410
IV. Schnittstellen
---------------------------------------------------------------
6. Geschichtswissensch
Weil das Sprechen aus vergangenen Zeiten oft unverständlich geworden oder kaum mehr hörbar ist,
vermag erst die Interpretation die Einzelheiten,
Bruchstücke und »Lückenhaftigkeiten mancher Art«
(ebd., 28) zum Sprechen zu bringen und schließlich
auch erzählend darzustellen. Droysen unterscheidet
zwischen unmittelbaren Überresten (wie Urkunden,
Inschriften und Kunstwerke) und den schriftlichen
und mündlichen Nachrichten (wie Korrespondenzen, Streitschriften und historische Lieder). Die Vorstellung einer Unterscheidbarkeit von Unmittelbarkeit einerseits und durch Erinnerung vermittelter
Überlieferung andererseits ist in der Geschichtswissenschaft zentral geblieben, und auch die Auseinandersetzung mit Praktiken der Erinnerung und ihren
Überformungen beschäftigt sie bis heute. Wenn in
der Historik in der Tradition Droysens Heuristik,
Kritik, Interpretation und Darstellung als ineinander
verwobene Methoden verstanden werden, ist es dennoch die Hermeneutik, die den Kern der historischen Methode ausmacht: »Es gilt zu verstehen«, so
verkündete Droysen schon 1857 (vgl. ebd., 22).
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6.
Geschichtswissenschaft
Die Geschichtswissenschaft war schon immer eine
Medienwissenschaft. Seit ihren wissenschaftlichen Anfangen im 19. Jahrhundert beschäftigt sie sich mit
zentralen Konzepten der Medienwissenschaften Quellen, Dokumenten und Überlieferungspraktiken.
Und sie hat sich seit jeher den methodischen Problemen von Speicherung, Übertragung und Interpretation unter Bedingungen von zeitlicher Distanz und
Datenverlust gewidmet. Die These, dass die jüngste
Erneuerung der Geisteswissenschaften in Deutschland ausgerechnet mit den methodischen Prämissen
einer überaus traditionellen Disziplin verwandt sei,
stammt vom amerikanischen Medienwissenschaftler
John Durham Peters: »Das Medium ist auch in der
Geschichtswissenschaft die Botschaft«, so behauptet
Peters (2009, 83). Was hat es mit dieser These auf sich?
Hält sie einer wissenschaftshistorischen Betrachtung
stand, welche die Untersuchungsgegenstände und Methoden von Geschichts- und Medienwissenschaften
historisch auffachert? Wo liegen die Berührungspunkte
und Differenzen in dieser von Peters heraufbeschworenen Wahlverwandtschaft ungleicher Disziplinen?
Historik
Johann Gustav Droysen schlug zur Mitte des 19.
Jahrhunderts vor, sein Projekt einer Geschichtswissenschaft »Historik« zu nennen (vgl. Droysen 1977).
Dem Unterfangen, die Geschichte als empirisch
wissenschaftliche Disziplin zu erörtern, widmete er
zwischen 1857 und 1883 Vorlesungen, deren Manuskripte ex-post zu einem Grundlagentext von Methodenlehre und Theorie der deutschen Geschichtswissenschaft avancierten. Droysens Geschichtswissenschaft versteht sich als eine Anthropologie (d. h.
als Erforschung der >Menschenwelt<). Sie positioniert sich als Heuristik (d. h. als Suche mithilfe einer
Frage), wobei das historische Material erst während
des Frage- und Suchprozesses durch Kombinieren
von scheinbar fehlendem oder ungenügendem Material geschaffen wird. Die anschließende Kritik des
historischen Materials umfasst dessen Prüfung (auf
Echtheit, Entstellungen, historische Richtigkeit)
sowie die eigentliche Quellenkritik, die das Material als Produkte einer bestimmten Gegenwart, als
Hervorbringungen seiner Zeit sowie als »Medium,
durch welches die dargestellten Dinge hindurchscheinen«, untersucht (ebd., 146).
