Techniken des Leibes
Herausgegeben von
Jörg Sternagel und Fabian Goppelsröder
ŌőŌ4FJUFOr#SPTDIJFSUrĸŌœ œŊ
ISBN 978-3-95832-085-7
© Velbrück Wissenschaft 2016
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Jörg Sternagel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
Technizität von Leiblichkeit
Harun Maye: Lassen sich Körper- und Kulturtechniken
am Leitfaden des Leibes denken?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
Marc Rölli: Kybernetik ohne Steuerung.
Relexionen über die Menschmaschine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
Stefan Kristensen: Der Leib und die Maschine.
Merleau-Ponty, Deleuze und Guattari zum Verhältnis
von Leiblichkeit und Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
53
Zu den Beiträgen:
Reinhold Görling: Die erste Person als Technik des Körpers/Leibes.
Ein Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69
Sensibilität des Maschinellen
Moritz Queisner: Bildoperationen. Das Problem der MenschMaschine Interaktion bei bildgeführten Interventionen . . . . . . . .
77
Katerina Krtilova: Technisches Begreifen.
Von »undinglichen Informationen« zu Tangible Interfaces . . . . .
87
© Velbrück Wissenschaft 2016
INHALT
Dennis Clausen: Akteure, Medien und Leiblichkeit.
Ein leibphänomenologischer Beitrag zu einer
Akteur-Medien-Theorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
107
Zu den Beiträgen:
Volkmar Mühleis: Fleisch-Maschine. Ein Kommentar . . . . . . . . .
121
Logik der Medialität
Emmanuel Alloa: Aktiv, Passiv, Medial.
Spielarten des Vollzugs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
133
Tobias Nikolaus Klass: Der utopische Körper als Medium . . . . .
149
Antje Kapust: Die Treppe als Prinzip der Diagonale.
Kulturtechniken, Medialität und Leiblichkeit im Anschluss
an Mischa Kuballs Agora / Arena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
163
Zu den Beiträgen:
Michael Mayer: Dies ist, nicht. Eine Assoziation . . . . . . . . . . . . .
185
Ort der Technik
Käte Meyer-Drawe: Das anthropologische Märchen vom
Menschen als Mängelwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
201
Martina Heßler: Der Mensch als Leib. Menschenbilder
in einer technischen Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
217
Dieter Mersch: Exposition und Passion.
Neue Paradoxien des Schauspielers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
237
Zu den Beiträgen:
Thomas Bedorf: Widerständigkeit in der technischen Welt?
Eine Assoziation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
257
Nachwort
Fabian Goppelsröder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
265
© Velbrück Wissenschaft 2016
Moritz Queisner
Bildoperationen.
Das Problem der Mensch-Maschine
Interaktion bei
bildgeführten Interventionen
I. Synthese von Bildgebung und Intervention
Die Handlungsmöglichkeiten der chirurgischen Praxis werden grundsätzlich von der Sichtbarmachung des Körpers deiniert. Erst wenn Sichtbarkeit im Operationsgebiet durch die entsprechende Visualisierung und
Präparierung des Patientenkörpers gewährleistet ist, kann ein operativer
Eingriff gelingen. Die damit verbundenen Strategien und Techniken des
Zeigens haben sich mit der minimal-invasiven Chirurgie grundlegend
verändert: vor allem im Zuge der Einbindung von Echtzeitbildgebung
und robotischen Applikationen in die Handlungsroutinen und -abläufe im Operationssaal bilden nicht mehr nur das Auge und die Hand die
Grundlage ärztlichen Handeln. Minimal-invasive Interventionen müssen stattdessen zunehmend unter dem Einluss und der Kontrolle von
Instrumenten und Apparaten gedacht werden, die chirurgische Eingriffe
in ein komplexes System medialer Produktions- und Rezeptionsbedingungen einbetten.
