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WENKE CHRISTOPH / STEFANIE KRON (HRSG.) SOLIDARISCHE STȦ˙DTE IN EUROPA Wenke Christoph und Stefanie Kron (Hrsg.) SOLIDARISCHE STÄDTE IN EUROPA URBANE POLITIK ZWISCHEN CHARITY UND CITIZENSHIP 2 INHALT Wenke Christoph und Stefanie Kron Solidarische Städte in Europa Urbane Politik zwischen Charity und Citizenship Mario Neumann Baustelle solidarische Stadt Berlins Landesregierung und linke Bewegungen forcieren soziale Rechte für Migrant*innen Katharina Morawek Städtische Bürgerschaft und der kommunale Personalausweis In Zürich setzen sich zivilgesellschaftliche Akteure für «Urban Citizenship» ein Bue Rübner Hansen Stadt der Zuflucht und Migration Die Bewegung «Barcelona en Comú» knüpft europäische Netzwerke der Solidarität Maurizio Coppola Solidarität gegen den Rechtsruck In Neapel setzen Aktivist*innen auf Mutualismus und neue Klassenpolitik Sarah Schilliger Exkurs: Ambivalenzen einer Zufluchtsstadt Die «Sanctuary City» Toronto versucht sich an der Demokratisierung von Grenzen Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 5 19 37 55 79 99 116 WENKE CHRISTOPH UND STEFANIE KRON SOLIDARISCHE STÄDTE IN EUROPA URBANE POLITIK ZWISCHEN CHARITY UND CITIZENSHIP In Europa wachsen die Bewegungen der Städte des Willkommens, der Zuflucht und Solidarität. Zivilgesellschaftliche Gruppen, städtische Politiker*innen und Stadtverwaltungen widersetzen sich so den wachsenden Restriktionen europäischer und nationaler Grenz- und Migrationspolitiken. Zugleich entwickeln sie konkrete kommunale Politiken zum Schutz oder zur sozialen Inklusion von Menschen mit prekärem Aufenthaltsstatus. Nicht zuletzt bilden sie diskursive Gegenpole zum europaweiten Aufstieg rechter Parteien, welche die Abschottung der Grenzen sowie die Kriminalisierung von Migrant*innen vorantreiben. Bereits seit den 1980er Jahren, als Hunderttausende Flüchtlinge aus den zentralamerikanischen Bürgerkriegsländern Schutz vor Verfolgung in den USA und in Kanada suchten, existiert in Nordamerika das Konzept der «Sanctuary City» («Stadt der Zuflucht»). Die damalige US-Regierung unter Ronald Reagan gewährte nur den wenigsten zentralamerikanischen Kriegsflüchtlingen Asyl. Da- her begannen religiöse Organisationen und migrantische Initiativen, kommunale Politiker*innen und Behörden unter Druck zu setzen, die Flüchtlinge vor Abschiebungen zu schützen und deren Aufenthaltssicherheit zu verbessern. Als erste Stadt verabschiedete San Francisco im Jahr 1985 eine «City of Refuge»-Resolution und im Jahr 1989 eine entsprechende Verordnung, die den städtischen Behörden und Polizist*innen die Kooperation mit den Bundesbehörden bei der Identifikation, Verfolgung, Inhaftierung und Abschiebung von Migrant*innen ohne legalen Aufenthaltsstatus untersagt (Bauder 2016: 176; Lippert/Rehaag 2013). Diese «Don’t Ask Don’t Tell»-Politik (DADT-Politik) fand in Nordamerika schnell Verbreitung. Bis heute haben sich mehr als 500 US-amerikanische und kanadische Städte und Gemeinden sowie sogar einige Bundesstaaten der «Sanctuary»-Bewegung angeschlossen. Nach der Flüchtlingstragödie von Lampedusa im Oktober 2013, bei 5 der mehr als 400 Menschen in Sichtweite zur Küste der sizilianischen Insel ertranken, war der Bürgermeister der sizilianischen Hauptstadt Palermo, Leoluca Orlando, einer der ersten in Europa, der seine Stadt zu einer Stadt des Willkommens sowie alle dort ankommenden Geflüchteten zu «Palermitanern» erklärte (vgl. Bloch 2018). Im Jahr 2015 veröffentlichte Orlando die «Charta von Palermo».2 Ihre zentrale Botschaft lautet, dass die Institution der Aufenthaltsgenehmigung abgeschafft werden muss, die Rechte der Staatsbürgerschaft ausschließlich mit dem Wohnort verbunden sein sollen und jedem Menschen das Recht auf die freie Wahl des Wohnortes zu gewährleisten sei. Genau genommen war die erste Stadt des Willkommens in Europa aber ein Dorf: Am 1. Juli 1998 legte vor Riace, einem kleinen Ort mit rund 2.000 Einwohner*innen an der kalabrischen Küste in Süditalien, ein Boot mit 300 Geflüchteten aus den kurdischen Gebieten an. Domenico Lucano, bis vor Kurzem der Bürgermeister des Ortes, nahm die kurdischen Flüchtlinge in seinem Dorf auf, das bis dahin drohte, sich in einen Geisterort zu verwandeln, weil immer mehr Bewohner*innen in die italienischen Metropolen oder ins Ausland abwanderten. Mit den Einwanderer*innen begann Lucano, Riace wieder zu beleben. Er beschloss, «einen Ort zu schaffen, an dem Flüchtlinge und Einheimische gemeinsam arbeiten und leben. Ein globales Dorf, in der ärmsten Gegend einer der ärms6 ten Regionen Italiens» (vgl. Mittelstaedt 2010). Anfang Oktober 2018 nahmen die italienischen Behörden Lucano allerdings fest und stellten ihn unter Hausarrest. Ähnlich wie den Crews der zivilen Rettungsschiffe wirft die Justiz Lucano unter anderem «Begünstigung illegaler Migration» vor. Inzwischen ist er zwar wieder auf freiem Fuß, Riace darf er allerdings nicht einmal mehr betreten (vgl. Kron 2018). Auch in Deutschland und den USA gibt es Landkreise, die sich zu Kommunen der Solidarität oder Zuflucht erklären. Dennoch ist die solidarische Kommune sowohl in Nordamerika als auch in Europa ein vorwiegend urbanes Phänomen. Denn erstens verdichten sich soziale Kämpfe und Konflikte, etwa im Feld der Migration, vor allem in großen Städten. Zweitens sind die Bewohner*innen von Städten – auch historisch – zumeist kulturell und sozial heterogener als ländliche Bevölkerungen. Drittens sind es eher die Städte als die ländlichen Kommunen, die vielfältige und gut vernetzte migrantische und andere zivilgesellschaftliche Organisationen und Bewegungen der Solidarität aufweisen. Und viertens verfügen Politiker*innen, Verwaltungen und zivilgesellschaftliche Gruppen in Städten oft bereits über jahrzehntelange konkrete Erfahrungen im Zusammenleben zwischen Eingesessenen und Eingewanderten. 1 Internationale Freizügigkeit von Menschen. Charta von Palermo 2015, unter: www.linksfraktion-hamburg. de/wp-content/uploads/2015/12/PDF-CARTA-DI-PALERMO-GER.pdf. NETZWERKE UND BÜNDNISSE SOLIDARISCHER STÄDTE Seit der Krise der europäischen Flüchtlingspolitik im Jahr 2015 und erneut seit die neue rechte Regierung Italiens im Sommer 2018 eine Blockade der italienischen Häfen für die Schiffe der zivilen Seenotrettung im Mittelmeer anordnete, haben Idee und Praktiken der solidarischen Stadt in ganz Europa eine beachtliche Dynamik erfahren. Transnationale Bezugspunkte sind dabei vor allem die erwähnte «Charta von Palermo» und die «Sanctuary»-Bewegung in Nordamerika. Viele europäische Metropolen sind dem 2016 gegründeten Städtenetzwerk «Solidarity Cities» beigetreten. Der Zusammenschluss im Rahmen des Eurocities-Netzwerks ist eine Initiative von Bürgermeister*innen für die Aufnahme und Integration von Geflüchteten. Diesem offiziellen Bündnis von Stadtregierungen gehören unter anderem Athen und Thessaloniki, Amsterdam, Barcelona, Ljubljana, Neapel, Stockholm und – seit Januar 2019 – auch Berlin an. «Solidarity Cities» drängt auf eine effizient koordinierte Steuerung dessen, was im Gründungsdokument «Flüchtlingskrise» genannt wird. Von der EU-Kommission fordert «Solidarity Cities» eine Erhöhung der Mittel für die soziale Infrastruktur jener Städte in Europa, in denen de facto die meisten Geflüchteten ankommen oder bereits leben.2 Im Jahr 2017 rief auch die aktivistische Basis im deutschsprachigen Raum zu einem Bündnis solidari- scher Städte auf. Flüchtlingsräte, migrantische Organisationen, Willkommensinitiativen, linke Bewegungen, stadtpolitische Organisationen, kirchliche Gruppen und Wissenschaftler*innen in Städten wie Berlin, Bern, Köln und Zürich sowie in zahlreichen kleineren Städten gründeten das alternative Städtenetzwerk mit dem fast identischen Namen «Solidarity City».3 Aus Protest gegen die – von fast allen Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten unterstützte – Blockade italienischer Häfen und Kriminalisierung der zivilen Seenotrettung im Mittelmeer, riefen Aktivist*innen aus dem Umfeld der internationalen Seenotrettungs-Bewegung im Sommer 2018 die Kampagne «Seebrücke» ins Leben und forderten die Regierungen deutscher Städte auf, sich zu «sicheren Häfen» für Geflüchtete zu erklären.4 Inzwischen gehören in Deutschland rund 40 Städte und Gemeinden einem oder mehreren der genannten Netzwerke solidarischer Städte an. Eine ähnliche Kampagne mit dem Namen «Safe Harbours» wurde auch in italienischen und spanischen Städten lanciert.5 In Italien stößt das Ende 2018 verabschiedete neue Einwanderungs- und Sicherheitsgesetz auf den entschiedenen Widerstand zahlreicher Kommunal- und Regionalpolitiker*innen. Es könnte rund 2 Vgl. https://solidaritycities.eu/. 3 Vgl. https://solidarity-city.eu/de/. 4 Vgl. https://seebruecke.org/startseite/sicheare-haefen-in-deutschland/. 5 Vgl. https:// alarmphone.org/en/2018/06/17/call-for-safe-and-openharbours/. 7 140.000 Menschen, die bisher unter humanitärem Schutz standen, illegalisieren und zu Obdachlosen machen. Nicht nur die Stadtoberen von Neapel, Palermo, Mailand und Florenz lehnen das neue Gesetz mit aller Entschiedenheit ab, sondern auch die Präsidenten der Regionen Toskana, Kalabrien und Piemont (vgl. Kitzler 2019). Der politische Raum der Stadt ist also zu einem Kampf- und Experimentierfeld rund um die Zukunft europäischer (oder sogar globaler) Flüchtlings-, Migrations- und Grenz- regime geworden, aber auch für eine grundlegende Demokratisierung städtischer Gesellschaften. Eine Besonderheit der Bewegung solidarischer Städte in Deutschland und Europa ist, dass sie – ähnlich der nordamerikanischen «Sanctuary»-Bewegung – aus den Praktiken der Solidarität und den Kämpfen der Migration entstanden ist, deren Forderungen nach Schutz und Rechten für Menschen mit prekärem Aufenthaltsstatus nun auch in wachsendem Maße von den Akteuren institutioneller Politiken aufgegriffen werden. DISKURSIVE INTERVENTIONEN UND SOLIDARISCHE PRAKTIKEN Dennoch können zunächst zwei Ebenen des politischen Handelns unterschieden werden: erstens sogenannte diskursive Interventionen von Bürgermeister*innen, namhaften Politiker*innen, Kulturschaffenden und Bewegungen in die politischen und medialen Räume der EU-Mitgliedsstaaten. Diese kennzeichnet ein allgemeiner Rechtstrend, der mit migrationsfeindlichen Diskursen, Politiken der Abschottung von Grenzen sowie der Kriminalisierung von Migrant*innen und Initiativen der Hilfe und Solidarität einhergeht. Ein Beispiel für diskursive Interventionen sind die öffentlichen Stellungnahmen der Bürgermeister Neapels, Luigi de Magistris, und Palermos, Leoluca Orlando, gegen die restriktive und rassistische Migrationspolitik des italienischen Innenministers Matteo Salvini. Sie fordern wieder8 holt und vehement die (Wieder-)Öffnung der italienischen Häfen für die zivile Seenotrettung und setzen sich (zumindest diskursiv) für die Stärkung solidarischer Stadtgesellschaften gegenüber dem Nationalstaat und der EU ein.6 Die Selbsterklärungen deutscher Städte zu «sicheren Häfen» und zur direkten Aufnahme von aus Seenot geretteten Flüchtlingen durch Städte oder Bundesländer gehören ebenfalls in die Kategorie der diskursiven Intervention. Denn das Bundesinnenministerium muss einer direkten Aufnahme von Geflüchteten zustimmen, was bislang nicht geschehen ist. Auch die Erklärung der Stadtre6 Vgl. Salvini furious as Italian mayors defy new immigration rules, in: The Local, 3.1.2019, unter: www. thelocal.it/20190103/salvini-furious-as-italian-mayors-defy-new-immigration-rulesitalian-mayors-defy-salvini-over-immigration. gierung Barcelonas unter Bürgermeisterin Ada Colau zu einer «Stadt der Zuflucht» zählt dazu. Nicht zuletzt bewegt sich auch der Zusammenschluss europäischer Stadtregierungen im «Solidarity Cities»-Netzwerk vor allem auf der Ebene der symbolischen Intervention. Die zweite Ebene umfasst die konkreten Kämpfe, Aushandlungen und Maßnahmen in den kommunalen politischen Räumen – etwa für Abschiebeschutz und Aufenthaltssicherheit von Asylbewerber*innen und Menschen mit prekärem Aufenthaltsstatus sowie für die Schaffung und Verbesserung ihres Zugangs zu sozialen Dienstleistungen, Rechten und Ressourcen. Mancherorts sind damit zudem Forderungen nach einer umfassenden Demokratisierung des städtischen Lebens im Sinne eines Rechts auf «Stadt für alle» verbunden, wie es auf der Eingangsseite der Homepage des alternativen «Solidarity City»-Netzwerks heißt.7 Auf dieser Ebene wie- derum kann unterschieden werden zwischen Anstrengungen städtischer Verwaltungen und Behörden einerseits und sozialen Bewegungen, migrantischen Vereinen und Verbänden, NGOs, Gewerkschaften und religiösen Organisationen andererseits. Inzwischen haben die Akteure beider Ebenen vielfach begonnen, miteinander zu agieren. Die Appelle zur Institutionalisierung solidarischer Praktiken von zivilgesellschaftlichen Akteuren fordern Stadtpolitiker*innen heraus. Die Ebene des diskursiven Handelns dient zugleich als Referenz für aktivistische und zivilgesellschaftliche Praktiken. In dieses entstehende diskursive Paradigma der solidarischen Stadt lassen sich zudem bereits existierende Praktiken und Bewegungen der Solidarität und der Unterstützung von und für Migrant*innen einordnen und neu rahmen. Dennoch: Eine gemeinsame Sprache solidarischer Städte in Europa gibt es noch nicht. SOLIDARISCHE STÄDTE UND «URBAN CITIZENSHIP» Auch Wissenschaftler*innen haben in den vergangenen vier Jahren begonnen, ihre Aufmerksamkeit auf das (entwicklungs-)politische, ökonomische und soziale Potenzial von Städten der Zuflucht, des Willkommens und der Solidarität zu richten. Rechtswissenschaftler*innen beschäftigen sich vor allem mit den juristischen Spielräumen und Grenzen von Kommunen bezüglich der Aufnahme, des Schutzes und der Inklusion von Flüchtlingen und Migrant*innen (vgl. Fried 2017; Heuser 2019). Sozialwissenschaftler*innen diskutieren die solidarische Stadt insbesondere im Kontext der Debatten um globale Bewegungsfreiheit und «Urban Citizenship» – Stadtbürgerschaft. Das Konzept «Urban Citizenship» bezieht sich auf T.H. Marshalls 1950 7 Vgl. https://solidarity-city.eu/de/. 9 veröffentlichtes Essay «Citizenship and Social Class». Der Begriff citizenship ist hier deutlich weiter gefasst als der deutschsprachige Begriff der (Staats-)Bürgerschaft und ermöglicht ein differenziertes und historisch informiertes Verständnis von sozialer, politischer und ökonomischer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben (Marshall 1950). In der Debatte um Stadtbürgerschaft wird genau diese Perspektive auf die lokale Ebene und auf städtische Prozesse eng geführt. Vor diesem Hintergrund wird von städtischen oder regionalen Formen von citizenship gesprochen, wenn lokalpolitische Instrumente eingeführt werden, die soziale Teilhabe nicht nur für Staatsbürger*innen gewährleisten oder ausdehnen, sondern für alle Menschen, die in einer Stadt leben. Zudem wird auf die politischen und sozialen Kämpfe fokussiert, durch die Anerkennung, Rechte und der Zugang zu Ressourcen erstritten werden (vgl. García 2006).8 NEUE PERSPEKTIVEN AUF DEN URBANEN RAUM Die Rosa-Luxemburg-Stiftung begleitet seit dem «Sommer der Migration» 2015 die Entwicklung solidarischer Städte in Europa. Innerhalb der Stiftung gibt es mindestens drei Perspektiven auf dieses Politikfeld: erstens einen internationalistischen Blickwinkel, der die Stadt als konkreten Ort der Umsetzung globaler sozialer Rechte und des Rechts auf globale Bewegungsfreiheit betrachtet (vgl. Kron/Lebuhn 2018).9 Zweitens ist die stadtpolitische Perspektive zu nennen. Hier wird das Augenmerk auf die Möglichkeiten und Herausforderungen linker Stadtpolitik gerichtet (vgl. Drunkenmölle/Schnegg 2018). Zu dieser Perspektive zählen auch der neue Munizipalismus und die «Rebel Cities». Beide Konzepte zielen darauf, die Gestaltung von Politik «von unten» zu demokratisieren und zu verändern, Institutionen (wieder) gemeinwohlorientiert auszurichten und ein neues Verhältnis zwischen kommunalen Regierun10 gen und sozialen Bewegungen zu schaffen (vgl. Caccia 2016; Harvey 2013; Zelik u. a. 2016). Eine dritte Perspektive auf solidarische Städte bilden die strategischen Debatten um eine verbindende Klassenpolitik, die die Diversität der Arbeiterklasse als Ausgangspunkt linker Organisierung betrachten (vgl. Candeias 2017 und Coppola in dieser Broschüre). Die hier angerissenen Debatten in Politik und Zivilgesellschaft zeigen auch das wachsende Interesse linker Akteure in Europa an Erfahrungen und Ideen aus anderen «Städten der Solidarität». Allerdings sind die administrativen und politischen Voraussetzungen wie auch die jeweils involvierten Akteure, Schwerpunktsetzungen und Handlungsansätze 8 Vgl. auch Hess/Lebuhn 2014, Holston 1999, Isin/ Nielson 2008, Krenn/Morawek 2017, Kron 2017, Kuge 2017, Lebuhn 2018 und Rodatz 2014. 9 Vgl. hierzu auch die Themenseite der Rosa-Luxemburg-Stiftung «Migration und Metropolen»: www.rosalux.de/dossiers/migration/migration-und-metropolen/. verschieden. In anderen Worten: Es gibt kein einheitliches Konzept einer solidarischen Stadt. Die Unterschiede beginnen bei der Diversität migrantischer Communities und Flüchtlingsgruppen in den einzelnen Städten. Sie gehen weiter bei den Fragen, wer auf kommunaler Ebene für was zuständig ist, etwa welche Rolle die Polizei und welche Kompetenzen die Städte haben. Oder: Wo liegen kommunale Einfluss- und Entscheidungsmöglichkeiten? Wie sehen die aufenthalts- und migrationsrechtlichen Bedingungen aus? Wie ist der Zugang zu sozialstaatlichen Leistungen geregelt? Schon innerhalb Deutschlands sind diese Fragen unterschiedlich gelöst, noch größere Unterschiede bestehen im europäischen Vergleich. Studien, die diese Unterschiede (und Ge- meinsamkeiten) in international vergleichender Perspektive und empirisch fundiert betrachten, existieren indes bislang nicht. Die vorliegende Broschüre soll deshalb dazu beitragen, diese Wissensund Forschungslücke zu schließen. Unser Anliegen ist es, erstens die Befunde und Ergebnisse der Broschüre in die Debatten um die Entwicklung linker migrationspolitischer Strategien in Deutschland und Europa einfließen zu lassen. Zweitens möchten wir die bestehenden Ansätze und Erfahrungen solidarischer Städte bündeln und in einer breiteren Öffentlichkeit zur Diskussion stellen. Drittens geht es uns auch darum, die Perspektive der Migration in die Debatten um Munizipalismus und «Rebel Cities» einzubringen. VORGEHEN UND AUSWAHL DER FALLBEISPIELE Wir haben die vier europäischen Städte Berlin, Barcelona, Neapel und Zürich sowie die kanadische Stadt Toronto ausgewählt. In jeder dieser Städte treiben jeweils sehr verschiedene Akteure unterschiedliche Praktiken und Diskurse der solidarischen Stadt voran. Zugleich war es uns wichtig, die unterschiedlichen Rahmenbedingungen städtischer solidarischer Praktiken in die Untersuchung aufzunehmen. Hierzu gehören neben den verschiedenen migrationspolitischen Setzungen der europäischen Nationalstaaten auch die unterschiedliche Betroffenheit der Städte von den Folgen der europäischen Krisen- und Austeritätspolitik, die sich erheblich etwa auf die vorhandenen Ressourcen für städtische Infrastrukturen und Dienstleistungen auswirken. Die ausgewählten Städte repräsentieren daher unterschiedliche Praktiken, Diskurse, Handlungsansätze und Rahmenbedingungen solidarischer Stadtpolitik. Die fünf Fallstudien wurden von den Autor*innen auf der Basis einer Analyse von Sekundärquellen und explorativen Interviews mit ausgewählten Akteuren aus Zivilgesellschaft und Stadtpolitik in den fünf 11 Städten erstellt. Die Interviews wurden im Zeitraum von November bis Dezember 2018 durchgeführt. Gemeinsam mit den Autor*innen arbeiteten wir im Rahmen eines Tagesworkshops Anfang Dezember 2018 die folgenden leitenden Fragen heraus: Welche Akteure engagieren sich in den jeweiligen Kommunen für die «solidarische Stadt»? Welche Auseinandersetzungen, Formen des Austausches und der Kooperation zwischen unterschiedlichen Akteursgruppen – etwa Aktivist*innen, Parteien, Verwaltungen – finden in diesem Feld statt? Welche Schwerpunkte werden gesetzt? Wie gestaltet sich das Verhältnis zwischen institutioneller Politik einerseits und nichtstaatlichen Akteuren andererseits? Welche konkreten Projekte und Maßnahmen der Solidarität mit und zwischen Migrant*innen wurden und werden durch die Initiativen solidarischer Städte angestoßen? Wird versucht, den Zugang zu städtischer sozialer Infrastruktur und Dienstleistungen – beispielsweise Bildung, Gesundheit, Wohnraum – für Migrant*innen mit prekärem Aufenthaltsstatus, insbesondere auch für Illegalisierte und von Abschiebung Bedrohte, zu gewährleisten oder zu verbessern? Werden politische und juristische Maßnahmen ergriffen, um Abschiebungen zu verhindern oder ihre Zahl zu verringern, und wenn ja welche? Gibt es Maßnahmen zur Verbesserung der Aufenthaltssicherheit für Menschen mit prekärem Status? Gibt es Ansät12 ze, Flüchtlinge direkt in die Stadt zu holen, und wenn ja, welche? Welche Motivationen treiben die Akteure solidarischer Städte an und welchen Charakter haben die solidarischen Praktiken? Folgen sie beispielsweise eher dem Humanitarismus, dem Antirassismus oder der Idee von Migrationspolitik als Klassenpolitik? Welche Bedeutung haben Diskurse um Konzepte wie «Urban Citizenship», «Recht auf Rechte» und «Globale Soziale Rechte» in den jeweiligen Debatten und Aushandlungsprozessen solidarischer Städte? Baustelle Berlin Mario Neumann begibt sich mit seinem Beitrag auf eine «Baustellenbesichtigung» in die deutsche Hauptstadt, die seit 2015 über 100.000 dokumentierte Geflüchtete aufgenommen hat und Wohnort von geschätzt mehreren Zehntausend Illegalisierten ist. Sowohl die rotgrün-rote Landesregierung als auch zivilgesellschaftliche Initiativen wie etwa das Netzwerk «Solidarity City Berlin» haben seither Initiativen zur Verbesserung des Zugangs von Migrant*innen zu sozialen Leistungen entwickelt, insbesondere in den Bereichen Gesundheit und Bildung. Der Beitrag analysiert die Praktiken institutioneller wie zivilgesellschaftlicher Akteure und diskutiert deren – oftmals auch konfliktives – Zusammenspiel im Hinblick auf die Durchsetzung von Rechten sowie die strategischen Perspektiven und Grenzen eines stadtpolitischen Ansatzes. «Creative City» Zürich Katharina Morawek zeichnet in ihrem Beitrag die Akteure und Aushandlungsprozesse nach, die in Zürich im Oktober 2018 in einen Beschluss der Stadtregierung mündeten, ebenso wie in der Hauptstadt Bern, eine sogenannte City Card einzuführen, mithilfe derer vor allem die Zehntausenden Menschen, die ohne Papiere (Sans Papiers) in der Stadt leben, mehr Aufenthaltssicherheit und einen verbesserten Zugang zu sozialen Dienstleistungen erhalten sollen. Viele der an diesem Prozess beteiligten kulturpolitischen und antirassistischen Initiativen sahen die City Card lediglich als eine konkrete Maßnahme einer breiter gefassten Kampagne für «Urban Citizenship» in Zürich. Mit der wachsenden Beteiligung institutioneller politischer Akteure trat dieses Anliegen der sozialen Bewegungen allerdings in den Hintergrund und es begannen technische und juristische Diskussionen bezüglich der Umsetzung des städtischen Ausweises zu dominieren. Im Mittelpunkt des Beitrags steht also die Frage, ob und inwieweit Konzepte (stadt-)gesellschaftlicher Transformation in den Institutionalisierungsprozessen solidarischer Praktiken und Instrumente erhalten bleiben oder verdrängt werden. Zufluchtsstadt Barcelona Bue Rübner Hansen untersucht Ansätze solidarischer Stadtpolitik in der katalonischen Hauptstadt Barcelona, die seit 2015 insbesondere durch Akteure der munizipalis- tischen Plattform «Barcelona en Comú» verfolgt werden und die Stadt. So wurde Barcelona zu einem Lern- und Experimentierfeld für eine andere Stadt- und Inklusionspolitik. Zwar erklärte sich die Stadt bereits 2015 zur «Ciutat Refugi»(Zufluchtsstadt) und konnte sich gegenüber der Zentralregierung und der europäischen Politik als Pol der Solidarität und des Willkommens aufbauen. Zugleich gestalten sich die im städtischen Kontext konkret möglichen rechtlichen und sozialen Verbesserungen für migrantische Bewohner*innen und die öffentlichen Auseinandersetzungen, etwa um migrantische Straßenhändler*innen, als schwierig und konfliktiv. Hansens Beitrag diskutiert so auch die Logiken und Chancen zur Erweiterung des Handlungsraums städtischer Solidaritätspraktiken und Inklusionspolitiken. Mutualismus in Neapel Maurizio Coppola betrachtet in seinem Beitrag zur solidarischen Stadt Neapel zum einen die vor allem diskursiven Interventionen der Stadtregierung unter Bürgermeister de Magistris in den Auseinandersetzungen um die italienische Migrationspolitik. Zum anderen analysiert der Beitrag die solidarischen Praktiken sozialer Bewegungen, etwa bei der Rechtsberatung für von und Gesundheitsversorgung von Migrant*innen. Diese solidarische Basisarbeit hat sich im Kontext von sozialen und politischen Stadtprojekten entwickelt, die als Reaktion auf die tief greifende Krise in Itali13 en entstanden sind und mutualistischen Charakter haben. Coppola diskutiert dabei die Chancen der Politisierung dieser Praktiken der Solidarität mit Migrant*innen aus einer verbindenden klassenpolitischen Perspektive. Ohne Angst in Toronto? Sarah Schilliger analysiert die Erfolge und Probleme, die der offizielle Status einer «Sanctuary City» im nordamerikanischen Stil mit sich bringt. Toronto, von dessen rund drei Millionen Einwohner*innen die Hälfte nicht in Kanada geboren wurde, war 2013 die erste kanadische Stadt, deren Regierung eine «Sanctuary City»-Politik beschloss. Toronto gilt zudem als Vorbild für das deutschsprachige «Solidarity City»-Netzwerk. Der «Sanctuary City»-Status Torontos wurde in einem fast zehnjährigen Prozess von einem breiten Bündnis aus zivilgesellschaftlichen Organisationen im Rahmen der «Access without Fear»-Kampagne gegen Abschiebungen, für Aufenthaltssicherheit und einen angstfreien Zugang zu Justiz und sozialen Dienstleistungen für Menschen mit prekärem Aufenthaltsstatus erkämpft. Sarah Schilliger zeigt, dass eine «Sanctuary City» allerdings auch mit ausreichend Budget, öffentlichen Aufklärungskampagnen und Weiterbildungsmaßnahmen für Beamte und Angestellte öffentlicher Institutionen ausgestattet werden muss, wenn Schutz und Sicherheit für Migrant*innen mit prekärem Status nicht nur ein Lippenbekenntnis bleiben sollen. 14 LITERATUR Bauder, Harald (2016): Sanctuary Cities: Policies and Practices in International Perspective, in: International Migration 55(2), S. 174−187. Bloch, Werner (2018): Palermo ist wie Beirut, in: Der Tagesspiegel, 3.7.2018. Caccia, Beppe (2016): Europa der Kommunen, unter: www.zeitschriftluxemburg.de/europa-derkommunen/. Candeias, Mario (2017): Eine Frage der Klasse. Neue Klassenpolitik als verbindender Antagonismus, in: LuXemburg, Sonderausgabe, unter: www.zeitschrift-luxemburg.de/einefrage-der-klasse-neue-klassenpolitik-als-verbindender-antagonismus/. Drunkenmölle, Jan/Schnegg, Julia (2018): Teilhabe statt Ausgrenzung. Integration und Partizipation Geflüchteter in Berlin – ein Senatskonzept, Online-Publikation der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin, unter: www.rosalux.de/ publikation/id/39609/teilhabestatt-ausgrenzung/. Isin, Engin F./Nielsen, Greg M. (Hrsg.) (2008): Acts of Citizenship, London. Fried, Barbara (2017): «Sanctuary Cities sind in Deutschland nicht utopisch». Interview mit Helene Heuser, in: LuXemburg 1/2017, unter: www.zeitschrift-luxemburg.de/ sanctuary-cities-sind-in-deutschland-nicht-utopisch/. 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Erfolg oder Frust?, in: LuXemburg 2/2016, unter: www.zeitschrift-luxemburg. de/rebellische-staedte-erfolg-oder-frust/. 16 17 18 MARIO NEUMANN BAUSTELLE SOLIDARISCHE STADT BERLINS LANDESREGIERUNG UND LINKE BEWEGUNGEN FORCIEREN SOZIALE RECHTE FÜR MIGRANT*INNEN Berlin ist und bleibt eine Baustelle. Was für die Wohnungspolitik gilt, gilt ebenso für den mittlerweile weltbekannten Hauptstadtflughafen. Und es gilt für die Idee der solidarischen Stadt, die hier an vielen Orten diskutiert, praktiziert und weiterentwickelt wird, ohne dass es ein einheitliches Bild oder Subjekt der «Solidarity City Berlin» gäbe. Das ist jedoch keine schlechte Nachricht, sondern eine gute Grundlage für existierende und kommende Experimente. Baustelle ist eben nicht gleich Baustelle. Berlin ist seit jeher eine Einwanderungsstadt, deren Alltag undenkbar ist ohne die Allgegenwart der Migrationsgeschichten, der Vertrags- und Gastarbeit und der jüngsten migrantischen Bewegungen von innerhalb und außerhalb Europas. Berlin ist Sinnbild des Zusammenlebens der Vielen in Differenz und als Stadt Feindbild Nummer eins des völkischen Nationalismus in Deutschland. Berlin war von 2012 an Schauplatz des O-Platz-Movements, der fast zweijährigen Besetzung eines zentralen Platzes in der Stadt – besetzt von Geflüchteten, die für ihre Rechte und die Abschaffung von Lagern und Residenzpflicht protestierten. Bei Kotti & Co und in zahllosen anderen Zusammenhängen kämpfen seit Jahren Mieter*innen gegen die neoliberale städtische Wohnungspolitik. Spätestens seit 2015 engagieren sich Zehntausende in Hunderten Solidaritätsinitiativen. Im Jahr 2017 fand die «We’ll Come United»-Parade im Regierungsviertel statt, bei der eine Woche vor der Bundestagswahl knapp 10.000 Menschen für die Rechte von Migrant*innen demonstrierten, die meisten von ihnen selbstorganisierte Gruppen von Geflüchteten. Berlin ist die Geburtsstadt der Seebrücken-Bewegung. Berlin ist Stadtstaat. Und Berlin hat seit zwei Jahren eine rot-grün-rote Regierung. Diese Fallstudie beruht auf einem halben Dutzend Interviews, die ich im Dezember 2018 mit migrantischen und solidarischen Initiativen, linken Politiker*innen und Vertreter*innen von Vereinen geführt habe. 19 1 DIE SITUATION SEIT 2015 UND DIE LINKE LANDESREGIERUNG Im «langen Sommer der Migration» (Hess u. a. 2016) haben sich in Deutschland und Berlin die Karten neu gemischt – sei es für die Refugee-Bewegungen, die Solidaritätsstrukturen oder die Migrationspolitiken. Seit Beginn des Jahres 2015 sind in Deutschland mehr als 1,5 Millionen Menschen angekommen, die einen Antrag auf Asyl gestellt haben. Im Jahr 2015 kamen 55.005 von ihnen nach Berlin, in 2016 16.889 und in 2017 8.285. Im Jahr 2018 kamen ungefähr 600 Personen im Monat nach Berlin, die hierhin vom bundesweiten sogenannten EASY-System verteilt wurden. In Berlin leben gegenwärtig 774.234 anerkannte Geflüchtete mit einer Aufenthaltserlaubnis oder einer Niederlassungserlaubnis, das heißt, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ihre Anträge positiv beschieden hat. Knapp 15.000 Personen befinden sich derzeit im Asylverfahren oder im Klageverfahren gegen einen Negativbescheid. Über 12.000 Personen in Berlin sind «ausreisepflichtig», davon haben derzeit 10.744 eine Duldung (Juretzka 2018: 4). Berlin ist aber nicht nur im Bereich der sogenannten Fluchtmigration ein Zentrum der Migration. Nach unterschiedlichen Zählungen (die Zahlen des Ausländerzentralregisters weichen von den hier zitierten ab) besitzen mindestens 20 Prozent der in Berlin lebenden Menschen keinen deutschen Pass. Im Juni 2018 waren dies 725.458 Men20 schen aus 193 Staaten, unter ihnen 277.002 EU-Bürger*innen und 193.270 vom restlichen europäischen Kontinent. 