Das Verstehen der Botschaft ist in der Folge zur Königsdisziplin der Geschichtswissenschaft geworden,
während die Kritik des Mediums ganz im Dienst der
Hermeneutik steht und von den historischen Hilfswissenschaften sowie den Verwaltungs- und Archivwissenschaften im Rahmen der Urkundenlehre und
Aktenkunde übernommen wurde, deren Ursprünge
ins 17. Jahrhundert zurückreichen (vgl. Brandt 2007).
Diese vom Archivaren und Historiker Ahasver von
Brandt sinnigerweise als >Werkzeuge des Historikers< bezeichneten Methoden der Quellenkunde
umfassen genuin medienwissenschaftliche Themen
wie die Paläographie, die sich mit den Beschreibstoffen (Stein, Metall, Wachs, Papyrus, Pergament,
Papier), der Schriftentwicklung und den Schreibgeräten beschäftigt.
Die Urkunden- und Aktenlehre, die der Rechtswissenschaft entstammt, ist in der Geschichtswissenschaft ein Instrument der Quellenkritik. Sie beschäftigt sich mit der Entstehung von Schriftlichkeitspraktiken im Kontext von mündlichen Formen
der Rechtshandlung sowie mit der Fixierung von
Rechtsakten durch Urkunden und Beglaubigungsmedien wie dem Siegel, der Kontrasignatur, der beglaubigten Signatur oder der Ratifikation bei Verträgen. Auch die Beschäftigung mit den Überliefe-
Hermeneutikkritik
geschichte
IV. Schnittstellen
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Rechtskraft (Transsumpte), den unbeglaubigten
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der Kanzlei ist quellenkritisch motiviert und eine
Forschungsstrategie im Umgang mit Fälschungen
von Urkunden. Das massenweise Vorkommen gefälschter Urkunden des Mittelalters war im 17. Jahrhundert ein Auslöser für die Entstehung der Urkundenwissenschaft im juristischen Kontext gewesen.
Die Akten (lat. acta: das Verhandelte) entstanden als
Techniken der Bürokratisierung und Mittel der Informations sicherung im verwaltungsmäßigen oder
geschäftlichen Handeln. Die Aktenkunde entwickelte sich erst im 20. Jahrhundert als historische
Hilfswissenschaft und spiegelt die bis vor kurzem
herrschende Dominanz der Beschäftigung mit Behördenakten in der Neueren Geschichte (vgl. Meisner 1935).
nschaften
Dass die hilfswissenschaftlichen Traditionen im
Dienst der Historik (zumindest was die Neueste Geschichte betrifft) in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts abbrachen, ist u. a. der Gesellschaftsgeschichte geschuldet, die den historischen Diskurs
Deutschlands seit den 1960er Jahren zeitweise dom inierte und sich dabei auch als Hermeneutikkritik
verstand. Die soziologisch und ökonomisch erweiterte Sozialgeschichte der> Bielefelder Schule< stellte
sich gegen die »Verstehenslehre des Historismus«
und kritisierte sie als »zustimmendes Nachempfinden« (Wehler 1973,27). Ebenso verfuhr die Gesellschaftsgeschichte mit den >traditionellen Quellengattungen< in der Tradition des Historismus, die
bloß die Motive von Individuen verstehen und darzustellen vermögen würden.
Demgegenüber seien die >modernen Theorien<
des wirtschaftlichen Wachstums, des sozialen Wandels und der Sozialpsychologie im Stand, die strukturellen Prozesse, die sich über die Köpfe der Einzelnen hinweg durchgesetzt hätten, zu erklären. Indem
die Hermeneutikkritik auch ein Misstrauen gegenüber den Quellen und der Quellenkritik des Historismus pflegte, wurde ein implizites Medienbewusstsein, das die Geschichtswissenschaft seit dem
19. Jahrhundert mit sich führt, in den Hintergrund
gedrängt und den marginalisierten historischen
Hilfswissenschaften überlassen.
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411
6. Geschichtswissenschaft
Hermeneutikkritik der Gesellschaftsgeschichte
Auch Klio dichtet
Der New Historism eines Hayden White (vgl. White
1986), die Vertreter der italienisch inspirierten Mikrohistorie in der Tradition Carlo Ginzburgs (vgl.