Im Gegensatz zu traditionellen Operationssaal-Anordnungen konfrontieren gegenwärtige Architekturen Chirurgen inzwischen mit einer Vielzahl bildgebender Verfahren und visueller Darstellungen, die sie
vor die Herausforderung stellen, ein zunehmend komplexes Gefüge von
Bildtechniken und -informationen angemessen in ihre Handlungen zu
integrieren. Das betrifft erstens die Art und Weise, wie Bilder in den medizinischen Arbeitsablauf integriert werden, zweitens die Orte, an denen
sie verwendet werden und drittens die Situationen, in denen sie verwendet werden. Diese Entwicklung lässt sich einbetten in eine weitreichende
Veränderung der chirurgischen Praxis, in der Visualisierungspraktiken
zunehmend als Schnittstelle zwischen Arzt und Patient fungieren indem
sie in den Behandlungsprozess intervenieren, anstatt hauptsächlich als
vor- und nachgelagerte Mittel der Diagnostik, Planung und Überwachung zu fungieren. Wenn Bilder in Behandlungsprozesse eingreifen, also
zunehmend auch die Therapie anleiten und gestalten, dann stellt sich die
Frage, inwieweit Visualisierungspraktiken den Zugriff des Arztes auf den
77
MORITZ QUEISNER
Patienten konzipieren und wie sich diese Bilder auf das ärztliche Sehen
und Handeln auswirken.
Anhand der medialen Produktionsbedingungen des roboter-assistierten Operationssystems da Vinci soll im Folgenden gezeigt werden, wie
bildgeführte Interventionen in der minimal-invasiven Chirurgie die Beziehung zwischen Arzt und Patient neu fassen, indem sie das Verhältnis
von Anschauung und Bildlichkeit sowie von Körper und Bild verschieben. Das da Vinci System ist eine minimal-invasive roboter-assistierte
Operationseinheit, dessen Entwicklung als fernbedienbarer Prototyp zur
ärztlichen Erstversorgung von verletzten Soldaten im Kampfgebiet in
den 1980er Jahren am Stanford Research Institute vom US-amerikanischen Verteidigungsministerium in Auftrag gegeben wurde. Seit Mitte
der 1990er Jahre wird das System von der dafür ausgegründeten Firma
Intuitive Surgical für die zivile Nutzung weiterentwickelt. Das da Vinci
System besteht aus drei Hauptkomponenten (Abb. 1):
Abb. 1: Hauptkomponenten des da Vinci Surgical System,
Katalogansicht, Intuitive Surgical Inc.
Erstens einem beweglichen Stativ mit einem Roboterarm für das Endoskop und, je nach Modell, zwei oder drei Roboterarmen mit auswechselbaren Spezialinstrumenten, die durch 5–12 mm große Einstichhülsen,
sogenannte Trokare, in den Bauchraum des Patienten eingeführt werden;
zweitens der Kontrollkonsole, von welcher aus der Operateur während
des gesamten Eingriffes die Bedienelemente für die Roboterarme steuert; sowie drittens einer Überwachungseinheit für das OP-Personal, in
der sich neben einem Kontrollbildschirm auch die zentrale Recheneinheit beindet.
78
BILDOPERATIONEN
II. Seh- und Handlungspraktiken in
bildgeführten Interventionen
Bemerkenswert für minimal-invasive Eingriffe ist, was zunächst allzu offensichtlich scheint: es besteht kein direkter Blickkontakt mit dem Operationsgebiet. Das Angeschaute wird nicht mehr unmittelbar gesehen,
sondern visualisiert. Bildgeführte Operationsverfahren etablieren dementsprechend Wahrnehmungs- und Anwendungssituationen, in der nicht
mehr der Körper, sondern das Bild das primäre Referenzobjekt ärztlichen Sehens und Handelns bildet. Der Unterschied zwischen den Betrachtungsmodalitäten von Bild und Körper wird in der medizinischen
Praxis kaum hinterfragt. Im Gegenteil wird das Wissen über den Umgang mit den Formen des visuellen Zugriff auf den Körper und das Bild
oftmals für austauschbar gehalten.Während das Erkennen in und das
Interpretieren von Bildern in Studien über medizinischen Bildgebrauch
umfassend diskutiert wird, existiert im Hinblick auf die visuelle Arbeit
mit und in Bildern hingegen ein Wissensdeizit, wie Mentis et al. gezeigt
haben: »learning how to identify where to look next, […] and where the
object they want is located in reference to where they are now are just
a few of the visual abilities a new surgeon must acquire before being
deemed proicient in this new method of surgery.«1 Offenbar verbinden sich mit einem bildgeführten Zugriff auf den Körper eine Reihe von
Sichtbarkeits- und Sichtbarmachungsproblemen, die entsprechend angepasste Seh- und Handlungspraktiken erfordern.