57.109 Menschen haben eine polnische Staatsangehörigkeit, 98.046 eine türkische, einen Pass aus Italien und Bulgarien haben jeweils knapp 30.000 Menschen. 22.395 Personen haben eine rumänische Staatsangehörigkeit, knapp 35.000 eine syrische, rund 12.000 eine afghanische. 17.000 Menschen sind Staatsbürger*innen Vietnams (Amt für Statistik Berlin-Brandenburg 2018). Geschätzt mehrere Zehntausend Menschen leben als Illegalisierte in Berlin. Rot-grün-rotes Berlin Der linke Senat hat Ende 2016 in Berlin seine Arbeit aufgenommen. Damit fiel der Beginn der rot-grünroten Landesregierung direkt in die Hochphase vielfältiger staatlicher und gesellschaftlicher Anstrengungen, mit den Folgen des «langen Sommers der Migration» umzugehen. Der Koalitionsvertrag des neuen Senats versprach die Ausschöpfung der bundespolitischen Möglichkeiten für eine progressive Migrationspolitik (Regierungsparteien Berlin 2016) – genauso wie eine Überarbeitung des migrationspolitischen «Masterplans» der Vorgängerregierung und eine systematische Einbeziehung von Zivilgesellschaft und Geflüchteten in den politischen Prozess (Juretzka 2017). Dieser Prozess wurde Ende 2018 mit einem neuen Gesamtkonzept abgeschlossen (s. u.) Die deutsche Asyl- und Migrationspolitik kennt unterschiedliche Zuständigkeiten, die bei den Kommunen, Bundesländern oder dem Bund liegen. Im Asylverfahren ist das Bundesland Berlin über das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) formal zuständig für die Erstaufnahme und Registrierung von Geflüchteten. An diesen Prozess schließt sich die Bearbeitung des Asylantrags an, die im Aufgabenbereich des BAMF, also einer Bundesbehörde des Innenministeriums, liegt. Gleichzeitig fallen Asylsuchende unter das Asylbewerberleistungsgesetz, das ihnen für die Dauer des Asylverfahrens Unterkunft und Geldbzw. Sachleistungen zugesteht und dessen Umsetzung im Zuständigkeitsbereich der Länder und Kommunen liegt. Dazu zählen sowohl Geldleistungen als auch der Betrieb von Unterkünften und der Erstaufnahmeeinrichtungen. Für diesen gesamten Bereich sind in Berlin wesentlich die Senatsverwaltung für Arbeit, Soziales und Integration unter Senatorin Elke Breitenbach (DIE LINKE) und das ihr unterstellte LAF zuständig, ebenso wie für unterstützende Maßnahmen und Programme im Zeitraum des Asylverfahrens wie zum Beispiel Sprachkurse. Gleichzeitig fallen alle Menschen ohne deutschen Pass und mit befristeten Aufenthaltstiteln in den Zuständigkeitsbereich der Ausländerbehörden, die wiederum Landesbehörden sind und die in Berlin bei der Senatsverwaltung für Inneres an- gesiedelt sind. Die Ausländerbehörden sind zum Beispiel zuständig für die Entscheidungen über Arbeitserlaubnisse und verschiedene Aufenthaltstitel, sie vergeben Duldungen und sind gemeinsam mit der Polizei für die Anordnung und Durchführung von Abschiebungen zuständig. Handlungsspielräume Für den Handlungsspielraum der Berliner Landesregierung heißt dies konkret: Die Entscheidungen über Asylanträge und Einreise liegen außerhalb ihrer Handlungskompetenz. Gleichzeitig ist sie für die sozialen Bedingungen des Asylverfahrens, die Unterbringungssituation und die Unterkünfte sowie im Falle einer Ablehnung für die Durchführung der Abschiebungen verantwortlich – ebenso wie für Duldungen. Mit anderen Worten: Das BAMF kann zwar über den rechtlichen Status der in Berlin lebenden Geflüchteten entscheiden, allerdings gibt es keine Bundesbehörde, die ohne die Berliner Ausländerbehörde Abschiebungen durchführen kann. In den zwei Jahren des Bestehens der linken Landesregierung ist vor allem im Zuständigkeitsbereich von Elke Breitenbach eine Menge passiert, allen voran bei der Unterbringung von Asylsuchenden und bei der Erstaufnahme. Die umstrittene Ankunftsunterkunft in den Hangars des Tempelhofer Flughafens wurde nach langen Verzögerungen zum Jahresende 2018 geräumt, ebenso wie beinahe alle Notunterkünfte. Das LAF baut derzeit in einer ersten Phase an 28 Standorten sogenannte Mo21 dulare Unterkünfte für Flüchtlinge (MUFs) mit jeweils 200 bis 450 Plätzen. Die Unterkünfte sind einfach und werden auch vielfach kritisiert, weil sie neue Substandards auf dem Wohnungsmarkt etablieren. Gleichzeitig haben sie jedoch die Unterbringungssituation von vielen Menschen verbessert. Aufgrund der Wohnungsknappheit gibt es Möglichkeiten für Menschen, auch nach einem Positivbescheid im Asylverfahren noch in den Unterkünften zu bleiben. Rund 11.000 solcher statusgewandelten Menschen leben noch in Gemeinschaftsunterkünften des LAF.1 Arbeit und Integrationspolitik Anerkannte Asylbewerber*innen fallen sozialpolitisch in der Regel nach Abschluss des Asylverfahrens in die Zuständigkeit der «normalen» Sozialsysteme. Bei Arbeitslosigkeit ist die Bundesagentur für Arbeit verantwortlich, über die neben der Sicherung des Lebensunterhalts dann auch die Gesundheitsversorgung, Qualifizierungsmaßnahmen und Weiteres geregelt werden. Geduldete und auch abgelehnte Asylbewerber*innen bleiben in den Leistungen des Asylbewerberleistungsgesetz. Anders als in vielen anderen europäischen Ländern fallen anerkannte Asylbewerber*innen damit in Deutschland mit dem Positivbescheid sozialpolitisch in die Regelversorgung. Sie haben Anspruch auf Sozialhilfe (ALG II) und darüber hinaus auch auf eine Krankenversicherung. Die Bundesagentur für Arbeit entscheidet über viele der daran anschließenden Maßnahmen 22 (Sprachkurse, Qualifizierungen, Anerkennung von Berufsabschlüssen etc.) und ist gleichzeitig gemeinsam mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales bestrebt, dauerhafte Bleibeperspektiven auch an die erfolgreiche Bewährung auf dem Arbeitsmarkt zu koppeln. Fast eine halbe Million der rund 1,2 Millionen Menschen, die gegenwärtig über einen anerkannten Schutz und damit über einen humanitären Aufenthaltstitel verfügen, sind bei der Bundesagentur für Arbeit bundesweit als Arbeitssuchende registriert (Bundesagentur für Arbeit 2018). Die Stadt Berlin ist für diese Menschen neben der Bundesagentur für Arbeit ein zentraler Akteur der sogenannten Integrationspolitik. Das Feld linker Migrationspolitik ist also keinesfalls dort zu Ende, wo Geflüchtete einen Positivbescheid in ihrem Asylverfahren erhalten, der ohnehin zeitlich befristet ist und an den sich Kämpfe um dauerhafte Aufenthaltsgenehmigungen und Niederlassungserlaubnisse anschließen. Nichtsdestotrotz kann gesagt werden, dass aufgrund des Zugangs von anerkannten Asylbewerber*innen zur Regelversorgung das zentrale Konfliktfeld einer Politik der solidarischen Stadt im Umgang mit illegalisierten Personen, geduldeten und abgelehnten (und damit abschiebebedrohten) Geflüchteten und denjenigen liegt, die sich noch im Asylverfahren befinden. 1 Fast 2.000 Abschiebungen 2016 in Berlin, in: neues deutschland, 17.2.2017, unter: www.neues-deutschland. de/artikel/1042105.fast-abschiebungen-in-berlin.html. 2 «SOLIDARITY CITY BERLIN»? EINE BAUSTELLENBESICHTIGUNG Etwa 100.000 dokumentierte Geflüchtete haben seit 2015 Berlin erreicht. Darüber hinaus leben mehrere Zehntausend illegalisierte – und zum Teil nicht registrierte sowie obdachlose – Personen in der Stadt. Dem entsprechen sowohl eine Vielzahl von sozialen und politischen Initiativen als auch eine breite Palette an Anforderungen an die institutionelle Politik. Auch wenn für Berlin keine verlässlichen Zahlen vorliegen: Berlin ist nicht nur eine Stadt der Migration, sondern auch eine Stadt der Solidarität. Ein unüberschaubares Netz alter und seit 2015 neu entstandener Solidaritätsinitiativen prägt die politischen Phantasien und Diskussionen um die solidarische Stadt wie auch das Selbstbewusstsein linker Migrationspolitik. Für das gesamte Bundesgebiet gilt jedenfalls, dass über 50 Prozent der Bevölkerung ab 16 Jahren seit 2015 Hilfe für Geflüchtete geleistet haben. Im vergangenen Sommer waren 19 Prozent ehrenamtlich in Solidaritätsstrukturen aktiv oder spendeten Geld. Die Aktiven haben durchschnittlich über fünf Stunden pro Woche in diese ehrenamtliche Tätigkeit investiert (Bundesministerium für Familie u. a. 2018). Zwischen 2015 und 2016 sind etwa 15.000 neue Projekte entstanden (Schiffauer u. a. 2017). Diese Zahlen können wohl ohne Weiteres auf Berlin übertragen werden und liegen hier vermutlich noch etwas über dem Durchschnitt. R2G und die Linkspartei in der Regierung Dass der Berliner Senat sich neuerdings dem Leitbild der «Solidarity City» verpflichtet, ist daher erst einmal keine Überraschung. Die Stadt Berlin ist seit Januar 2019 offiziell Mitglied im europäischen Netzwerk Solidarischer Städte der Eurocities-Initiative. Außerdem hat die Berliner Linkspartei sich auf ihrem Parteitag im Dezember 2018 dem Bild der «Solidarischen Stadt Berlin» verschrieben. Im Beschluss heißt es unter anderem: «Wir sind überzeugt, dass die Mehrheit der Menschen dann von einer offenen Gesellschaft überzeugt bleibt, wenn die Vision einer sozialen Einwanderungsgesellschaft sichtbar und praktisch erlebbar gestaltet werden kann. Es waren und sind die Städte, die mit den Herausforderungen der Globalisierung, mit den Verheerungen des marktradikalen Neoliberalismus zuerst konfrontiert waren. Deshalb werden in vielen Städten in ganz Europa und in der Welt Gegenmodelle zur Politik der Entsolidarisierung, Prekarisierung und Vereinzelung entwickelt. Traditionelle Parteienpolitik verknüpft sich neu mit Bewegungsaktivismus und mehr Demokratie.» (DIE LINKE/ Landesverband Berlin 2018) Mit diesem Vorstoß, die solidarische Stadt zum Leitbild und Narrativ linker Regierungsbeteiligung in Berlin zu machen und damit eine aus der Perspektive der Migration entstan23 dene stadtpolitische Vision für alle zu adaptieren, hat die Berliner Linkspartei – vor allem mit Blick auf die innerlinken Auseinandersetzungen der vergangenen Monate, die von souveränistischen und sozial-nationalen Positionen bestimmt waren – einen bedeutenden Schritt hin zu einer Öffnung für Fragen der Migration und der Solidaritätsbewegungen gemacht. Es ist nicht zu unterschätzen, dass unter diesem Dach die Fragen einer sozialen, linken Politik mit der Situation von Migrant*innen neu verbunden werden, anstatt sie in der herkömmlichen Diktion «Sozialstaat plus Asylrecht und Integrationspolitik» abzuhandeln und inhaltlich zu trennen. Das Leitbild der solidarischen Stadt für alle enthält das Versprechen, dass sich DIE LINKE in der Berliner Regierung um die verschiedenen Problemlagen aller in Berlin lebenden Menschen kümmert. Damit werden zumindest diskursiv migrations- und sozialpolitische Fragen verknüpft, anstatt sie gegeneinander auszuspielen. Diese Vorstellungen werden jedoch nicht immer als ein Projekt des politischen Konflikts organisiert. Vielmehr gibt es in der Berliner LINKEN ein häufig bemühtes Ideal des guten linken Regierens, also einer linken, kommunalen Governance, die bestehende Spielräume bestmöglich nutzt und dies in Anbetracht der gesellschaftlichen Mehrheitsverhältnisse und der bundespolitischen Rahmenbedingungen eben «so gut wie möglich». Aufgrund der – aus Sicht der politischen Verwaltung – relativ hohen Zahlen an 24 Neuangekommenen ist dies in Berlin in den letzten Jahren nicht zuletzt eine Frage logistischer Kompetenz geworden, wovon das nach wie vor bestehende Chaos beim LAF, aber auch die zum Teil aufgrund des europäischen Wettbewerbsrecht und der dadurch verzögerten Ausschreibungen zum Betrieb der leerstehenden MUFs zeugen. Trotzdem dürfte klar sein, dass ein bloßes Ausnutzen bestehender politischer Spielräume die Idee einer solidarischen Stadt auf Dauer limitieren würde. Doch der ernsthafte Versuch eines «guten Regierens» hat gerade auf dem Feld der Migration auch eine eminent politische Dimension, die häufig unterschätzt wird. Denn es ist keinesfalls so, dass alle in der Realität stattfindenden Entrechtungsund Exklusionsprozesse die Folge der geltenden Rechtslage sind. Vielmehr gibt es zahllose Beispiele, in denen soziale und politische Rechte faktisch bestehen, aber der Zugang zu ihnen durch vielfältige Hindernisse beschränkt oder blockiert wird. Die Palette reicht hier von repressiver Rechtsauslegung durch die Behörden über Sprachbarrieren bis hin zu Ängsten von Illegalisierten, ihre Rechte wahrzunehmen, weil sie fürchten, auf den Radar der Ausländerbehörde zu kommen. Insofern können durchaus einige der Maßnahmen der linken Landesregierung als Beiträge zum Kampf um soziale Rechte interpretiert werden, insofern sie diesen Zugang systematisch zu organisieren versuchen, wie zum Beispiel im vom Integrationsbeauftragten neu geschaffe- nen Willkommenszentrum (Benalia 2016). Auch viele der in 2015 entstandenen Solidaritätsinitiativen sind mittlerweile nicht selten hauptsächlich damit beschäftigt, Geflüchtete bei der Wahrnehmung ihrer Rechte zu unterstützen – mit Behördengängen, Rechtsberatung, Übersetzungen und Ähnlichem. Die Solidaritätsbewegung und das Netzwerk «Solidarity City» Diesem eher institutionenzentrierten Konzept steht idealtypisch eine Vorstellung der solidarischen Stadt gegenüber, die gerade dort ihren Ausgangspunkt hat, wo das nationale Migrationsregime systematisch und politisch herausgefordert wird – nicht nur diskursiv, sondern von realen gesellschaftlichen Praxen und sozialen Kämpfen. Ansatzpunkt ist nicht in erster Linie die bestmögliche Ausnutzung und Ausgestaltung migrationspolitischer Spielräume auf der kommunalen Ebene, sondern die Solidarität mit all denjenigen, die systematisch ausgeschlossen werden: Illegalisierte, von Abschiebung Bedrohte, Geduldete und Entrechtete. Damit setzt ein solches Verständnis der solidarischen Stadt, dass auch die kommunale Politik als potenziellen Akteur adressiert, am Konflikt und der systematischen Überschreitung der nationalen Politiken und der Bundespolitik an. Der Zusammenschluss «Solidarity City Berlin» existiert seit Herbst 2015 und besteht derzeit aus fünf Gruppen: dem MediBüro Berlin, der migrantischen Gruppe respect!, der Kampagne Bürgerinnenasyl, der Interventionistischen Linken und dem Oficina Precaria. Gleichzeitig ist der Berliner Zusammenhang Teil des bundesweiten «Solidarity City»-Netzwerks. Das Netzwerk befindet sich einerseits zwar noch im Aufbauprozess, soll aber hier andererseits in gewisser Weise als ein Knotenpunkt und Symbol der außerinstitutionellen Akteure der Solidaritätsbewegung gesehen werden. Programmatischer Ausgangspunkt der Initiative ist die Idee einer «Stadt für alle» und damit einer sozialen und politischen Demokratisierung der Stadtgesellschaft, in der alle Anwesenden unterschiedslos Zugang zu einem würdevollen Leben haben. Die Gruppe knüpft dabei vor allem an die Erfahrungen der «Sanctuary Cities» in Nordamerika an. Dort gelang es in Ansätzen, auf der Ebene der Stadt illegalisierte Menschen vor Abschiebungen und der Repression der Bundesbehörden zu schützen und ihnen Zugang zu städtischer Infrastruktur zu ermöglichen. Auch städtische Ausweispapiere («City-ID») und Anweisungen an städtische Behörden, die die Kooperation mit Bundesbehörden verbieten, gehören zum Repertoire dieser Experimente in Toronto, New York und weiteren Städten (Bauder 2017; Kron/Lebuhn 2018). Wesentlich ist darin auch, dass es sich nicht einfach um mechanische Konzepte handelt, sondern oftmals soziale Initiativen in ihrer konkreten Solidaritätsarbeit den Grundstein für bestimmte politische Experimente legten. 25 Auch in Berlin gibt es erste Diskussionen um einen Berlin-Pass.2 Das Netzwerk in Berlin hat dementsprechend einen starken Fokus auf der Gruppe der Illegalisierten. Erste thematische Schwerpunkte sind die Felder Bildung und Gesundheit. Hier wird an Erfahrungen und Projekte angeknüpft, die in Berlin seit vielen Jahren existieren. Politik für Illegalisierte: anonymer Krankenschein und Schulbildung Auf dem Feld der Gesundheitsversorgung ist hier das MediBüro zu nennen. Das «Netzwerk für Gesundheitsversorgung aller Migrant*innen – MediBüro Berlin» (früher Büro für medizinische Flüchtlingshilfe) wurde 1996 als selbstorganisiertes und nichtstaatliches Projekt in Berlin gegründet und verfolgt das Ziel, «die Gesundheitsversorgung von illegalisierten Flüchtlingen und Migrant*innen auf politischem und pragmatischem Wege zu verbessern. Da der faktische Ausschluss von Illegalisierten aus dem regulären Gesundheitssystem vor allem politisch begründet ist, wollen wir durch Öffentlichkeitsarbeit Bewusstsein schaffen für diese Problematik und fordern politische Lösungen.» Das Büro ist jedoch nicht zuerst ein politischer Akteur, sondern als solidarisches Netzwerk von Ehrenamtlichen und Ärzt*Innen aktiv und vermittelt die anonyme und kostenlose gesundheitliche Behandlung von Illegalisierten und Menschen ohne Krankenversicherung. Theoretisch haben in Deutschland auch illegalisierte Personen das 26 Recht auf eine Gesundheitsversorgung, die über die Sozialämter als Kostenträger organisiert werden müsste. Gleichzeitig jedoch existiert im Aufenthaltsrecht ein sogenannter Übermittlungsparagraf, der die Sozialämter verpflichtet, die Daten von solchen Personen an die Ausländerbehörde zu übermitteln – was bedeutet, dass im Falle einer Inanspruchnahme des Rechts auf Gesundheit die illegalisierten Personen sich gleichzeitig der Ausländerbehörde preisgeben und dadurch mit Repressionen und Abschiebungen rechnen müssten. Da der Übermittlungsparagraf ein Bundesgesetz ist und es als relativ aussichtslos angesehen wurde, ihn abzuschaffen, entstand im MediBüro um das Jahr 2005 die Idee eines «anonymen Krankenscheins» für Illegalisierte, der eine Gesundheitsversorgung äquivalent zu derjenigen im Rahmen des AsylBLG fordert (eingeschränkte Leistung; MediBüro Berlin 2009). Die Forderung ist eindeutig: Medizinische Versorgung als Menschenrecht muss entkoppelt werden von Aufenthalt und Status. Für diejenigen, die eine Abschiebung oder andere behördliche Repressionen zu befürchten haben, muss daher ein anonymisierter und geschützter Zugang auf dieses Menschenrecht organisiert werden. Dieser Zugang ist auf landes- und kommunalpolitischer Ebene zu organisieren, um die Bundesgesetzgebung zu unterlau2 Linke: Flüchtlinge sollen Berlin-Ausweis bekommen, dpa-Meldung, in: Berliner Morgenpost, 15.12.2018. fen. In Berlin gab es erste Gehversuche unter der rot-roten Landesregierung nach 2008, die dann jedoch vom Senat abgebrochen wurden. Ein Runder Tisch mit dem Senat bzw. der Gesundheitsverwaltung existiert jedoch seitdem und der anonyme Krankenschein schaffte es dann wohl nicht zuletzt wegen dieses langen Atems aller Beteiligten 2016 in den Koalitionsvertrag. Die Umsetzung erfolgte bisher jedoch nur teilweise. Im Jahr 2018 stellte der Berliner Senat erstmalig 1,5 Millionen Euro für die Gesundheitsversorgung von nicht krankenversicherten Menschen bereit, darunter auch illegalisierte Personen. Außerdem wurde eine sogenannte Clearing-Stelle eingerichtet, die offiziell alle Menschen ohne Krankenversicherung berät, weitervermittelt und bei Bedarf Zugriff auf das Budget organisiert. Gleichzeitig ist das jetzige Modell ein Fondsmodell und damit limitiert. Bislang ist unklar, was im Falle eines verbrauchten Budgets passieren würde, ebenso bei teuren Behandlungen. Auch scheint perspektivisch der vollwertige anonyme Krankenschein mit der gegenwärtigen Senatsverwaltung nicht mehr durchsetzbar, sondern es wird im bestmöglichen Fall auf die Ausgabe von Behandlungsscheinen hinauslaufen (also auf ein Modell, in dem keine allgemeine, der Krankenversicherung äquivalente Versorgung garantiert ist, sondern pro Behandlung Kostenübernahmen organisiert werden müssen). Trotzdem ist die Clearing-Stelle ein wichtiger Einstieg in einen politischen Paradigmenwechsel, der eine Öffnung für weitere Auseinandersetzungen und Ideen ermöglichen kann. Ebenso ist schon jetzt deutlich geworden, dass die Clearing-Stelle eine wichtige Anlaufstelle für unterschiedlichste Menschen ohne Krankenversicherung ist – nicht zuletzt für EU-Bürger*innen. Ausgehend von der Frage der gesundheitlichen Versorgung von Illegalisierten hat sich also damit ein erster Mechanismus entwickelt, der sich auch auf andere marginalisierte Gruppen ausweitet und damit verallgemeinert. Und es gibt ein weiteres Beispiel für einen ähnlichen Vorgang. In Berlin haben die Kinder von illegalisierten Personen das Recht auf Bildung und damit auf einen Platz in einer staatlichen Schule (seit dem Jahr 2011 ist die Übermittlungspflicht für Schulen und andere Bildungseinrichtungen abgeschafft). Mehrere Studien haben zwar gezeigt, dass trotzdem noch zahllose Hindernisse bestehen und die Einschulung vielfach aus Angst vor Aufdeckung oder aufgrund hoher bürokratischer Hürden nicht stattfindet (Solidarity City Berlin 2018). Dennoch gibt es Kinder illegalisierter Menschen, die Schulen besuchen. Das Problem ist jedoch, dass der Schulweg durch die relativ hohen Kosten des öffentlichen Nahverkehrs zum Problem und Hindernis für einen Schulbesuch wird. Da es aus verschiedenen Gründen nicht möglich und gewollt war, nur den Kindern von Illegalisierten eine kostenlose Nutzung des Nahverkehrs zu ermöglichen, werden nun 27 ab dem kommenden Schuljahr auf Initiative des Senats alle Berliner Schüler*innen umsonst mit Bus und Bahn fahren dürfen – so zumindest schildern beteiligte Personen aus der LINKEN die Entstehungsgeschichte. Obdachlosigkeit Schätzungen gehen davon aus, dass in Berlin zwischen 8.000 und 10.000 Menschen obdachlos sind. Viele von ihnen stammen aus Osteuropa, darunter geschätzte 4.000 Personen allein aus Polen (Soos/Rehkopf 2018). Obdachlosigkeit ist in Berlin also in nicht unerheblichem Maße mit Migrationsbiografien verknüpft – und daher zu Recht zunehmend auch Betätigungsfeld migrationspolitsicher Akteure. Nach Auskunft des «Frostschutzengels» (einem Beratungsprojekt für obdachlose Menschen) ist auf diesem Feld eines der wesentlichen Probleme nicht bloß die Rechtslage, sondern der versperrte und oftmals komplizierte Zugang zu sozialen Rechten, zum Beispiel für EU-Bürger*innen, die häufig Ansprüche auf Sozialhilfe und eine Wohnung haben. Dementsprechend ist auch auf diesem Feld eine wesentliche Betätigung der sozialen Initiativen die Unterstützung bei diesen Zugängen. Auch Senatorin Breitenbach ist auf dem Feld der Obdachlosigkeit zunehmend tätig, unter anderem im Kälteschutz (Frank/Kröger 2018). Für Maßnahmen gegen Obdachlosigkeit gibt es nicht nur sozial-, sondern auch ordnungsrechtliche Grundlagen. Die Politisierung 28 der Obdachlosigkeit und des hohen Migrantenanteils an den Obdachlosen steht allerdings weitestgehend noch aus. Partizipation und Demokratie Der rot-grün-rote Berliner Senat hat stets betont, dass ein Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik auch dadurch herbeigeführt werden soll, dass sich der Regierungsstil verändert und Migrationspolitik auch Partizipationspolitik sein soll (Rosa-Luxemburg-Stiftung 2018). In diesem Sinne wurden die Leitlinien der zukünftigen Berliner Integrationspolitik in einem «Gesamtkonzept zur Integration und Partizipation Geflüchteter» (Juretzka 2018) festgehalten, das nicht nur ressortübergreifend die verschiedenen Senatsverwaltungen involviert, sondern in einem groß angelegten Partizipationsprozess mit zivilgesellschaftlichen Akteuren, migrantischen Vereinen und selbstorganisierten Geflüchteten, NGOs und Wohlfahrtsverbänden über mehrere Monate erarbeitet wurde. Das Gesamtkonzept umfasst neun Handlungsfelder und soll als Grundlage für die zukünftige Politikgestaltung in Berlin dienen. In themenspezifischen Arbeitsgruppen wurden zwischen Verwaltung, Politik und Zivilgesellschaft konkrete Maßnahmen und Ziele vereinbart. Auch außerhalb dieses Prozesses gibt es eine Vielzahl von Runden Tischen, an denen sich Mitarbeiter*innen der Senatsverwaltungen mit zivilgesellschaftlichen Akteuren austauschen. Während eine Begleitstudie zu einer überwiegend positiven Einschätzung kommt und eher vertiefende und weiterführende Prozesse anregt (Schnegg/Drunkenmölle 2018), überwiegt bei den meisten Initiativen ein ambivalentes Fazit, das zwar Teile des Verfahrens und der Ergebnisse würdigt, im Ganzen aber eine eher ernüchternde Bilanz zieht. Vor allem wird kritisiert, dass das politische Potenzial der partizipierenden Akteure «weichgespült» oder schlicht «vergessen» wurde. So wird letztlich ein «typisches» Fazit politischer Partizipationsprozesse gezogen: Die beteiligten Akteure schreiben sich als Expert*innen durchaus in den Prozess ein, ihre wesentlichen Punkte bleiben aber auf der Strecke (Flüchtlingsrat Berlin e.V. 2018; Moabit hilft u. a. 2018). In jedem Fall positiv sehen viele den Versuch, die Stimmen der Zivilgesellschaft und der Migrant*innen zu berücksichtigen. Ob Partizipationsprozesse dieser Art jedoch tatsächlich Beiträge zu einer Demokratisierung der Stadt leisten oder sie doch vor allem kostenlose Regierungsberatung sind, bei der gleichzeitig noch das Regierungs- und Verwaltungshandeln plausibilisiert und in die sozialen Bewegungen vermittelt wird, bleibt abzuwarten. Neuaufnahme und Seenotrettung Berlin war die erste Stadt bzw. das erste Bundesland, das im Juni 2018 in der Auseinandersetzung um die Seenotrettung, Italiens Häfen und das Rettungsboot «Lifeline» seine Bereitschaft erklärte, Menschen aufzunehmen. Ende September gab es eine erneute Bekräftigung der grundsätzlichen Aufnahmebereitschaft in einer gemeinsamen Erklärung der Stadtstaaten Hamburg, Bremen und Berlin.3 Allerdings ist eine Neuaufnahme von Personen nicht ohne Zustimmung des Bundesinnenministeriums möglich, die bislang Berlin und 30 anderen Städten verweigert wird. Im Zusammenspiel mit der Aufnahmebereitschaft des Senats und mit dem Rückenwind der öffentlichen Erklärung kam es in Berlin zur ersten «Seebrücke»-Aktion, die sich von Berlin aus zu einer bundes- und teilweise europaweiten Bewegung entwickelt hat. Abschiebungen und angstfreie Stadt Im Jahr 2016 gab es in Berlin 1.820 Abschiebungen. Im Jahr 2017 hat Berlin 1.638 Menschen abgeschoben. 3.629 Menschen sind im Jahr 2017 «freiwillig» ausgereist (zum Problem der «freiwilligen Rückkehr» vgl. Lenz 2018). Bis September 2018 erfolgten 801 Abschiebungen und 2.087 freiwillige Ausreisen (Juretzka 2018: 4). Im Jahr 2017 hatten knapp 700 der abgeschobenen Personen eine moldawische, 170 eine albanische, 107 eine serbische und 93 eine irakische Staatsangehörigkeit, was nicht gleichbedeutend mit dem Zielort der Abschiebungen ist (z. B. bei «Dublin-Abschiebungen»; Abgeordnetenhaus Berlin 2018). 3 Bekenntnis zum sicheren Hafen: Hamburg, Bremen und Berlin united, in: die tageszeitung, 1.10.2018, unter: www.taz.de/!5538930/. 29 Es gibt zwar einen leichten Rückgang der Abschiebezahlen und einen erklärten Willen, über Härtefallkommissionen und weitere Kanäle Abschiebungen zu verhindern. Fakt ist und bleibt jedoch, dass es im SPD-geführten Innenressort und in der Ausländerbehörde bislang nicht einmal Ansätze eines Paradigmenwechsels gibt. Von einem Bekenntnis zur abschiebefreien Stadt fehlt in der Regierungskoalition bisher jede Spur – und das, obwohl die absolute Zahl der Abschiebungen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung verschwindend gering ist. Es ist also klar: Es wird aus politischen und symbolischen Gründen weiter abgeschoben und damit eine dauerhafte Verunsicherung der migrantischen Bevölkerung Berlins in Kauf genommen. In jeder Hinsicht ist die abschiebefreie Stadt die große nächste Frage und Bewährungsprobe für das Leitbild der solidarischen Stadt – wobei auch gesagt werden muss, dass die Bewegungen bisher nicht gerade den größtmöglichen Druck entfaltet haben. 