Ginzburg 1995) sowie die Exponentinnen der Wissenschaftsgeschichte wie Lorraine Daston (vgl. Daston 2000) griffen seit den 1980er Jahren die Fäden
des 19. Jahrhunderts kritisch auf und führten damit
das geschichtswissenschaftliche Interesse von einem
Verstehen der Botschaft zu einer vermehrten Betrachtung der Übertragungskanäle.
Hayden White wandte sich im Zusammenhang
mit seinem Konzept der >Metahistorie< den von
Droysen zwar erwähnten, jedoch nicht weiter untersuchten Darstellungen des historischen Materials zu
und betrachtete sie in den Kategorien literarischer
Kunstwerke. White stellt den historistischen Vorstellungen einer Wiedergabe der Vergangenheit seine
Idee eines fiktionalen Charakters des historischen
Erzählens gegenüber. Gleichzeitig nimmt er eine
Fährte von Droysen auf, wenn er auf die Erfahrung
der Fremdheit der Quellen verweist, die dem Historiker zu Beginn seiner Forschung widerfahre und ihn
daran hindere, Reproduktionen der historischen Ereignisse herzustellen. Er besitze vielmehr eine >skrupellose Fähigkeit<, bestimmte Fakten auszuschließen
und andere zu Bestandteilen verstehbarer Geschichte
zu machen. Dieses spezifische Gespür und Verständnis des Historikers manifestiere sich darin, dass er die
Vergangenheit mittels einer figurativen Sprache derart zu kodieren versteht, dass das Unvertraute vertraut werde. Denn das >Tatsächliche< könne nur vermittelt über das> Vorstellbare< erkannt werden.
Während Hayden White an die literarische Einbildungskraft als Quelle der Stärke und der Erneuerung der geschichtswissenschaftlichen Disziplin appelliert, spricht Carlo Ginzburg von einer spezifischen Epistemologie (dem Indizienparadigma),
welche die Geschichtswissenschaften mit anderen
kulturellen Praktiken (wie etwa den Tätigkeiten des
Detektivs, des Psychoanalytikers oder des Jägers)
teile . .Es seien die Symptome (bei der Psychoanalyse), die Indizien (beim Detektiv) oder die Fährten
(beim Jäger), die es erlauben würden, aus den
scheinbar nebensächlichen empirischen Daten eine
tiefere, sonst nicht erreichbare Realität einzufangen.
Ginzburg versteht Geschichte als indirekte, durch
Indizien vermittelte und konjekturale Wissensformation. Dennoch sind auch diese Epistemologien in
der Vorstellung von Carlo Ginzburg historisch geprägt: Es waren gerade die immer komplexeren so-
412
zialen Strukturen im ausgehenden 19. Jahrhundert,
die spezifische Techniken hervorbrachten, die darauf
zielten, die >undurchsichtige< Realität entzifferbar zu
machen. Ein Beispiel hierfür ist die Psychoanalyse
Sigmund Freuds, die sich aus der Hypothese herausbildete, dass scheinbar nebensächliche Eigenschaften tiefgründige Phänomene von großer Bedeutung
enthüllen können.
Ginzburg setzt Droysens Projekt einer Fundierung der Geschichte als Wissenschaft eine Epistemologie des Spürsinns und der Intuition gegenüber. Die
in den Sinnen wurzelnde Intuition sei dem höheren
Wissen fern (mit Ausnahme weniger Auserwählter
wie Sigmund Freud) und befinde sich vielmehr im
Besitz der Jäger, Seeleute und Frauen. Ginzburgs
Indizienepistemologie ist nicht frei von den Vorstellungen edler Wilder, die bei ihm als Kontrastfolie zu
den etablierten Humanwissenschaften figurieren. Sie
können jedoch in einer freien Lesart durchaus als Radikalisierung der Droysenschen Ideen verstanden
werden, dem ja die Idee eines Mediums, durch welches die Dinge hindurchscheinen, vertraut war.