Im Fall des da Vinci Systems operiert der Chirurg nicht am geöffneten Körper, sondern vom Patientenkörper abgewendet. Sein Blick wird
durch eine Kopfstütze auf ein Display in der Steuerungskonsole ixiert,
der ausschließlich ein Videobild des Operationsgebiets zeigt. Um den
dadurch entstehenden Orientierungsverlust auszugleichen und im Inneren des Körpers Sichtbarkeit für eine entsprechende räumliche Navigation zu gewährleisten, nutzt der Chirurg ein Stereovideoedoskop, das ins
Körperinnere des Patienten eingeführt wird. Zur besseren Positionierung
und Navigierbarkeit der Kameras des Endoskops und der Instrumente wird das Operationsgebiet mit Kohlenstoffdioxid insufliert. Das da
Vinci System produziert folglich erstens neue Anschauungssituationen,
in denen der operative Zugriff bildgeführt erfolgen muss und in denen
dementsprechend auf der Basis entsprechender Bildgebungs- und Bildführungsverfahren navigiert werden muss. Und es produziert zweitens
1 Vgl. Helena M. Mentis, Amine Chellali, Steven Schwaitzberg, »Learning to See the
Body: Supporting Instructional Practices in Laparoscopic Surgical Procedures«, in:
Proceedings of the Conference on Human Factors in Computing Systems, New
York 2014, S. 2115.
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MORITZ QUEISNER
neue Handlungssituationen, in denen der operative Eingriff spezielle
Werkzeuge erfordert, deren Steuerung eine komplexe Koordination von
Hand, Auge und Instrument notwendig macht.
Diese Ausgangssituation konfrontiert die medizinische Praxis mit einem Dilemma: auf der einen Seite stehen die medizinischen Vorteile für
den Patienten gegenüber offenen, invasiven Operationen durch die Reduktion der Invasivität, die Schonung wichtiger Gewebestrukturen sowie durch kürzere stationäre Verweildauern. Auf der anderen Seite offenbaren minimal-invasive Verfahren trotz der medizinischen Vorzüge
erhebliche praktische Nachteile: Der Chirurg kann sich nicht länger auf
die Fähigkeit seiner Augen und die taktile Sensibilität seiner Hände verlassen. Gerade der Umstand, dass diese Nachteile von Seiten der Medizingerätehersteller in der Regel als Vorteile der Technik präsentiert
werden und mit dem Versprechen größerer, der menschlichen Leistungsfähigkeit überlegender Präzision und Kontrolle verkauft werden, zeigt,
dass die Auswirkungen der strukturellen Verschaltung von Mensch und
Technik auf die klinische Praxis bisher kaum Berücksichtigung inden.
Während die Hersteller darauf bedacht sind, Mensch- und Maschinentätigkeit strikt voneinander abzugrenzen, lässt sich auch in der Forschung
trotz zahlreicher Einzelstudien nur eine unzureichende methodische und
praktische Relexion des medizinischen Bildgebrauchs feststellen, insbesondere im Hinblick auf die Konsequenzen bildgeführter Verfahren für
das individuelle ärztliche Sehen und Handeln. Angesichts dieser Ausgangssituation und in Abgrenzung zu diesen Positionen offenbart dagegen die Analyse der bildbasierten Interaktion zwischen Chirurg und
Roboter, in welchem Maße das Gelingen oder Misslingen einer Operation in roboter-assistierten minimal-invasiven Interventionen auf die Kooperation zwischen Mensch und Maschine angewiesen ist und auf ihre
strukturelle Verschaltung zurückgeführt werden kann.