3 SCHLUSSBEMERKUNGEN Ich möchte auf der Grundlage dieses Einblicks in die Situation in Berlin ein paar Thesen formulieren – sowohl für die allgemeine Diskussion um solidarische Städte als auch konkret für Berlin. Jenseits der Integration Auch wenn die Idee der solidarischen Stadt vielleicht etwas an Schärfe verliert, wenn sie verallgemeinert wird und die Aufmerksamkeit weg von all denjenigen nimmt, die im Zentrum der ursprünglichen Idee standen (Illegalisierte), so ist es doch begrüßenswert, dass die Akteure in der Stadtregierung diesen Begriff aufnehmen und für sich weiterentwickeln. Gleichzeitig ist die Öffnung und Erweiterung des Begriffs nur solange produktiv, wie sie den Kern der Idee nicht verwässert. Von daher ist es einerseits zu begrüßen, wenn sich die Idee diskur30 siv auch in der institutionellen Politik durchsetzt und zumindest Einzug in die Rahmung der Regierungsgeschäfte erhält. Andererseits bleibt von zentraler Bedeutung, dass eine reale Überschreitung des nationalen Migrationsregimes und seiner Integrationspolitik der Horizont sein muss, in dem die Fragen der Zugehörigkeit und des «Wir» neu gestellt und beantwortet werden. Ansonsten besteht die reale Gefahr, dass ein gutes kommunalpolitisches Regieren bloß in der bestmöglichen Umsetzung der «Integrationspolitik» besteht und die (ebenfalls bundespolitischen) Mechanismen des Ausschlusses und der Entrechtung, aber auch der Assimilation unangetastet bleiben. Die Alternative ist natürlich nicht der Verzicht auf diese Umsetzung, wenn sie Migrant*innen individuelle Chancen auf ein neues und besseres Leben ermög- licht. Das heißt mit anderen Worten: Eine systematische Überschreitung der Integrationspolitik ist Anforderung an jede linke Politik, wenn sie das Transformationspotenzial der migrantischen Bewegungen politisch nutzen möchte. Für Berlin kann das in naher Zukunft nur bedeuten, endlich Modelle einer abschiebefreien – und damit auch angstfreien – Stadt zu entwickeln. Regierung und Bewegung Die Übersetzung von gesellschaftlichen Prozessen in institutionelle Logiken – ob es sich nun um Projekte oder Begriffe handelt – vollzieht sich nie ohne Verluste und Reibungen. Die institutionelle Politik hat ihre eigene Schwerkraft: Bürokratie, Verwaltung, die rechtlichen Hindernisse und Hürden des Regierungshandelns. Die Autonomie von Solidaritätsstrukturen und Bewegungen ist daher immer auch zu schützen, wenn sie sich in die Nähe der Logik der institutionellen Akteure begibt – und zwar auch im Interesse der institutionellen Akteure, sofern sie an den Transformationspotenzialen interessiert sind, die in dieser Autonomie entstehen. Gleichzeitig zeigt sich, dass diese Autonomie häufig nur dann Erfolge produziert, wenn sie auch über eine institutionelle Strategie verfügt. Das konfliktive Zusammenspiel der verschiedenen Akteure scheint das adäquate Modell zu sein. Einerseits um zu vermeiden, dass die Logik institutioneller Politik die sozialen Prozesse absorbiert und politische Veränderungen einseitig auf insti- tutionelle Verfahren festlegt. Andererseits um neue Formen zu entwickeln, in denen sich die Prozesse sozialer Transformation auch in Politik übersetzen lassen und zur Erneuerung der Linken beitragen. Das strategische Zentrum dieser Transformationsprozesse liegt jedoch außerhalb der Institutionen und kann nur dort lebendig gehalten werden. Parallelstrukturen und Beratung als Zwischenschritte Gleichzeitig ist das Modell des anonymen Krankenscheins sowie das vorläufige Resultat der diesbezüglichen Verhandlungen eine interessante Blaupause für zukünftige Projekte: Anstatt direkt in die Konfrontation mit Bundesgesetzen zu gehen, wird eine neue Struktur aufgebaut, womit einige politische Schwierigkeiten zunächst umgangen und vereinfacht werden können. Die Lehre kann also auch heißen: Man muss manchmal nicht das eine Gesetz ändern, sondern kann auch auf eine neue Struktur ausweichen und eigene Institutionen schaffen. Dazu zählen auch Beratungsstrukturen, die – indem sie Menschen befähigen, ihre formalen Rechte wahrzunehmen – die politischen Architekturen gewissermaßen von innen herausfordern. Es ist bereits mehrfach angeklungen: In einer Vielzahl von Fällen bestehen soziale Rechte zwar juristisch, aber ihre Wahrnehmung ist faktisch versperrt. Die Unterstützung von migrantischen Personen, aber auch von anderen marginalisierten sozialen Gruppen, ihre Rechte zu ken31 nen, zu verstehen und geltend zu machen, ist ein politisches Feld, das viele Möglichkeiten bietet – nicht zuletzt der Politisierung der Praxis der Bundesbehörden (konkret des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge und der Bundesagentur für Arbeit) und ihrer strukturellen Ähnlichkeiten bei der oftmals rechtswidrigen Verweigerung von Ansprüchen. «Rebel Cities» «Gutes Regieren» ist selbstverständlich viel wert. Dennoch: Früher oder später sind die Grenzen jeder linken Politik politische Grenzen. Es wird nicht möglich sein, ein Transformationsprojekt zu entwickeln, ohne dabei auch Konflikte mit den nationalen Machtarchitekturen und den eingespielten politischen Verfahren einzugehen. Ob in Italien oder in Nord- amerika: Wenn Städte die Rolle der politischen Opposition spielen, stoßen sie an die Grenzen ihrer Kompetenzen und müssen Konflikte mit den nationalen Regierungen eingehen. Die Frage einer Rebellion der Städte – einer Art institutioneller Rebellion – wird sich auch in Deutschland zunehmend als strategische Aufgabe stellen, denn (so formulierte es die Aktivistin Roula Saleh bei einer Pressekonferenz in Hamburg anlässlich der «United Against Racism»Parade): «Ich frage mich immer: Müssen wir wirklich diskriminierende und restriktive Gesetze akzeptieren, nur weil sie in juristischer Sprache verfasst sind?» Diese Rebellion ist jedoch ganz sicher nicht alleinige Aufgabe der Landesregierung. Wie auf allen Handlungsfeldern der solidarischen Stadt muss sie von unten ins Spiel gebracht werden. INITIATIVEN Seebrücke: https://seebruecke.org/ Frostschutzengel: www.frostschutzengel.de/ MediBüro Berlin: https://medibuero.de/ Solidarity City Netzwerk: https://solidarity-city.eu/de/ http://solidarity-city-berlin.org/ Respect!: www.respectberlin.org/wordpress/ Oficina Precaria: http://oficinaprecariaberlin.org/ Interventionistische Linke: https://interventionistische-linke.org/ Linke Berlin: https://dielinke.berlin Berlin hilft!: http://berlin-hilft.com/ Kotti & Co: https://kottiundco.net/ 32 LITERATUR Abgeordnetenhaus Berlin (2018): Drucksache 18/13106, Berlin. Amt für Statistik Berlin-Brandenburg (2018): Einwohnerinnen und Einwohner im Land Berlin am 30. Juni 2018, Berlin. Bauder, Harald (2017): Sanctuary Cities: Policies and Practices in International Perspective, in: International Migration 55(2), S. 174–187. Benalia, Emina (2016): Neues Willkommenszentrum in Berlin nimmt seine Arbeit auf, in: Berliner Morgenpost, 18.8.2016. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2018): Engagement in der Flüchtlingshilfe. Ergebnisbericht einer Untersuchung des Instituts für Demoskopie Allensbach, Berlin, unter: www.bmfsfj.de/blob/122010/ d35ec9bf4a940ea49283485db4625aaf/engagement-in-derfluechlingshilfe-data.pdf DIE LINKE/Landesverband Berlin (2018): Wem gehört die Stadt? Für eine solidarische Stadtpolitik in einer offenen Gesellschaft, Berlin, unter: https://dielinke.berlin/ parteitag/det/news/wem-gehoertdie-stadt-fuer-eine-solidarischestadtpolitik-in-einer-offenengesellschaft/. Flüchtlingsrat Berlin e.V. (2018): Gesamtkonzept zur Integration und Partizipation von Geflüchteten in Berlin: Viel Worte statt Taten, Pressemitteilung vom 17.12.2018, unter: http://fluechtlingsrat-berlin.de/ presseerklaerung/17-12-2018gesamtkonzept-zur-integrationund-partizipation-von-gefluechtetenin-berlin-viel-worte-statt-taten/. Frank, Marie/Kröger, Martin (2018): Jeder Mensch muss untergebracht werden. 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Dabei handelt sich um rund 25 Prozent der Bevölkerung, während es in Österreich 15 Prozent und in Deutschland 12 Prozent sind. Zudem wird im alltäglichen Sprachgebrauch zwischen «richtigen» Schweizern» und sogenannten Papierlischwiizern (Eingebürgerten) unterschieden. Hinzu kommt eine hierarchische Kategorisierung der Bevölkerung ohne Pass entlang verschiedener Aufenthaltstitel. Auch wenn es in der Schweiz nie eine offizielle Anerkennung der Tatsache gab, eine Einwanderungsgesellschaft zu sein, ist das Land zu einem Schauplatz von Debatten und Projekten rund um Migration, Bürgerrechte und Zugehörigkeit in einer pluralen Gesellschaft geworden. Ein Beispiel dafür sind die inzwischen in ganz Europa diskutierten Konzepte von «Urban Citizenship» (García 2006), «Sanctuary City» und «Solidarity City», die spätestens seit Beginn des Jahres 2015 in der Schweiz aufgegriffen wurden und die inzwischen in mehreren Städten der Schweiz in der kommunalen parlamentarischen Politik zum Tragen kommen (Krenn/Morawek 2017). Dabei ist insbesondere das Thema der Aufenthaltssicherheit gegenüber anderen Themen wie Teilhabegerechtigkeit, Zugang zu Rechten und Ressourcen für alle oder Zu1 Vgl. Bundesamt für Statistik, Bevölkerung nach Migrationsstatus unter: www.bfs.admin.ch/bfs/de/ home/statistiken/bevoelkerung/migration-integration/ nach-migrationsstatuts.html. 37 gehörigkeit und Demokratisierung in den Vordergrund der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Im Fokus der Diskussion steht vor allem die Einführung eines kommunalen Personalausweises, der sogenannten City Card. Sie wurde von zivilgesellschaftlichen Gruppen vorgeschlagen. Dieser Vorschlag ist von der kommunalen Politik, insbesondere in Zürich und Bern, aufgegriffen worden. Die geplante Züri City Card ist vor allem auf die schätzungsweise 14.000 Personen ohne geregelten Aufenthaltstitel (Sans Papiers) zugeschnitten, die in Zürich leben und arbeiten. In der vorliegenden Studie analysiere ich im Kontext der europaweiten Debatte um postmigrantische Gesellschaften (Foroutan u. a. 2018) und solidarische Städte Diskussionen und Akteure sowie das Potenzial, die Probleme und neuen Ausschlüsse, die mit der Züri City Card verbunden sind. Dabei gehe ich auch der Frage nach, welche Aspekte der geplanten Züri City Card mit welchen Argumenten als Erfolg einer solidarischen politischen Praxis beurteilt werden können. Außerdem rekonstruiere ich, welche Praktiken konkreter Solidarität bereits vor 2015 in der Stadt existierten, welche davon in das Projekt der Züri City Card eingegangen sind und welche nicht. Die Ergebnisse basieren auf einer Literaturrecherche, meinen eigenen Erfahrungen als Akteurin innerhalb der sozialen, politischen und kulturellen Prozesse rund um «Urban Citizenship» in der Schweiz sowie auf explorativen Interviews mit fünf Expert*innen aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft, die an den Debatten um die Züri City Card beteiligt waren oder sind. Hierzu gehören: Ezgi Akyol, Gemeinderatsmitglied in Zürich für die Alternative Liste und Vorstandsmitglied der Arbeitsgruppe Züri City Card; Kijan Espahangizi, Historiker, Mitorganisator der Initiativen «Kongress der MigrantInnen und Migranten und Menschen mit Migrationshintergrund» sowie «Wir alle sind Zürich» und Mitbegründer und Ko-Präsident des Instituts Neue Schweiz (INES); Christof Meier, Leiter Integrationsförderung der Stadt Zürich; Peter Nideröst, Rechtsanwalt und Vorstandsmitglied der Arbeitsgruppe Züri City Card sowie Bea Schwager, Leiterin der Sans Papiers-Anlaufstelle Zürich und Vorstandsmitglied der Arbeitsgruppe Züri City Card.2 1 «GLOBAL CITY» ZÜRICH In Zürich leben nur rund 430.000 Menschen. Dennoch gilt die Stadt als «Global City», weil sie der größte Offshore-Finanzplatz der Welt ist (Hitz u. a. 1995). Zürich erwirtschaftet elf Prozent des Schweizer 38 Bruttoinlandprodukts. Jährlich werden hier Steuern in der Höhe von 2 Alle Interviews habe ich im Dezember 2018 geführt. An dieser Stelle möchte ich den Genannten meinen ausdrücklichen Dank für die intensiven und produktiven Gespräche aussprechen. 2,5 Milliarden Schweizer Franken (umgerechnet 2,22 Milliarden Euro) eingenommen. Von jedem Franken bezahlter Steuer bleiben 30 bis 40 Prozent in der Stadt. Zum Vergleich: In München etwa sind es nur zehn Prozent. Zugleich liegen auf Schweizer Bankkonten Vermögen nationaler und insbesondere internationaler Herkunft in Höhe von 5.000 bis 7.000 Milliarden Schweizer Franken (vgl. Gross 2018). Zürich ist also eine sehr internationale Stadt. Während auf den Servern der Großbanken im Stadtzentrum täglich Milliarden Schweizer Franken ihre Besitzer*innen wechseln und gut ausgebildete Expats (vorübergehend in der Schweiz lebende und in meist gut bezahlten Sektoren Beschäftigte) in den Glasbetontürmen im Westen der Stadt oder in den wohlhabenden Altbauquartieren in Seenähe arbeiten und wohnen, kümmern sich Portugiesinnen ohne gültigen Aufenthaltstitel um deren Kinder. Diese Kinder schätzen Spaghetti Pomodoro und ihre Eltern den Espresso im Straßencafé. Dies ist ein Ergebnis der «Mediterranisierung» des Landes durch die italienische Gastarbeitergeneration. So begann in der Schweiz bereits 1946 die Anwerbung junger Frauen aus Italien für eine Saison. Dieses Modell der Gastarbeit, dessen Kernelement der temporäre «Saisonnierstatus» war (vgl. Holenstein u. a. 2018), ist neben den kolonialen Verstrickungen der Schweiz ein Phänomen, das auch «Kolonialismus ohne Kolonien» genannt wird (Purtschert u. a. 2013), ein Grund- stein für den Wohlstand des Landes, der die Gesellschaft bis heute prägt. Heute setzt Zürich vor allem auf das Konzept der «Creative City». Dieses Konzept geht davon aus, dass kreativer Output zu Innovation führt und ein wichtiger Faktor für das Wirtschaftswachstum einer Stadt ist. Die kreative Innovation soll in erster Linie in wissensintensiven Branchen stattfinden, in denen meist gut ausgebildete Personen arbeiten, von denen eigenständiges Denken erwartet wird, etwa Wissenschaftler*innen, Künstler*innen, Unternehmer*innen, Anwält*innen, Manager*innen, Facharbeiter*innen oder Ärzt*innen (Florida 2002). Im sogenannten Mercer-Ranking der Städte mit der besten Lebensqualität liegt Zürich seit einigen Jahren auf dem zweiten Rang.3 Entsprechend definiert die Stadt «Innovation und Weltoffenheit» als Erfolgsindikatoren ihrer Standortpolitik (vgl. Mauch 2017). Große Konzerne beurteilen die Stadt als sehr attraktiv für ihre Mitarbeiter*innen. Die wichtigsten Faktoren für diese Attraktivität sind das Kultur- und Bildungsangebot, die gute Infrastruktur für die außerfamiliäre Kinderbetreuung sowie ein Gefühl von Stabilität und Sicherheit. Und tatsächlich leben viele junge und gut ausgebildete Zugewanderte in Zürich. Jeder fünfte Einwohner der Stadt ist zwischen 30 und 39 Jahre als – mit Job, aber ohne Stimmrecht.4 3 Vgl. https://mobilityexchange.mercer.com/Insights/ quality-of-living-rankings. 4 Vgl. auch das Projekt Stadt der Zukunft – ZRH3039 der Abteilung Stadtentwicklung der Stadt Zürich, unter: www.stadt-zuerich.ch/prd/de/index/stadtentwicklung/stadt-der-zukunft/zrh3039.html. 39 Tatsächlich hat Zürich eine Geschichte des gesellschaftlichen Wandels, die auch durch widerständige und migrantisch geprägte Entwicklungen gekennzeichnet ist. Der Strukturwandel und die Ölkrise in den 1970er Jahren veränderten die industriell geprägte Stadt. Rund 60.000 Menschen verloren damals ihren Arbeitsplatz. So ging die Bevölkerungszahl Zürichs bis Mitte der 1980er Jahre zurück.5 Viele Fabriken lagen brach, während im Stadtzentrum der Dienstleistungs- und Finanzsektor zu boomen begann und hoch qualifizierte Arbeitskräfte aus anderen Teilen der Schweiz und dem Ausland zuwanderten. Sie und ihre Nachkommen prägten die schweizerische Gesellschaft und viele soziale Kämpfe entscheidend mit. In den 1980er Jahren begannen soziale Bewegungen wie «Züri brännt» mit Besetzungen der brachliegenden Flächen und Gebäude, während migrantisch geprägte zivilge- sellschaftliche Initiativen wie die «Mitenand-Initiative» einen demokratischen, partizipativen Zugang zur Einwanderungsgesellschaft entwarfen und Wege zu einer integrationspolitischen Öffnung aufzeigten (Espahangizi 2018). Im Jahr 1994 kam im Zürcher Stadtrat erstmals eine rot-grüne Regierung an die Macht, die nach wie vor eine stabile Mehrheit hat. Einige Akteure der oben erwähnten sozialen Bewegungen der 1980er Jahre sind mittlerweile in die Zürcher Kommunalpolitik eingebunden. Zu ihnen gehört etwa der Stadtrat Richard Wolff von der Alternativen Liste, eine in Zürich relevante Linkspartei. Wolff ist Geograf, Stadtsoziologe und Mitbegründer des urbanistischen Forschungsnetzwerks INURA (Hitz u. a. 1995). Zwischen 2013 und 2018 war Wolff Präsident der Zürcher Stadtpolizei. Daher kam ihm in den Aushandlungsprozessen um die Züri City Card eine wichtige Rolle zu. 2 SOLIDARISCHE STADT ZÜRICH? Auf der offiziellen europäischen Ebene ist Zürich Mitglied des «Solidarity Cities»-Netzwerks der Eurocities-Initiative, einem 2016 im Kontext der sogenannten Flüchtlingskrise gegründeten Zusammenschlusses von Regierungen europäischer Großstädte. Diese fordern unter anderem von der EU-Kommission höhere Haushalte für Infrastruktur- und Integrationsprojekte in jenen Städten, wo de facto die meisten Geflüchteten ankom40 men oder leben.6 Auf der Ebene zivilgesellschaftlicher Initiativen und Grassroots-Organisationen gibt es in Zürich bereits seit vielen Jahren konkrete Praktiken der Solidarität. In Bezug auf Sans Papiers sind hier vor allem die «Sans Papiers-Anlaufstelle Zürich» (SPAZ), das «Colectivo Sin Papeles» und die Organisati5 Vgl. www.stadt-zuerich.ch/prd/de/index/statistik/themen/bevoelkerung/bevoelkerungsentwicklung/bisherige-bevoelkerungsentwicklung.html. 6 Vgl. https:// solidaritycities.eu. on «Meditrina» zu nennen. Die SPAZ existiert seit 2005 und ist eine professionelle, zivilgesellschaftlich getragene und durch private Spenden finanzierte Sozial- und Rechtsberatung. Sie vertritt Sans Papiers auch juristisch gegenüber Behörden. Das «Colectivo Sin Papeles» wurde 2003 gegründet. Die Aktivist*innen des Colectivo bieten Informationsund Beratungsangebote für Sans Papiers an, die sie gemeinsam mit der SPAZ und der spanischsprachigen katholischen Mission in Zürich durchführen. «Meditrina» ist eine auf die Bedürfnisse von Sans Papiers spezialisierte medizinische Anlaufstelle mit einem Netzwerk von Kinderärzt*innen, Gynäkolog*innen und Psychotherapeut*innen. Die genannten zivilgesellschaftlichen Organisationen haben in Zürich verschiedene Möglichkeiten erkämpft, wie Sans Papiers ihre Grundrechte in Anspruch nehmen können. Dazu gehört erstens der Schulbesuch für Kinder. Auch eine Berufslehre ist derzeit für Sans Papiers möglich, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Es kann auch ein Härtefallgesuch eingereicht werden. Einige städtische Betriebe zeigen Offenheit, Sans Papiers eine Lehrstelle zuzusichern, bis deren Härtefallgesuch eingereicht ist, zum Beispiel die Verkehrsbetriebe (Interview mit Bea Schwager, 17.12.2018). Sollten Sans Papiers einen Krankenhausbesuch oder -aufenthalt benötigen, kontaktiert der Krankenhaus-Sozialdienst die SPAZ, die dann rückwirkend eine Kranken- versicherung mit Prämienvergünstigung für die entsprechende Person abschließen kann. So ist, wie sonst bei Menschen ohne Krankenversicherung üblich, eine Meldung beim kantonal zuständigen Sozialamt nicht notwendig. Mithilfe der SPAZ können Sans Papiers auch eine Anmeldung bei der Sozialversicherungsanstalt vornehmen und Sozial versicherungsbeiträge einzahlen. Seit Einführung des «Gesetzes gegen Schwarzarbeit» sollten Sans Papiers vor einer Anzeige geschützt sein, wenn der Arbeitsplatz kontrolliert wird. Daran halten sich jedoch viele Kontrolleure nicht und kontaktieren dennoch die Polizei. Per definitionem sind Sans Papiers jedoch vor allem vom Mangel an Schutz und Rechten im Bereich der Aufenthaltssicherheit betroffen. So leben Menschen ohne Aufenthaltstitel begründet in ständiger Angst vor Polizeikontrollen. Zürich ist somit keine «Sanctuary City» im nordamerikanischen Stil, die den städtischen Behörden die Kooperation mit den Bundesbehörden bei der Identifikation, Verfolgung und Inhaftierung von Sans Papiers verweigert und «Illegale» somit vor Deportationen schützt. Peter Nideröst, Rechtsanwalt und Vorstandsmitglied der Arbeitsgruppe Züri City Card, schätzt die Bedeutung der «historischen» solidarischen Praktiken von Initiativen wie der SPAZ sehr hoch ein. Nideröst meint aber auch, dass die Aufenthaltssicherheit hier mangelhaft sei, eine Situation, die mit der Züri City Card verbessert werden könne: 41 «Es gab in der Vergangenheit […] teilweise kirchlich, teilweise politisch motivierte Schutzaktionen für Flüchtlinge. Aber für Sans Papiers lief der Weg immer entweder auf die Forderung einer großzügigen Amnestie, also Legalisierung, hinaus oder [...] einer einfach strukturierten, relativ großzügigen Einzelfallregelung über eine humanitäre Aufenthaltsbewilligung. Der größte politische Erfolg – das muss man sich mal vorstellen – dieser schon lang bestehenden Sans Papiers-Bewegung auf nationaler Ebene ist, dass Jugendliche Sans Papiers eine Berufslehre machen können. Eigentlich unglaublich dürftig, oder? Und das hat dazu geführt, dass viele Anlaufstellen der Sans Papiers und soziale Bewegungen lokal, also städtisch versucht haben, informelle Wege zu beschreiten, um die Lebenssituation der Sans Papiers zu verbessern: Zugang zu Gesundheit, Bildung, auch zu sozialen Rechten. Ich würde sagen, das ist in Zürich durch die Arbeit der Sans Papiers-Anlaufstelle [SPAZ] wirklich gut gelungen, nicht nur weil die Anlaufstelle gute Arbeit geleistet hat, sondern auch weil die städtischen Behörden hier wirklich kooperativ sind. […] Das größere Problem, nämlich die bessere Aufenthaltssicherheit, die erreichen wir aber nur abseits der informellen Absprachen. Es braucht etwas, das auf Recht fußt. Die Züri City Card ist da nicht das Endziel, aber ein wichtiger Schritt.» (Interview mit Peter Nideröst, 14.12.2018) 3 «URBAN CITIZENSHIP» UND «SANCTUARY CITY» In Zürich hatte die Nachricht aus New York, wo im November 2014 per Gesetz die sogenannte New York City – Identification Card (NYC-ID) eingeführt und damit die Kooperation der Stadt mit den nationalen Einwanderungsbehörden weiter eingeschränkt wurde, für große Aufmerksamkeit gesorgt. Nicht nur Bea Schwager, die Leiterin der Zürcher Sans Papiers-Anlaufstelle SPAZ, sondern auch weitere Personen schlugen daraufhin eine ähnliche City Card auch für Zürich vor (vgl. Interview mit Bea Schwager 17.12.2018). Mitte 2015 stellte ich in meiner damaligen Funktion als Leiterin der Shedhalle Zürich, ein Zentrum für 42 zeitgenössische und kritische Kunst, die Idee der City Card für einen neue politische Praxis im Umgang mit Migration auf lokaler Ebene nochmals öffentlich zur Diskussion (vgl. Morawek 2015).7 Bereits seit Mitte 2014 planten wir in der Shedhalle ein Projekt mit dem Titel «Die ganze Welt in Zürich», welches das Schweizer Demokratiedefizit adressieren sollte. Dieses Projekt sollte einen direkten Einfluss auf Prozesse der Politikgestaltung im Sinne einer Demokratisierung und Ausweitung von Rechten für alle ausüben. Die im Rahmen des Projekts etablierte Arbeitsgruppe 7 Vgl. https://archiv.shedhalle.ch/institution/. operierte mit dem Begriff der «Urban Citizenship» (vgl. García 2006). Hierzu gehörten Unterprojekte, welche die politischen und rechtlichen sowie kulturellen und repräsentativen Aspekte von citizenship/citoyenneté thematisierten sowie jene, die sich mit den Prozessen der Politikgestaltung und der Handlungsmacht sozialer Bewegungen auf städtischer, also kommunaler Ebene beschäftigten. Im Februar 2015 fand in der Hauptstadt Bern der landesweite «Kongress der Migrantinnen und Migranten und Menschen mit Migrationshintergrund» statt. Der Kongress wurde vor allem von der größten Schweizer Gewerkschaft unia sowie von den Migrantenorganisationen Second@s Plus und Colonie Libere Italiane und Einzelpersonen getragen. Ziel war, aus migrantischer Perspektive Protest gegen die ein Jahr zuvor von der Schweizerischen Volkspartei zur Abstimmung gebrachte sogenannte Eidgenössische Volksinitiative gegen Masseneinwanderung zu formulieren und mit Demokratisierungsforderungen auf Bundesebene zu vertiefen.8 Der Historiker Kijan Espahangizi, der den Kongress damals mitorganisierte und anschließend die städtische Initiative «Wir sind alle Zürich» mitbegründete, misst dem Kongress von 2015 eine wichtige Bedeutung für die Öffnung der Debatte um Migration, Demokratisierung und «Urban Citizenship» bei: «Die Idee war, eine neue Plattform zu öffnen, die versuchte, aus der Logik der Integrationspolitik der 1990er und 2000er [Jahre] sowie aus der sogenannten Migrantenpolitik herauszukommen. Man spürte, dass das in der Form einfach nicht mehr stimmte. Die Räume, die im Namen der Integration erkämpft wurden, sind da, aber es gab noch keine Sprache, kein Instrumentarium, um den nächsten Schritt zu machen, nämlich: Wir reden nicht mehr von Integration, sondern von Demokratie. Also der Schritt in ein anderes Register politischer Kommunikation. Auch um aufzuzeigen, dass man in dem vorigen Register nicht mehr weiterkommt.» (Interview mit Kijan Espahangizi, 4.12.2018) Die aus dem «Kongress der Migrantinnen und Migranten und Menschen mit Migrationshintergrund» entstandene Initiative «Wir alle sind Zürich» trug den Demokratisierungsanspruch weiter und organisierte im Frühjahr 2016 einen Nachfolgekongress in Zürich, der eng mit dem Projekt der Shedhalle «Die ganze Welt in Zürich» verbunden war und an dem mehr als 550 Personen von rund 30 Organisationen teilnahmen. Seit 2017 ist die aus dem Projekt «Die ganze Welt in Zürich» hervorgegangene «Arbeitsgruppe Züri City Card» ein eigenständiger Verein, der im permanenten Dialog mit politischen Entscheidungsträgern steht. Im Vorstand des Vereins, der im Juli 2018 in Zürich eine Petition 8 Vgl. www.unia.ch/de/aktuell/events/detail/a/10528/. 43 zur Umsetzung der City Card lancierte, engagieren sich ehemalige Sans Papiers ebenso wie Jurist*innen, zivilgesellschaftliche Akteure und Parlamentarier*innen. Bei einer Umfrage unter den Kandidat*innen für die Gemeinderatswahlen im März 2018 beantworteten schließlich 80 Prozent der Politiker*innen die Frage: «Soll die Stadt Zürich eine städtische Identitätskarte (City ID) ausgeben, mit der sich Sans-Papiers innerhalb des Stadtgebiets ausweisen könnten?», mit «Ja» oder «eher Ja».9 Nach zahlreichen Lobbygesprächen der AG Züri City Card mit Entscheidungsträger*innen in politischen Ämtern und öffentlichen Institutionen wurde im Juli 2018 im Zürcher Gemeinderat eine sogenannte Motion zur Einführung der Züri City Card eingebracht. Mit einer Motion verlangt ein Parlamentsmitglied von der Regierung die Ausarbeitung einer Gesetzesänderung, eines Beschlusses oder einer Maßnahme nach eidgenössischem, kantonalem oder kommunalem Recht. Dieser Auftrag ist verbindlich, wenn ihm das Parlament zustimmt. Die Motion wurde im Gemeinderat angenommen und im Oktober 2018 die oben erwähnte Petition mit über 8.400 Unterschriften an die Stadtpräsidentin Corine Mauch überreicht. Am 31. Oktober 2018 beschloss der Zürcher Gemeinderat schließlich die Einführung der City Card für Zürich. Die politische Umsetzung obliegt dem Stadtrat, der nun bis 2022 Zeit hat, an der Einführung zu arbeiten.10 Neben der Initiative «Wir alle sind Zürich» entstand eine ähnliche Initiative 44 mit dem Namen «Wir alle sind Bern», welche unter anderem eine City Card für die Schweizer Hauptstadt vorschlug. Dieser Vorschlag wurde von kommunalpolitischen Akteuren aufgegriffen, in den Berner «Schwerpunkteplan Integration 2018−2021» und damit in die politische Agenda der Stadt Bern aufgenommen.11 Auch in Bern steht die Umsetzung allerdings noch aus. Die Stadt Zürich gab im Kontext der Debatten um die Züri City Card zwei Rechtsgutachten in Auftrag: Eines behandelt die Frage des Zugangs zur Justiz für Sans Papiers sowie jene der Polizeikontrollen (vgl. Kiener/Breitenbücher 2018). Das zweite Rechtsgutachten, dessen Veröffentlichung noch aussteht, soll die Vereinbarkeit der City Card mit dem kantonalen und nationalen Recht prüfen. Das Gutachten zu Justiz und Polizei stellt zunächst fest, dass der «faktische Ausschluss vom Rechtsschutz» in einem «Spannungsverhältnis zu den staatlichen Pflichten steht, welche sich aus den Grundund Menschenrechten ergeben und welche alle Behörden und Akteure in die Pflicht nehmen, die staatliche Aufgaben wahrnehmen» (ebd.). Das Gutachten lotet zudem den rechtlichen Spielraum in Bezug auf die 9 Fragebogen Gemeinderatswahlen Zürich am 4.3.2018, unter: smartvote.ch/18_st_zuerich_leg/questionnaire. 10 Zürcher Gemeinderat will mit Züri City Card Stadtausweis für alle, 3.10.2018, unter: https://www. toponline.ch/news/zuerich/detail/news/zuercher-gemeinderat-will-mit-zueri-city-card-stadtausweis-fuer-alle-0098741/. 11 Schwerpunkteplan Integration Stadt Bern, unter: www.bern.ch/politik-und-verwaltung/stadtverwaltung/bss/kompetenzzentrum-integration/fachbereich-information-und-vernetzung/leitbild-zur-integrationspolitik/schwerpunkte-plan-2018-2021. Wahrung der Grundrechte von Sans Papiers aus, etwa in Bezug auf Personenkontrollen. Das Vorzeigen einer City Card, so heißt es in dem Gutachten, begründe grundsätzlich keinen Anfangsverdacht auf einen irregulären Aufenthalt und löse deshalb keine Ermittlungs- und Anzeigepflichten aus, weswegen die Nutzung der City Card unter der Bevölkerung weit verbreitet sein sollte. Es dürfe allerdings nicht dazu führen, dass der Vollzug der Ausländergesetzgebung vereitelt würde (ebd.). Diese Schlussfolgerung kann je nach Rechtsverständnis unterschiedlich ausgelegt werden. Ein Anfangsverdacht liegt nach wie vor im subjektiven Empfinden der jeweiligen Polizeibeamten. So nutzt etwa die Stadtpolizei Zürich eine interne App, in der die Gründe für eine Kontrolle festgehalten werden. Eine Analyse zeigte, dass als einer der Hauptgründe für eine Kontrolle der Faktor «Aussehen» genannt wird – ein Hinweis darauf, dass in der polizeilichen Praxis «Racial Profiling», also das Kontrollieren von Personen aufgrund ihres Äußeren, verankert ist (vgl. Interview mit Ezgi Akyol, 3.12.2018). Daran würde auch die City Card nichts ändern, wenn die polizeiliche Praxis des «Racial Profiling» fortbesteht. Bea Schwager, Leiterin der SPAZ und Vorstandsmitglied der AG Züri City Card, sieht die entscheidende Verbesserung durch die City Card dennoch im Bereich der Aufenthaltssicherheit und des Zugangs zur Justiz für Sans Papiers. In anderen Bereichen, so Schwager weiter, diene die City Card gegebenenfalls einer Vereinfachung der Abläufe. Sie sieht die Züri City Card nicht im Widerspruch zum nationalen Recht, sondern als «rechtsgenüglichen» Nachweis eines Wohnorts in Zürich. So schaffe die City Card zwar keine gerechteren gesellschaftlichen Verhältnisse, sie wirke aber als «Antibiotikum» gegen Situationen der Entrechtung, im Falle einer Nichtgewährleistung von Grundrechten (vgl. Interview mit Bea Schwager, 17.12.2018). 4 KÄMPFE UM DIE CITY CARD: MENSCHENRECHTE VERSUS DEMOKRATISIERUNG? Die Idee eines kommunalen Personalausweises, der unabhängig vom rechtlichen Aufenthaltsstatus einer Person vergeben werden soll, hat immer wieder große Resonanz in den medialen und politischen Öffentlichkeiten der Schweiz erzeugt. So erschienen zwischen der Lancierung des Projekts im Jahr 2015 und Erscheinen dieser Studie min- destens 27 Berichte in Schweizer Medien allein zum Thema Züri City Card.12 Im Prozess der beginnenden Institutionalisierung fand zugleich eine Verengung der Debatten um die Züri City Card auf technische und juristische Fragen der Umsetzbarkeit statt, während die anfangs 12 Vgl. www.zuericitycard.ch/news. 45 insbesondere von bewegungspolitischen Akteuren eingebrachten breiteren gesellschaftspolitischen Fragen von «Urban Citizenship», also Aspekte einer generellen Demokratisierung des städtischen Lebens für alle, in den Hintergrund traten. Die Bewegung für die Züri City Card trennte sich nach und nach einerseits in bewegungspolitische Akteure, die auch «Urban Citizenship», also urbane Bürgerschaft ausweiten und demokratisieren möchten, und andererseits in institutionelle Akteure, die die City Card als Versuch der Intervention in das rechtliche Vakuum für eine bestimmte Gruppe von Migrant*innen, der Sans Papiers, ansehen. Letztere Vision der City Card ist eher an das Modell der nordamerikanischen «Sanctuary Cities» angelehnt, in dem die Aufenthaltssicherheit von Menschen ohne Aufenthaltstitel im Vordergrund steht. Begleitet von einer antimigrantischen politischen Haltung auf nationaler Ebene wurde schließlich das Erbe migrationspolitischer Bewegungen in der Schweiz, die entscheidende Vorarbeit für die Züri City Card geleistet hatten, mehr und mehr verdrängt. Die bewegungspolitischen Impulse für «Urban Citizenship» konnten in den parlamentarischen Debatten um die Züri City Card bislang nicht erneuert und reaktiviert werden. Kijan Espahangizi vertritt hierzu die folgende These: «Erstens speist sich Aktivismus ja aus begrenzten Ressourcen, weil [diese Aktivismen] nicht bezahlt sind, weil sie prekär sind, weil sie nur mit enorm großer individueller Motivation aufrechterhalten werden können. Um hier das Risiko zu minimieren, gibt es – sicherlich nicht nur in der Schweiz – die Tendenz zu sagen‚ wir machen möglichst konkrete Projekte mit einer klar definierbaren Opfergruppe, mit einer klar definierbaren Regulationsschnittstelle, wo man etwas verändern kann. Sicherlich spielen hier aber auch bestimmte übergreifende Werte in der politischen Kultur der Schweiz eine Rolle, wo die vermeintlich großen Würfe nicht gern gesehen werden [...] Und da sind dann die Projekte zu Urban Citizenship in der Schweiz, insbesondere die Züri City Card, in ein Fahrwasser geraten, das in der Schweiz seit einiger Zeit deutlich wird. Die Arbeit ging in den letzten Jahrzehnten zunehmend auf die lokale Ebene. Die Mitenand-Initiative, die in den 1970ern mobilisierte und über die 1981 abgestimmt wurde, war das letzte große Projekt, das versucht hat, Dinge grundsätzlicher zu ändern, und ab da gingen alle Initiativen ins Lokale – mit gutem Grund. Das Schulsystem etwa kann man nur von der Gemeinde her angehen. Es gab also von der Sache her Gründe, das zu tun, aber es ging dann in Richtung Gemeindestimmrecht, in Richtung Schulpolitik auf Gemeinde und -Kantonsebene, auch in der Kulturförderung.» (Interview mit Kijan Espahangizi, 4.12.2018). 