Tolle Leute: Eine literarische Reise durch Wolfgang Herrndorfs "tschick"
Von Manfred Gessat
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Über dieses E-Book
Manfred Gessat schließt eine Lücke der akademischen Beiträge zu diesem vielschichtigen Erfolgsroman. Mit seinen Analysen nimmt er das gesamte Werk subtil unter die Lupe, liefert wertvolle Lesehinweise, entwirrt sorgsam verschlungene Pfade, lüftet Mehrdeutigkeiten und erkundet ihre Tiefen.
Manfred Gessat
Dr. Manfred Gessat ist Arzt und Psychotherapeut. Literarisch gilt sein besonderes Interesse intertextuellen Studien moderner Romane.
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Buchvorschau
Tolle Leute - Manfred Gessat
Einführung
Zwei Jugendliche starten in das Leben. Ihr Autor ist dabei, es zu verlassen. Das ist die Ausgangslage von Wolfgang Herrndorfs 2010 erschienenem Roman tschick.
Tschick wurde und wird in erster Linie als Jugendroman wahrgenommen und gelesen. Die Schullektüre förderte seine Verbreitung. Mittelstufenschüler finden sich in ihm rasch wieder. Was die Erwachsenenlektüre angeht, ist die Sache komplizierter. Zwischen ungezählten älteren Genießern, die tschick amüsiert wie 14-Jährige lesen, und anspruchsvollen Zirkeln, die den Roman nach Avantgarde-Kriterien durchleuchten, klafft eine gewaltige Verstehenslücke.
Tschick ist feinst gesponnene Romankunst, kein Sachbuch, nicht einmal ein vertrauenswürdiger Lieferant von Sachverhalten. Der Roman verbindet Reales mit Nicht-Realem ². Seine Welt setzt sich aus Sprache, Kommunikation und Medien zusammen. Seine Texte transportieren enorme Mengen an Begleitstoff: Sagen, Märchen, Abenteuer; Bücher, Filme, Games.
Moderne Romane wollen entschlüsselt werden. Spontan sind sie selten zu verstehen. Ihre Worte sind vieldeutig, ihre Texte spielen mit der Maskerade. Sie „wispern" und gieren nach Enthüllung. Ein Liebesspiel! Sich darauf einzulassen, ist eine tief berührende und spannende Erfahrung.
Sofern man sie nicht hoch ambitioniert verfehlt! Kategorial ist tschick nicht beizukommen. Der Roman erschöpft sich nicht in Elementen eines Road-Novel-, Dystopien-, Crossover-, All-age-, Adoleszenz-, Coming-out-of-Age-, Entwicklungs-, Generationen-, Bildungs-, Identifikations-, Medien-, Provinz- oder Schelmen-Romans. Ein Roman ist ein Roman und möchte zunächst einmal ohne Bindestrich gelesen und verstanden werden. Er lebt aus der Differenz zu den Schablonen.
Der vorliegende Band plädiert für aufmerksames Lesen. Er wünscht sich oder rechnet mit Lesern, die tschick in Greifnähe liegen haben, hier und da im Originaltext nachblättern, prüfen, mitdiskutieren.
Meine eigenen Gedanken zu tschick halte ich nach Kräften in der Schwebe. Sie möchten interpretatorisch anregen, nichts definitiv behaupten. Literatur soll Literatur bleiben. Die unregelmäßig eingestreuten Zitate aus Wolfgang Herrndorfs Krankheitstagebuch „Arbeit und Struktur" ³ liegen oft quer zum Originaltext tschick und meinen essayistischen Betrachtungen, gelegentlich gehen sie auch parallel. Ich lasse die vielschichtigen Beziehungen im Detail unaufgelöst.
Manfred Gessat, Juni 2023
Anmerkungen
1 Bei allen frei stehenden Zitaten vertritt die Abkürzung „A&S" den Langtext: Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur, Rowohlt, 2013
2 Die „Verbindung von real Vorhandenem und real Nichtvorhandenem" macht den Menschen aus – und die Kunst. – Ali Smith: Wem erzähle ich das?, München, 2017, S. 37
3 Marcus Gärtner und Kathrin Passig äußern sich in ihrem Nachwort treffend über die Zwitterstellung des Tagebuchs: „Man kann es, wenn man mag, Literatur nennen", Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur, Rowohlt, 2013, S. 440
Ein Dialog
„Ich hab’ einen Großvater in der Walachei."
