»
von NOII (2015) unter Bezugnahme
auf offizielle Statistiken jedoch aufzeigt, meldete die städtische Polizei (TPS) 2014/15 jede Woche über
100 Menschen aus Toronto der nationalen Einwanderungsbehörde CBSA. Aktivist*innen von NOII
kritisieren, dass die TPS damit die
«Drecksarbeit» der nationalen Einwanderungsbehörde übernahm
und gleichzeitig die Ressourcen
der Stadt missbrauche, um etwas
zu tun, für das sie kein Mandat hat.
In dem Bericht wird aufgezeigt, wie
die TPS täglich Menschen ohne speziellen Anlass allein aufgrund ihres
äußeren Erscheinungsbilds (z. B.
schwarzer Hautfarbe) kontrolliert
(sog. Racial Profiling), deren Aufenthaltsstatus überprüft und an die CBSA ausliefert. Zudem sind im Bericht
Situationen dokumentiert, in denen illegalisierte Migrant*innen als
Zeug*innen oder Opfer eines Verbrechens die Polizei kontaktierten
und im Zuge dessen ihr fehlender
Aufenthaltsstatus der CBSA gemeldet wurde. So wird zum Beispiel ein
junger Mann zitiert, der die TPS anrief, als er eine Schießerei in seiner
Nachbarschaft beobachtete, und
der danach wegen fehlendem Aufenthaltsstatus verhaftet wurde: «Ich
werde nie, nie wieder zur Polizei gehen [...] Wenn ich beobachte, dass
jemand auf der Straße ermordet
wird, würde ich dies nicht der Polizei
melden». (NOII 2015: 26)
Obwohl die «Sanctuary City»-Politik die Arbeit der Polizei erleichtern
könnte, weil illegalisierte Migrant*innen bei der Strafverfolgung eher
mit der Polizei zusammenarbeiten
würden, wenn ihnen Aufenthaltssicherheit zugestanden wird, agieren
die Polizeibehörden in Toronto bisher gegenteilig. Die Polizei bezieht
sich in ihrer Praxis auf eine Klausel,
die besagt, dass sie in «unumgänglichen Fällen» die CBSA informieren
dürfe. Die Auslegung dieser «Unumgänglichkeit» (die sog. Bonafide-Klausel) unterliegt jedoch hauptsächlich dem Urteil des einzelnen
Polizeibeamten, womit es für Betroffene fast unmöglich ist, sich mit Erfolg gegen solche Polizeipraktiken zu
wehren.
Darin zeigt sich eine deutliche Tendenz von Polizeibeamten zur Kriminalisierung von Migrant*innen
aufgrund ihres fehlenden Aufenthaltsstatus. Zudem scheint die
Umsetzung der »Access without
Fear»-Politik stark von der persönlichen Gesinnung und der Überzeugung der einzelnen Beamten geprägt zu sein. Dies gilt allerdings
auch für verschiedene andere Bereiche wie zum Beispiel dem Bildungswesen, wie eine Pilotstudie von Wissenschaftler*innen der
Ryerson University zeigt (Hudson
u. a. 2017). «Die Realität ist, dass
der Stadtrat die Stadt zwar zu einer
Sanctuary City erklärt, aber dafür
keine zusätzlichen finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt hat», erklärt Graham Hudson, ein Mitautor
der Studie. Die Studie konstatiert,
dass insbesondere die Schulung
des städtischen Personals gänzlich
fehlgeschlagen ist: Obwohl sich die
Stadt verpflichtet hat, genügend
strukturelle Ressourcen zur Verfügung zu stellen, um ihre Angestellten in Bezug auf die Umsetzung
der «Access without Fear»-Politik
gezielt zu schulen, wurden die nötigen Budgetmittel für die Entwicklung und Durchführung von pädagogisch sinnvollen Trainings nicht
zur Verfügung gestellt. Wie auch
die Aktivist*innen des «Solidarity
City»-Netzwerks bereits seit Längerem betonen (Solidarity City 2013),
reicht eine schlichte Top-down-Information über die neue Richtlinie
nicht aus, um die Politik des angstfreien Zugangs tatsächlich wirksam
werden zu lassen. Zusätzlich zur angemessenen Schulung fordern sie,
dass Institutionen nur städtische
Mittel gewährt werden sollen, wenn
sie die «Access without Fear»-Policy
auch wirklich umsetzen, und dass
bei Nichtbeachtung der Richtlinien
Beschwerden eingereicht werden
können.