46 Ein weiterer Grund für die Verengung des Konzepts «Urban Citizenship» auf eine City Card, die vor allem auf Aufenthaltssicherheit fokussiert, könnten im Verständnis der Schweiz als Ort des humanitären Schutzes lie- gen, das viele Akteure haben. Humanitäre Gründe und die Wahrung der Menschenrechte sei der kleinste gemeinsame Nenner in Bezug auf die City Card, meint Peter Nideröst vom Vorstand der AG Züri City Card: «Ich vermute, dass der politische Diskurs der City Card stark mit dem Menschenrechtsdiskurs verbunden ist. Der Wind in der Menschenrechtsdebatte hat sich gedreht, und eben nicht nur in der politischen Linken, wo das vielleicht auch bereits etwas erodiert war, sondern auch in der politischen Mitte. Beispielsweise haben die [rechtsliberale] FDP und die [christdemokratische] CVP gemerkt, dass sie dort Profil gegenüber der [rechtsnationalen] SVP gewinnen müssen, da sie sonst von rechts außen vereinnahmt würden. Wenn diese These stimmt und die City Card mit einer Stärkung der Menschenrechte in Verbindung gebracht wird, dann ließe sich das von den Mehrheitsverhältnissen her gesehen erklären. In diesem Zusammenhang gibt es nämlich nur schlechte Argumente gegen die City Card.» (Interview mit Peter Nideröst, 14.12.2018) Christof Meier, Leiter der Integrationsförderung der Stadt Zürich, unterstreicht, dass die Gründe für die Zustimmung zur Züri City Card vor allem in ihrem Projektcharakter und ihrer Lösungsorientierung liegen: «Eine Gesamtidee zum gesellschaftlichen Zusammenleben hat sich hier in Zürich unter anderem auf das Thema Sans Papiers fokussiert. Dieses Thema hat sich angeboten, weil es konkret ist, es sind konkrete Personen mit konkreten Geschichten, es hat mit Menschenrechten zu tun, es gibt Problemstellungen und es gibt eine für viele auf den ersten Blick einleuchtende Idee zu deren Lösung. Zudem gibt es eine links-grüne Mehrheit, die jetzt auch Mehrheiten für entsprechende Vorstöße bietet.» (Interview mit Christof Meier, 18.12.2018) Das sieht Kijan Espahangizi ähnlich, der diese Feststellung in eine These zur Verdrängung historischer Reali- täten zugunsten der Imagination eigener Handlungsmacht einbettet: «Man hätte auf viele wichtige Erkenntnisse und Erfahrungen etwa der Mitenand-Initiative zurückgreifen können oder auch [auf] die Erfahrungen der Kämpfe um das lokale Ausländerstimmrecht, die ja in Zürich kurz vorher noch gescheitert sind. Vielleicht muss man nochmal zurückgehen in die 1960er und 1970er Jahre, wo vieles 47 zu tun hatte mit der internationalen Ebene. Es wird vergessen, dass die relevanten Momente, in denen sich auf lokaler und nationaler Ebene etwas verändert hat, immer verzahnt waren mit der internationalen Ebene, ob es das Frauenstimmrecht war, die Einführung der europäischen Menschenrechtskonvention oder in den 1990ern die Doppelstaatsbürgerschaft. All das war nur aufgrund von Opportunitätsfenstern möglich, weil man merkte, man wird sonst nicht mehr konkurrenzfähig sein, beispielsweise auf einem EU-Arbeitsmarkt. Es sind immer diese drei Momente, wo etwas ineinandergreift, das Lokale, das Nationale und das Internationale, und wo sich dann etwas tut. Aber dieses Wissen um das Ineinandergreifen ist nicht tief verankert. Stattdessen gibt es eine Tendenz ins Mikrokonkrete zu gehen. Und genau das ist passiert.» (Interview mit Kijan Espahangizi vom 4.12.2018) Zudem gibt es bezüglich «Urban Citizenship» einige ungeklärte Punkte, betont Ezgi Akyol, Gemeinderats- mitglied und Vorstand der AG Züri City Card: «Auf einige offene Fragen und Widersprüche haben wir noch keine offensive Antwort geliefert, etwa auf verschiedene rechtliche Aspekte. Es wäre wichtig gewesen, dass wir den Motionstext in eine Vernehmlassung bringen und breit abstützen. Eigentlich wäre das Thema Urban Citizenship prädestiniert dafür, um verschiedene Kämpfe miteinander zu verbinden, etwa Wohnen, Arbeit und so weiter. Aber derzeit läuft alles unter dem Titel des Sans Papiers-Projekts.» (Interview mit Ezgi Akyol, 3.12.2018) 5 FAZIT UND AUSBLICK Die erste Phase der Kampagnen für einen kommunalen Personalausweis (City Card) in Zürich war vor allem von bewegungspolitischen Akteuren geprägt. Dabei dominierten Debatten um «Urban Citizenship», also um Fragen gesellschaftlicher Gerechtigkeit und Demokratisierung. Anschließend kristallisierten sich unterschiedliche Zugänge heraus: erstens der lösungsorientierte Ansatz, der die Züri City Card vor 48 allem als Instrument der Verbesserung der Aufenthaltssicherheit für die Sans Papiers begreift und insbesondere von der AG Züri City Card vertreten wird. Den zweiten Zugang nenne ich transformativ. Dieser wurde von bewegungspolitischen Initiativen wie «Wir alle sind Zürich» eingebracht und zielt auf ein umfassenderes gesellschaftliches Demokratisierungsprojekt. Daneben existiert ein dritter, integrationspo- litischer Ansatz der Stadtregierung und -verwaltung von Zürich, die angesichts der bestehenden Umsetzungsschwierigkeiten eine eher kritische Haltung zur City Card einnimmt. Zwischen diesen Positionen werden sich in den kommenden Jahren die Prozesse der Aushandlung über das Zusammenleben in einer Einwanderungsstadt wie Zürich bewegen. Bisher haben die Initiator*innen das Potenzial von «Urban Citizenship» als Projekt der Demokratisierung noch wenig genutzt. Dabei würde es sich lohnen, «Urban Citizenship» genauer zu betrachten und zu fragen: Welches Demokratisierungsprojekt muss auf welcher Ebene im Verhältnis zwischen Stadt/Kommune, Kanton und Bund ansetzen, damit es funktioniert? Obwohl die offizielle Selbstdarstellung der Stadt Zürich als «Creative City» Innovation als wichtigsten Motor städtischer Entwicklung nennt, fehlt die Motivation, sich unter dem Label «Urban Citizenship» ein Alleinstellungsmerkmal in der Schweiz oder sogar in Europa zu erarbeiten. Denn dort, wo die Stadt Zürich selbst gestalten und finanziell entscheiden kann und entsprechende Spielräume in Richtung solidarischer Stadt sieht, nutzt sie diese. Dort, wo sie «Urban Citizenship» gegen Widerstände etwa auf Kantonsebene durchsetzen müsste, tut sie es nicht. Der Gemeinderatsbeschluss von Ende 2018, also der bislang erreichte Status quo in Bezug auf die Züri City Card, wird von beteiligten Ak- teuren entsprechend unterschiedlich bewertet. Peter Nideröst, Vorstandsmitglied der Arbeitsgruppe Züri City Card, verspricht sich durch den kommunalen Personalausweis eine Verschiebung des gesamten Migrationsdiskurses hin zur Frage eines «Rechts auf Rechte» für alle, insbesondere auch für jene, die bereits einen gesicherten Aufenthalt haben, aber faktisch ihre Rechte nicht vollumfänglich in Anspruch nehmen können. Die Bestrebungen zur Einführung der City Card sieht er als Modell für emanzipatorische Bewegungen, die versuchen, die Verhältnisse «von unten» zu ändern, indem sie durch Alltagsbeschreibungen ans Licht kommen. Nideröst formuliert zudem die Einschätzung, dass sich, einmal umgesetzt, auch in Bezug auf die City Card ein gewisser sachspezifischer Realismus durchsetzen und die Karte sich bewähren wird (vgl. Interview mit Peter Nideröst, 14.12.2018). Die meisten Mitglieder der AG Züri City Card bewerten den Gemeinderatsbeschluss von 2018 grundsätzlich als Erfolg, sehen aber auch damit verbundene Herausforderungen. Die AG verspricht sich vom kommunalen Personalausweis eine Verbesserung im Bereich der Aufenthaltssicherheit. Der Schutz vor Ausschaffungen (Abschiebungen) ist der Kern ihres Anliegens. Die AG orientiert sich also vor allem am nordamerikanischen Modell der «Sanctuary Cities». Dieser Fokus stellt allerdings auch ein Problem dar, weil die rechtliche Auslegung nicht geklärt und die konkrete Aus49 gestaltung der City Card Gegenstand einer noch ausstehenden politischen Debatte ist, wie Rechtsanwalt Peter Nideröst von der AG ausführt: «Die Frage der Übereinstimmung der City Card mit übergeordnetem Recht ist eine juristische Frage. Dazu habe ich in einem frühen Stadium auch einen Kommentar geschrieben – so vorausschauend waren wir da schon. Ich habe mich eingehend mit der Rechtslage befasst, und aus meiner Sicht gibt es diesen Widerspruch nicht. Da kann man anderer Meinung sein, bisher hat mir das aber niemand widerlegt. Und das andere ist, dass man sagen muss, inwiefern der Identitätsausweis neben dem Schutz im Fall einer Polizeikontrolle auch weitere Türen öffnet. Das ist Gegenstand der politischen Debatte. Welche Rechte und Pflichten daran geknüpft sind, da können wir der politischen Debatte nicht vorausgreifen, das muss demokratisch ausgehandelt werden. Wir haben schon das Ziel, dass weitere soziale Rechte bis hin zu politischen Rechten mit der Karte verknüpft sein sollen, aber wir versprechen es nicht. Aber Schutz vor der Polizei, ohne das geht es nicht.» (Ebd.) Der städtische Integrationsbeauftragte Christof Meier hingegen zählt zur Kernfrage des Aufenthaltsschut- zes eine Reihe von Schwierigkeiten auf, die den bisherigen Prozess prägen: «Es hat sich alles auf diese City Card fokussiert, und wir wissen wirklich noch nicht, wem sie wirklich etwas nützen könnte. Sie nützt nicht gegen Racial Profiling, nicht gegen Alltagsdiskriminierung. Im Moment wird sie so aufgeladen mit dem Versprechen von ‹Sicherheit›, dass sie Erwartungen auslöst, die unrealistisch sind. Ich bin überzeugt, dass viele Sans Papiers dieses Risiko nicht eingehen werden [...] Für New York schätzt man, dass etwa 50 Prozent der Nutzer*innen [der City-ID] Sans Papiers sind. In Zürich, die ja keine Sanctuary City ist und aufgrund der gegebenen Rechtslage auch keine sein kann, würde das bedeuten, dass jeder zweite Karteninhaber ein Sans Papier ist. Das schafft keine Sicherheit, sondern begründet einen Anfangsverdacht für eine Kontrolle. In der Stadt müssten vielleicht 30.000, 40.000 Karten im Umlauf sein und – unter anderem – bei Polizeikontrollen aktiv genutzt werden, bevor die Ausgabe [der City Card] an Sans Papiers erfolgen könnte.» (Interview mit Christof Meier, 18.12.2018) Diese Einschätzung entspricht auch jener einer vergleichenden Studie von 50 «Urban Citizenship»-Bewegungen in Bern und Zürich (Brunner 2017): «So ist in der Bundesverfassung [...] festgehalten, dass die Gemeindeautonomie nach Maßgabe des kantonalen Rechts gewährleistet ist. Aufgrund der kantonalen Gesetzgebungen gestaltet sich diese Autonomie in den Städten Bern und Zürich unterschiedlich und stellt insbesondere die Realisierung konkreter Forderungen der Bewegungen vor Schwierigkeiten. Als Beispiel ist hier wiederum die Implementierung der City Card zu nennen, deren Umsetzung aufgrund der territorialen Zuständigkeitsregelungen der Polizei in Zürich größere Chancen als in der Stadt Bern hat. Der Grund dafür ist, dass in Zürich die Stadtpolizei für die verwaltungsrechtliche Einheit der Stadt zuständig ist und die entsprechende Rechtspraxis umzusetzen hätte. In der Stadt Bern gestaltet sich die Situation komplexer, da die Kantonspolizei für das städtische Gebiet zuständig ist und dementsprechend auf der Gebietseinheit der Stadt eine andere Rechtspraxis auszuüben hätte, als auf derjenigen des Kantons.» Die Autorin verweist auch auf die Kritik von García (2006) am Konzept «Urban Citizenship». García argumentiert, dass (rechtliche) Ansprüche als Resultat lokaler «Citizenship»-Praktiken selten allein auf kommunaler Ebene ohne die Zustimmung anderer territorialer Gebietseinheiten, gelöst werden können (vgl. Brunner 2017). Mein Anliegen war es, herauszuarbeiten, anhand welcher Punkte und Überlegungen die beschriebene Trennung in eine pragmatische, eine integrationspolitische und eine transformatorische Haltung verlief. In der Rückschau wird ersichtlich, dass diese Trennung sich als nicht produktiv für eine proaktive Gestaltung einer demokratischeren Stadt für alle erwiesen hat. Für die kommenden zwei Jahre ist zu erwarten, dass die lokalen Debatten in Bezug auf die Ergebnisse des zweiten Rechtsgutachtens sowie auf konkrete Umsetzungsvorschläge für die City Card seitens des Stadtrats von den beschriebenen Widersprüchen geprägt sein werden. Offen bleibt, ob und wie sich die Konflikte um die Züri City Card in den nächsten Jahren entwickeln werden. Sicher ist hingegen, dass sich die Realität der Einwanderung in der Stadt weiter entfalten wird. LITERATUR Brunner, Simone (2017): Urban Citizenship. Eine Analyse von Urban Citizenship in der Schweiz am Beispiel der sozialen Bewegungen der Städte Bern und Zürich, Master-Thesis, Kooperationsstudiengang Soziale Arbeit der Fachhochschulen Bern, Luzern u. a. (unveröffentlicht). Espahangizi, Kijan (2018): Ein civil rights movement in der Schweiz? Das vergessene Erbe der Mitenand-Bewegung (1974−1990), unter: https://institutneueschweiz.ch/De/ Blogs/178/Espahangizi_Mitenand. 51 Foroutan, Naika/Karakayali, Juliane/Spielhaus, Riem (Hrsg.) (2018): Postmigrantische Perspektiven. Ordnungssysteme, Repräsentationen, Kritik, Frankfurt a. M. Florida, Richard (2002): The Rise of the Creative Class, New York. Kiener, Regina/Breitenbücher, Danielle (2018): Justizzugang von Sans-Papiers. Gutachten zuhanden der Integrationsförderung der Stadt Zürich, unter: www.stadt-zuerich. ch/prd/de/index/stadtentwicklung/ integrationsfoerderung/integrationsthemen/sans-papiers.html. García, Marisol (2006): Citizenship Practices and Urban Governance in European Cities, in: Urban Studies 43(4), S. 745–765. Krenn, Martin/Morawek, Katharina (2017): Urban Citizenship. Zur Demokratisierung der Demokratie, Wien. Gross, Dominik (2018): Zwerge wollen Zwerge bleiben, in: alliance sud, 27.9.2018, unter: www.alliancesud.ch/de/politik/ steuer-und-finanzpolitik/zwerge-wollen-zwerge-bleiben. Mauch, Corine (2017): Zürich – attraktiv durch Innovation und Weltoffenheit, Referat der Stadtpräsidentin vor der Volkswirtschaftlichen Gesellschaft Zürich, 29.3.2017, unter: https://zuerich. spkantonzh.ch/aktuell/artikel/ zuerich-attraktiv-durch-innovationund-weltoffenheit/. Hitz, Hansruedi/Schmid, Christian/ Wolff, Richard (1995): Boom, Konflikt und Krise – Zürichs Entwicklung zur Weltmetropole», in: Hitz, Hansruedi u. a. (Hrsg.): Capitales Fatales. Urbanisierung und Politik in den Finanzmetropolen Frankfurt und Zürich, Zürich. Holenstein, André/Kury, Patrick/ Schulz, Kristina (2018): Schweizer Migrationsgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Zürich. 52 Morawek, Katharina (2015): Städte statt Staaten, in: WOZ – Die Wochenzeitung, Nr. 28, 9.7.2015. Purtschert, Patricia/Lüthi, Barbara/ Falk, Francesca (Hrsg.) (2013): Postkoloniale Schweiz. Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien, Bielefeld. 53 54 BUE RÜBNER HANSEN STADT DER ZUFLUCHT UND MIGRATION DIE BEWEGUNG «BARCELONA EN COMÚ» KNÜPFT EUROPÄISCHE NETZWERKE DER SOLIDARITÄT 1 EINLEITUNG Seit 2015 gilt Barcelona als Vorbild unter den solidarischen Städten, also Städten, die sich mit Geflüchteten und Migrant*innen solidarisieren. Im Frühjahr 2015 gewann die aus sozialen Bewegungen hervorgegangene Bürgerplattform «Barcelona en Comú» die Kommunalwahlen mit einem Programm, das etwa die Schließung des lokalen Abschiebelagers (Centro de Internamiento de Extranjeros, CIE) vorsah. Im September desselben Jahres ergriff Bürgermeisterin Ada Colau die Initiative zur inzwischen berühmt gewordenen Erklärung der Städte zur Unterstützung von Geflüchteten «We, the Cities of Europe» (Colau u. a. 2015). Das Schreiben, das von den Bürgermeister*innen von Paris, Lesbos und einer Reihe spanischer Städte gemeinsam unterzeichnet wurde, erregte schnell weltweite Aufmerksamkeit und diente als Katalysator für die Mobilisierung der Zivilgesellschaft Barcelonas im Hinblick auf Solidaritätsinitiativen. Das Besondere an Barcelona ist, dass die Stadt zu einem Ort des Experimentierens geworden ist, in dem die bestehende Willkommenspolitik auf die Probe gestellt wird. Das Vorhandensein eines starken gesellschaftlichen und politischen Willens zu solidarischem Handeln hat die Widersprüche, denen «Solidarity City»-Aktivist*innen und Stadtverwaltungen auch andernorts gegenüberstehen, nicht beseitigt, sondern einen Raum des Lernens geschaffen. Warum sieht sich beispielsweise dieselbe Stadtregierung, die das Abschiebelager schließen wollte, unter Druck gesetzt, gegen migrantische Straßenverkäufer*innen vorzugehen? Die Untersuchung Barcelonas als solidarische Stadt ist daher nicht nur im Hinblick auf ihre institutionellen Initiativen und die kommunale Politik wichtig, sondern auch als Beispiel für die Herausforderungen der Solidaritätspolitik. Die vorliegende Fallstudie stellt die Auseinanderset55 zungen um Bedeutung und Umfang des Solidaritätsbegriffs sowie die taktischen und strategischen Überlegungen in den Mittelpunkt, die die konkreten Solidaritätspolitiken und -praktiken gestalten, einschränken und inspirieren. Die Studie basiert auf fünf Interviews, die Ende 2018 mit leitenden Mitarbeiter*innen der Stadtverwaltung Barcelonas, Aktivist*innen von «Barcelona en Comú» und der Bewegung für Migrantenrechte geführt wurden, sowie auf partizipativer Aktionsforschung aus den Jahren 2015 bis 2016, die aus denselben Kontexten stammt.1 2 HINTERGRUND UND HERAUSFORDERUNGEN Barcelona blickt auf eine langjährige Geschichte der Solidarität zurück: von den Arbeitergenossenschaften und anarchistischen und kommunistischen Gewerkschaften der 1930er Jahre über den Widerstand gegen den Franquismus bis hin zum Aufschwung der sozialen Bewegungen, Genossenschaften und Nachbarschaftsverbänden des letzten Jahrzehntes. Auch die Anti-KriegsBewegung gegen den Irakkrieg Anfang der 2000er Jahre ist zu nennen, hat sie doch viel dazu beigetragen, den Raum für Islamophobie in Spanien zu begrenzen. Die Solidarität mit Geflüchteten und Migrant*innen ist jedoch relativ neu, herausfordernd und umstritten. Jahrhundertelang galt Spanien als ein Land der siedlerkolonialen Auswanderung und das 20. Jahrhundert war von großen Binnenmigrationen geprägt. Allerdings war Spanien erst um das Jahr 2000 herum mit einer starken Zuwanderung aus dem Ausland konfrontiert und bis 2015 suchten nur wenige Geflüchtete hier Asyl. Anfang der 1990er Jahre war nur ein Prozent der spanischen Bevölkerung im Ausland geboren, eine 56 Zahl, die bis 2010 auf 12,2 Prozent stieg. In Barcelona, einer großen und relativ wohlhabenden Stadt, ist dieser Anteil mit 26,6 Prozent doppelt so hoch, wobei rund 18,5 Prozent der Einwohner*innen keine spanische Staatsbürgerschaft besitzen. Die Einwander*innen kommen überwiegend aus Europa (35,6 Prozent), Lateinamerika (32,5 Prozent) und Asien (24,9 Prozent), nur 6,9 Prozent stammen aus Afrika (Ayuntamiento de Barcelona 2018a). Diese Zahlen bergen eine Vielzahl von persönlichen Geschichten und Lebenswegen – etwa 300.000 bis 400.000, je nach Schätzungen, wie viele Einwohner*innen undokumentiert bleiben. Doch die explizite und vor allem die institutionelle Solidaritäts- und Willkommenspolitik knüpft nur an einen Bruchteil dieser Geschichten an, nämlich an die der zuletzt Angekommenen, insbesondere der Asylbewerber*innen und der Illegalisierten. Die Gründe hierfür sind sowohl politisch wie auch instituti- 1 Der Autor möchte Manuela Zechner für ihre Unterstützung danken, die den vorliegenden Text deutlich verbessert hat. onell bedingt. Vor 2015 wurde das Thema Einwanderung durch einen breiten politischen Konsens in der Stadtverwaltung, Einwanderung mit ihren arbeitsrechtlichen, kulturellen und humanitären Dimensionen als administrative Frage zu betrachten, weitgehend entpolitisiert. Die meisten Migrant*innen in Barcelona stammten aus Lateinamerika oder aus anderen EU-Staaten, kurz, viele besaßen bereits Spanischkenntnisse oder eine Form von Arbeitserlaubnis und fanden im Wirtschaftsboom der 2000er Jahre problemlos Arbeit. Unterdessen behielt der spanische Staat seine extrem hohen Ablehnungsquoten in Asylfällen bei, oft wurden über 70 Prozent der Anträge abgewiesen (Sanahuja 2017). In den Vorkrisenjahren entsprach die kommunale Aufnahme- und Integrationsfähigkeit mehr oder weniger der Anzahl der Ankommenden. Um fremdenfeindliche Reaktionen auf die zunehmende Migration zu vermeiden, startete die Stadtverwaltung Anfang der 2000er Jahre das Netzwerk «Xarxa Antirumors» zur Bekämpfung von Gerüchten, Vorurteilen und Stereotypen. Dieses Programm bildet sogenannte «Anti-Gerüchte-Agent*innen» dazu aus, um Gerüchte und Irrtümer über Migration in Nachbarschaften und Schulen auszuräumen, und wurde bislang in zahlreichen Städten national und international nachgeahmt (Antirumores 2019; Cities of Migration 2018). In vielerlei Hinsicht ist das heutige System seit 2015 unverändert geblieben. Die staatlichen Programme stellen Asylsuchenden eine Un- terkunft und ein Taschengeld für die ersten sechs Monate des Verfahrens zur Verfügung (in Härtefällen bis zu neun Monate). Vor und nach diesem Zeitraum bietet die Stadt Unterkunft und finanzielle Unterstützung sowie Rechtsbeistand. Migrant*innen, die einen Wohnsitz in Barcelona vorweisen können (z. B. anhand von Betriebskostenabrechnungen oder Mietverträgen auf ihren Namen), sind zur Anmeldung bei den kommunalen Behörden (empadronamiento) berechtigt – ungeachtet ihres Aufenthalts- und Einbürgerungsstatus in Spanien. Damit erhalten sie Zugang zu den gleichen kommunalen Sozialleistungen wie langfristig Aufenthaltsberechtigte – zumindest in der Theorie. Tatsächlich gibt es viele Fälle, in denen Menschen keinen Zugang zu diesen Rechten erhalten, unter anderem wegen mangelnder Information und Diskriminierung. Die Verwaltungen verfolgen darüber hinaus einen zweistufigen Ansatz, dem zufolge einer ersten Phase der Aufnahme (acogida) eine zweite Phase der Autonomie im Hinblick auf die Integration in den Arbeits- und Wohnungsmarkt folgen sollte. Vor der Wirtschaftskrise gehörten Solidaritätspolitiken vorwiegend zu den Aufgaben der sozialen Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) oder Untergrundbewegungen, in denen sich Migrant*innen über soziale und familiäre Netzwerke selbst organisierten. Als mit dem Ausbruch der Krise viele ihre Beschäftigung verloren, gewannen solche Netz57 werke zunehmend an Bedeutung – nicht nur für Migrant*innen, sondern auch für Millionen spanischer Staatsbürger*innen. Wohnraum wurde zu einem dringlichen Thema für die Bevölkerung, ungeachtet ihrer Herkunft. Migrant*innen mit afrikanischer Herkunft gründeten 2011 das besetzte Zentrum «Cal África» in einem alten Industriegebiet, das zu einem wichtigen Ort der gegenseitigen Hilfeleistung und des Zusammenlebens für Hunderte von Menschen wurde, die ihren Lebensunterhalt vorwiegend als Altmetallsammler*innen bestritten (Geddis 2013). In Barcelona sank die Zahl der Menschen aus Lateinamerika zwischen 2009 und 2016 um 50.000, da viele ihre Arbeit verloren und dadurch auch ihre Fähigkeit, Mieten und Hypotheken zu bezahlen. Viele, vor allem Familien, deren Kinder fest in Barcelona verwurzelt waren, engagierten sich in der Plattform gegen Zwangsräumungen (Plataforma de Afectados por la Hipoteca, PAH). Eine der Gründer*innen dieser Bewegung ist Ada Colau. Nach dem Vorbild des Arabischen Frühlings besetzten am 15. Mai 2011 landesweit Hunderttausende Menschen öffentliche Plätze, um gegen die Austeritätspolitik und für «echte Demokratie» zu protestie- ren. Auch Migrant*innen spielten in dieser Bewegung eine prominente Rolle und die migrantischen Kämpfe gewannen im Verlauf der Ereignisse an Bedeutung. Eine der augenfälligsten Solidaritätsinitiativen für Migrant*innen war die «Tanquem els CIEs»-Kampagne gegen Abschiebelager, die im Januar 2012 nach dem Tod von Idrissa Diallo im örtlichen Abschiebelager Barcelonas ins Leben gerufen wurde. 2013 entstand der von den Zapatistas inspirierte «Espacio del Inmigrante» (Raum der Migrant*innen) im Stadtteil Raval, der sich zu einem wichtigen Versammlungsort für migrantische Selbstorganisation entwickelte und Personen aus dem inzwischen geräumten «Cal África» sowie eine zunehmende Anzahl von irregulären Migrant*innen zusammenbrachte, die sich mit Straßenverkauf über Wasser hielten, die sogenannten manteros. Zentrales Merkmal dieses Ortes war eine radikale Kritik an dem Ausschluss von Menschen ohne spanische Staatsbürgerschaft an der politischen Teilhabe. Ein früheres Mitglied des «Espacio» bringt dies mit folgendem Slogan auf den Punkt: «[Der Migrant ist] ein Subjekt der Politik und ein politisches Subjekt, nicht ein Objekt der öffentlichen Ordnung.» 3 «BARCELONA EN COMÚ» Mit dem Amtsantritt der neuen, aus der Bewegung hervorgegangenen Stadtregierung 2015 wurde Migration zu einem Kernthema der Stadt58 politik Barcelonas. Obwohl die Stadt niemals zu einem bedeutenden Ankunfts- oder Transitort wurde, wurde dem Thema Flucht und Migration eine große Bedeutung beigemessen, wobei die beiden Kategorien im öffentlichen Diskurs streng voneinander getrennt werden. Die zwei zentralen Themen waren einerseits die Nichtankunft syrischer Geflüchteter in Barcelona und andererseits das zahlenmäßig geringe, aber sehr sichtbare Phänomen des informellen Straßenverkaufs durch meist subsaharische Migrant*innen ohne Papiere.2 In vielerlei Hinsicht verlief die Entstehung und Entwicklung dieser beiden Phänomene auf entgegengesetzte Weise. Da keine Geflüchteten nach Barcelona kamen, beruhte die Politisierung des Rechts auf Asyl und Aufnahme auf der Entschlossenheit der neuen Stadtverwaltung, auf sozialer und institutioneller Ebene gegen die Weigerung des Zentralstaates zu mobilisieren, Geflüchtete aufzunehmen. Mit der Entwicklung von Taktiken, um die staatliche Politik und die Legitimität der konservativen PP-Regierung (Partido Popular) sowie die Schließung der EU-Grenzen infrage zu stellen, reagierte die Stadtverwaltung auf eine starke Solidarisierungswelle innerhalb der Bevölkerung. Der Kampf der Straßenverkäufer*innen hingegen wurde von der politischen Rechten und den Mainstream-Medien skandalisiert mit dem Bestreben, die Stadtregierung als «zu tolerant» gegenüber «illegalen Migranten, die den öffentlichen Raum besetzen, um illegale, gefälschte Gegenstände zu verkaufen» darzustellen und zu schwächen. Während das Ausüben wie auch die Repression des Straßenhandels in der Stadt auf eine jahrhundertealte Tradition zurückblickt, war eine migrationsfreundliche, basisdemokratische Stadtregierung ein neues Phänomen – und eine willkommene Angriffsfläche. «Barcelona en Comú» (BComú) versuchte hier, eine unmögliche Stellung einzunehmen – zwischen den Forderungen der Bewegung für Flüchtlingsrechte einerseits und dem Ruf nach öffentlicher Ordnung durch die Medien und Opposition andererseits. Um also die öffentliche Debatte rund um das Thema Migration zu verstehen, die die Wahrnehmung Barcelonas als solidarische Stadt so nachhaltig geprägt hat, müssen wir uns die Position und Entwicklung von BComú vergegenwärtigen. Die migrationspolitischen Positionen wurden durch einen Beteiligungsprozess entwickelt, geprägt von Menschen, die über Fachwissen und Erfahrung verfügen: Normalbürger*innen, Aktivist*innen, Forscher*innen, Kommunalund NGO-Mitarbeiter*innen – viele von ihnen Migrant*innen aus Europa oder Lateinamerika, manche mit nordafrikanischer oder südasiatischer Herkunft. Beim Gespräch mit Teilnehmer*innen des Kampagnenarbeitskreises von 2015 wird 2 Der für diese Fallstudie interviewte Aktivist des «Espacio del Inmigrante» schätzte die Zahl der manteros zwischen 300 und 400. Unterdessen wurde von den Medien behauptet, deren Zahlen seien unter der Colau-Regierung zwischen 2014 und 2018 von 400 auf 600 gestiegen (Lopez/Sust 2016). Meinen Alltagseindrücken aus den Straßen Barcelonas zufolge erscheint mir die letzte Zahl übertrieben. Die Zahl der in Barcelona registrierten Menschen westafrikanischer Herkunft lag 2018 bei 3.794, das sind 1,26 Prozent der Migrantenpopulation (Ayuntamiento de Barcelona 2018a). 