„Und wo wohnt der?"
„Wie, wo wohnt der? In der Walachei."
„Hier in der Nähe oder was?"
„Was?"
„Irgendwo da draußen?"
„Nicht irgendwo da draußen, Mann. In der Walachei."
„Das ist doch dasselbe."
„Was ist dasselbe?"
„Irgendwo da draußen und Walachei, das ist dasselbe."
„Versteh ich nicht." [97] ¹
Mit diesem Dialog beginnt die bekannteste Reise unseres noch jungen Jahrtausends. Tschick wurde ein Riesenerfolg. Parallel zur Übersetzung in annähernd vierzig Sprachen verbreiteten sich rasch eine Theaterfassung ² und der Film ³. Die Vertonung ⁴ fand weniger Beachtung. Doch egal in welchem Medium und welchem Alter, die Walachei stellt jeden, der ihr zum ersten Mal begegnet, vor Rätsel. Walachei meint im Roman vieles, Jugend zum Beispiel oder einen Aufbruch in das Ungewisse. Weiteres erschließt sich erst allmählich. Womöglich ist alles Walachei, was uns in tschick entgegentritt.⁵ Sie besteht aus Fragen über Fragen und kennt nur eine klare Antwort: „Versteh ich nicht."
Wortspielereien?
Walachei ist nur ein Wort! Wie Dingenskirchen. Oder Jottwehdeh. [97]
Maik irrt. Es gibt sie wirklich! Die Walachei ist mehr als die wolkige Umschreibung einer Fehlanzeige. Dennoch: was ist schon wirklich und was sind bloße Worte? Jüdische Zigeuner, englische Franzosen, Berber [98 f.]? Tschick und Maik ereifern sich, überflügeln sich mit rhetorischen Beweisen, kombiniert mit großartige(n) Gesten [99]. Anderswo hätte der Stoff für ein anspruchsvolles Seminar gereicht. Aber es ist Ferienbeginn, der Nominalismusstreit dient hier lediglich der mentalen Lockerung.
Ich hatte mich wirklich noch nie so gut unterhalten. [99]
„Mehr Gegend als Landschaft"
Nochmals: Die Walachei existiert wirklich, so wirklich wie die Pampa [97]. Die eine liegt in Argentinien, jedenfalls zum größten Teil; die andere im heutigen Rumänien inmitten einer „Ansammlung verheißungsvoller Namen" ⁶: der Donau, den Südkarpaten und dem Schwarzen Meer, südlich von Siebenbürgen/Transsylvanien, östlich des Banats und der Batschka.
Arm war sie immer. Sehr arm, teils Steppe, teils Morast. „Mehr Gegend als Landschaft, befand Herta Müller ⁷. In den Jahrhunderten der Osmanen- bzw. Türkenkriege (1423 – 1878) wurde sie zur Pufferzone zwischen Habsburg und Konstantinopel (Istanbul), Europa und Asien, Christentum und Islam. Grausamkeiten aller Art geschahen oder wurden vorstellbar, Vampire eingeschlossen. Die Walachei eroberte sich den zweifelhaften Ruf einer „barbarisch-primitiven und gefährlichen Landschaft par excellence
⁸.
Orchideen
Tschick lockt Maik mit fast paradiesischen Erwartungen.
Du wirst sehen. Mein Großvater und meine Großtante und zwei Cousins und vier Cousinen und die Cousinen schön wie Orchideen – du wirst ja sehen. [99]
Das ist zwar weder Klingsors Zaubergarten ⁹, noch sind es die üppigen Versprechen des Korans ¹⁰, aber im christlich-islamischen Grenzgebiet ist die Begegnung mit dem Paradies stets eine realistische Option. Allein, Tschicks Worte lösen sich in Nebel auf, sobald Maik wieder alleine ist. Heulende(s) Elend meldet sich zurück; seine Verliebtheit, der Ursprung der Geschichte.
Das hatte mit Tschick aber nichts zu tun. Das hatte was mit Tatjana zu tun. Damit, dass ich überhaupt nicht wusste, was sie jetzt über mich dachte, und dass ich es