Eine weitere grundlegende Hürde
bei der Umsetzung stellt der komplexe rechtliche Kontext dar, in dem
die städtische «Sanctuary»-Politik
verortet ist, weil die Hauptverantwortung für einige wichtige wohlfahrtstaatliche Dienst- und Trans111
ferleistungen in Kanada auf der
Provinzebene liegt. So erlangen illegalisierte Migrant*innen beispielsweise kaum Zugang zur öffentlichen
Gesundheitsversorgung und müssen sich stattdessen auf Gesundheitszentren verlassen, die ein Budget für nicht versicherte Personen
bereitstellen.
Um Migrant*innen mit prekärem
oder fehlendem Aufenthaltsstatus
Zugang zu Dienstleistungen zu garantieren, die nicht in städtischer
Hand liegen, müsste die Stadt eine
aktivere Rolle einnehmen und auf
die Provinz- wie Bundesstaatsebene einwirken, um den Zugang zu
Geldern für Kinderbetreuung, Sozialhilfe, Gesundheitsversorgung
und Wohnraum für Menschen ohne
Aufenthaltstitel einzufordern. Aktivist*innen setzen sich daher für die
Vision einer «Sanctuary Province»
ein (NOII 2018), also einer Ausdehnung der «Sanctuary»-Politik auf
die Ebene der Provinz Ontario, was
auch ein Thema progressiver linker
Kräfte während des Wahlkampfs
auf Provinzebene im Frühling 2018
war. Doch im Juni desselben Jahres ist schließlich der rechtskonservative Doug Ford zum Premierminister von Ontario gewählt worden.
Er vertritt eine klar antimigrantische
Politik. Damit ist eine «Sanctuary
Province Ontario» in weite Ferne gerückt. NOII und andere Organisationen, die sich für die Rechte von illegalisierte Migrant*innen einsetzen,
sind deshalb in den vergangenen
Monaten aktiv geworden, um ihre politische Praxis mit Blick auf die
nationalen Wahlen im Herbst 2019
wieder stärker auf die Bundesebene zu konzentrieren. Im Dezember
2018 wurde das «Migrant Rights
Network» gegründet, das sich als
eine landesweite Plattform versteht
und beispielsweise eine Kampagne
für einen permanenten Status für alle Care-Arbeiterinnen angestoßen
hat.9
5 FAZIT: POLITISCHE MOBILISIERUNG VON UND IN
WIDERSPRÜCHEN
Die Erfahrungen, die die «Sanctuary
City»-Bewegung in Toronto bei der
Implementierung der städtischen
DADT-Politik gemacht hat, sind
gleichzeitig frustrierend und lehrreich. Sie machen deutlich, dass die
Verabschiedung einer kommunalen
Politik nicht das eigentliche Ziel sein
kann und soll, sondern vielmehr ein
Mittel, um die Organisierung von
unten voranzutreiben. Das «Solidarity City»-Netzwerk und insbesondere
112
die Aktivist*innen von NOII stellen
infrage, dass durch einzelne politische Maßnahmen ein gutes und sicheres Leben für alle Stadtbewohner*innen herbeigeführt werden
kann. Vielmehr fassen sie die «Sanctuary»-Politik als einen Prozess auf,
bei dem nationale Grenzziehungen
fortwährend von unten herausgefordert werden, indem sich Men9 Vgl. http://migrantrights.ca.
schen gegenseitig durch eine solidarische Praxis unterstützen und
gemeinsam Macht von unten aufbauen. «Wir können nicht einfach
bei Politiker*innen um eine Sanctuary City bitten, wir müssen sie uns
selbst schaffen», sagte eine Aktivistin in einer Gesprächsrunde im
Sommer 2018. Die jahrzehntelange
Mobilisierung innerhalb dieses städtischen Laboratoriums liefert wichtige Inspiration auf der Suche nach
neuen Wegen der Beziehung und
Fürsorge füreinander. So weisen die
verschiedenen DADT-Kampagnen
darauf hin, dass nicht nur Gesetze,
sondern auch die alltäglichen Praktiken aller Stadtbewohner*innen – als
Lehrer*innen, als Sozialarbeiter*innen, als Nachbar*innen – mitwirken mit bei der Etablierung wie auch
Hinterfragung von Grenzziehungen.