59 ein Spannungsfeld zwischen dem Fokus auf konkrete Politik und einer breiteren politischen Neuausrichtung der Migrationsfrage sichtbar. Eine befragte Person, eine Forscherin, die in der Stadtverwaltung arbeitete, beschrieb einen offenen und oft schwierigen Prozess, in dem es nur allmählich gelang, konkrete und tragfähige politische Maßnahmen zu entwickeln, indem sie die Funktionsweise der Stadtverwaltung in Migrationsfragen analysierten und deren Herausforderungen und Fehler herausarbeiteten. Ein weiterer Befragter, ein Forschungsaktivist, der mit den Altmetallsammler*innen und dem «Espacio del Inmigrante» zusammengearbeitet hatte, äußerte sein Unbehagen bei der Darstellung von Migration als ein Einzelthema und sprach von seinen Versuchen, diesen Diskurs mit den Forderungen der Bewegung für Migrantenrechte in Einklang zu bringen. Maßgebend für diesen Versuch war in seinen Worten «die grundsätzliche Betrachtung von Migrant*innen als politische Subjekte und Menschen mit Handlungskompetenz anstelle eines zu verwaltenden Objekts oder einer zu verwaltenden Bevölkerung» sowie die Universalisierung von Forderungen («für alle») und der Fokus auf spezifisch gefängniskritische, antirassistische Forderungen. Im Abschlussdokument des Arbeitskreises Migration ist die Rede vom Hinarbeiten auf soziale Inklusion – insbesondere die Erleichterung des kommunalen Anmeldeprozesses und des Zugangs zur Gesundheitsversorgung – und vom Kampf 60 für Inklusionsmechanismen im Schulwesen, auf dem Wohnungsmarkt und im Abschiebelager (Barcelona en Comú 2015a). Das allgemeine Wahlprogramm von 2015 spiegelt die Anliegen der beiden Interviewpartner*innen wider. Das Programm beinhaltet eine Reihe von konkreten Vorschlägen: Während manche davon sich eher als Teilaspekte universeller Forderungen lesen, sind andere hochspezifisch in ihrer Formulierung (z. B. die Schließung des Abschiebelagers) und wiederum andere befassen sich mit der Frage, wie die Stadt selbst die politische Handlungsfähigkeit von Migrant*innen respektieren und fördern könnte (Barcelona en Comú 2015b). Dies beweist die Macht partizipativer Politikgestaltung als Prozess kollektiver Wissensproduktion und politischen Denkens, die von den Erfahrungen und dem Wissen ihrer Teilnehmer*innen ausgeht. Das Spannungsfeld zwischen politischen Maßnahmen und radikaler Politik wird so, zumindest im diskursiven Sinne, zum fruchtbaren Nährboden. Während des kommunalen Wahlkampfes 2015 beteiligte sich BComú auch an einer Kampagne, die Migrant*innen über ihr Wahlrecht bei den Kommunalwahlen aufklärte. Seit ihrem Amtsantritt hat BComú zwei Grundannahmen überwunden, auf denen der bisherige parteiübergreifende politische Konsens innerhalb der Stadtverwaltung hinsichtlich Aufnahme- und Asylfragen von Geflüchteten beruhte. Statt eines entpolitisierten liberalen Humani- tarismus sollten Migrationsfragen aufbauend auf dem Diskurs und den Forderungen der sozialen Bewegungen und fortschrittlichen NGOs in diesem Bereich politisiert werden. Mit dieser Einstellung brach BComú mit einer zweiten Vorannahme, nämlich dass die Stadt Geflüchteten- und Migrationsangelegenheiten einfach im Rahmen ihrer Zuständigkeiten regeln sollte, ohne öffentlich von der Politik der Zentralregierung abzuweichen. So trug die Stadt beispielsweise dazu bei, ein Bewusstsein für die Ungerechtigkeiten zu schaffen, denen die Insassen des Abschiebelagers ausgesetzt sind, auch wenn dessen Schließung letztendlich nicht in ihrer Macht lag. Als der sogenannte Sommer der Migration kurz nach Ada Colaus Amtsantritt begann, war es daher nicht verwunderlich, dass Barcelona in der Forderung nach einem Bruch mit der grausamen und tödlichen Grenzpolitik der EU und der nationalen Regierungen eine Führungsrolle unter den europäischen Städten übernahm. Auch war es keine große Überraschung, dass die migrationspolitische Positionierung der Stadtregierung innerhalb der politischen Rechten und in den Medien für großen Aufruhr sorgte. In den letzten Jahren haben diese beiden entgegengesetzten Kämpfe über Legitimitäts- und Gerechtigkeitsfragen die alltäglichen Bemühungen der Stadt, die Aufnahmekapazitäten angesichts der jährlich steigenden Asylanträge auszuweiten, weitgehend überschattet. Während erstere Position maßgeblich zum Ruf Barcelonas als führende solidarische Stadt beitrug, trug letztere eher zu dessen Rufschädigung bei. 4 CIUTAT REFUGI Als die Zahl der Geflüchteten im Sommer 2015 auf tragische Weise anstieg, ergriffen soziale Bewegungen und Organisationen in Barcelona entsprechende Maßnahmen. Neue Organisationen wie die Bürgerplattform «Stop Mare Mortum», die sich für die Rechte von Geflüchteten und Migrant*innen einsetzt, sowie die Seenotrettungs-NGO «Proactiva Open Arms» wurden im Großraum Barcelona gegründet. Ada Colau schickte eine Mitteilung an den spanischen Staatspräsidenten Mariano Rajoy mit der Ankündigung, Barcelona würde sich in eine Stadt der Zuflucht transformieren (Colau 2015). Innerhalb eines Tages wurden daraufhin über 1.000 Nachrichten mit Erklärungen der Hilfsbereitschaft an die neu eingerichtete E-Mail-Adresse von «Ciutat Refugi» verschickt. Am 12. September 2015 nahm Barcelona an den europaweiten #europesayswelcome-Protesten teil, und am 15. September veröffentlichte Ada Colau gemeinsam mit den Bürgermeistern von Lesbos und Paris ein Schreiben, das von vielen spanischen Bürgermeister*innen mitunterzeichnet wurde. Darin erklären sie: 61 «Wir, die Städte Europas, sind bereit, Orte der Zuflucht zu werden. Wir wollen diese geflüchteten Menschen willkommen heißen. Staaten gewähren Asylstatus, aber die Städte bieten Obdach. […] Wir haben hierfür den Platz, die Infrastruktur und, was am wichtigsten ist, auch die Unterstützung unserer Bürger*innen. […] Das Einzige, was uns fehlt, ist staatliche Unterstützung.» (Colau u. a. 2015) Mit dieser Willkommenshaltung seitens der Stadt boten immer mehr Bürger*innen an, bei der Aufnahme mitzuhelfen – doch blieben die Geflüchteten aus. Hohe Arbeitslosigkeit, eine einschneidende Wohnungsmarktkrise und Austeritätspolitik machten Spanien, fernab von den Krisengebieten des Nahen Ostens, zu keinem attraktiven Zielland. Erschwerend kam hinzu, dass die spanische Regierung ihren Verpflichtungen, Geflüchtete aus Italien und Griechenland im Rahmen des europäischen Umverteilungsprogramms aufzunehmen, nicht nachkam. Ein Jahr nach Inkrafttreten des EU-Beschlusses, im Oktober 2016, hatte Spanien von den vereinbarten 17.680 nur 481 Geflüchtete aufgenommen (Suanzes 2016). Da nur wenige Geflüchtete aus Syrien kamen, musste die soziale und kommunale Aufnahmebereitschaft neu ausgerichtet werden. Die Stadtregierung begann, Strategien zur Anfechtung der vom spanischen Staat auferlegten Blockade zu entwickeln, während sich soziale Bewegungen, NGOs und neu gebildete Nachbarschaftsinitiativen, wie die «Barris Refugi», auf die Solidaritätsarbeit im Ausland, insbesondere in Griechenland, konzentrierten. Landesweit wurden in anderen Städten, die von 62 progressiven Bürgerplattformen regiert werden, nach dem Beispiel Barcelonas ähnliche Maßnahmen ergriffen. Die «Abteilung für Globale Gerechtigkeit und Zusammenarbeit» der Stadtregierung begann nach Möglichkeiten zu suchen, in Griechenland und Italien festsitzenden Geflüchteten den Weg nach Barcelona zu erleichtern. Die Idee, hierzu eigens ein Schiff zu chartern wurde schnell verworfen, da der Hafen Barcelonas in staatlicher Hand liegt und die Stadt somit die Sicherheit der an Bord befindlichen Personen nicht gewährleisten konnte. Eine Vielzahl an Möglichkeiten wurden geprüft, darunter auch die Unterstützung der Ausstellung von Visa aus humanitären Gründen und Städtekooperationen etwa mit Athen, Lesbos und Melilla (Comas u. a. 2016). Diese Bemühungen führten im März 2016 zu einer Vereinbarung mit Athen, der zufolge 100 Geflüchtete aus Athen in Barcelona aufgenommen werden sollten (La Vanguardia 2016). In dieser Vereinbarung wurde angeprangert, dass der spanische Staat durch die Nichteinhaltung seiner eigenen Menschenrechtsverpflichtungen alle spanischen Staatsbürger*innen zu Mitschuldigen mache. Wenn der Staat seiner Verantwor- tung nicht gerecht werde, müsse die Stadt nun gegen diese kollektive Belastung aktiv werden. Zudem widersprach die Vereinbarung den Behauptungen der Zentralregierung, dass Spanien nicht genügend Kapazitäten habe, um Geflüchtete aufzunehmen. Allerdings lehnte Präsident Rajoy das Angebot mit Verweis auf die Vorrechte des Zentralstaates in allen Fragen der Asylund Grenzpolitik ab. Auch wenn der Deal mit Athen an der praktischen Umsetzung scheiterte, verdeutlichte er doch, dass Spaniens Verstoß gegen das europäische Umverteilungsprogramm eine aktive Blockade darstellte. Auch im Rahmen der Kommunalpolitik setzte der Deal ein starkes Zeichen, dass Städte dazu berechtigt sind, Macht und Handlungskompetenzen vom Staat zurückzuerobern, wenn dieser seiner Verantwortung nicht nachkommt. Darüber hinaus brachte sich Barcelonas Regierung in eine Reihe von Städtenetzwerken ein. Für die Initiativen waren der Aufbau eines Netzwerks von spanischen Städten der Zuflucht (Spanish Refuge Cities), das bald 25 Städte umfasste, sowie des europäischen Netzwerks der solidarischen Städte im Rahmen des Eurocities-Netzwerks 3 ein zentrales Anliegen. Der Leiter des «Ciutat Refugi»-Programms, Ignasi Calbó, erzählte mir, dass beide Netzwerke wichtigen technischen Austausch und gegenseitige Besuche förderten, während das Eurocities-Netzwerk insbesondere im Bereich der Lobbyarbeit über mehr Ressourcen und Einfluss verfügte. Die Städte- netzwerke und das bilaterale Abkommen mit Athen bekräftigen die Bedeutung von interkommunaler Diplomatie, die über die hierarchische nationalstaatliche Logik, die internationale Beziehungen zwischen öffentlichen Einrichtungen auf die Interaktion zwischen Zentralstaat und den jeweiligen Stadtregierungen reduziert, hinausgeht. Für das kleine Team des in Barcelonas Stadtverwaltung angesiedelten «Ciutat Refugi»-Büros war das zur Aufnahme der neu Angekommenen geleistete Arbeitspensum schier überwältigend. Auch wenn nur wenige Syrer*innen ankamen, so sind die Zahlen der in Barcelona gestellten Asylanträge in den letzten Jahren massiv angestiegen und stehen in keinem Verhältnis zu den vorhandenen Fördermitteln. Die Anzahl der Neuankünfte, die von SAIER (Servicio de Atención a Inmigrantes, Emigrantes y Refugiados), Barcelonas Erstaufnahmedienst für Migrant*innen und Geflüchtete, betreut werden, sind zwischen 2012 und 2018 erheblich gestiegen: von etwa 300 auf 7.500 Personen (Ayuntamiento de Barcelona 2016; 2018d). Die meisten dieser Personen stammen aus Venezuela, Georgien und der Ukraine. Die Anzahl der Asylanträge hat die Bearbeitungszeiten drastisch erhöht, wobei die Mehrzahl der Anträge abgelehnt wurde. In absoluten Zahlen und im Vergleich zu Städten in Italien und Griechenland sind diese Zahlen moderat, doch angesichts des Ver3 Vgl. https://solidaritycities.eu/about. 63 säumnisses des spanischen Staates, die nötigen Mittel bereitzustellen, ist der Druck auf kommunale Infrastrukturen, die für die Aufnahme und Integration zuständig sind, erheblich. Zudem hat sich die Anzahl von Migrant*innen, die über die Straße von Gibraltar nach Spanien kommen, seit 2015 etwa verzehnfacht (UNHCR 2019; Alarm Phone 2018). Das spanische Asylsystem ist grundsätzlich äußerst dysfunktional. Hochgradig zentralisierte Planungs- und Regulierungsmechanismen treffen hier auf eine extrem dezentralisierte Implementierung durch NGOs, Wohltätigkeitsorganisationen und Stadtverwaltungen, wobei es an jeglicher Form von Koordinierung oder zuverlässigen Informationskanälen fehlt. Die Zentralregierung erteilt den Städten zudem keine Vorankündigung, ob und wann Geflüchtete dorthin geschickt werden. Unterdessen führen die hohen Ablehnungsquoten kontinuierlich zu Obdachlosigkeit, Armut und Irregularität, und die damit einhergehenden Formen der Ausgrenzung und Hyperausbeutung bieten den Nährboden für Xenophobie, Rassismus und Klassismus. Um diesen Problemen entgegenzuwirken, hat die Stadt zahlreiche Initiativen gestartet, von denen an dieser Stelle nur einige erwähnt werden können. Das im April 2016 gestartete kommunale «Nausica»-Programm bietet eine Vielzahl an Dienstleistungen für Asylbewerber*innen oder -empfänger*innen, die vom begrenzten staatlichen Aufnahme- und Inte64 grationsprogramm ausgeschlossen sind. Hierzu gehören unter anderem Hilfeleistungen bei der Wohnungssuche, Rechtsberatung sowie Jobund Sprachtrainings (Barcelona Ciutat Refugi 2018). Das Programm wurde gemeinsam von einer Reihe von NGOs, zivilgesellschaftlichen Gruppen und kommunalen Institutionen entwickelt. Eine umfangreiche unabhängige Evaluierung (Ayuntamiento de Barcelona 2018b) zeigte, dass das Programm Erfolge in der Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Autonomie sowie der Spanischkenntnisse der Programmteilnehmer*innen erzielen konnte. Der ganzheitliche Ansatz erkennt die Teilnehmer*innen als vollwertige Individuen mit zusammenhängenden Bedürfnissen an und ermöglicht koordiniertes Handeln der verschiedenen beteiligten kommunalen Einrichtungen und NGOs. Der Fokus auf soziale Autonomie sig nalisiert eine wichtige Abkehr von einem rein ökonomisch gedachten Autonomiekonzept sowie eine Wertschätzung der Beteiligung an Gruppen- und Gemeinschaftsaktivitäten, Freundschaftsnetzwerken und der Fähigkeit der Teilnehmer*innen, ohne professionelle Anleitung auf das Dienstleistungsangebot der Stadt (Gesundheitswesen, Bibliotheken, Gemeindezentren usw.) zuzugreifen. Allerdings bleibt das Programm unterfinanziert und erreicht nur einen Bruchteil der Bedürftigen. Seit 2017 bietet das sogenannte Nachbarschaftsdokument (documento de vecindad) Menschen, die sich in aufenthaltsrechtlicher Irre- gularität befinden, Unterstützung beim Nachweis ihres Zugehörigkeits- und Integrationsstatus in Barcelona. Dieses Dokument kann im Falle einer möglichen Inhaftierung oder Abschiebung als Beweismittel herangezogen und von den jeweils zuständigen Richtern und Gerichten berücksichtigt werden. Interviews mit Fachleuten der Abteilung für die Aufnahme und Versorgung von Geflüchteten (Dirección de Atención y Acogida a Inmigrantes) der Stadtverwaltung zufolge bescheinigt dieses Dokument die Zugehörigkeit einer Person zur Stadt (Legal Team 2019; Ayuntamiento de Barcelona 2018c). Obwohl das Dokument auf kommunaler Ebene als rechtmäßig gilt, ist es für den spanischen Staat nicht rechtsverbindlich, sodass dessen Anerkennung nach wie vor im Ermessen der jeweiligen Einwanderungsbehörde liegt (Esbert-Pérez 2017). Darüber hinaus hat eine Reihe von kommunal geförderten Ausstellungen in städtischen Kultureinrichtungen und auf öffentlichen Plätzen die Aufmerksamkeit auf die Notlage von Migrant*innen gelenkt. Ein Beispiel ist die Auflistung von 35.597 dokumentierten Todesfällen im Mittelmeer in der stark frequentierten U-Bahn-Station Paseig de Gracia. Auch wenn die anfängliche Symbolkraft inzwischen nachgelassen hat, ist Barcelona dennoch zu einer Stadt der Zuflucht geworden. Gloria Rendón, Direktorin des SAIER und des «Nausica»-Programms, fasste diese Entwicklung wie folgt zusammen: «Als der Plan für ‹Bar- celona Ciutat Refugi› entwickelt wurde, war die Wirkung in der Stadt eher medial als in der Praxis spürbar. Jetzt gibt es eine konkrete Wirkung, aber weniger mediale Aufmerksamkeit» (Barcelona Ciutat Refugi 2017). Die Unterstützung von sozialen und zivilgesellschaftlichen Initiativen hat aber auch nicht an Priorität verloren. 2017 unterstützte Ada Colau die Mobilisierung sozialer Bewegungen für die «Unser Heim ist euer Heim»-Kampagne (Casa nostra, casa vostra), deren Höhepunkt eine Demonstration mit 160.000 Teilnehmer*innen war. Im selben Jahr unterstützte die Stadt mit 100.000 Euro die Seenotrettungsmissionen der Organisation «ProActiva Open Arms» und mit 60.000 Euro «Stop Mare Mortum» und versicherte beiden Organisationen politische Unterstützung. Wie Ada Colau bekräftigte: «Wer [diese Organisationen] attackiert, greift auch die Stadt Barcelona an, und wir werden alles Nötige tun, um ihre Arbeit zu schützen.» (Espanyol 2018) Diese Botschaft der Angstlosigkeit hat sowohl international wie auch unter den Bewohner*innen Barcelonas zweifellos eine große Rolle gespielt. Die zur Verfügung stehenden Ressourcen und Kompetenzen reichen jedoch nach wie vor nicht aus, damit die konkreten städtischen Initiativen wirklich effektiv und universell sein können. Städtevertreter*innen klagen über unzureichende Unterstützung vom spanischen Staat und über EU-Fördergelder, die nie auf kommunaler Ebene ankommen. Darüber hinaus 65 bleibt die Wirksamkeit des «Documento de vecindad» – das wichtigste Instrument der Stadt, um undokumentierte Einwohner*innen vor polizeilicher Schikane und Abschiebung zu schützen – weiterhin unklar. Während die Stadt auf der einen Seite von den Medien und der Opposition wegen der unzureichenden polizeilichen Überwachung von Migrant*innen kritisiert wurde, hat ein großer Teil der migrantischen, antirassistischen und dekolonialen Bewegung in Barcelona sie andererseits der Heuchelei beschuldigt, da die großen Gesten der Solidarität mit Geflüchteten im Widerspruch zur anhaltenden Repression von Migrant*innen auf den Straßen Barcelonas stehen. 5 DIE GEWERKSCHAFT DER STRASSENHÄNDLER*INNEN (MANTEROS) BComú übernahm mit dem Amtsantritt auch die formale Kontrolle des kommunalen Polizeiapparates (Guardia Urbana). Unverzüglich reichte der amtierende Polizeipräsident unter Berufung auf die vermeintlich polizeifeindliche Einstellung von BComú seine Rücktrittserklärung ein (Navarro 2015). Mit der Lockerung der polizeilichen Kontrolle der Armen ließ auch die Schikane der Straßenverkäufer*innen (manteros) nach, und ihre Präsenz im öffentlichen Raum nahm zu. Es dauerte nicht lange, bis die Mainstream-Medien gemeinsam mit dem Einzelhandelsverband den moralischen Zeigefinger erhoben und den Verkauf von gefälschten Nike-Schuhen und anderen illegalen Waren auf den Straßen Barcelonas anprangerten. Mit Ada Colau als Bürgermeisterin gelangten die bislang als unwichtig erachteten Überlebensstrategien der Armen plötzlich auf die Titelseite der Zeitungen, und Bedenken hinsichtlich der Verletzung geistigen Eigentums, unfairen Wettbewerbs, 66 der öffentlichen Ordnung und des Ansehens Barcelonas in der Welt wurden laut. So kritisierte die spanische Tageszeitung La Vanguardia, die überfüllten Straßen seien eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit (die immensen Touristenströme wurden nicht problematisiert). Die Kampagne wurde im Verlauf des Sommers 2015 intensiv vorangetrieben. Im August desselben Jahres stürzte der mantero Mor Sylla während einer Polizeirazzia in einer Ortschaft bei Barcelona und starb an seinen Verletzungen. Kein*e Polizist*in wurde für seinen Tod zur Rechenschaft gezogen und der Vorfall führte zu Demonstrationen (Rovira 2015). Unter diesen angespannten Bedingungen trafen sich die manteros im «Espacio del Inmigrante», wo sie die Gewerkschaft der Straßenhändler*innen gründeten (Sindicato Popular de Vendedores Ambulantes). Die Idee für eine solche Gewerkschaft entstand bei Gesprächen mit den dortigen Aktivist*innen und wurde bald von der neu entstandenen «Tras la Manta»-Initiative unterstützt, die von Veteranen der 15M-Bewegung und des Kampfes gegen das Abschiebelager gegründet wur- de. Eine Person im «Espacio del Inmigrante» beschrieb die politischen Auswirkungen der Gewerkschaftsgründung wie folgt: «[Die manteros] waren im wahrsten Sinne des Wortes ein politischer Akteur, und ihre Selbstorganisation war ein natürliches Produkt des Antagonismus, den sie ohnehin schon im Alltag praktizierten – in den von ihnen geschaffenen Selbsthilfe- und Solidaritätsnetzwerken, um tagtäglich in einem System zurechtzukommen, das ihre bloße Existenz kriminalisiert. Hierdurch wurden sie jedoch zum öffentlichen politischen Akteur – durch die Gewerkschaft.» (Interview durch den Autor) Die Gewerkschaft der Straßenhändler*innen wurde gegründet, um den Gerüchten und rassistischen Stereotypen entgegenzuwirken, die ihre Arbeit begleiten, und um eine Verhandlungsbasis mit den örtlichen Behörden und der Polizei zu schaffen. Ihre zentrale Botschaft lautete «Überleben ist keine Straftat» und sie forderten, die Menschenwürde über geistige Eigentumsrechte zu stellen. Bald begann die Gewerkschaft, mit der Unterstützung von «Tras la Manta» und «Espacio del Inmigrante» sogenannte rebellische Flohmärkte zu organisieren (Espinosa Zepelda 2017). Hier wurde die Trennung der schwarzen Straßenhändler*innen von der allgemeinen Bevölkerung aufgehoben, was ihre polizeiliche Kontrolle erschwerte. Das Bündnis organisierte auch Demonstrationen, die die Kämpfe der manteros mit jenen anderer Gruppen verbanden: «Wir sind gekommen, weil spanische und europäische Schleppnetzfischer die Fische von der Küste Westafrikas wegfischen und uns Arbeit und Nah- rungsmittel nehmen. Wir versuchen nur, uns über Wasser zu halten, so wir ihr es auch tut, und so wie ihr wurden wir von den Reichen verarscht» (Gespräch mit einem mantero 2017, nach der Erinnerung zitiert; siehe auch Siberia TV 2015). Unterdessen wurden die Angriffe auf BComú von der Presse, dem Einzelhandelsverband und der Polizeigewerkschaft verschärft. Diese Strategie ist keineswegs neu – sie wurde schon 2004 gegen die damals amtierende linke Regierung angewendet, die dazu genötigt wurde, den «Civismo-Code» einzuführen, der die Art und Weise, wie Arme den öffentlichen Raum nutzen, kriminalisiert (Alkoholkonsum im öffentlichen Raum, Herumlungern, Straßenverkauf, Betteln usw.). Zeitgleich mit der Gründung von «Ciutat Refugi» im September 2015 stellte die Opposition (mit Ausnahme der linken CUP-Partei) einen Misstrauensantrag aufgrund von Ada Colaus «Unfähigkeit, mit den manteros fertigzuwerden» (Blanchar 2015). Die unmittelbare Reaktion des stellver67 tretenden Bürgermeisters Geraldo Pisarello – zu dieser Zeit die einzige nicht-weiße Person im Rathaus – war entschieden. Er nannte den Ansatz der Opposition «rassistisch und klassistisch» und ihre Kritik «zynisch und demagogisch», hatten sie während ihrer eigenen Amtszeit die Problematik doch selbst nicht in den Griff bekommen (ebd.). Der darauffolgende Aufschrei in den Medien zwang Pisarello dazu, seine Aussagen zurückzuziehen, mit Ausnahme des impliziten Bekenntnisses, dass es hier ein Problem gäbe. BComú war in die Defensive gedrängt worden. Die Bemühungen der Stadt, in Gesprächen mit Polizei und Unternehmensverbänden Anerkennung für die Gewerkschaft der Straßenhändler*innen zu schaffen, scheiterte, weil diese die Legitimität der Gewerkschaft abstritten. Während die Bemühungen um den Aufbau der «Ciutat Refugi» intensiviert wurden, begann die Stadtverwaltung, sich dem Druck zu beugen. Angesichts der überwältigenden Macht der Medien, der Opposition und der Verbände von fest entschlossenen Ladenbesitzer*innen griff BComú auf ihren eigenen Diskurs zurück, der als Teil ihres Kampfes um Hegemonie entwickelt worden war: Ziel sei es, «für alle zu regieren», nicht nur für spezifische Interessengruppen – und wie immer schließt die Standarddefinition von «alle» vor allem Bürger*innen und Wähler*innen ein. Die Stadtregierung befand sich auf einem schmalen Grat. Wie Pisarello 68 der bewegungsnahen Zeitung Diagonal erklärte, war die Stadt noch immer entschlossen, «den Ansatz der Kriminalisierung und der polizeilichen Kontrolle des Straßenverkaufs zu umgehen und sich dafür einzusetzen, dass die Menschen, die Straßenhandel betreiben, Nachbar*innen sind, deren Grundrechte anerkannt werden müssen» (Fernández Redondo 2016). Nichtsdestotrotz arbeitete die Stadtregierung daran, «Ordnung in den öffentlichen Raum zu bringen, um zu verhindern, dass Einzelhändler*innen in eine rechtspopulistische Koalition gegen die manteros gezogen werden» (ebd.). Dieser Versuch gipfelte im Sommer 2016 in einer stadtweiten Kampagne, die zu einem respektvollen Zusammenleben aufrief und unter anderem Tourist*innen und Einwohner*innen davon abriet, die Waren der manteros zu kaufen. Die Kampagne wurde von verstärkten Polizeikontrollen an öffentlichen Plätzen begleitet. Die Gewerkschaft der Straßenhändler*innen wies darauf hin, dass diese Maßnahmen ihre Überlebensstrategien und Existenzen kriminalisierten und delegitimierten. Die Kritik aus den antirassistischen und dekolonialen Bewegungen war kompromisslos und voller Misstrauen gegenüber den Absichten und dem Diskurs der Stadt. «Ciutat Refugi» wurde als inhaltslose Farce und «beschissene Heuchelei» angeprangert. In einer Videobotschaft gegen die Stadtverwaltung beschrieb Mohamed, ein syrischer Palästinenser, «Ciutat Refugi» als einen «boost für das Selbstwertgefühl der Mittelschicht, als ob sie etwas in dieser Krise unternehmen würden», während Daouda aus Senegal feststellte, dass «sie nicht verstehen, was wir durchmachen, weil sie es nicht wissen und nicht wissen wollen» (Alsharqawi/Almodóvar 2016). Die Gewerkschaft der Straßenhändler*innen, die ein Eigeninteresse an den Verhandlungen mit der Stadt und an freundschaftlichen Beziehungen zu BComú besaß, verfolgte einen weniger abweisenden Ansatz. Das Ergebnis dieser Verhandlungen war schließlich die Gründung einer städtisch geförderten Kooperative von manteros, der DiomCoop, im Jahr 2017 sowie die Etablierung von Verkaufspunkten für manteros bei Stadtfesten und Märkten (López 2017). Dennoch bietet die Kooperative nur 40 Arbeitsplätze für 300 bis 400 Straßenhändler*innen, und zwar nur denjenigen mit Zugang zu einer Arbeitserlaubnis, das heißt jenen, die für ihre kriminalisierten Überlebensstrategien noch keinen Eintrag ins Strafregister bekommen haben. Den informellen Straßenverkauf gibt es auch heute noch, er wird nur an den geschäftigsten zentralen Orten polizeilich verhindert. Proteste gegen polizeiliche Repression und Gewalt bestehen weiterhin, nicht zuletzt in Form der Großdemonstration anlässlich Mame Mbayes Tod, der nach einer Verfolgungsjagd durch die Polizei in Madrid starb (Faye 2018). Die Zugeständnisse von BComú konnten die politische Opposition letztlich nicht zufrieden- stellen und die Frage der manteros nicht entpolitisieren. Sie haben sogar dazu beigetragen, ihre eigenen Bemühungen zur Schaffung eines Diskurses, der den Straßenverkauf als komplexe, strukturelle Frage und eine des Überlebens, der Arbeit und der politischen Vertretung illegalisierter Migrant*innen anerkennt, zu schwächen. Die Situation von Menschen mit prekärem und irregulärem Rechtsstatus bleibt dabei bestehen und spitzt sich Jahr für Jahr zu, während BComú auf Legalisierungsansätze (z. B. durch Kooperativen, Arbeitserlaubnisse) setzt. Im Vorfeld der Kommunalwahlen 2019 fokussiert die Organisation allerdings zunehmend auf polizeiliche Maßnahmen gegen den Straßenhandel.4 Aktuell dient die Frage des Straßenhandels der politischen Rechten weiterhin als Keil, mit dem sie versucht, die Bewohner*innen der Stadt zu entzweien, Rivalitäten und Misstrauen auf der Basis ethnischer Zuschreibungen zu säen und damit das städtische Zusammenleben (convivencia), die Unterstützung von universellen Rechten und die Konditionen der sozialen und Klassensolidarität zu untergraben. In diesem Sinne ist Solidarität mit 4 Anfang 2019 wurden im Pressespiegel von BComú zwei Artikel zum Straßenhandel verbreitet. Ein Artikel beschäftigt sich mit der Forderung des kommunalen Sicherheitsbeauftragten, die Polizei solle Straßenhändler*innen in einer zentralen Metrostation räumen und Strafanzeigen aufgrund des Verkaufs von gefälschten Waren stellen (El Periódico 2019). Ein weiterer Artikel titelt, die Stadtverwaltung wolle den Straßenhandel beseitigen (Betevé 2019). Diese Schlagzeilen entsprechen zwar nicht den Positionen von BComú, allerdings beinhaltet der Pressespiegel in der Regel nur Darstellungen, die die Plattform unterstützt. 69 Migrant*innen nicht nur eine Frage der moralischen Verantwortung gegenüber unseren schutzbedürftigen Mitbürger*innen, sondern auch eine Frage strategischer Notwendigkeit auf allen Ebenen. 6 LEKTIONEN UND ERFINDUNGEN DER ZUKUNFT Die von «Barcelona en Comú» gewonnenen Erfahrungen und durchgeführten Experimente legen nahe, dass progressive Städte und Parteien dann an Boden gewinnen, wenn sie solidarische und emanzipatorische Bewegungen der Gesellschaft erweitern und ausbauen, und Rückschläge erzielen, wenn sie nur den vorherrschenden, durch Massenmedien und Mechanismen der Ausgrenzung geformten Alltagsverstand der Bürger*innen repräsentieren. BComú konnte dort am wirkungsvollsten agieren, wo es ihnen gelang, auf gesellschaftlichen Kräften aufzubauen, die es vermögen, Subjektivitäten neu zu gestalten und den vorherrschenden Alltagsverstand durch in politischen Auseinandersetzungen erlerntes Wissen zu transformieren. Aktuell ist vieles in Bewegung. Mehr Geflüchtete und Migrant*innen erreichen Barcelona. Die extreme Rechte in Spanien hat eine unabhängige Wahlplattform, «Vox», gegründet. Obwohl diese in Barcelona kaum Chancen auf Mandate bei den Kommunalwahlen im Mai 2019 haben wird, beeinflusst sie die politischen Dynamiken in der Stadt. Vor diesem Hintergrund lohnt ein Blick auf die Erkenntnisse der letzten Jahre. «Ciutat Refugi» hat nur wenigen der syrischen Geflüchteten, für deren Aufnahme es ursprünglich gegrün70 det worden war, geholfen. Noch konnte der spanische Staat nicht dazu gebracht werden, seinen Verpflichtungen nachzukommen: Im Oktober 2018 hatte Spanien nur 16,7 Prozent der Geflüchteten aufgenommen, zu deren Umsiedlung es sich 2018 verpflichtet hatte. Das ist ein Bruchteil der syrischen Geflüchteten in Europa und noch weniger im Vergleich zu jenen Syrer*innen, die in der Türkei, im Libanon und in Jordanien feststecken (La Vanguardia 2018). Allerdings können berechtigte Forderungen nicht nur danach beurteilt werden, ob sie auch tatsächlich in der Praxis erreicht wurden. Die entschlossene und kompromisslose Willkommenshaltung der Stadtregierung ermutigte lokale Aktivist*innen und baute auf einem Moment der allgemeinen Empathie auf. Dadurch konnte ein öffentlicher Diskurs eingeleitet werden, der über den apolitischen Humanitarismus hinausging, der angesichts der europaweiten migrationsfeindlichen Stimmung gescheitert ist. Über den Versuch hinaus, eine Willkommenskultur in der Stadt zu etablieren und Druck auf den Zentralstaat auszuüben, muss «Ciutat Refugi» als europaweite Kampagne gegen ein Klima der Angst und der Abschottung interpretiert werden. Diese Kampagne half, einen Gegendiskurs und neue Netzwerke der Solidarität und der Kooperation zwischen verschiedenen Orten, Bewegungen und Institutionen europaweit zu entwickeln. Auf zentralstaatlicher Ebene sind die direkten Auswirkungen der Kampagne weniger klar: In vielerlei Hinsicht wurden die antirassistischen Forderungen der Städte von den Auseinandersetzungen um die katalanische Unabhängigkeit überschattet (Hansen 2017). Auf kommunaler Ebene, wo Asyl- und Migrationsfragen immer konkreter und dringlicher werden, ist die Situation unübersichtlich und voller Herausforderungen. Dennoch nehmen fremdenfeindliche Reaktionen in Barcelona dank der Bewegung für Migrantenrechte und «Ciutat Refugi» sowie der allgemeinen Erfahrungen der Solidarität, die für das Nachbarschafts-, Kollektiv- und Vereinsleben in Barcelona charakteristisch sind, deutlich weniger Raum ein als in Städten, die von Konkurrenz und Misstrauen gekennzeichnet sind. Dies zeigte sich auch in der gefassten und nicht-islamfeindlichen Reaktion auf die Anschläge in Barcelona im Jahr 2017. Die Symbolkraft Barcelonas als Stadt der Zuflucht ist groß, aber prekär. Die Gründung und internationale Ausrichtung von «Ciutat Refugi» zeigt, dass Städte auch breitere ideologische Kämpfe zur Wahrung von Menschenrechten und Solidarität mit Geflüchteten erfolgreich führen können, auch bei Fragen, die über ihre formalen Zuständigkeiten und rechtlichen Kompeten- zen hinausgehen. Der Fall der manteros zeigt zugleich, wie schwierig und kontraproduktiv es sein kann, sich taktisch aus breiteren Gerechtigkeitskämpfen zurückzuziehen. Grenzen durchziehen die Stadt, und die Institution der nationalen Staatsbürgerschaft entzweit ihre Bewohner*innen. Im Allgemeinverständnis der repräsentativen Politik werden nur wahlberechtigte Bürger*innen als politische Akteur*innen und Träger*innen politischer Legitimität berücksichtigt, während Migrant*innen kaum politische Handlungsspielräume zur Verfügung stehen. Sie sind entweder gute Opfer oder böse Eindringlinge, Geflüchtete oder Wirtschaftsmigrant*innen. Der Alltagsverstand betrachtet die Repression irregulärer Überlebensstrategien zudem als «öffentliche Ordnung» und somit als zentrale Aufgabe der Verwaltung. BComú hat ursprünglich dafür gekämpft, dieses Allgemeinverständnis zu überwinden – mit dessen impliziter Übernahme wurde wenig gewonnen. Migrant*innen ohne Arbeitserlaubnis müssen trotzdem überleben, und die Repression einer Überlebensstrategie wie des Straßenhandels zwingt sie unweigerlich dazu, andere irreguläre oder illegale Praktiken aufzunehmen. Die Stadtverwaltungen haben kaum Möglichkeiten zur Legalisierung und Ausweitung der Rechte von Illegalisierten, während der öffentliche Druck, sie zu kontrollieren, nicht nachlässt. Wenn Städte anerkennen, dass Irregularität als Phänomen nicht verschwinden, son71 dern von nationalen Grenzen und Staatsbürgerschaft immer wieder reproduziert wird, stehen sie vor der Wahl: Akzeptieren sie die Teilung der Bevölkerung durch den Staat, oder arbeiten sie daran, das nationale Recht zu ändern? Versuchen sie, Irregularität durch polizeiliche Maßnahmen zu unterdrücken, oder finden sie Wege, in den Städten Raum für Irregularität zu schaffen? Hinsichtlich des Straßenverkaufs könnten solidarische Städte eine altbewährte neoliberale Strategie nutzen: Dereguliere deine Freunde und reguliere deine Feinde. Für die Neoliberalen bedeutete dies Deregulierung und Subventionierung von Kapital durch Outsourcing und Privatisierung, andererseits etwa die verstärkte Regulierung von Gewerkschaften und Kontrolle von Arbeiter*innen, Arbeitslosen, Migrant*innen und Nicht-Migrant*innen. So wurde der Einfluss des Kapitals erhöht und damit der Einfluss neoliberaler Regierungen gestärkt. Die Stadt Barcelona subventioniert die Armen de facto bereits auf irreguläre Weise durch die Ausweitung des Zugangs zu vielen Sozialdiensten, wo de jure Rechte nicht gewährt werden können. Die neoliberale Strategie umzukehren in Richtung einer Deregulierung der Armen hieße also nicht, sie aufzugeben, sondern Räume zu schaffen für Formen der Selbstorganisation, individuell 72 und kollektiv, in denen Menschen Grundlagen für Stabilität und Solidarität entwickeln. Dies würde bedeuten, ihren Forderungen nach Deregulierung und Entkriminalisierung – zum Beispiel bei der Nutzung des öffentlichen Raums – Gehör zu schenken, und somit ihre politische Handlungsfähigkeit und Selbstorganisation unabhängig von ihrer nationalen Staatsbürgerschaft anzuerkennen im Sinne des Konzepts der «Urban Citizenship» (Isin/Siemiatycki 1999; Hansen/Zechner 2016). Allgemeiner sollten wir die Frage stellen, ob wir «Integration» als wechselseitige Integration von Formen der Solidarität und gegenseitiger Hilfe neu denken können. Dann geht es nicht mehr nur darum, Geflüchteten und Migrant*innen zu helfen, sondern darum, ihre Formen des Mutualismus mit lokalen Formen der Solidarität wie Gewerkschaften, Kooperativen und Commons zu verbinden. Was, in anderen Worten, geschieht, wenn wir aufhören, über die Solidarität mit Geflüchteten und Migrant*innen als eine ausschließlich moralische und humanitäre Frage zu sprechen, sondern beginnen, darüber als Frage von Strategie, Organisation und Wandel nachzudenken? Aus dem Englischen übersetzt von Joanna Mitchell, lektoriert von Cornelia Gritzner für LinguaTransFair. LITERATUR Alarm Phone (2018): Und wir bewegen uns doch – 2018, ein umkämpftes Jahr, 28.12.2018, unter: https:// alarmphone.org/de/2018/12/28/ und-wir-bewegen-uns-doch-2018ein-umkaempftes-jahr/. Alsharqawi, M/Almodóvar, M. (2016): Barcelona, Ciutat Refugi?, unter: www.youtube.com/watch?v=G_y6reeT4Ck. Ayuntamiento de Barcelona (2018c):Document de veïnatge, unter: http://legalteam.es/lt/ wp-content/uploads/2018/02/ Folleto-informativo-sobre-eldocumento-de-vecindad-Barcelona-Legalteam.pdf. Ayuntamiento de Barcelona (2018d): Informe Qualitatiu SAIER – Refugi, Oktober 2018. 