Die unerschütterliche Praxis
der Gesch ichtswissenschaft
Der in den 1990er Jahren von Vertretern des Historismus und der Sozialgeschichte mit der neuen Kulturgeschichte in Zusammenhang gebrachten These
einer Krise der Geschichtswissenschaft konnte die
Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston nicht
viel abgewinnen. Sie betont demgegenüber einen tiefen Konsens in der altehrwürdigen Disziplin darüber, wie Geschichte praktisch zu betreiben sei.
Das Fundament der historiographischen Praxis,
in Jahrhunderten entwickelt und weltweit in Seminaren gelehrt, sei nach wie vor in fast jedes von einem professionellen Historiker geschriebene Werk
eingewoben. Diese >lmerschütterliche Praxis< manifestiere sich in der Unterscheidung zwischen Quellen und Literatur, dem Kult des Archivs, dem Handwerk der Fußnoten, der sorgf:i.ltig erstellten Bibliographie, dem intensiven und kritischen Lesen von
Texten und der riesengroßen Angst vor Anachronismen. Die unerschütterliche Praxis, so Daston, sichere
auch in Zeiten der theoretischen Krise die Kontinuität der Disziplin. Daston forderte die Historiker auf,
vermehrt Selbsthistorisierung zu betreiben und die
epistemischen Grundlagen ihrer Disziplin (wie Fußnoten, Quellen und Archive) mittels der Methoden
der Geschichtswissenschaft zu untersuchen.
IV. Schnittstellen
6. Geschichtswissensch
Die Aufmerksamkeit gegenüber den Praktiken
von Schrift- und Schreibkulturen seit den 1980er
und 1990er Jahren (die u.a. durch Heinrich Bosse
und Friedrich KittleI' entwickelt wurden und zum
Aufstieg der kulturwissenschaftlich orientierten Medienwissenschaften beitrugen; vgl. dazu Bosse 1981;
Kittler 1995) verstand sich als Anti-Hermeneutik
und berührte damit Interessen der an den Rändern
der Geschichtswissenschaften angesiedelten historischen Hilfswissenschaften. Dabei ist nicht zu vergessen, dass es bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Historiker gab, welche die mediale Verfasstheit ihrer Forschungsmaterialen reflektierten,
u. a. Robert Binkley, der in den 1930er Jahren die
Folgen der Mikroverfilmung für die Geisteswissenschaften reflektierte und dabei auch das Copyright
als Forschungshindernis in seinen Betrachtungen
mit einschloss (vgl. Binkley 1936; Dommann 2010).
Der jüngste Aufstieg der Digital Humanities (s. Kap.
IV.22), die neben vielen Zukunftserwartungen
durchaus auch selbstreflexive medientheoretische
Forschungsfelder eröffnet haben, ist vor diesem
Hintergrund auch als ein Unterfangen mit archivund hilfswissenschaftlichen Traditionen zu sehen.
Seit dem Jahr 2000 sind im Grenzgebiet zwischen
Geschichts- und Medienwissenschaften wichtige
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rung der Geschichtswissenschaften entstanden. Beispielhaft hierfür ist die inzwischen zum, Klassiker
avancierte Studie von Cornelia Vismann, welche die
Akten als Agenten und Effekte des Rechts medienarchäologisch untersucht (vgl. Vismann 2001). Dass
die Akten und die sie beherbergenden Archive in
politische Machtpraktiken und Gewaltakte verstrickt sind, zeigt die Studie von Astrid Eckert über
die Rückgabeverhandlungen über beschlagnahmtes
deutsches Archivgut durch die Westalliierten nach
dem Zweiten Weltkrieg (vgl. Eckert 2004). Die Vereinigten Staaten ließen es sich nicht nehmen, die Akten vor der Rückgabe ans Bundesarchiv in Deutschland mikroverfilmen zu lassen. Das Verfilmungsprojekt manifestiert das Misstrauen der amerikanischen
Geschichtswissenschaft gegenüber den deutschen
Historikern und Archivaren und spiegelt die politischen und wissenschaftspolitischen Implikationen
von Archivbesitz und Medientechnikgebrauch wider.