Sie bergen zudem das Potenzial,
staatlich definierte Kategorisierungen in «legal» und «illegal zu überwinden, da nicht so sehr die Frage
«Who is the citizen?» im Zentrum
steht, sondern vielmehr «What makes the citizen?» (Nyers 2019: 9).
Wie die solidarische Praxis von Organisationen wie NOII Toronto deutlich macht, sind die Widersprüche
zwischen den unmittelbar umsetz-
baren Lösungen für undokumentierte Migrant*innen und den Zukunftsvisionen einer grundlegend
anderen, gerechten Gesellschaft
wichtige Momente in den Mobilisierungen um eine «Sanctuary City». Syed Hussan von NOII betont:
«Wir müssen sowohl eine Vision für
die Zukunft skizzieren als auch einen
Weg finden, die Dinge in der Gegenwart besser zu machen» (zit. in Walia 2013: 283). Ausgehend von ganz
konkreten realen Bedürfnissen und
Gegebenheiten im Stadtraum wird
versucht, alltägliche Kämpfe verschiedener sozialer Bewegungen
zusammenzubringen, die sonst oft
getrennt voneinander verlaufen, und
ein neues Bewusstsein für gemeinsam erfahrene Formen von Ausbeutung, Unterdrückung und Diskriminierung innerhalb eines vielfältigen
städtischen Prekariats zu schaffen.
Gleichzeitig bleiben die Aktivist*innen nicht beim Community Organizing stehen: Sie erkennen an, dass
der Nationalstaat ein bedeutendes
Terrain politischer Auseinandersetzung bleibt und die Politisierung globaler Machtverhältnisse unverzichtbar ist.
113
LITERATUR
Abji, Salina (2016): Because Deportation is Violence Against Women:
On the Politics of State Responsibility and Women’s Human Rights, in:
Social Politics: International Studies
in Gender, State & Society 23(4),
S. 483–507.
Ataç, Ilker/Rosenberger, Sieglinde
(2018): Social Policies as a Tool of
Migration Control, in: Journal of
Immigrant & Refugee Studies, DOI:
10.1080/15562948.2018.1539802.
Basok, Tanya (2004): Post-National
Citizenship, Social Exclusion and
Migrants Rights: Mexican Seasonal
Workers in Canada, in: Citizenship
Studies 8(1), S. 47–64.
Berinstein, Carolina/McDonald,
Jean/Nyers, Peter/Wright, Cynthia/
Zerehi, Sima Sahar (2006): Access
Not Fear: Non-Status Immigrants
and City Services. Centre for Excellence in Research on Immigration
and Settlement, Toronto, unter:
https://we.riseup.net/assets/17034/
Access%20Not%20Fear%20
Report%20(Feb%202006).pdf.
Bhuyan, Rupaleem (2013):
People’s Priorities Change When
Their Status Changes: Negotiating
the Conditionality of Social Rights
in Service Delivery to Migrant
Women, in: Goldring, Luin/
Landolt, Patricia (Hrsg.): Producing
and negotiating non-citizenship:
precarious legal status in Canada,
Toronto, S. 238–257.
114
City of Toronto (2013): CD 18.5
Undocumented Workers in Toronto,
unter: http://app.toronto.ca/tmmis/
viewAgendaItemHistory.do?item=2013.CD18.5.
City of Toronto (2017): MM24.23
Motion Toronto for all – United
as an Inclusive Sanctuary City,
unter: www.toronto.ca/legdocs/
mmis/2017/mm/bgrd/backgroundfile-100915.pdf.