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Demgegenüber werden Praktiken des Mutualismus gelebt, die sich – wie im Folgenden gezeigt wird – als Wiederaneignung eines gesellschaftlichen Terrains verstehen und den Anspruch haben, Klassensolidarität zu organisieren, politische Konflikte auszutragen und so die Machtfrage zu stellen. Gerade was die Frage der Solidarität mit Migrant*innen aus klassenpolitischer Perspektive angeht, sind die Aktivitäten des politischen Kollektivs «Ex Opg Je so‘ pazzo» (deutsch: «Ich bin verrückt») in Neapel beispielhaft. Sie reagieren einerseits auf die allgemeine gesellschaftliche, politische und ökonomische Krise Italiens. Andererseits wird eine solidarische Basisarbeit mit Migrant*innen entwickelt, die diese nicht paternalistisch behandelt, sondern als Teil der Arbeiterklasse zu organisieren versucht. Diesen Aspekt der Klassenpolitik möchte ich in dem vorliegenden Beitrag in den Mittelpunkt stellen. Mit der Besetzung des ehemaligen psychiatrischen Gefängnisses im Jahr 2015 entfaltete das «Ex Opg Je so‘ pazzo» zahlreiche soziale und politische Aktivitäten: Juristische Anlaufstellen für Migrant*innen und Arbeiter*innen, medizinische Ambulatorien, Sprachkurse und Interventionen in den Asylzentren haben sich zu regelrechten selbstorganisierten sozialen Infrastrukturen 79 und Dienstleistungen entwickelt. Sie sind eine konkrete Antwort auf unmittelbare soziale Bedürfnisse von Arbeiter*innen sowohl migrantischer wie auch italienischer Herkunft. Die Tradition des Mutualismus dient hier zur Produktion eines Narrativs des Wandels sowie als organisatorisches Vehikel. Denn das «Ex Opg» knüpft an die historische Erfahrung des Mutualismus Mitte des 19. Jahrhunderts während der Entstehung der ersten Arbeiterorganisationen in Italien an. Hierzu gehören einerseits Formen kollektiver Widerstandsfähigkeit (Resilienz) gegen die dramatischen Auswirkungen der Massenproletarisierung und andererseits Instrumente des politischen Widerstands gegen die Ausbeutung der Arbeiter*innen. Während Ersteres aufgrund des Effekts einer autonomen Reproduktion der ausbeutbaren Arbeitskraft Akzeptanz bei den bürgerlichen Klassen fand, wurde Zweiteres bekämpft und kriminalisiert (Meriggi 2016). Der Mutualismus weist historisch also einen Doppelcharakter auf, der bis heute besteht: Mutualistische Interventionen können – einfach ausgedrückt – reinen karitativen Charakter haben, falls sie nicht in eine breitere Perspektive des sozialen Konflikts eingebettet werden. Kirchliche Armenhilfe, selbstorganisierte Quartiervereine und viele weitere ähnliche Projekte können auch als Basisinitiativen der gegenseitigen Hilfe bezeichnet werden. Dort, wo der Staat aufgrund von Bürokratie, finanzieller Schwäche, Krise und krimineller Infiltrierung nicht 80 der Befriedigung der unmittelbaren Bedürfnisse der Bevölkerung nachkommt, entstehen mutualistische Projekte von unten. Geht es aber darum, eine Klassenperspektive bei der Erfüllung dieser unmittelbaren Bedürfnisse einzunehmen, sollte es nicht bei den selbstorganisierten Basisinitiativen bleiben. Eine Form der Vertikalisierung des gesellschaftlichen Konflikts und die Konfrontation mit den öffentlichen Institutionen erscheinen daher notwendig. Die Politisierung des Mutualismus hängt also von der Existenz eines politischen Projektes ab, das nicht innerhalb der Gemeinschaft einer Besetzung oder einer Kommune bleibt, sondern die Frage ums Ganze stellt. Die Erfahrungen aus Neapel zeigen diesbezüglich zweierlei: erstens die materiellen und politischen Grenzen des Munizipalismus, verstanden als kommunale Organisationsform einer politischen Opposition gegen die von der Zentralregierung und den europäischen Institutionen auferlegten rassistischen Gesetze und Austeritätsprogramme, zweitens aber auch das politische und organisatorische Potenzial des Mutualismus als soziale Praxis von und für die Arbeiterklasse. Neapel fungiert dabei nicht einfach als Spiegel der sozialen und politischen Konflikte Italiens und Europas, sondern vielmehr als regelrechtes Vergrößerungsglas, das uns die Dynamiken der Konflikte – und die Organisierung der Ausgebeuteten – filterlos und unmittelbar vor Augen führt. Um diese politische Realität zu analysieren, habe ich Interviews mit fünf Basisaktivist*innen des «Ex Opg» durchgeführt, die in unterschiedlichen Bereichen tätig sind. Zur Ergänzung des empirischen Materials habe ich zahlreiche schriftliche Beiträge und eigene Notizen aus der (teilnehmenden) Beobachtung herbeigezogen, weil ich selbst im «Ex Opg» organisiert und aktiv bin. Der Versuch, mit Vertreter*innen der kommunalen Regierung Gespräche zu führen, scheiterte, entsprechende Anfragen wurden nie beantwortet. 1 ARBEIT UND MIGRATION IN NEAPEL Neapel ist eine klassische Stadt Südeuropas, in der nicht erst seit dem Ausbruch der Krise 2008 soziale Konflikte den Alltag prägen (vgl. historisch Lay 1980). Offiziell sind 30,5 Prozent der Bevölkerung arbeitslos, das sind 113.000 Menschen (+ 3,9 Prozent zwischen 2016 und 2017). Bei den 15- bis 24-Jährigen liegt die Arbeitslosenquote bei 54,7 Prozent. Die Krise und die letzte Arbeitsmarktreform haben die Arbeit noch stärker prekarisiert. In der ganzen Region Kampanien werden unbefristete Verträge stetig durch befristete Arbeitsverhältnisse ersetzt. Neben der wachsenden Prekarisierung der regulären Arbeit nehmen auch irreguläre Arbeitsbeziehungen zu. 2017 zählten die Statistiken 382.900 irregulär arbeitende Personen in der Region Kampanien, was rund neun Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmacht. Betroffene Sektoren sind in der nördlichen Peripherie und in der Provinz Caserta die Landwirtschaft und in den größeren urbanen Zentren haushaltsnahe Dienstleistungen, Gastronomie und Tourismus. Das Bild der städtischen Prekarität kann um die Emigrationszahlen ergänzt werden: Innerhalb von 15 Jahren, zwischen 2002 und 2016, sind über 1,8 Millionen junge Italiener*innen aus dem Süden des Landes weggezogen. Die schwache ökonomische Entwicklung führt zu einer sich stetig verkleinernden Bevölkerung im Süden. Kampanien gehört dabei zu den am stärksten von Auswanderung betroffenen Regionen. Es wird geschätzt, dass die Region in den kommenden 50 Jahren etwa 1,5 Millionen Menschen durch Emigration verlieren wird (Svimez-Bericht 2018). Migrationspolitik und Aufenthaltstitel Die italienische Migrationspolitik ist noch heute von der Gesetzgebung aus dem Jahr 2002 geprägt. Die sogenannte legge Bossi-Fini regelt die Genehmigung von Aufenthaltstiteln dadurch, dass nur ein gültiger Arbeitsvertrag eine Arbeits- und damit eine Aufenthaltserlaubnis garantiert. Gerade in einem stark von der Irregularität der Arbeit geprägten Land verhindern solche Bestim81 mungen die Regularisierung von Arbeitsmigrant*innen ohne gültigen Arbeitsvertrag. Erst die sogenannte sanatoria (deutsch: Regularisierung) in den Jahren 2009 und 2012 hat dieses Phänomen abschwächen können, wenn auch nur unzureichend.1 Die italienische Asylpolitik sieht grundsätzlich drei Möglichkeiten für einen geregelten Aufenthalt vor: Erstens existiert das politische Asyl zur Erlangung des international anerkannten Flüchtlingsstatus. 2017 erhielten 8,4 Prozent aller 81.000 Menschen, die einen Asylantrag gestellt hatten, diesen Status (ISMU 2017). Diese Aufenthaltsbewilligung wird für fünf Jahre vergeben, kann erneuert werden und beinhaltet das Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt und zu sozialstaatlichen Leistungen. Nach fünf Jahren kann die italienische Staatsbürgerschaft beantragt werden. Zweitens gibt es den subsidiären Schutz (2017: 8,4 Prozent; ISMU 2017), welcher vergeben wird, wenn nach Ansicht der Behörden keine persönliche Verfolgung nach der Genfer Flüchtlingskonvention vorliegt, jedoch dem bzw. der Asylsuchenden im Herkunftsland schwerer Schaden drohen würde. Auch diese Aufenthaltserlaubnis wird für fünf Jahre ausgestellt, ermöglicht den Zugang zum Arbeitsmarkt, zu sozialstaatlichen Leistungen und kann in eine Arbeitsbewilligung umgewandelt werden. Drittens gibt es den humanitären Schutz (2017: 24,7 Prozent; ISMU 2017), welcher denjenigen Personen gewährt wird, die Fluchtgründe humanitären Charakters angeben, ohne aber die Kriterien für politisches Asyl zu erfüllen. Hierzu gehören gesundheitliche Gründe, Alter, politische Instabilität oder ökologische Krisen im Herkunftsland. Diese Art Duldung wird für maximal zwei Jahre ausgestellt und kann verlängert werden, verfällt jedoch, sobald der Grund für den humanitären Schutz nicht mehr existiert. Darüber hinaus gibt es sieben weitere Wege, um in Italien eine Aufenthaltsbewilligung zu erhalten. Unter diesen speziellen Bewilligungen ist vor allem jene für Opfer von Ausbeutung in Arbeitsverhältnissen hervorzuheben. Artikel 18 und Artikel 22 des Migrationsgesetzes ermöglichen die Vergabe einer Aufenthaltsbewilligung aus humanitären Gründen in Fällen gravierender Ausbeutung und Gewalt am Arbeitsplatz. 1 2009 wurden nur Gesuche von migrantischen Hausangestellten akzeptiert, 2012 wurde von den Antragssteller*innen die Zahlung einer einmaligen Steuer von 1.000 Euro und die rückwirkende Bezahlung der Lohnnebenkosten der letzten sechs Monate verlangt. 82 Eine der ersten Gesetzesänderung des neuen Innenministers Matteo Salvini war die Abschaffung des humanitären Schutzes. Ende November 2018 wurde eine entsprechende Gesetzesänderung vom Parlament angenommen und trat sogleich in Kraft. Die Vergabe von Aufenthaltstiteln in Italien erfolgt bei einem Viertel aller anerkannten Fälle über diesen Weg. Die Abschaffung des humanitären Schutzes, die in der Kontinuität mit den im Sommer 2017 vom damaligen Innenminister Marco Minniti (decreto Minniti) verfügten Einschränkungen der Einspruchsmöglichkeiten gegen negative Asylentscheide steht, wird den Zugang zum Asylrecht deutlich behindern. Die ersten Konsequenzen dieser neuen Praxis sind bereits dokumentiert: Geflüchtete mit humanitären Bewilligungen werden mit der Abschaffung dieses Status aus den Notunterkünften geworfen, weil ihre Bewilligung abläuft und nicht in eine Arbeitsbewilligung umgewandelt werden kann. Auf einen Schlag drohen somit in den nächsten Monaten bis zu 39.000 Geflüchtete status- und obdachlos zu werden. Erst- und Zweitempfang, Herkunftsländer, Dimensionen der Migration Bei den Aufnahmestrukturen für Geflüchtete in Italien handelt es sich um ein duales System mit zwei unterschiedlichen Verwaltungsmerkmalen. Zum einen gibt es die SPRAR (Servizi Protezione Richiedenti Asilo e Rifugiati; deutsch: Dienste zum Schutz von Asylsuchenden und Geflüchteten), welche von den kommunalen Ämtern in Zusammenarbeit mit dem sogenannten Dritten Sektor (NGOs und karitative Einrichtungen) betrieben werden. Sie bestehen aus kleinen Wohneinheiten, sind geografisch gleichmäßig verteilt und sollen die Integration von Geflüchteten fördern. Die Vergabe für den Betrieb dieser SPRAR wird über öffentliche Ausschreibungen der Kommunen geregelt. Ak- tuell leben annähernd 25.000 Menschen in Einrichtungen, die über die SPRAR-Strukturen finanziert werden (ISPI 2018). Zum anderen gibt es die CAS (Centri di Accoglienza Straordinaria; deutsch: Außerordentliche Zentren der Zuflucht). Die Verwaltung dieser Zentren liegt in den Händen privater Dienstleister in diesem Bereich. Die regionalen Präfekturen (Vertretungen des Innenministeriums in den Regionen) regeln die Vergabe der Aufträge für das Betreiben der CAS. Die ersten CAS wurden 2015 mit Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise eröffnet. Schnell mutierte der Flüchtlingssektor zu einem neuen Geschäftsbereich. Denn der Betrieb der CAS wird oft an sogenannte Kooperativen privater Dienstleister erteilt, die keinerlei Erfahrung mit der Aufnahme und Unterbringung von 83 Geflüchteten haben und nicht selten aus mafiösen Unternehmerkreisen stammen. Der Staat bezahlt den Kooperativen täglich 35 Euro pro Person für Aufnahme, Unterbringung, Essen und Kleidung sowie für kulturelle und sprachliche Mediation, juristische Unterstützung und medizinische Ersthilfe. Diese 35 Euro dienen den Zentrumsbetreibern jedoch häufig als Quelle von Profiten, während die Lebensbedingungen der Geflüchteten in den CAS zumeist schlecht sind. Aufgrund der unübersichtlichen Verteilung im Land und der mafiösen Infiltration ist die Kontrolle über die CAS seitens der Behörden völlig unzureichend. Zurzeit leben in Italien um die 160.000 Geflüchtete in solchen Zentren (ISPI 2018). Es ist vorhersehbar, dass die Gesetzesänderung von Innenminister Salvini diese Zahl erhöhen wird, denn die SPRAR sollen abgeschafft und gänzlich durch CAS ersetzt werden. Kampanien gehört zu den Regionen mit der höchsten Anzahl von Geflüchteten in Italien: 1.031 Menschen leben in den durch die SPRAR finanzierten Strukturen, 4.587 in den sogenannten CAS. In der Provinz Neapel zählt man knapp 2.000 Geflüchtete, von denen 300 über das Programm SPRAR untergebracht sind, in der Stadt selbst sind 1.400 Geflüchtete registriert. Was die problematischen CAS angeht, zählt die Stadt Neapel 23, davon 13 mit insgesamt 965 Menschen. Sie leben rund um das innerstädtische Quartier Garibaldi, das eine überdurchschnittlich hohe Arbeitslosenund Armutsquote aufweist und in dem die irreguläre und illegale Ökonomie weit verbreitet ist. In Neapel lebten am 1. Januar 2018 dem italienischen Statistikinstitut ISTAT (2018) zufolge 58.203 Menschen ohne italienische Staatsbürgerschaft, das sind 6 Prozent der Gesamtbevölkerung der Stadt. Es sind vor allem Menschen aus folgenden Ländern: Sri Lanka (26,1 Prozent der ausländischen Bevölkerung Neapels), Ukraine (14,8 Prozent), Volksrepublik China (9,3 Prozent), Pakistan (4,6 Prozent), Rumänien (4,4 Prozent), Nigeria (2,14 Prozent), Senegal (1,75 Prozent), Dominikanische Republik (1,87 Prozent). Nach Schätzungen der Fondazione Ismu (ISMU 2017) lebten 2017 etwa 491.000 illegalisierte Menschen in Italien. Es ist schwer abzuschätzen, wie viele von ihnen sich in Neapel aufhalten, aber die Anzahl der Illegalisierten ist in Neapel besonders hoch, während der Anteil von Migrant*innen in der Stadt insgesamt mit 6 Prozent niedriger ist als im Landesdurchschnitt (8,2 Prozent). 84 2 STÄDTISCHE AKTEURE DER SOLIDARITÄT Im Mai 2011 wurde Luigi de Magistris erstmals zum Bürgermeister der Stadt Neapel gewählt. Zuvor war er Staatsanwalt in Kalabrien. 2016 wurde er im Amt des Bürgermeisters bestätigt, unter anderem dank der Unterstützung der sozialen Bewegungen der Stadt. Am Anfang war der Hauptgrund für die breite Zustimmung die repressive und konservative Politik seines mit der organisierten Kriminalität verbundenen Konkurrenten der Mitte-rechts-Koalition. Heute zählen bekannte Aktivist*innen von «Insurgencia», einem in der Tradition der «Disobbedienti» stehenden politischen Kollektiv, zum Regierungsteam von de Magistris. Anfang 2017 verwandelte sich seine zivilgesellschaftliche Liste «Democrazia Autonomia» (DemA) in eine politische Organisation, die auch auf regionaler, nationaler und europäischer Ebene zu Wahlen antreten möchte. Die Stadtregierung von de Magistris versteht sich als Opposition zur Zentralregierung. Der Bürgermeister stellt sich oft auf die Seite der sozialen Bewegungen der Stadt, bewertet ihre Aktivitäten positiv und pflegt einen informellen Dialog mit ihnen. Unter de Magistris wurde 2012 auch ein stadteigenes Unternehmen gegründet, um die Wasserversorgung zu rekommunalisieren. Als es 2011 zur sogenannten Müllkrise kam, ließ er ökologische Entsorgungshöfe einrichten und intensivierte die Müllabholung. Zudem hat de Magistris eine breite zivilgesellschaftliche Solidarität erfahren, als er einen anderen Umgang mit der auf die 1980er Jahre zurückgehenden Verschuldung Neapels anmahnte. «Wir bezahlen eure Schulden nicht» wurde zum Motto von Kampagnen und Bewegungen, die sich gegen das Diktat der europäischen und zentralstaatlichen Austeritätspolitik richteten. Initiativen von unten Als Basisinitiativen können all jene Aktivitäten bezeichnet werden, die selbstorganisiert sind und nicht in einem institutionellen Rahmen stattfinden. In Neapel gibt es etwa zahlreiche besetzte Häuser, in denen verschiedene kostenlose soziale und kulturelle Aktivitäten angeboten werden (von diversen Sportangeboten über Kunst- und Kulturaktivitäten bis hin zu Sprachkursen). Immer wieder kommt es auch zu Besetzungen von Wohnungen durch armutsbetroffene Menschen. In den centri sociali werden selbstverwaltet soziale Aktivitäten mit dem Ziel angeboten, den Zusammenhalt in Nachbarschaften und Communities zu stärken. Diese Projekte springen dort ein, wo die öffentliche Politik versagt. Nicht selten gehören Migrant*innen zu den Nutzer*innen dieser Orte. In diesem Sinne sind diese Basisinitiativen als Bestandteil einer solidarischen Stadt zu sehen. Das politische Kollektiv «zero81 – laboratorio di muto soccorso» hat 85 hingegen einen definierteren politischen Ansatz. Dieses Kollektiv wurde im Zuge der Universitätsbesetzungen, die zwischen 2008 und 2010 überall in Italien stattfanden, gegründet. In den vergangenen Jahren hat sich «zero81» zu einer wichtigen Anlaufstelle für Migrant*innen entwickelt, die Rechtsberatung und eine medizinische Versorgung anbietet. Leider wurden diese Aktivitäten inzwischen entweder wieder eingestellt oder auf ein Minimum reduziert. «Laboratorio Politico Iskra» hingegen heißt ein politisches Kollektiv, das in der westlichen Peripherie Neapels aktiv ist. In den vergangenen zwei Jahren entwickelte das Kollektiv eine enge Zusammenarbeit mit der Basisgewerkschaft S.I. Cobas. Seit Ende 2018 bietet es irregulären Arbeiter*innen in der Gastronomie rechtliche Beratung und Unterstützung an. Das eingangs erwähnte Kollektiv «Ex Opg Je so‘ pazzo» besetzte vor vier Jahren die Räumlichkeiten einer ehemaligen Psychiatrie. Heute bietet das «Ex Opg» in der Woche rund 40 verschiedene Aktivitäten an, von Boxtrainings und Tanzkursen über selbstorganisiertes Volkstheater bis hin zu Rechtsberatungen und einem medizinischen Ambulatorium. Auch hier ist das Grundprinzip, dass die Angebote und Dienste kostenlos sind. Die Basisgewerkschaft «Unione Sindacale di Base» (USB) ist einem klassischeren gewerkschaftlichen Ansatz verpflichtet. Die USB verfolgt seit ihrer Gründung 2010 nicht nur das Ziel, in den wichtigen Sektoren des Arbeitsmarktes unabhängige und selbstorganisierte Strukturen und Repräsentanzen zu aufzubauen und zu stärken, sondern auch soziale Dienstleistungen anzubieten. So schuf die USB ebenfalls Anlaufstellen für Migrant*innen, die eine Rechtsberatung benötigen. Insbesondere aber hilft die USB Arbeitsmigrant*innen, die auf den Feldern nördlich von Neapel und in der Region Caserta meist illegal und unter extrem ausbeuterischen Bedingungen ihr Geld verdienen und in extrem prekären und Verhältnissen leben, einen offiziellen Aufenthaltsstatus zu erlangen. 3 MUNIZIPALISMUS, MUTUALISMUS, SOLIDARISCHE STADT Wie im vorherigen Kapitel dargestellt, können wir von zwei Ansätzen der solidarischen Stadt in Neapel sprechen. Einerseits existieren munizipalistische Ansätze, vorangetrieben von Bürgermeister Luigi de Magistris; andererseits der innerhalb der Bewegungslinken weitverbrei86 tete Mutualismus, der in erster Linie vom Kollektiv des «Ex Opg» vertreten wird und in das landesweite politische Projekt einer neuen linken Organisation, dem «Potere al Popolo», eingebettet ist. Diese beiden Ansätze möchte ich im Folgenden genauer beschreiben. Der Munizipalismus rebellischer Bürgermeister In der Berichterstattung über die Seenotrettung auf dem Mittelmeer und die europäische wie italienische Migrationspolitik sind in den vergangenen Monaten vermehrt italienische Bürgermeister aufgrund ihrer «Rebellion» gegenüber der Zentralregierung in Rom in die Schlagzeilen geraten. Den Anfang machte Mimmo Lucano, Bürgermeister von Riace, der bereits seit den 1990er Jahren eine alternative Flüchtlingspolitik betreibt und mit der gezielten Ansiedlung von Geflüchteten die kleine kalabresische Gemeinde wiederbelebte. Lucano wurde im Herbst 2018 angeklagt, illegale Einwanderung begünstigt und die lokale Abfallentsorgung unrechtmäßig an zwei lokale Kooperativen vergeben zu haben. Seither ist es ihm untersagt, sich in Riace aufzuhalten. Hinter den Anklagen steckt jedoch ein gezielter Angriff auf ein Modell der Zuflucht. Ende Dezember 2018 richtete sich die Aufmerksamkeit dann auf den Bürgermeister von Palermo, Leoluca Orlando, und auf Luigi de Magistris. Sie hatten sich öffentlich und in Widerspruch zu Innenminister Salvini für die Aufnahme von 49 Geflüchteten, die auf den zivilen Rettungsschiffen Sea Watch und Sea Eye festsaßen, ausgesprochen und erklärt, sich dem neuen italienischen Sicherheitsgesetz widersetzen zu wollen. Die beiden Bürgermeister reihen sich ein in Proteste und andere Aktivitäten des zivilen Ungehorsams, die sich seit der Verabschiedung des neuen Sicherheits- gesetzes in ganz Italien ausgebreitet haben und an denen sich inzwischen Bürgermeister aus 20 Städten beteiligen. Die Ankündigungen, geflüchtete Menschen aufnehmen zu wollen, blieben allerdings Lippenbekenntnisse, denn ein Dekret, welches die italienischen Häfen tatsächlich geschlossen hätte, wurde von der Regierung nie erlassen. Auf die Ankündigung von Leoluca Orlando, die Verfassungswidrigkeit einiger Elemente des Sicherheitsgesetzes nachweisen zu wollen, reagierte Salvini mit Angriffen auf den Bürgermeister, was wiederum eine Welle der Solidarität mit Orlando auslöste. Anfang Januar 2019 protestierten rund 5.000 Menschen auf den Straßen Palermos für Orlando. So wichtig öffentlicher Widerspruch zu Salvinis Migrationspolitik auch ist, er sollte in einem breiteren politischen Zusammenhang betrachtet werden. Denn der Bürgermeister Palermos hat in den vergangenen Jahren stillschweigend die Politik der Demokratischen Partei, der er angehört, unterstützt und sämtliche vom ehemaligen Innenminister Marco Minniti verfügten Maßnahmen umgesetzt, auch wenn sie verfassungswidrig, menschenunwürdig und gegen Migrant*innen gerichtet waren. So hat Marco Minniti Straßenverkäufer*innen – meist Migrant*innen – im Namen der öffentlichen Ordnung kriminalisiert und das Einspruchsrecht von abgelehnten Asylsuchenden massiv eingeschränkt (Bleiberecht für alle 2017). Lokale Aktivist*innen haben immer wieder kritisiert, dass Orlan87 do besetzte Wohnungen und Häuser hat räumen lassen. Er leistete auch einer Verordnung von 2014 Folge, die von der damals von Matteo Renzi angeführten PD-Regierung beschlossen wurde und die besagt, dass es Bewohner*innen von besetzten Wohnungen oder Häusern nicht mehr möglich ist, sich beim Einwohneramt registrieren zu lassen. Bürgermeister de Magistris hingegen lud die Crew vom Rettungsschiff Sea Watch offiziell dazu ein, in den Hafen von Neapel einzulaufen, und lancierte einen Appell auf der kommunalen Internetseite, der die Bevölkerung dazu aufrief, sich für den Fall, dass das Schiff tatsächlich ankommen sollte, bereitzuhalten und Hilfe zu leisten. Tatsächlich haben über 9.000 Menschen darauf reagiert. Das öffentliche Agieren des Bürgermeisters hat somit auch eine zivilgesellschaftliche Mobilisierung ermöglicht. Andererseits kritisierten zivilgesellschaftliche Hilfsorganisationen und soziale Bewegungen schon lange vor Inkrafttreten der neuen Sicherheitsmaßnahmen die unzureichende Politik des Bürgermeisters in Sachen Migration. So nimmt das städtische Einwohneramt die Anmeldung von Menschen ohne festen Wohnsitz nicht an und stellt keine Identitätspapiere aus, was den Betroffenen den Zugang zu grundlegenden Rechten erschwert. Die Stadtregierung hat diesbezüglich lange nichts unternommen und scheint nun erst nach monatelangem öffentlichen Druck sich des Problems anzunehmen. 88 Die «rebellischen Bürgermeister» haben gegenüber der medialen Hetze von Salvini gegen Migrant*innen sicherlich eine diskursive Trendwende eingeläutet. Mimmo Lucano (2019) unterstreicht diesen Aspekt: «Die Unmenschlichkeit gewinnt immer mehr die Oberhand und Salvini ist nur die Spitze des Eisbergs einer abdriftenden Gesellschaft. Die rebellischen Bürgermeister repräsentieren einen Moment des Stolzes derjenigen, die sich weigern, Komplizen zu sein.» Doch Lippenbekenntnisse reichen nicht aus, um die Lebensbedingungen von Geflüchteten in den Kommunen zu verbessern und eine tatsächliche politische und gesellschaftliche Opposition aufzubauen. Auch diesbezüglich ist Lucano weitsichtig: «Es reicht jedoch nicht, sich auf die Konfrontation zu beschränken: Wir müssen eine politische und soziale Opposition schaffen und uns nicht nur darauf beschränken zu sagen, dass wir nicht einverstanden sind.» Der munizipalistische Ansatz der rebellischen Bürgermeister hat das Potenzial, einen diskursiven Gegenpol zur unmenschlichen Politik der rechten Regierung Italiens zu bilden und damit eine diffuse zivilgesellschaftliche Mobilisierung anzuschieben. Doch der munizipalistische Ansatz reicht bislang nicht aus, um all die Hürden abzubauen, welche den Geflüchteten das Leben schwer machen: Institutioneller Rassismus in den Einwanderungsbehörden sowie menschenunwürdige und gesetzeswidrige Formen der Unterbringung sind sowohl in Neapel wie auch in Palermo noch Alltag. «Ex Opg Je so‘ pazzo»: Mutualismus und soziale Konflikte Das politische Kollektiv «Ex Opg Je so‘ pazzo» steht dagegen für eine mutualistische Herangehensweise. Die zahlreichen sozialen Aktivitäten für Geflüchtete und Arbeitsmigrant*innen sind eine Antwort auf die Probleme der herrschenden Migrationspolitik in Italien, für die auch die Stadtregierungen und -verwaltungen keine Lösung haben. Zu den wichtigsten Aktivitäten des «Ex Opg» gehört eine juristische Anlaufstelle für Geflüchtete und Arbeitsmigrant*innen. Organisiert und geleitet wird diese von politischen Aktivist*innen und Anwält*innen, die hier ehrenamtlich tätig sind. Sie kümmern sich einerseits vor allem um jene Geflüchtete, die in den CAS untergebracht sind. Die Notunterkünfte determinieren das gesamte Leben der Geflüchteten, weshalb die Anlaufstelle in Kombination mit weiteren Angeboten des «Ex Opg» versucht, die betroffenen Migrant*innen in all ihren Lebensbereichen zu begleiten. Im Wesentlichen interveniert die Anlaufstelle hier auf drei Ebenen: Sie informiert erstens über die allgemeinen politischen Entwicklungen und die vorgesehenen Gesetzesänderungen im Bereich der Migrationspolitik. Zweitens begleitet sie die Geflüchteten im gesamten Asylprozess. Hierzu gehören individuelle Gespräche, um persönliche Schwierigkeiten zu erkennen, wie auch die Vorbereitung des Asyldossiers und des Erstgespräches mit der zuständigen Asylkommission. Drittens suchen die Ehrenamtlichen der Anlaufstelle den direkten Dialog mit der Einwanderungsbehörde, falls bei der Ausstellung der Aufenthaltspapiere Probleme auftauchen. So häuften sich in den ersten Jahren des Bestehens der Anlaufstelle die unbearbeiteten Asylgesuche. Durch Mobilisierungen und konkrete Forderungen gegenüber der Einwanderungsbehörde konnte in der Folge ein Runder Tisch erzwungen werden, der monatlich tagt und darauf zielt, die Asylverfahren zu beschleunigen und dem institutionellen Rassismus der Behörden entgegenzuwirken. Andererseits arbeiten die Aktivist*innen der Anlaufstelle des «Ex Opg» mit Migrant*innen, die schon seit Längerem in Neapel leben und arbeiten. Diese Arbeitsmigrant*innen kommen in erster Linie aus Ländern außerhalb der EU und verfügen über eine reguläre Arbeit und eine Aufenthaltsbewilligung, die sie alle zwei Jahre erneuern müssen. Dafür müssen allerdings drei Kriterien erfüllt sein: Erstens braucht man einen regulären Arbeitsvertrag, zweitens einen festen Wohnsitz, also eine den Lebens- und Familienumständen als angemessen definierte Wohnung mit gültigem Mietvertrag, und drittens ein jährliches Mindesteinkommen von rund 8.000 Euro. Die Probleme der Arbeitsmigrant*innen, die von der Anlaufstelle dokumentiert werden, sind vielfältiger Natur. Einerseits ist es für Migrant*innen sehr schwierig, einen Mietvertrag zu erhalten. Der Wohnungsmarkt in Neapel ist von irregulären Mietverhältnissen geprägt. 