Neben den Aktenhandlungen und Archivpraktiken sind neuerdings auch die Editionsunternehmungen in die Aufmerksamkeit wissenschaftshistorischer Studien gerückt, insbesondere die umfangreichen Urkundeneditionen des Historismus im
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413
6. Geschichtswissenschaft
19. Jahrhundert. Wie Daniela Saxer für die Geschichtswissenschaft Österreichs und der Schweiz
zwischen 1850 und 1890 gezeigt hat, standen die
Editionsunternehmen im Dienst der jungen Nationen und schufen neue nationale Geschichtstraditionen (vgl. Saxer 2010). Diese Herstellung eines nationalen Traditionsbewusstseins bediente sich eines
regelrechten Arsenals medialer Praktiken (Transkriptionen, fotografische Reproduktionen, Kollationen,
Registrierungen etc.) und verfolgte dabei auch wissenschaftspolitische und politische Ziele, indem
durch Bricolage lokale und religiöse Traditionen der
Geschichtsschreibung durchschnitten und aus dem
neuen geschichtswissenschaftlichen Kanon ausgeschlossen wurden. Leider sind solche Forschungsprojekte bislang noch eher rar geblieben und würden
gerade von einer Zusammenarbeit zwischen der Geschichts- und der Medienwissenschaft profitieren
können.
Das mediale Fundament der Historiographie und das Vetorecht der Quellen
Wenn John Durham Peters die Historiker/innen
unlängst an die medialen Prämissen ihrer Disziplin
erinnert hat, so ist diesem Verdikt vorsichtig zuzustimmen. Die Geschichtsschreibung widmete sich
seit dem Historismus der Deutung von Botschaften.
Dass die hierfür notwendige Quellenkritik auch Medienwissenschaft avant la lettre ist, dessen war sie
sich bislang viel zu wenig bewusst. Was für die Geschichtswissenschaft bloßes Mittel zum Zweck und
als Hilfswissenschaft marginalisierte Nebensache
war, hat die Medienwissenschaft (insbesondere die
Medienarchäologie, s. Kap. H.l3) inzwischen zur
Hauptsache eines Forschungsfeldes erhoben.
Die Historiographie versteht sich als eine Anthropologie, d. h. als eine Wissenschaft vom Menschen
und seiner Kulturen. Demgegenüber besann sich
die medienwissenschaftliche Kulturtechnikforschung
auf die etymologischen Ursprünge des Kulturtechnikbegriffes in den Ingenieurswissenschaften des
19. Jahrhunderts und rückte die Erforschung der
Kultivierung von Sachen ins Zentrum (s. Kap. H.19).
Während die Medienwissenschaften von den bei
Gaston Bachelard und Michel Foucault entliehenen
Vorstellungen diskontinuierlicher Brüche durch
ruptures epistemalagiques geleitet sind, gibt es in der
Geschichtswissenschaft seit ihrer Erneuerung durch
die französische Annales (u. a. Marc Bloch, Fernand
Braudei, Roger Chartier) ein Interesse an Phänome-
nen der langue dUl'lie, an langfristigen Zeitstrukturen, an den Beharrungseffekten zivilisatorischer
Grundentscheidungen und an den Mentalitäten größerer Gruppen von Menschen als »Gefangnisse langer Dauer« (Ernest Labrousse; s. Kap. II,20).
Wenn die Geschichtswissenschaft sich neben
Texten den audiovisuellen Quellen (Bildern und Tönen) zugewandt hat, dann liegt es nahe, dass sie
diese zuallererst als Dokumente und mit dem Misstrauen einer langen Tradition der Quellenkritik behandelt. Demgegenüber betrachten die Medienwissenschaften beispielsweise Historienfilme als Formen des re-enactments, die sich nicht in den binären
Oppositionen zwischen Dokument und Fiktion auflösen lassen. Gertrud Koch hat darauf hingewiesen,
dass die fiktionalen Historienfilme ausgezeichnete
historische Dokumente sind, weil sie durch ihre registrierende Funktion Auskunft über zeitspezifische
Deutungsmuster geben und als Museum von Gesten
und Gegenständen auch zu unbeabsichtigten Enthüllungen beitragen (vgl. Koch 2003).