Fortier, Craig (2013): Decolonizing borders: no one is illegal
movements in Canada and the
negotiation of counter-national and
anti-colonial struggles from within
the nation-state, in: Goldring, Luin/
Landolt, Patricia (Hrsg.): Producing
and negotiating non-citizenship:
precarious legal status in Canada,
Toronto, S. 274–290.
Goldring, Luin/Landolt, Patricia
(Hrsg.) (2013): Producing and
negotiating non-citizenship:
precarious legal status in Canada,
Toronto.
Harris, Kathleen (2018): Canada
Border Services Agency moves to
‹substantially› increase deportations, in: CBS News, 30.10.2018,
unter: www.cbc.ca/news/politics/
cbsa-deportations-border-removals-1.4873169.
Hudson, Graham/Atak, Idil/
Manocchi, Michelle/Hannan,
Charity-Ann (2017): (No) Access
T.O.: A Pilot Study on Sanctuary
City Policy in Toronto, Canada. RCIS
Working Paper 2017/1, Toronto.
Mishra, Mohan/Kamal, Faria
(2007): Regularization from the
Ground Up: The Don’t Ask, Don’t
Tell Campaign. No One Is Illegal,
unter: http://noiireference.wordpress.com/resources/regularization-from-the-ground-up/.
Nail, Thomas/Kamal, Faria/Hussan,
Syed (2010): Building Sanctuary City: NOII-Toronto on non-status migrant justice organizing, in:
Upping the Anti, Nr. 11, S. 147–160.
NOII (2006): Access to Education
without Fear of Deporation, unter:
https://toronto.nooneisillegal.org/
node/390.
NOII (2015): Often Asking,
Always Telling. The Toronto Police
Service and the Sanctuary City
Policy, Toronto.
NOII (2018): What is Sanctuary Ontario? What is at stake
in the Ontario elections? unter:
https://toronto.nooneisillegal.org/
node/1025.
Nyers, Peter (2019): Irregular Citizenhip, Immigration, and Deportation, Abdingdon.
Solidarity City (2013): Towards a
Sanctuary City: Assessment and
Recommendations on Municipal
Service Provisions to Undocumented Residents in Toronto, Toronto.
Squire, Vicky/Bagelman, Jennifer
(2012): Taking not waiting: Space,
temporality and politics in the City
of Sanctuary movement, in: Nyers,
Peter/Rygiel, Kim (Hrsg.): Migration and Citizenship: Migrant Activism and the Politics of Movement.
Abingdon, S. 146–164.
Trew, Stuart (2017): City versus
State, in: The Monitor, Jg. 24, Nr. 3,
S. 16–23.
Villegas, Paloma E. (2013): Negotiating the Boundaries of Membership: Health Care Providers, Access
to Social Goods, and Immigration
Status, in: Goldring, Luin/Landolt,
Patricia (Hrsg.): Producing and
negotiating non-citizenship:
precarious legal status in Canada,
Toronto, S. 221–237.
Villegas, J. Francisco (2017):
Access without Fear! Reconceptualizing «Access» to Schooling
for Undocumented Students in
Toronto, in: Critical Sociology 43,
7–8/2017, S. 1179–1195.
Walia, Harsh (2013): Undoing Borders Imperialism, Chico (CA).
115
AUTORINNEN UND
AUTOREN
Wenke Christoph ist Referentin im Europareferat der Rosa-Luxemburg-Stiftung und beschäftigt sich mit europäischer Politik, insbesondere mit dem
europäischen Migrationsregime sowie mit Organisierungsansätzen linker
und progressiver Akteure in Europa. Sie hat Geografie studiert und war über
mehrere Jahre in der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung sowie
stadtpolitischen Initiativen engagiert.
Maurizio Coppola, als Sohn von süditalienischen Arbeitsmigrant*innen in
der Schweiz geboren, lebt in Neapel, wo er politisch im Kollektiv «Ex Opg Je
so‘ Pazzo» und bei «Potere al Popolo» aktiv ist. Nach dem Studium der Soziologie und Sozialpolitik arbeitete er als Lagerist in einem Getränkehandel.