89 Dieses Phänomen wird durch die Verdrängungsprozesse einkommensschwacher Menschen aus vielen Quartieren des Stadtzentrums verstärkt (Ascione 2018). Diese Situation wiederum hat zur Entstehung eines Schwarzmarktes geführt, auf dem gefälschte Mietverträge und Meldeadressen zu hohen Preisen verkauft werden. Andererseits existieren zahlreiche bürokratische Hürden: So verlieren Migrant*innen im Schnitt neun Monate der zweijährigen Gültigkeit der Aufenthaltsbewilligung durch die behördliche Bearbeitung ihres Antrags. Während dieser Zeit erhalten die Migrant*innen eine Art Bestätigung, die sie bei einer Polizeikontrolle vorweisen können. Diese Bestätigung hat aber keine Gültigkeit für die kommunalen Behörden, etwa beim Wechsel der Meldeadresse. Die juristische Anlaufstelle richtet sich an die unterschiedlichen öffentlichen Stellen, welche mit der Ausstellung von Aufenthaltsbewilligungen zu tun haben, um die zahlreichen Probleme zu melden und die Verfahren zu beschleunigen. Trotz großer Nachfrage wurden vonseiten der kommunalen Verwaltung bisher aber keine Maßnahmen zur Verbesserung der Situation eingeleitet. Von September 2017 bis Juni 2018 hat die Anlaufstelle über 300 Migrant*innen unterstützt. Italienisch-Sprachkurse. Obwohl die Zentren für Erwachsenenbildung in Italien Abendkurse für Migrant*innen jeglichen Status anbieten, kann von einer angemessenen Planung 90 der (Weiter-)Bildung von Migrant*innen vonseiten der öffentlichen Institutionen keine Rede sein. Diese Kurse starten auf dem Level A1, was bereits Lese- und Schreibfähigkeiten voraussetzt. Viele Migrant*innen können aber wegen fehlender Schulbildung im Herkunftsland nicht ausreichend lesen und schreiben oder sie kommen zum ersten Mal in Kontakt mit dem lateinischen Alphabet. Die Sprachkurse im «Ex Opg» knüpfen an diese Ausgangssituation der Migrant*innen an. Es gibt zurzeit sechs Klassen mit jeweils zehn Schüler*innen und ein bis zwei Lehrer*innen, die vier Sprachniveaus abdecken. Seit 2016 haben rund 350 Migrant*innen aus 15 unterschiedlichen Ländern die Sprachkurse des «Ex Opg» durchlaufen. Über eine Vereinbarung zwischen dem «Ex Opg» und drei Sprachschulen in Neapel sind die Kurse offiziell anerkannt: Die Schüler*innen, welche die Kurse im «Ex Opg» besucht haben, dürfen kostenlos an den Prüfungen zur Erlangung eines entsprechenden Sprachdiploms teilnehmen. Die politische Kontrolle der CAS. Ein weiterer Aspekt solidarischer Intervention besteht in der politischen Kontrolle (controllo popolare) der Notunterkünfte CAS. In diesen Notunterkünften herrschen prekäre Lebensbedingungen und auch die von Gesetzes wegen obligatorischen minimalen Standards werden zumeist nicht eingehalten. Diese Orte sind Orte der Marginalisierung, der Infantilisierung und der Disziplinierung der Geflüchteten und zugleich Orte des Zusammenlebens, der Organisierungsmöglichkeit und des sozialen Konflikts (Blanc/Coppola 2012). Das Instrument der politischen Kontrolle wird angewendet, um die unmittelbaren Lebensbedingungen der Geflüchteten zu verbessern und sich mit ihnen gemeinsam zu organisieren. Im Fall von Neapel funktioniert die controllo popolare folgendermaßen: Die Aktivist*innen der «politischen Kontrolle» organisieren sich mit den im «Ex Opg» tätigen Anwält*innen, Ärzt*innen und Dolmetscher*innen und suchen die Notunterkünfte auf. Bei der Ankunft erklären sie, dass sie für einen Verein arbeiten, der kostenlose Hilfeleistungen für Geflüchtete anbietet. Auf einer Vollversammlung im Zentrum selbst werden zuerst besonders hilfsbedürftige Personen identifiziert (Minderjährige, die eigentlich nicht in solchen CAS untergebracht werden dürfen, schwangere Frauen, Menschen mit psychischen Leiden) und unmittelbar von Spezialist*innen unterstützt. Während der Versammlung wird über die Rechte der Geflüchteten und die Pflichten der Aufnahmestrukturen informiert. Darüber hinaus werden politische Mobilisierungen zur Verbesserung der Lebensbedingungen in den Notunterkünften organisiert. Die politische Kontrolle der Notunterkünfte kann als erfolgreich betrachtet werden, denn es konnten bereits unmittelbare Verbesserungen der Lebensbedingungen der Geflüchteten in den CAS erkämpft werden. So wurden fehlende gesetzlich vorgeschriebene Leistungen eingefor- dert (beispielsweise die Auszahlung von Taschengeld an die Geflüchteten) und Unterbringungsmängel behoben (Zugang zu Warmwasser in den Duschen, Entfernung von gesundheitsschädlichem Asbestmaterial, regelmäßige Reinigung der Gebäude). Darüber hinaus entwickelten sich politische und freundschaftliche Kontakte zwischen Migrant*innen, Geflüchteten und Aktivist*innen des «Ex Opg». Die besonders Engagierten unter den Geflüchteten sind so zu wichtigen Bezugspersonen und politischen Aktivist*innen in den Notunterkünften geworden. Anlaufstelle für Aufenthaltsrecht. In Italien ist die Registrierung beim Einwohneramt Voraussetzung, um den Zugang zu grundlegenden sozialen Rechten zu erhalten. Hierzu gehören auch die Anmeldung beim Hausarzt und damit das Recht auf medizinische Versorgung sowie das Recht auf staatliche Unterstützung wie Arbeitslosengeld und Sozialhilfe. In der Regel sind Geflüchtete in der Aufnahmeeinrichtung gemeldet, in der sie untergebracht sind. Dieses automatische Recht entfällt, wenn die Geflüchteten von der Verwaltung der Notunterkünfte diskriminierend behandelt werden oder der Aufnahmeeinrichtung verwiesen werden. Auch wenn diese Menschen eine Wohnung finden, haben sie meist keinen Mietvertrag, der jedoch für die Anmeldung notwendig ist. Die italienischen Kommunen haben das Problem der fehlenden Registrierung mit einigen Beschlüssen zumindest teilweise lösen können. Sie 91 übergeben zivilgesellschaftlichen Vereinen und fiktiven Adressen eine sogenannte residenzielle Vollmacht über die nicht registrierten Personen, damit der Zugang zu den Grundrechten garantiert werden kann. Auch das «Ex Opg» hat bei der Gemeindeverwaltung eine solche «Residenzadresse» eintragen lassen und kann so besser einige bürokratischen Hürden überwinden: Dank der virtuellen Residenz, die durch die residenzielle Vollmacht garantiert wird, kann nun die Aufenthaltsbewilligung erneuert werden und mit den Aufenthaltspapieren wiederum bekommen die Migrant*innen eine gültige Registrierung. Migrant*innen mit einer Arbeitsaufenthaltsbewilligung haben andere Probleme. Neben einer echten Registrierung verlangen die Behörden ein Gutachten über die Angemessenheit der Wohnung. Zudem können Arbeitsverträge nur mit gültigen Personaldokumenten unterzeichnet werden. Aufgrund der hohen bürokratischen Hürden zur Erlangung einer gültigen Registrierung sind Migrant*innen oft gezwungen, eine Arbeitssituation ohne Vertrag zu akzeptieren. Das medizinische Ambulatorium. In den vergangenen drei Jahren ist das medizinische Ambulatorium schnell gewachsen. Heute betreuen hier 30 Ärzt*innen über 2.500 Personen medizinisch. Das Ambulatorium kooperiert eng mit der Anlaufstelle für Geflüchtete. So werden hier die für die Einreichung des Asylantrags notwendigen ärztlichen Atteste ausgehändigt, die aufgrund des institutionellen Rassismus und der Überlastung der italienischen Gesundheitsinstitutionen oft nicht ausgestellt werden. Zudem organisiert das Ambulatorium mit Psycholog*innen einen Raum für Menschen mit einem Fluchttrauma, begleitetet die Geflüchteten zu Spezialuntersuchungen und zu öffentlichen Stellen für spezifische Dokumente, die nicht vom Ambulatorium ausgehändigt werden können. Das Ambulatorium unterhält keine institutionalisierten Kontakte mit den öffentlichen Gesundheitseinrichtungen, doch die intensive Zusammenarbeit mit einzelnen dort arbeitenden Ärzt*innen hat dazu geführt, dass diese nun als wichtige Unterstützung im formalen Gesundheitswesen fungieren. 4 NEUE KLASSENPOLITIK: MUTUALISMUS UND «POTERE AL POPOLO» Es ist deutlich geworden, dass die kommunale Politik Neapels an die Grenzen der Umsetzungsmöglichkeiten solidarischer Praktiken stößt. Zu oft treffen Basisaktivist*innen in ihrer alltäglichen Solidaritätsarbeit 92 auf politische und bürokratische Hürden oder es bleibt schlicht bei Absichtserklärungen vonseiten der kommunalen Politiker*innen und der Verwaltung. Aus einer diskursiven Perspektive können progressi- ve Aussagen der «rebellischen Bürgermeister» zur Öffnung der Häfen und zur Stadt der Zuflucht durchaus positive Effekte haben. Doch diesen diskursiven Interventionen fehlt es an strategischen Perspektiven, um auch die materielle Situation von Migrant*innen und Arbeiter*innen zu verbessern. Die hier skizzierten Aktivitäten des «Ex Opg» hingegen sind «populare Praxen», die durch die alltägliche und enge Kooperation mit Migrant*innen und Arbeiter*innen entstanden sind und auf mutualistischen Solidarstrukturen basieren (Candeias 2018). In dieser Perspektive ist der Mutualismus erstens ein Instrument zur Herstellung von Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Gruppen der Arbeiterklasse, die keine sozialstaatliche Antwort auf ihre Probleme und Bedürfnisse finden. Zweitens bietet er eine wertvolle Möglichkeit, Untersuchungen im Marx‘schen Sinne innerhalb dieser sozialen Klassen durchzuführen, um Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Organisationspotenziale zu eruieren (Clash City Workers 2014). Drittens dient der Mutualismus als Vehikel des sozialen Konflikts, wenn nicht bei der Konstruktion von autonomer sozialer Reproduktion haltgemacht, sondern die Konfrontation mit den Institutionen gesucht wird. Genau hier setzt eine solidarische Klassenperspektive ein, die zusammenbringt, wen das Kapital täglich trennt. Wenn der Mutualismus also ein Instrument zur Entwicklung einer neuen Klassenpolitik sein soll, dann ist die mutualistische Basisarbeit mit, von und für Migrant*innen ein zentraler Bestandteil dessen. Die Räume des «Ex Opg» haben dabei eine wichtige Funktion, denn sie sind ein Ort der Begegnung für Menschen und Gruppen unterschiedlicher Herkunft, die eine gemeinsame soziale Situation erkennen. Damit wird die Entwicklung eines Klassenbewusstseins gefördert. Darüber hinaus stellen die einzelnen sozialen Aktivitäten des «Ex Opg» nicht in sich abgeschlossene und voneinander unabhängige Dienste dar, sondern entwickeln sich stets in einem wechselseitigen Prozess weiter. Sie werden so zu integrierten Diensten, in deren Zentrum der Mensch mit all seinen Problemen und Bedürfnissen steht. Politisch können die Mobilisierungen der Migrant*innen als Kämpfe für allgemeine demokratische Rechte verstanden werden, also für menschliche Lebensbedingungen in den Notunterkünften, für den Zugang zu grundlegenden staatlichen Leistungen und gegen den institutionellen Rassismus. Sie haben Klassencharakter, denn erstens können Migrant*innen und Geflüchtete aufgrund ihrer materiellen Situation und ihrer Position als letztes Glied in der kapitalistischen Ausbeutungskette eine zentrale Rolle im Klassenkampf einnehmen. Die Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen bedeutet gleichzeitig eine Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der gesamten Arbeiterklasse. Zweitens dienen die Kämpfe um demokrati93 sche Rechte als Katalysator für die Entwicklung des Klassenbewusstseins: «In dem Kampfe um die Demokratie, in der Ausübung ihrer Rechte kann das Proletariat zum Bewusstsein seiner Klasseninteressen [...] kommen.» (Luxemburg 1982) Dafür ist jedoch die Organisierung von Migrant*innen als Teil der Arbeiterklasse und nicht als Opfer von Diskriminierung und Marginalisierung von fundamentaler Bedeutung. Es geht also darum, diese Kämpfe der Migration für die soziale und politische Zusammensetzung der Arbeiterklasse fruchtbar zu machen. Der Mutualismus kann eine Antwort auf diese Schwierigkeiten sein, weil er sich selbst als organisierende Kraft versteht, die die Selbstaktivität und Selbstrepräsentation der Arbeiterklasse befördert. Er ist jedoch bei Weitem keine hinreichende Bedingung für den Erfolg einer neuen Klassenpolitik, denn diese solidari- 94 schen Praktiken haben noch keinen angemessenen politischen Ausdruck gefunden (Candeias 2017). Doch auch diesbezüglich bewegt sich etwas in Italien: Im November 2017 wurde «Potere al Popolo» ins Leben gerufen, eine Organisation, welche die aktivistischen Erfahrungen von Basisgewerkschaften und Graswurzel-Initiativen im Feld des Mutualismus zu einem politischen Subjekt formen möchte. Der Aufruf zur Gründung von «Potere al Popolo» kam nicht zufällig aus den Reihen des «Ex Opg Je so‘ pazzo» Neapels. «Potere al Popolo» hat bei den letzten nationalen Wahlen vom 4. März 2018 1,1 Prozent der Stimmen erlangt und legt seither bei den Umfragen zu. Ihr Potenzial liegt jedoch weniger im elektoralen Feld, sondern in der Fähigkeit, die solidarischen Aktivitäten zu politisieren und sie in eine neue linke Organisationsform zu bringen. LITERATUR Ascione, Gennaro (2018): Quel solco tra patrizi e plebei, in: Corriere della Sera, 22.11.2018, unter: https://corrieredelmezzogiorno.corriere.it/napoli/ cronaca/18_novembre_22/ quel-solco-patrizi-plebei-88f50152ee2d-11e8-993b-8ac03140d230. shtml. Associazione per lo Sviluppo dell’Industria nel Mezzogiorno (2018): Rapporto Svimez 2018 sull’Economia e la Società del Mezzogiorno, Rom. Blanc, Philippe/Coppola, Maurizio (2012): ArbeitsmigrantInnen im Widerstand, in: Emanzipation. Zeitschrift für sozialistische Theorie und Praxis, Jg. 2, Nr. 2, S. 94–107. Bleiberecht für alle (2017): Solidarität gegen das tödliche Asylregime in Italien, 29.7.2017, unter: www.bleiberecht.ch/2017/05/29/ bericht-solidaritaet-gegen-dastoedliche-asylregime-in-italien/. Candeias, Mario (2017): A Question of Class. New Class Politics – A Connective Antagonism, in: LuXemburg – We The People Defend Dignity, S. 2–13. Candeias, Mario (2018): Populistisches Momentum? Lernen von Corbyn, Sanders, Mélenchon, Iglesias (Ein indirekter Kommentar zur Kampagne von #aufstehen), in: LuXemburg, Oktober 2018. Clash City Workers (2014): Dove sono i nostri? Lavoro, classe e movimenti nell’Italia della crisi, Lucca. Iniziative e Studi sulla Multietnicità ISMU (2017): Ventitreesimo Rapporto sulle migrazioni 2017, Mailand. Istituto Nazionale di Statistica ISTAT (2018): Andamento della popolazione con cittadinanza straniera, Rom. Istituto per gli Studi di Politica Internazionale ISPI (2018): Fact Checking: migrazioni 2018, Mailand. Lay, Conrad (1980): Das tägliche Erdbeben. Ein Bericht über die Stadt Neapel: Arbeitslosigkeit, Schmuggel, Mafia, Revolten, Berlin. Lucano, Mimmo (2019): L’odio per i migranti? È solo la punta dell’iceberg di un Paese alla deriva, unter: www. linkiesta.it/it/article/2019/01/07/ mimmo-lucano-salvini-migranti-sea-watch-sea-eye-riace-sindaci-ribelli/40639/?fbclid=IwAR2dwcgE5gfFINv4icAjKfWAN3Tzfl1Xs2QrZAe5VKXLgo5Cc5T_R6Csel4. 95 Luxemburg, Rosa (1982): Sozialreform oder Revolution?, in: dies.: Gesammelte Werke, Bd. 1, Berlin. Meriggi, Maria Grazia (2016): Il mutualismo delle origini tra resilienza e resistenza, unter: www. commonware.org/index.php/neetwork/666-mutualismo-meriggi. Svimez-Bericht (2018): Svimez Report2018 presented to the Foreign Press in Rome, 4.12.2018, unter: https://www. european-news-agency.de/ wirtschaft_und_finanzen/svimez_report_2018_presented_ to_the_foreign_press_in_rome72876/. 96 97 98 SARAH SCHILLIGER EXKURS: AMBIVALENZEN EINER ZUFLUCHTSSTADT DIE «SANCTUARY CITY» TORONTO VERSUCHT SICH AN DER DEMOKRATISIERUNG VON GRENZEN «Toronto hat sich selbst zur Sanctuary City erklärt, mit einer formalen Richtlinie, die es allen Einwohner*innen Torontos erlaubt, unabhängig vom Aufenthaltsstatus Zugang zu den städtischen Diensten zu erhalten – sodass alle unsere Bibliotheken und Parks nutzen, alle gesund bleiben und sich sicher fühlen können. Jetzt ist für uns der Zeitpunkt gekommen, dieses Engagement zu bekräftigen und die klare Botschaft auszusenden, dass Toronto jede Spaltung, Intoleranz und jeden Hass ablehnt. Niemand sollte dazu gebracht werden, Angst haben zu müssen aufgrund von Herkunft oder Glauben. [...] Jetzt ist es an der Zeit, dass Toronto den von dieser diskriminierenden Politik Betroffenen zeigt, dass sie hier willkommen sind. Jetzt ist es an der Zeit, dass Toronto zusammenhält, vereint über unsere Differenzen hinweg, damit wir stark bleiben und an den Grundrechten und Werten festhalten, die unsere Freiheit ermöglichen.» (City of Toronto 2017, Motion MM 24.23)1 Mit diesen Worten bekräftigte Bürgermeister John Tory am 31. Januar 2017 in einem Dringlichkeitsantrag ans Stadtparlament, dass sich Toronto weiterhin als eine «Sanctuary City» versteht. Tory reagierte damit auf die Schießerei in einer Moschee in Québec in der Woche zuvor. Zudem waren seine Worte eine Antwort auf «hasserfüllte und diskriminierende Handlungen und Politiken» – konkret auf das von US-Präsident Donald Trump ausgesprochene Einreiseverbot gegenüber Bürger*innen aus mehreren muslimisch geprägten Ländern. In dem Antrag heißt es, dass der Stadtrat »mit Städten auf der ganzen Welt vereint gegen Islamophobie, Xenophobie und Rassismus steht» (ebd.). Zwar ist die «Sanctuary City»-Bewegung nicht gänzlich neu in Kanada. Sie hat in den vergangenen Jahren jedoch neuen Schwung und eine stärkere mediale Öffentlichkeit erfahren – insbesondere seit dem 1 Alle Übersetzungen aus dem Englischen durch die Autorin. 99 Amtsantritt von Präsident Trump 2016, seit den in den Medien stark diskutierten Grenzübertritten von Tausenden Asylbewerber*innen von den USA nach Kanada ab 2017 und der Zunahme von rassistischer Gewalt in kanadischen Städten. Toronto war 2013 die erste kanadische Stadt, deren Regierung eine «Sanctuary City»-Politik beschloss und sich damit offiziell dazu bekannte, den »angstlosen Zugang zu Dienstleistungen für alle Migrant*innen unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus gewähren zu wollen» (City of Toronto 2013, Motion CD 18.5). 2014 wurde auch Hamilton zu einer «Sanctuary City», es folgten 2016 Vancouver und 2017 London (Ontario) sowie Montreal. Wie ist es dazu gekommen? Wer sind die Akteure hinter dieser «Sanctuary City»-Politik? Und wie sieht es heute, fünf Jahre nach deren Verabschiedung und zwei Jahre nach der erneuten Bekräftigung durch den Bürgermeister von Toronto, hinsichtlich der Umsetzung aus? Ein genauerer Blick auf die Geschichte der Bewegung für eine «Sanctuary City Toronto» lohnt sich.2 Die Erfahrungen aus dieser Mobilisierung für die Rechte von illegalisierten Migrant*innen und deren Übersetzung in kommunales Handeln sind zweifellos auch für den europäischen Kontext inspirierend und lehrreich. Die vielfältigen Kampagnen für Toronto als «Sanctuary City» laufen nun bereits seit über einem Jahrzehnt und werden angeleitet von «No One is Illegal», einem Netzwerk 100 von Aktivist*innen aus antirassistischen und antikolonialen Initiativen, das direkt mit migrantischen Communities zusammenarbeitet. Die Kampagnen eint das Ziel, dass alle Bewohner*innen von Toronto ohne Angst vor Abschiebung in der Stadt leben und das Stadtleben aktiv mitgestalten können sowie einen sicheren Zugang zu sozialen Diensten und städtischer Infrastruktur erhalten, und zwar unabhängig von Aufenthaltsstatus, finanziellen Möglichkeiten, Hautfarbe, Geschlecht, Sexualität oder Religion. Gleichzeitig wird am Beispiel Toronto deutlich, dass die Kämpfe um «Urban Citizenship» und dessen Institutionalisierung ein widersprüchliches politisches Feld darstellen. Die Bewegung für eine «Sanctuary City Toronto» liefert Einblicke sowohl in die Chancen und Spielräume wie auch in die Herausforderungen und Grenzen städtischer Politiken in Bezug auf Migration und citizenship. Die Antwort auf die Frage, wie erfolgreich die «Sanctuary City»-Politik in Toronto ist, hängt davon ab, mit welchen Zielen diese Politik verbunden und woran deren Erfolg gemessen wird. Dabei zeigt sich, dass unter einer «Sanctuary City» sehr Unterschiedliches verstanden werden kann – je nachdem, ob damit 2 Dieser Beitrag basiert auf Gesprächen im Sommer 2018 mit Aktivist*innen von NOII Toronto, Parkdale Community Legal Services und der Migrant Workers Alliance for Change, auf Austausch mit kritischen Wissenschaftler*innen der York University und der Ryerson University sowie auf der Analyse von verschiedenen Berichten, Websites und Dokumentationen, die innerhalb der «Sanctuary City»-Bewegung entstanden sind. eine formal-juristische, kommunale politische Richtlinie gemeint ist oder vielmehr ein transformativer Prozess. Mit Letzterem sind politische und soziale Kämpfe gemeint, durch die Rechte erstritten werden, eine solidarische Praxis innerhalb städtischer Communities etabliert wird und Ideen um nationale Gemeinschaft und Zugehörigkeit neu definiert werden. Zugleich offen- baren sich in der «Sanctuary City»Kampagne auch Widersprüche von kommunalen Politiken innerhalb eines souveränen Staates und – im kanadischen Kontext – einer starken Rolle der Provinzen, die im Fall von Ontario (wozu Toronto zählt) zudem seit dem Sommer 2018 mit Premierminister Doug Ford von einem Vertreter rechtskonservativer Politik regiert wird. 1 GRENZERFAHRUNGEN VON MIGRANT*INNEN MIT PREKÄREM AUFENTHALTSSTATUS In der Stadt Toronto leben schätzungsweise 200.000 Menschen mit prekärem Aufenthaltsstatus 3 und weitere 200.000 undokumentierte bzw. illegalisierte Migrant*innen, also Menschen, die über gar keinen rechtlichen Status verfügen (Solidarity City 2013). In den 1990er Jahren setzte in Kanada ein tief greifender Wandel in der Migrationspolitik ein. Dieser führte weg von humanitären Lösungen und dauerhaften Wegen zur Staatsbürgerschaft und hin zu einer stark neoliberal geprägten Politik, bei der Migrant*innen immer häufiger nur ein befristeter Rechtsstatus verliehen wird (Goldring/Landolt 2013). Temporäre Arbeitsmigrationsprogramme für bestimmte Tätigkeitsbereiche und Berufsgruppen (z. B. das Temporary Foreign Worker Program und das Caregiver Program 4) gewannen an Bedeutung, womit ein wachsender Anteil der in Kanada lebenden Migrant*innen nur noch über einen befristeten Aufenthaltsstatus verfügt. Insbe- sondere nach dem 11. September 2001 verschärfte die kanadische Regierung in vielerlei Hinsicht Asylgesetze und Einreisebestimmungen, schränkte die Möglichkeiten der Familienzusammenführung ein und erschwerte den Wechsel von einem temporären zu einem permanenten Aufenthaltsstatus. Diese Einschränkungen verschlechtern insbesondere die Situation von Migrant*innen, die über ein Arbeits- oder Studenten-Visum oder als Asylbewer- 3 Dieser Begriff wird im kanadischen Kontext von kritischen Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen verwendet, um Legalität/Illegalität als ein Kontinuum zu fassen und zu unterstreichen, dass viele während der Dauer ihrer Anwesenheit in Kanada Verschiebungen zwischen verschiedenen Arten von Rechtsstatus erfahren (Goldring/Landolt 2013). 4 Für Migrant*innen, die durch das Temporary Foreign Worker Program (TFWP) oder das Caregiver Program (ehemals Live-in Caregiver Program) rekrutiert wurden, ist der Aufenthaltsstatus an ihren Arbeitgeber gebunden. Dies bedeutet, dass sie nur begrenzte Möglichkeiten haben, unsichere oder ausbeuterische Arbeitsplätze zu verlassen. Menschen, die sich gegen Überarbeitung, Lohnbetrug oder unsichere Arbeitsbedingungen wehren, riskieren, nicht nur ihren Job zu verlieren, sondern gleichzeitig auch ihren Aufenthaltstitel. 101 ber*innen5 nach Kanada eingewandert sind: Viele werden nach Ablauf ihres befristeten Aufenthaltsstatus zu illegalisierten Migrant*innen. Die Einschränkungen beim Zugang zu einem permanenten Status gingen gleichzeitig mit einem verschärften Abschiebesystem einher: Die Zahl der Deportationen hat in Kanada von 2004 bis 2014 um 50 Prozent zugenommen. Seither ist der Umfang der Abschiebungen zwar wieder zurückgegangen. Nun hat jedoch Ende Oktober 2018 der kanadische Minister für öffentliche Sicherheit eine Quote von 10.000 Abschiebungen pro Jahr festgesetzt, wobei vor allem abgewiesene Asylsuchende ins Visier kommen sollen. Dies würde einen Anstieg von 35 Prozent im Vergleich zu den vergangenen beiden Jahren bedeuten (Harris 2018). Die staatlichen Grenzpolitiken haben sich zudem stark ins Landesinnere hinein verlagert (Berinstein u. a. 2006: 9): Für undokumentierte Migrant*innen liegt die Grenze nicht nur an den physischen Einreisepunkten wie Häfen, Flughäfen oder an der US-kanadischen Grenze. Vielmehr wandert die Grenze mit den Migrant*innen in die sozialen Räume hinein, in denen sie leben. Sie manifestiert sich am Arbeitsplatz, wo die Ausbeutbarkeit aufgrund fehlender Aufenthaltstitel deutlich erhöht ist. Die Grenze reproduziert sich zudem bei alltäglichen Aktivitäten wie dem Schulbesuch, dem Gang ins Krankenhaus oder wenn Polizeidienste beansprucht werden: Wer nicht die richtigen Papie102 re nachweisen kann, wird vom Zugang zu grundlegenden sozialen Dienstleistungen ausgeschlossen und kann zudem kriminalisiert werden. Denn wenn bei einer Interaktion mit Behörden der fehlende Aufenthaltsstatus aufgedeckt wird, droht die Verhaftung und Abschiebung. Die Angst, von der Polizei aufgegriffen zu werden, ist deshalb für Migrant*innen mit prekärem Aufenthaltsstatus omnipräsent. Sozialpolitik kann somit auch als ein indirektes Instrument der Migrationskontrolle gesehen werden (vgl. Ataç/Rosenberger 2018). Die Stadt hat dabei innerhalb des Grenzregimes eine zentrale Funktion, weil sie die nationalen Regelungen in Bezug auf soziale Dienstleistungen interpretiert und entsprechend eine Praxis der Umsetzung entwickelt. Während die Einschränkung von sozialen Rechten für Migrant*innen mit prekärem Status eine Form der Migrationsabwehr (im Innern) darstellt, kann die Schaffung eines Zugangs zu sozialen Dienstleistungen für irreguläre Migrant*innen auf lokaler Ebene die existierenden nationalstaatlichen Grenzen auch heraus5 Für Geflüchtete gibt es zwei Wege der Einwanderung: Flüchtlinge, die über das Refugee Settlement Program nach Kanada migrieren, sind bereits vor ihrer Einreise nach Kanada als Flüchtlinge eingestuft worden und werden sofort nach ihrer Ankunft dauerhaft ansässig. Sie werden bei ihrer Ansiedlung in Kanada im ersten Jahr entweder von der Regierung (governement assisted refugees) oder von privaten Sponsoren (private sponsored refugees) unterstützt. Alle anderen Geflüchteten durchlaufen den «Refugee Claim Process» und müssen nach der Einreise ins Land auf eine Anhörung warten. Abgelehnte Asylsuchende können gegen einen negativen Bescheid Beschwerde einlegen, in dieser Übergangszeit leben sie jedoch ohne festen Status. Viele Geflüchtete warten Jahre, bis über ihre Anträge endgültig entschieden ist. fordern. Eine Form der Bekämpfung und Zurückdrängung dieser Grenzen im Innern ist die Mobilisierung für eine »Don’t Ask, Don’t Tell» (DADT)-Politik in Toronto: Unter diesem Label widersetzt sich eine Vielzahl von Akteuren seit 2004 in der Stadt auf verschiedene Weise den nationalstaatlichen Grenzpraktiken. Sie versuchen stattdessen, Barrikaden beim Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen wie Gesundheit, Bildung, Notunterkünften, Frauenhäusern, Freizeitprogrammen oder Nahrungsmittelhilfen zu beseitigen oder zu umgehen. GLOBAL CITY TORONTO – Toronto hat offiziell 2,9 Millionen Einwohner*innen und ist damit die größte Stadt in Kanada. – Die Weltstadt ist stark von Migration geprägt: Mehr als die Hälfte der Einwohner*innen von Toronto ist außerhalb Kanadas geboren, davon mehr als die Hälfte in asiatischen Ländern (vor allem Philippinen, China und Indien). – Rund die Hälfte der Einwohner*innen von Toronto zählt als visible minority, wie rassialisierte Bewohner*innen offiziell genannt werden: 13 Prozent der Stadtbevölkerung sind südasiatisch, 11 Prozent chinesisch und 9 Prozent schwarz. – Toronto ist eine typische Global City mit einer stark polarisierten Bevölkerung: Einerseits ist Toronto Kanadas Finanz- und Wirtschaftshauptstadt und boomt wirtschaftlich. Die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei 8,2 Prozent. Gleichzeitig ist es die Stadt mit den größten sozialen Ungleichheiten in Kanada. Sehr viele Menschen sind sogenannte working poor und immer mehr Personen arbeiten in prekären Jobs (rund 40 Prozent der Arbeitskräfte). – Jede fünfte Person lebt in Toronto nach offiziellen Angaben in Armut, wobei die migrantische sowie die indigene Bevölkerung überdurchschnittlich von Einkommensarmut betroffen ist. – Die Bevölkerung ist zudem stark segregiert und von Gentrifizierung betroffen. Eine der dringendsten sozialen Fragen in Toronto ist das Wohnen. 