Wenn die Historiographie inzwischen die Frage
der Medialität ihrer Daten und der Fiktionalität ihrer Darstellungen auch als epistemisches Problem
entdeckt hat, gibt es vielleicht doch eine letzte Differenz zwischen den mittlerweile oft spekulativen Medienwissenschaften und den zutiefst faktenorientierten Geschichtswissenschaften, das sich mit Reinhart
Kosellecks Verdikt des »Vetorechts der Quellen«
umschreiben ließe (vgl. Spode 1995). Eine Historikerin darf nichts behaupten, was anders aus der
Quelle zu lesen ist. Das Vetorecht der Quellen bleibt
das wichtigste Gebot Klios (der Muse der Geschichtsschreibung) und bestimmt die Geschichtswissenschaft als zutiefst empirische Disziplin. Weil
dabei den Quellen immer zu misstrauen ist, haben
die Geschichts- und ihre Hilfswissenschaften hierfür
Methoden entwickelt, mit deren Hilfe Fälschungen
wie die Hitler-Tagebücher einwandfrei überprüft
werden können. Wenn im Fall der Hitler-Tagebücher nachgewiesen werden konnte, dass die dabei
verwendeten Materialien erst in den 1950er Jahren
auf den Markt kamen, dann steckte in der Tat im
Medium die für den Historiker relevante Botschaft.
Literatur
Binkley, Robert c.: Manual on Methods of Reproducing Research Materials. A Survey Made for Ihe Joint Committee
on Materials for Research of the Social Science Research
Council and the American Council of Learned Societies.
Ann Arbor 1936.
414
IV. Schnittstellen
Bosse, Heinrich: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die
Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit. Paderborn u.a. 1981.
Brandt, Ahasver VOll: Werkzeuge des Historikers. Eine Einführung in die historischen Hilfswissenschaften [1958].
Stuttgart u. a. 17 2007.
Daston, Lorraine: Die unerschütterliche Praxis. In: Rainer
Maria Kiesow/Dieter Simon (Hg.): Auf der Suche nach
der verlorenen Wahrheit. Zum Grundlagenstreit in der
Geschichtswissenschaft. Frankfurt a. M. u. a. 2000, 13-25.
Dommann, Monika: Recording Prints, Reading Films. Mikrofilme, amerikanische Kosmopoliten und die Entdeckung des Copyrightproblems in den 1930er Jahren. In:
Zeitschrift für Medienwissenschaft 2/2 (2010),73-83.
Droysen, Johann Gustav: Historik: historisch-kritische Ausgabe, Bd. 1: RekollStruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen (1857), Grundriss der Historik in
der ersten handschriftlichen (1857-1858) und in der letztengedruckten Fassung (1882). Hg. von Peter Leyh. Stutt-
gart -Bad Cannstatt 1977.
Eckert, Astrid M.: Kampf um die Akten. Die Westalliierten
und die Rückgabe von deutschem Archivgut nach dem
Zweiten Weltkrieg. Stuttgart 2004.
Ginzburg, Carlo: Spurensicherung. Der Jäger entziffert die
Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest
Morelli - Die Wissenschaft auf der Suche nach sich
selbst. In: Ders. (Hg.): Spurensicherung. Die Wissenschaft
auf der Suche nach sich selbst. Berlin 1995,7-44.
Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme 1800/1900. München 1995.
Koch, Gertrud: Nachstellungen. Film und historischer Moment. In: Eva Hohenberger/judith Keilbach (Hg.): Die
Gegenwart der Vergangenheit. Berlin 2003, 216-229.
Meisner, Heinrich Otto: Aktenkunde. Ein Handbuch für Archivbenutzer, mit besonderer Berücksichtigung Brandenburg-Preußens. Berlin 1935.
Peters, John Durham: Geschichte als Kommunikationsprob1em. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft 1/1 (2009),
81-92.
Saxer, Daniela: Archival objects in motion: Historians' appropriation of sources in nineteenth -century Austria
and Switzerland. In: Archival Seience 3/10 (2010), 31533l.