Zurzeit verdient er sein Geld als Dolmetscher und Reisebegleiter.
Bue Rübner Hansen ist Soziologe und Historiker und beschäftigt sich mit
Fragen der Klassenbildung, Migration und sozialen Reproduktion. Vor Kurzem beendete er ein Postdoc-Projekt zum Thema «Emergence of New Ideas
of the Good Life in Common», das auf Forschungen zum Munizipalismus
in Barcelona und zur europäischen Flüchtlingssolidaritätsbewegung basiert. Bue ist Mitglied des Redaktionskollektivs des Viewpoint Magazine und
schreibt für Roar, Jacobin, OpenDemocracy und Novara Media.
Stefanie Kron ist Soziologin und Referentin für Internationale Politik in der
Akademie für politische Bildung der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin.
Sie beschäftigt sich mit Migrations- und Grenzregimen in international vergleichender Perspektive, mit Arbeitskämpfen im transnationalen Raum sowie mit emanzipatorischen Bewegungen in Lateinamerika und der Region
Nahost und Nordafrika. Sie ist Mitherausgeberin der wissenschaftlichen
Zeitschrift Movements und Mitglied des Netzwerkes kritische Migrationsund Grenzregimeforschung (kritnet).
116
Katharina Morawek ist Kopräsidentin und Projektleiterin bei INES – Institut
Neue Schweiz, einem Thinktank, der sich für einen Neuanfang in der migrationspolitischen Diskussion in der Schweiz einsetzt. Bis 2017 war sie künstlerische Leiterin und Geschäftsleiterin der Shedhalle Zürich. Dort initiierte
sie «Die ganze Welt in Zürich», ein groß angelegtes Projekt zu «Urban Citizenship». Sie hat zahlreiche Projekte und Initiativen zu Demokratisierung,
sozialer Gerechtigkeit, Urbanismus und Geschichtspolitik mitbegründet, so
etwa die stadtpolitische Initiative «Wir alle sind Zürich».
Mario Neumann ist Politikwissenschaftler und Aktivist aus Berlin. Er ist im
Netzwerk «We‘ll Come United» aktiv, arbeitet an der Universität Kassel und
ist gemeinsam mit Sandro Mezzadra Autor von «Jenseits von Interesse und
Identität: Klasse, Linkspopulismus und das Erbe von 1968» (Laika-Verlag).
Sarah Schilliger ist Soziologin und forscht aus einer intersektionalen Perspektive zu Migration, Care, Citizenship-Politiken und sozialen Bewegungen.
2018 weilte sie als Gastwissenschaftlerin an der York University, Toronto.
Zurzeit ist sie Lehrbeauftragte am Zentrum Gender Studies der Universität
Basel. Sarah Schilliger ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der RosaLuxemburg-Stiftung, Mitbegründerin der kollaborativen Forschungsgruppe
Racial Profiling und engagiert sich in der Bewegung «Wir alle sind Bern».
117
Diese Publikation ist im Arbeitszusammenhang
«RLS-Cities – Rebellisch, Links, Solidarisch»
der Rosa-Luxemburg-Stiftung entstanden.
BILDNACHWEISE
Umschlag: Henning Heine
Innenteil:
S. 17: Leif Hinrichsen/flickr.com (CC BY-NC 2.0)
S. 35: Marc Studer/Shutterstock.com
S. 53: Josep Bracons/flickr.com (CC BY-SA 2.0)
S. 77: Paul de Gregorio/flickr.com (CC BY-NC 2.0)
S. 97: Eric Parker/flickr (CC BY-NC 2.0)
IMPRESSUM
Herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung
V. i. S. d. P.: Henning Heine
Franz-Mehring-Platz 1 · 10243 Berlin · www.rosalux.de
ISBN 978-3-9818987-7-4 · Redaktionsschluss: Februar 2019
Redaktion: Franziska Albrecht, Wenke Christoph, Stefanie Kron
Korrektorat: TEXT-ARBEIT, Berlin
Layout/Herstellung: MediaService GmbH Druck und Kommunikation
Gedruckt auf Balance Pure, 100 % Recycling
WWW.ROSALUX.DE