46,8 Prozent der Stadtbevölkerung gibt mehr als 30 Prozent ihres Einkommens für Wohnen aus. Während die Stadt 94.000 social housing units (Sozialwohnungen) zur Verfügung stellt, stehen derzeit 98.000 Personen auf der Warteliste. Die durchschnittliche Wartezeit beträgt 8,5 Jahre. (Zahlen aus dem Zensus von 2016, Statistics Canada) 103 2 DIE MOBILISIERUNG FÜR EINE «DON’T ASK, DON’T TELL-POLICY» Mitte der 2000er Jahre startete eine Koalition aus vielzähligen Community-Organisationen, rechtlichen Anlaufstellen, basisgewerkschaftlichen Initiativen, der «Ontario Coalition against Poverty» und Aktivist*Innen von «No One Is Illegal Toronto» (NOII) die »Access without Fear»-Kampagne (Kampagne für einen Zugang ohne Angst). Sie stellten dabei einen Zusammenhang zwischen staatlichen Abschiebepraktiken und der sozialen Ausgrenzung von illegalisierten Migrant*innen her, die aus Angst vor Inhaftierung und Abschiebung am Zugang zu grundlegenden sozialen Rechten gehindert werden und somit unter prekären Bedingungen leben. Die Kampagne warb für eine »Don’t Ask, Don’t Tell»-Politik, indem von der Stadt Toronto ein zweifaches Zugeständnis verlangt wurde. Erstens sollte die Stadt ihren Angestellten untersagen, bei der Gewährleistung von öffentlichen Diensten nach dem Migrationsstatus zu fragen (»Don’t Ask»), und zweitens, falls diese Information dennoch ans Licht kommen sollte, darf sie weder an die Polizei noch an andere staatliche Behörden weitergegeben werden (»Don’t Tell»). Der Zugang zu städtischen Dienstleistungen sollte damit auf Grundlage des Wohnsitzes, gemeint ist die Präsenz in der Stadt, erfolgen, womit eine Diskriminierung aufgrund des Aufenthaltsstatus einschränkt wird. Im Juli 2004 brachte diese Koalition zum ersten Mal die Idee einer 104 DADT-Richtlinie in den politischen Diskurs ein, als eine 16-jährige Frau ohne regulären Aufenthaltsstatus von der städtischen Polizei (Toronto Police Services/TPS) an die nationale Einwanderungsbehörde (Canadian Border Services Agency/CBSA) ausgeliefert wurde, nachdem sie sich wegen sexuellen Missbrauchs gemeldet hatte. Daraufhin wurde vom Toronto Police Services Board (TPSB) eingefordert, dass Menschen ohne Aufenthaltsstatus Polizeidienste in Anspruch nehmen und als Betroffene oder Zeuginnen von Straftaten ohne Angst eine Anzeige oder Zeugenaussage machen können. Knapp zwei Jahre später, im Februar 2006, verabschiedete der TPSB eine entsprechende Richtlinie, die jedoch nur den Aspekt des »Don’t Ask» bei Opfern und Zeugen von Verbrechen und keine »Don’t Tell»-Komponente umfasste. Weiter an Dynamik gewann die »Access without Fear»-Kampagne mit dem öffentlichen Protest gegen die Verhaftung von zwei Kindern einer Familie aus Costa Rica. Am 24. April 2006 hatten Beamte der kanadischen Einwanderungsbehörde CBSA die beiden Geschwister Kimberly und Gerald Lizano-Sossa in ihren Klassenzimmern verhaftet und für mehrere Tage festgehalten. Auf diese Weise sollte der Vater der Kinder – ein Bauarbeiter mit irregulärem Aufenthaltsstatus – unter Druck gesetzt werden, sich der CBSA zu stellen. Die Aktivist*innen des «No One is Illegal»-Netzwerks waren rasch zur Stelle und unterstützten die Familie. Sie skandalisierten in medienwirksamen Kundgebungen, dass Kanada ein Zweiklassensystem geschaffen habe, welches Kindern von Familien ohne Aufenthaltsstatus das Grundrecht auf Bildung verwehre (NOII 2006). Lehrer*innen meldeten sich öffentlich zu Wort und bekundeten ihren Unmut darüber, dass in ihren Schulklassen ein Klima der Angst herrsche, was eine produktive Lernumgebung verhindere. Eltern und Schüler*innen solidarisierten sich und prangerten den brutalen Umgang mit den beiden Kindern aus Costa Rica an. Gemeinsam mit Gewerkschaften und migrantischen Communities wurde ein intensiver politischer Druck auf die CBSA aufgebaut. Diese sollte aufgefordert werden, sich für die Verhaftungen zu entschuldigen und eine Richtlinie zu erlassen, die den Beamten der CBSA in Zukunft den Aufenthalt auf dem Gelände von Schulen und der unmittelbaren Umgebung untersagt. Der Protest, der fortan unter dem Slogan «Education Not Deportation»6 geführt wurde, erhielt in den lokalen und nationalen Medien große Aufmerksamkeit und setzte in der Stadt eine breite Solidaritätsbewegung in Gang. Zwar gelang es nicht, die Abschiebung der betroffenen Familie zu verhindern, doch führte die anhaltende Lobbyarbeit und Mobilisierung dazu, dass der Toronto District School Board (TDSB) im Mai 2007 einstimmig die Richtlinie «Students Without Legal Immigration Status Policy» verabschiedete. Demnach soll keinem Kind aufgrund seines Aufenthaltsstatus‘ der Zugang zu öffentlicher Bildung verweigert werden. Den Schulen wird untersagt, Informationen über den Einwanderungsstatus von Schüler*innen oder deren Familienangehörigen anzufordern, zu melden und weiterzugeben (Villegas 2017: 1184 f.). Als erste konkrete DADT-Politik in Kanada stellte dies einen großen Erfolg für Menschen ohne Aufenthaltsstaus in Toronto dar. Die Kampagne »Education Not Deportation» wurde in der Folge auch an Universitäten lanciert. So konnte beispielsweise 2008 an der York University die Abschiebung der Studentin Sarah Leonty verhindert werden. Beflügelt von den Erfolgen wurde die »Access without Fear»-Kampagne auf weitere städtische Bereiche, in denen Menschen mit prekärem Status leben und arbeiten, ausgeweitet. Es entstanden lebhafte, autonome Teilkampagnen. Hierzu gehörten etwa «Food For All», eine Kampagne, die den Zugang aller zu Essensausgabestellen (sogenannte food banks) forderte. «Health4All» wiederum setzte sich für den Abbau von Grenzen beim Zugang zur Gesundheitsversorgung ein und thematisierte darüber hinaus die Beeinträchtigung der Gesundheit durch einen unsicheren oder fehlenden Aufenthaltsstatus (Villegas 2013). In der «Shel6 Vgl. den Film über die Kampagne «Education Not Deportation» unter: https://vimeo.com/7698225. 105 ter/Sanctuary/Status»-Kampagne mobilisierte sich ab 2008 eine breite Allianz von Frauen- und Menschenrechtsorganisationen, um Unterkünfte für gewaltbetroffene Frauen zu sicheren Zufluchtsorten auch für illegalisierte Migrant*innen zu machen und durchzusetzen, dass Frauen aufgrund der Erfahrung von geschlechtsspezifischer Gewalt Asyl gewährt wird (Bhuyan 2013: 253 ff.; Abji 2016). Für die verschiedenen Aktivitäten im Zuge der »Access without Fear»Kampagne war insbesondere die Art und Weise von Bedeutung, wie die Aktivist*innen versuchten, ganz konkrete Grenzen und Barrieren sichtbar zu machen, die illegalisierte Migrant*innen in ihrem städtischen Alltag erfahren. Mit Aktionen in Nachbarschaften und migrantischen Communities sollten diese Grenzen hinterfragt und politisiert werden. Dieses Konzept der Demokratisierung des städtischen Raums wird von Aktivist*innen auch als «Undoing borders» bezeichnet (vgl. Walia 2013; Nyers 2019: 16). Dabei sollen bestimmte Institutionen und Räume von der Kontrolle und Überwachung durch die nationale Einwanderungsbehörde CBSA befreit und «sichere Räume» geschaffen werden. Mohan Mishra und Faria Kamal von NOII beschreiben das Konzept des «Undoing borders» folgendermaßen: «Wir müssen unsere Community-Zentren, Schulen, Gesundheitszentren und Stadtviertel zurückerobern, indem wir sie zu Sanctuary-Zonen erklären, die frei von Migrationskontrollen sind. Wir 106 müssen den Kampf aufnehmen, um Gerechtigkeit und einen regulären Aufenthaltsstatus für alle zu fordern, nicht nur national, sondern auch lokal. Das ist die Idee hinter der ‹Don‘t Ask, Don‘t›-Tell-Kampagne in Toronto.» (Mishra/Kamal 2007) Die Aktivist*innen nutzen dabei den Begriff der «Regularisierung von unten», um zu beschreiben, wie auf lokaler Ebene illegalisierte Migrant*innen in die städtische Gemeinschaft einbezogen und mit Teilhaberechten ausgestattet werden. Interessant am Konzept des «Undoing Borders» ist, wie der städtische Raum genutzt wird, um zwei verschiedene politische Strategien miteinander zu verbinden: Mit dem Versuch, Menschen dazu zu bringen, in ihrer direkten lokalen Umgebung gegen die Durchsetzung von restriktiven nationalen Migrationsgesetzen zu rebellieren, wird einerseits der Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen eingefordert, indem der Zugang zu öffentlichen Diensten auf Menschen ohne Aufenthaltsstatus ausgedehnt wird. Gleichzeitig wird das nationalstaatliche Grenzregime, das Migrant*innen illegalisiert, fundamental infrage gestellt (Fortier 2013: 285). Darüber hinaus ist die Einforderung von «Sanctuary»-Zonen eine unmittelbare politische Praxis, mit der, wie es die Aktivistin Fariah Chowdhury formuliert, «denjenigen von uns, die von den traditionellen Machtverhältnissen ausgeschlossen sind, ermöglicht wird, die Entscheidungen und Richtlinien, die unser ganzes Leben betreffen, direkt infrage zu stellen. Sanctuary/Solidarity City delegitimiert die Rolle des Staates, weil wir nicht warten, bis die Regierung etwas ändert, sondern darum kämpfen, eine gerechte Stadt für uns selbst zu schaffen» (zit. nach Nail u. a. 2010: 155). «Taking, not waiting» lautet die Devise (vgl. Squire/Bagelman 2012).7 Damit wird nicht nur betont, dass im Hier und Jetzt ein politischer Wandel angestoßen werden kann, sondern auch, dass diejenigen, die Rechte einfordern, sich selbst zu Rechtssubjekten machen: Obwohl sie formal keine Bürger*innen (citizens) sind, haben sie eine Stimme, bringen sich in den politischen Diskurs ein und müssen nicht warten, bis jemand für sie spricht (Nyers 2019). 3 COMMUNITY ORGANIZING, SOLIDARITÄT UND ZUGEHÖRIGKEIT JENSEITS DER NATION Die jahrelangen Kämpfe und Mobilisierungen des «Solidarity City Network»8 bereiteten den Weg, «Access without Fear» zur Leitlinie für alle städtischen Dienstleistungen zu machen und damit die für gewisse Bereiche bereits erkämpfte Praxis in eine institutionelle Politik zu überführen. Am 21. Februar 2013 verabschiedete der Stadtrat in Toronto nach einer langen Debatte fast einstimmig die Motion CD 18.5. Darin wurde festgehalten, dass Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus in Toronto der Zugang zu städtischen Dienstleistungen gewährt werden soll, ohne dass sie sich fürchten müssen, an die nationalen Einwanderungsbehörden ausgeliefert und abgeschoben zu werden. Die Stadt ist zudem verpflichtet, ausreichend Ressourcen zur Verfügung zu stellen, um Mitarbeitende der öffentlichen Dienste mit speziellen Weiterbildungen entsprechend zu schulen. Zudem soll die Stadt Maßnahmen ergreifen, um das öffentliche Bewusstsein für die- se Politik und für die Situation von Illegalisierten zu erhöhen. Die Vertreter*innen des «Solidarity City»-Netzwerkes, die während der Debatte im Stadtrat anwesend waren, feierten den Beschluss als großartigen Sieg für die Rechte von Menschen mit prekärem oder fehlendem Aufenthaltsstatus sowie als Beweis, was eine gemeinsame Organisierung an der Basis bewirken kann. Gleichzeitig waren sich die Aktivist*innen durchaus bewusst, dass hier formale Rechte auf dem Papier festgeschrieben wurden, die jedoch nicht automatisch in die Praxis umgesetzt werden. So sagte die 7 Eine ähnliche Praxis beobachten Squire/Bagelman für die «Sanctuary»-Bewegung in Sheffield/UK. 8 Hierzu gehörten: Health for All, Immigration Legal Committee of Toronto, Justice for Migrant Workers, Law Union of Ontario, No One Is Illegal – Toronto, Parkdale Community Legal Services, Roma Community Centre, Social Planning Toronto, South Asian Legal Clinic of Ontario, South Asian Women’s Rights Organization, Thorncliffe Neighbourhood Office, The Wellesley Institute und Workers Action Centre. Die Motion 18.5 wurde zudem unterstützt von: Advocacy Centre for Tenants of Ontario, Alliance for South Asian Aids Prevention, AWCCA at George Brown College, Jane Finch Action Against Poverty, GOAL, Migrant Workers Alliance for Change und Ontario Coalition Against Poverty. 107 Aktivistin Tzazna Miranda Leal vom «Solidarity City Network» nach der Ratsdebatte: «Es ist bloß eine Richtlinie. Der einzige Weg, wie wir Veränderungen in unserer Community erreichen können, ist, wenn wir uns organisieren und dafür einstehen, dass sich die Ratsmitglieder an das halten, was sie heute versprochen haben» (zit. in Toronto Star, 21.2.2013). Die eigentliche Arbeit begann damit also erst, nämlich das Organizing innerhalb der Community, am Arbeitsplatz und in der Nachbarschaft, mit der Absicht, ein Bewusstsein für die neuen Richtlinien zu schaffen und die Bevölkerung aufzuklären. Denn das Wissen um Rechte und die Fähigkeit, diese Rechte auch geltend machen zu können, gelangen nicht automatisch zu den Bewohner*innen der Stadt. Mit mehrsprachigen Flyers, grafischen Materialien und Community-Workshops verbreiteten die Aktivist*innen des «Solidarity City»-Netzwerks Informationen über städtische Dienstleistungen. Eine Hotline wurde eingerichtet, um Dienstleistungen melden zu können, bei denen der Zugang nicht befriedigend gewährleistet ist. Um die Umsetzung der politischen Richtlinien zu evaluieren, führten die Aktivist*innen eigene Audits (das heißt Überprüfungen) durch, kontaktierten Hunderte Einrichtungen telefonisch und testeten deren Zugänglichkeit (Solidarity City 2013). Innerhalb des «Solidarity City»-Netzwerks ist man sich einig, dass die Politiken der sozialen Exklusion gegenüber illegalisierten Migrant*in108 nen da bekämpft werden müssen, wo sie täglich stattfinden. Nach Syed Hussan, einem langjährigen Aktivisten und Organizer von NOII, geht es neben dem politischen Kampf für Gesetzesänderungen ebenso sehr um einen politischen Kulturwandel: «Der Zweck unserer Arbeit ist es, eine Kultur zu schaffen, in der die Illegalisierung von Menschen strikt abgelehnt wird.» (Zit. in Trew 2017: 23) Denn in der täglichen Praxis sind es konkrete Menschen, die Grenzen durchsetzen oder sich ihnen widersetzen. Lokale Anbieter und Mitarbeitende von städtischen Dienstleistungen spielen eine bedeutende Rolle beim «Gatekeeping» – das heißt, sie entscheiden mit ihren Handlungen mit, ob Menschen ohne Aufenthaltsstatus der Zugang zu sozialen Dienstleistungen gewährt oder verweigert wird. Es sind die Fahrkartenkontrolleure, die Verwalter*innen von öffentlichen Schulen oder die im Gesundheitssektor Angestellten, die bei ihrer täglichen Arbeit je nach Werthaltungen und Bewusstsein agieren und damit politische Richtlinien einhalten oder sich ihnen widersetzen. Darin zeigt sich ein Verständnis, nach dem Bürgerschaft (citizenship) nicht bloß ein formaler Status ist, «sondern ein Prozess, der Verhandlungen über den Zugang zu und die Ausübung von Rechten beinhaltet» (Basok 2004: 48). Dabei wird weniger Gewicht auf gesetzliche Regelungen gelegt denn auf konkrete soziale Beziehungen, auf Normen, solidarische Praktiken und die Ver- handlung von Zugehörigkeiten. Entsprechend wichtig ist die Präsenz an den realen Orten, an denen citizenship verhandelt wird und dort, wo neue Formen der Solidarität innerhalb städtischer Communities gelebt werden. Der Kulturwandel, den die Aktivist*innen von NOII mit dem «Community Organizing» anstreben, soll sich nicht nur auf die Praxis der Dienstleister*innen beziehen, sondern umfassender alle Bewohner*innen der Stadt ansprechen und auf kommunaler Ebene den solidarischen Umgang der Menschen miteinander stärken. Denn nur, wenn die Grenzziehungen und grenzziehenden Denkweisen in den Köpfen der Menschen überwunden werden, können Migrant*innen mit prekärem Status als normale Mitbürger*innen der Stadt angesehen werden – als Nachbar*innen, Mitstudent*innen, Arbeitskolleg*innen, Freund*innen. Dies unterstreicht auch Faria Kamal von NOII (zit. in Nagel u. a. 2010): «Was ich besonders hervorheben möchte, ist die Tatsache, dass es so etwas wie ‹die Ausgeschlossenen› oder ‹die Marginalisierten› nicht gibt. Wir alle sind auf einer gewissen Ebene ausgeschlossen. In den Kampagnen von Sanctuary/Solidarity City haben wir versucht, die falsche Trennung aufzuzeigen zwischen denen, die einen Aufenthaltsstatus haben, und denen, die keinen haben. Einen regulären Rechtsstatus zu haben, bedeutet den Zugang zu guten Arbeitsplätzen, Gesundheitsversorgung, Bildung, Wohnen, Kinderbetreuung, Gerechtigkeit und Würde – und die meisten Menschen können irgendwann in ihrem Leben einen Status nicht erlangen.» Die Betonung gemeinsamer Betroffenheit durch verschiedene Formen sozialer Exklusion machte breite politische Allianzen möglich. Der Kampf für ein besseres Leben wird von verschiedenen Organisationen des Netzwerks an konkreten Orten in der Stadt ausgetragen. Dieser fußt auf einem intersektionalen Zugang, bei dem nicht nur auf Ausschlüsse durch fehlenden Aufenthaltsstatus fokussiert wird. Vielmehr geht es auch um den Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung, gegen die Marginalisierung der indigenen Bevölkerung und gegen die Unterdrückung aufgrund von Geschlecht und institutionellem Rassismus. Beispielhaft ist hier die Arbeit von «Parkdale Community Legal Services», einer Organisation, die sich in einem Stadtteil mit hoher Armut und einer starken Gentrifizierung insbesondere an Bewohner*innen mit geringem Einkommen wendet. Die Institution versteht sich als »Law Clinic» und bietet kostenlose rechtliche Beratung in verschiedenen Bereichen (u. a. Mietrecht, Migrationsrecht, Arbeitsrecht) an. Sie bleibt aber nicht bei der individuellen Fallarbeit stehen, sondern lanciert auch politische Kampagnen und betreibt Organizing im Stadtteil, etwa gegen Verdrängung, Obdachlosigkeit und für bezahlbaren Wohnraum, gegen prekäre Arbeit und für 15 Dollar Mindestlohn sowie für eine bedürfnisgerechte Gesundheitsversorgung. Zusammen mit 109 verschiedenen anderen Organisationen innerhalb der Bewegung gehen die Aktivist*innen der «Parkdale Community Legal Services» bei ihrer Arbeit für eine solidarische Stadt von den unmittelbaren materiellen Bedürfnissen der Bewohner*innen aus und schaffen ein wachsendes Bewusstsein für gemeinsame sozialpolitische Interessen über verschiedene Gruppen und Sektoren hinweg. 4 KOMMUNALE PRAXIS ZWISCHEN LIPPENBEKENNTNIS UND SPARPOLITIKEN Während die Bewegung für eine solidarische Stadt mit ihrer Praxis in verschiedenen Stadtteilen und innerhalb einzelner Sektoren und Institutionen seit vielen Jahren großartige Arbeit für einen angstlosen Zugang zu sozialen Dienstleistungen leistet, hat die Stadtregierung in Bezug auf die Umsetzung der 2013 beschlossenen «Sanctuary City»-Politik kaum etwas unternommen. Die eingangs zitierten Worte von Bürgermeister Tory bedeuteten daher nicht viel mehr als ein Lippenbekenntnis. Zwar demonstrierte die Stadtregierung und -verwaltung auf der diskursiven Ebene, dass Maßnahmen ergriffen würden, doch mangelt es offensichtlich am politischen Willen, die Umsetzung dieser Maßnahmen auch voranzutreiben. Es folgten insgesamt nur wenige konkrete Taten, um den «Zugang ohne Angst» Wirklichkeit werden zu lassen. Die hoffnungsvolle Bezeichnung als «Sanctuary City» ist damit eher irreführend. Die Stadt agierte sogar verantwortungslos, weil sie ein Infoblatt herausgab, in dem alle Bereiche aufgezählt wurden, die nun «angstlos» zugänglich seien – dar110 unter auch die Polizei. Wie der Bericht «Often Asking, Always Telling» von NOII (2015) unter Bezugnahme auf offizielle Statistiken jedoch aufzeigt, meldete die städtische Polizei (TPS) 2014/15 jede Woche über 100 Menschen aus Toronto der nationalen Einwanderungsbehörde CBSA. Aktivist*innen von NOII kritisieren, dass die TPS damit die «Drecksarbeit» der nationalen Einwanderungsbehörde übernahm und gleichzeitig die Ressourcen der Stadt missbrauche, um etwas zu tun, für das sie kein Mandat hat. In dem Bericht wird aufgezeigt, wie die TPS täglich Menschen ohne speziellen Anlass allein aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbilds (z. B. schwarzer Hautfarbe) kontrolliert (sog. Racial Profiling), deren Aufenthaltsstatus überprüft und an die CBSA ausliefert. Zudem sind im Bericht Situationen dokumentiert, in denen illegalisierte Migrant*innen als Zeug*innen oder Opfer eines Verbrechens die Polizei kontaktierten und im Zuge dessen ihr fehlender Aufenthaltsstatus der CBSA gemeldet wurde. So wird zum Beispiel ein junger Mann zitiert, der die TPS anrief, als er eine Schießerei in seiner Nachbarschaft beobachtete, und der danach wegen fehlendem Aufenthaltsstatus verhaftet wurde: «Ich werde nie, nie wieder zur Polizei gehen [...] Wenn ich beobachte, dass jemand auf der Straße ermordet wird, würde ich dies nicht der Polizei melden». (NOII 2015: 26) Obwohl die «Sanctuary City»-Politik die Arbeit der Polizei erleichtern könnte, weil illegalisierte Migrant*innen bei der Strafverfolgung eher mit der Polizei zusammenarbeiten würden, wenn ihnen Aufenthaltssicherheit zugestanden wird, agieren die Polizeibehörden in Toronto bisher gegenteilig. Die Polizei bezieht sich in ihrer Praxis auf eine Klausel, die besagt, dass sie in «unumgänglichen Fällen» die CBSA informieren dürfe. Die Auslegung dieser «Unumgänglichkeit» (die sog. Bonafide-Klausel) unterliegt jedoch hauptsächlich dem Urteil des einzelnen Polizeibeamten, womit es für Betroffene fast unmöglich ist, sich mit Erfolg gegen solche Polizeipraktiken zu wehren. Darin zeigt sich eine deutliche Tendenz von Polizeibeamten zur Kriminalisierung von Migrant*innen aufgrund ihres fehlenden Aufenthaltsstatus. Zudem scheint die Umsetzung der »Access without Fear»-Politik stark von der persönlichen Gesinnung und der Überzeugung der einzelnen Beamten geprägt zu sein. Dies gilt allerdings auch für verschiedene andere Bereiche wie zum Beispiel dem Bildungswesen, wie eine Pilotstudie von Wissenschaftler*innen der Ryerson University zeigt (Hudson u. a. 2017). «Die Realität ist, dass der Stadtrat die Stadt zwar zu einer Sanctuary City erklärt, aber dafür keine zusätzlichen finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt hat», erklärt Graham Hudson, ein Mitautor der Studie. Die Studie konstatiert, dass insbesondere die Schulung des städtischen Personals gänzlich fehlgeschlagen ist: Obwohl sich die Stadt verpflichtet hat, genügend strukturelle Ressourcen zur Verfügung zu stellen, um ihre Angestellten in Bezug auf die Umsetzung der «Access without Fear»-Politik gezielt zu schulen, wurden die nötigen Budgetmittel für die Entwicklung und Durchführung von pädagogisch sinnvollen Trainings nicht zur Verfügung gestellt. Wie auch die Aktivist*innen des «Solidarity City»-Netzwerks bereits seit Längerem betonen (Solidarity City 2013), reicht eine schlichte Top-down-Information über die neue Richtlinie nicht aus, um die Politik des angstfreien Zugangs tatsächlich wirksam werden zu lassen. Zusätzlich zur angemessenen Schulung fordern sie, dass Institutionen nur städtische Mittel gewährt werden sollen, wenn sie die «Access without Fear»-Policy auch wirklich umsetzen, und dass bei Nichtbeachtung der Richtlinien Beschwerden eingereicht werden können. Eine weitere grundlegende Hürde bei der Umsetzung stellt der komplexe rechtliche Kontext dar, in dem die städtische «Sanctuary»-Politik verortet ist, weil die Hauptverantwortung für einige wichtige wohlfahrtstaatliche Dienst- und Trans111 ferleistungen in Kanada auf der Provinzebene liegt. So erlangen illegalisierte Migrant*innen beispielsweise kaum Zugang zur öffentlichen Gesundheitsversorgung und müssen sich stattdessen auf Gesundheitszentren verlassen, die ein Budget für nicht versicherte Personen bereitstellen. Um Migrant*innen mit prekärem oder fehlendem Aufenthaltsstatus Zugang zu Dienstleistungen zu garantieren, die nicht in städtischer Hand liegen, müsste die Stadt eine aktivere Rolle einnehmen und auf die Provinz- wie Bundesstaatsebene einwirken, um den Zugang zu Geldern für Kinderbetreuung, Sozialhilfe, Gesundheitsversorgung und Wohnraum für Menschen ohne Aufenthaltstitel einzufordern. Aktivist*innen setzen sich daher für die Vision einer «Sanctuary Province» ein (NOII 2018), also einer Ausdehnung der «Sanctuary»-Politik auf die Ebene der Provinz Ontario, was auch ein Thema progressiver linker Kräfte während des Wahlkampfs auf Provinzebene im Frühling 2018 war. Doch im Juni desselben Jahres ist schließlich der rechtskonservative Doug Ford zum Premierminister von Ontario gewählt worden. Er vertritt eine klar antimigrantische Politik. Damit ist eine «Sanctuary Province Ontario» in weite Ferne gerückt. NOII und andere Organisationen, die sich für die Rechte von illegalisierte Migrant*innen einsetzen, sind deshalb in den vergangenen Monaten aktiv geworden, um ihre politische Praxis mit Blick auf die nationalen Wahlen im Herbst 2019 wieder stärker auf die Bundesebene zu konzentrieren. Im Dezember 2018 wurde das «Migrant Rights Network» gegründet, das sich als eine landesweite Plattform versteht und beispielsweise eine Kampagne für einen permanenten Status für alle Care-Arbeiterinnen angestoßen hat.9 5 FAZIT: POLITISCHE MOBILISIERUNG VON UND IN WIDERSPRÜCHEN Die Erfahrungen, die die «Sanctuary City»-Bewegung in Toronto bei der Implementierung der städtischen DADT-Politik gemacht hat, sind gleichzeitig frustrierend und lehrreich. Sie machen deutlich, dass die Verabschiedung einer kommunalen Politik nicht das eigentliche Ziel sein kann und soll, sondern vielmehr ein Mittel, um die Organisierung von unten voranzutreiben. Das «Solidarity City»-Netzwerk und insbesondere 112 die Aktivist*innen von NOII stellen infrage, dass durch einzelne politische Maßnahmen ein gutes und sicheres Leben für alle Stadtbewohner*innen herbeigeführt werden kann. Vielmehr fassen sie die «Sanctuary»-Politik als einen Prozess auf, bei dem nationale Grenzziehungen fortwährend von unten herausgefordert werden, indem sich Men9 Vgl. http://migrantrights.ca. schen gegenseitig durch eine solidarische Praxis unterstützen und gemeinsam Macht von unten aufbauen. «Wir können nicht einfach bei Politiker*innen um eine Sanctuary City bitten, wir müssen sie uns selbst schaffen», sagte eine Aktivistin in einer Gesprächsrunde im Sommer 2018. Die jahrzehntelange Mobilisierung innerhalb dieses städtischen Laboratoriums liefert wichtige Inspiration auf der Suche nach neuen Wegen der Beziehung und Fürsorge füreinander. So weisen die verschiedenen DADT-Kampagnen darauf hin, dass nicht nur Gesetze, sondern auch die alltäglichen Praktiken aller Stadtbewohner*innen – als Lehrer*innen, als Sozialarbeiter*innen, als Nachbar*innen – mitwirken mit bei der Etablierung wie auch Hinterfragung von Grenzziehungen. Sie bergen zudem das Potenzial, staatlich definierte Kategorisierungen in «legal» und «illegal zu überwinden, da nicht so sehr die Frage «Who is the citizen?» im Zentrum steht, sondern vielmehr «What makes the citizen?» (Nyers 2019: 9). Wie die solidarische Praxis von Organisationen wie NOII Toronto deutlich macht, sind die Widersprüche zwischen den unmittelbar umsetz- baren Lösungen für undokumentierte Migrant*innen und den Zukunftsvisionen einer grundlegend anderen, gerechten Gesellschaft wichtige Momente in den Mobilisierungen um eine «Sanctuary City». Syed Hussan von NOII betont: «Wir müssen sowohl eine Vision für die Zukunft skizzieren als auch einen Weg finden, die Dinge in der Gegenwart besser zu machen» (zit. in Walia 2013: 283). Ausgehend von ganz konkreten realen Bedürfnissen und Gegebenheiten im Stadtraum wird versucht, alltägliche Kämpfe verschiedener sozialer Bewegungen zusammenzubringen, die sonst oft getrennt voneinander verlaufen, und ein neues Bewusstsein für gemeinsam erfahrene Formen von Ausbeutung, Unterdrückung und Diskriminierung innerhalb eines vielfältigen städtischen Prekariats zu schaffen. Gleichzeitig bleiben die Aktivist*innen nicht beim Community Organizing stehen: Sie erkennen an, dass der Nationalstaat ein bedeutendes Terrain politischer Auseinandersetzung bleibt und die Politisierung globaler Machtverhältnisse unverzichtbar ist. 113 LITERATUR Abji, Salina (2016): Because Deportation is Violence Against Women: On the Politics of State Responsibility and Women’s Human Rights, in: Social Politics: International Studies in Gender, State & Society 23(4), S. 483–507. 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Maurizio Coppola, als Sohn von süditalienischen Arbeitsmigrant*innen in der Schweiz geboren, lebt in Neapel, wo er politisch im Kollektiv «Ex Opg Je so‘ Pazzo» und bei «Potere al Popolo» aktiv ist. Nach dem Studium der Soziologie und Sozialpolitik arbeitete er als Lagerist in einem Getränkehandel. Zurzeit verdient er sein Geld als Dolmetscher und Reisebegleiter. Bue Rübner Hansen ist Soziologe und Historiker und beschäftigt sich mit Fragen der Klassenbildung, Migration und sozialen Reproduktion. Vor Kurzem beendete er ein Postdoc-Projekt zum Thema «Emergence of New Ideas of the Good Life in Common», das auf Forschungen zum Munizipalismus in Barcelona und zur europäischen Flüchtlingssolidaritätsbewegung basiert. Bue ist Mitglied des Redaktionskollektivs des Viewpoint Magazine und schreibt für Roar, Jacobin, OpenDemocracy und Novara Media. Stefanie Kron ist Soziologin und Referentin für Internationale Politik in der Akademie für politische Bildung der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin. Sie beschäftigt sich mit Migrations- und Grenzregimen in international vergleichender Perspektive, mit Arbeitskämpfen im transnationalen Raum sowie mit emanzipatorischen Bewegungen in Lateinamerika und der Region Nahost und Nordafrika. Sie ist Mitherausgeberin der wissenschaftlichen Zeitschrift Movements und Mitglied des Netzwerkes kritische Migrationsund Grenzregimeforschung (kritnet). 116 Katharina Morawek ist Kopräsidentin und Projektleiterin bei INES – Institut Neue Schweiz, einem Thinktank, der sich für einen Neuanfang in der migrationspolitischen Diskussion in der Schweiz einsetzt. Bis 2017 war sie künstlerische Leiterin und Geschäftsleiterin der Shedhalle Zürich. Dort initiierte sie «Die ganze Welt in Zürich», ein groß angelegtes Projekt zu «Urban Citizenship». Sie hat zahlreiche Projekte und Initiativen zu Demokratisierung, sozialer Gerechtigkeit, Urbanismus und Geschichtspolitik mitbegründet, so etwa die stadtpolitische Initiative «Wir alle sind Zürich». Mario Neumann ist Politikwissenschaftler und Aktivist aus Berlin. Er ist im Netzwerk «We‘ll Come United» aktiv, arbeitet an der Universität Kassel und ist gemeinsam mit Sandro Mezzadra Autor von «Jenseits von Interesse und Identität: Klasse, Linkspopulismus und das Erbe von 1968» (Laika-Verlag). Sarah Schilliger ist Soziologin und forscht aus einer intersektionalen Perspektive zu Migration, Care, Citizenship-Politiken und sozialen Bewegungen. 2018 weilte sie als Gastwissenschaftlerin an der York University, Toronto. Zurzeit ist sie Lehrbeauftragte am Zentrum Gender Studies der Universität Basel. Sarah Schilliger ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der RosaLuxemburg-Stiftung, Mitbegründerin der kollaborativen Forschungsgruppe Racial Profiling und engagiert sich in der Bewegung «Wir alle sind Bern». 117 Diese Publikation ist im Arbeitszusammenhang «RLS-Cities – Rebellisch, Links, Solidarisch» der Rosa-Luxemburg-Stiftung entstanden. BILDNACHWEISE Umschlag: Henning Heine Innenteil: S. 17: Leif Hinrichsen/flickr.com (CC BY-NC 2.0) S. 35: Marc Studer/Shutterstock.com S. 53: Josep Bracons/flickr.com (CC BY-SA 2.0) S. 77: Paul de Gregorio/flickr.com (CC BY-NC 2.0) S. 97: Eric Parker/flickr (CC BY-NC 2.0) IMPRESSUM Herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung V. i. S. d. P.: Henning Heine Franz-Mehring-Platz 1 · 10243 Berlin · www.rosalux.de ISBN 978-3-9818987-7-4 · Redaktionsschluss: Februar 2019 Redaktion: Franziska Albrecht, Wenke Christoph, Stefanie Kron Korrektorat: TEXT-ARBEIT, Berlin Layout/Herstellung: MediaService GmbH Druck und Kommunikation Gedruckt auf Balance Pure, 100 % Recycling WWW.ROSALUX.DE