Spode, Hasso: Ist Geschichte eine Fiktion? Interview mit
Reinhart Koselleclc In: NZZ Folio 3 (1995), http://www.
nzzfolio.ch/www/d80bd71b-b264-4db4-afdO-277884b
93470/ showarticle/ dd30ca32-4681-4eb3-994b-c36fe56
5dd49.aspx (11.12.2012).
Vismann, Cornelia: Akten. Medientechnik und Recht.
Frankfurt a. M. 2001.
Wehler, Hans-Ulrich: Geschichte als historische Sozialwissenschaft. Frankfurt a. M. 1973.
White, Hayden: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses.
Stuttgart 1986.
Monika Dommann
7.
Kunstwissenschaft/
Bildwissenschaft
Die seit dem 19. Jahrhundert akademisch etablierte
Kunstwissenschaft reflektiert Werke, Geschichte und
Theorie der bildenden Künste von der Spätantike bis
zur Gegenwart. Seit Beginn der 1990er Jahre hat sich
in ihr mit dem iconic und pictorial turn (vgl. Boehm
1994, 13; Mitchell 1992) ein Paradigmenwechsel
vollzogen. Die von der Kunstwissenschaft geprägten
Termini beschwören jene Wende in den Geisteswissenschaften, die eine Hinwendung von der mit
dem linguistic turn einhergehenden Leitvorstellung
der >Kultur als Text< zu derjenigen einer >Kultur als
Bild< bezeichnet (vgl. Bachmann-Medick 2006). Dabei hat die Kunstgeschichte Konkurrenz durch jüngere Fächer wie die Medienwissenschaft und die
Visual Culture Studies (vgl. u. a. Morra/Smith 2006)
bekommen, die ebenfalls bild wissenschaftliche
Kompetenz für sich reldamieren (vgl. z. B. Heßler
2006; Heßler/Mersch 2009; GünzellMersch 2014 (in
Vorb.)). In Reaktion darauf erweiterte die Kunstwissenschaft den ihr angestammten Gegenstandsbereich der Kunstbilder und nahm sich auch sogenannter nicht-künstlerischer Bilder wie technischer
Zeichnungen oder wissenschaftlicher Diagramme
an (vgl. z. B. Elkins 1999; Holländer 2000; Kemp
2003). Darüber hinaus wird die Kunstwissenschaft
durch die Philosophie herausgefordert, die sowohl
in semiotischer und pragmatischer (vgl. Scholz
2004), als auch in phänomenologischer Hinsicht
(vgl. Wiesing 2005) Bildtheorien vorgelegt hat. Das
Bild als wahrnehmungsnahes Zeichen definierend,
fordert Klaus Sachs-Hombach eine die verschiedenen Grundlagendisziplinen der Bildforschung integrierende und systematisierende Bildwissenschaft
(vgl. Sachs-Hombach 2003).
In diesem Spannungsfeld betrachtet auch (und
gerade) eine allgemeine Bildwissenschaft die Kunstwissenschaft als durch »die älteste und differenzierteste Tradition bildtheoretischen Nachdenkens«
(ebd., 17f.) ausgezeichnet. Die Autorität der Kunstwissenschaft beruht im Wesentlichen auf dem historischen Tiefenwissen des Fachs sowie auf einem
speziell an Bildern, für und durch Bilder entwickelten methodisch-analytischen Instrumentarium zur
Deutung von Form und Inhalt (vgl. Belting u. a.
2008). Auch wenn innerhalb des Fachs vereinzelt
noch versucht wird, nicht-künstlerische Bilder aus
dem Kanon auszuklammern, lassen starke Indizien
doch auf ein weithin verbreitetes Verständnis von
7. Kunstwissenschaft/B
Kunstwissenschaft als
unter anderem die Stab
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scheinender, sich expli
Fachzeitschriften (vgl. z
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kulturwissenschaftliche
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Schneider/Dünkel 2001'
entsprechenden Forser
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nannten Instituten und
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Mal fällt jener progr<
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einer pragmatischen A