III. Strukturelle Verschaltung von
Mensch und Maschine
Ein entscheidendes strukturelles Merkmal des da Vinci Systems ist, dass
Bildproduktion und -rezeption nicht voneinander getrennt werden, sondern zeitlich zusammenfallen – ein Umstand der angesichts des alltäglichen Umgangs mit Bewegtbildformaten inzwischen fast schon trivial erscheint. Mit den technologisch-pragmatischen Bedingungen des
bildgeführten Zugriffs auf den Körper des Patienten in Echtzeit verbindet sich jedoch eine Ausweitung des medizinischen Bildgebrauchs
von zeitlich und räumlich nachgeordneten Bildern, etwa der Diagnostik und Planung, hin zu einem anwendungsorientierten Bildgebrauch.
80
BILDOPERATIONEN
Bildkompetent müssen Chirurgen inzwischen nicht mehr nur als Diagnostiker sein, sondern Bilder gestalten zunehmend auch die Therapie:
Es genügt nicht mehr, beispielsweise pathologische Veränderungen auf
der Basis eines entsprechend theoriegeleiteten Bildwissens auf einer medizinische Visualisierung ›lediglich‹ zu erkennen bzw. zu diagnostizieren. Stattdessen basiert die Bildpraxis des da Vinci Systems auf einer
Anschauungssituation, die den Blick des Chirurgen durch zwei kleine
Öffnungen in der Konsole auf den sogenannten 3D immersive stereo viewer ixiert, ein binokulares Display im Inneren der Konsole, das einen
stereoskopischen Seheindruck erzeugt (Abb. 2). Das Display zeigt das
kombinierte Videobild der beiden Kameras des Stereovideoendoskops, die
gemeinsam mit einer Lichtquelle an einem der Roboterarme befestigt sind.
Diese Anschauungssituation unterscheidet sich maßgeblich von klassischen medialen Anordnungen minimal-invasiver Verfahren, bei denen
der chirurgische Worklow nicht zentral von einer Konsole aus organisiert
wird, sondern in der Regel unterschiedliche Positionen mehrerer Monitore
mit jeweils verschiedenen Bildmodi berücksichtigen muss. Diese klassische
Operationsraum-Architektur für minimal-invasive Eingriffe ist in der Regel so konzipiert, dass jedes bildgebenAbb. 2:
de Verfahren über mindestens einen
3D
immersive
stereo
viewer,
Bildschirm verfügt, dessen räumliche
Katalogansicht,
Anordnungen sich oftmals nur unIntuitive Surgical Inc.
zureichend in die Handlungsabläufe,
Orientierung und Blickachsen des Chirurgen integrieren lassen.
Dementsprechend muss bei minimal-invasiven Eingriffen zumeist die
räumliche Diskrepanz zwischen der Ausrichtung des Chirurgen zum Patientenkörper und der Ausrichtung der Bildschirmdarstellung ausgeglichen werden. Dazu muss der Chirurg die Lage der Instrumente im Patientenkörper zu ihrer Darstellung auf einem externen Bildschirm ins
Verhältnis setzen, beispielsweise um die durch die Bildschirmanordnung
entstehende Rotation des Operationsgebiets kognitiv zu kompensieren
oder um die Position der Kamera ins Verhältnis zum Operationsgebiet
zu setzen. Hinzu kommt, dass es bei klassischen minimal-invasiven Eingriffen oftmals notwendig ist, dass die Kamera von einem Assistenten
gesteuert wird, damit beide Hände zur Führung der Instrumente zur
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MORITZ QUEISNER
Verfügung stehen, was die Koordination zusätzlich erschwert. Folglich
entstehen Anschauungssituationenen, in denen der Chirurg während der
Operation die Bildschirmdarstellungen auf den Körper des Patienten applizieren muss, um die Instrumente im Körperinneren angemessen zu
kontrollieren.
Was ohnehin schon eine komplexe Abstraktionsleistung ist, nämlich
die kognitive Überbrückung der Differenz zwischen Auge und Aufzeichnung und zwischen Hand und Instrument, wirkt sich in der Praxis nachteilig auf die Hand-Auge Koordination des Chirurgen aus: Die Führung
von Instrumenten sowie die Orientierung im Operationsgebiet werden
durch die unzureichende Anpassung von Bild und Blick erschwert.2 Um
diesen kontinuierlichen Abgleich von Beobachtung und Repräsentation
zu koordinieren, müssen Chirurgen über ein speziisches operatives Bildwissen verfügen. Das Gelingen einer Operation erfordert in der Praxis
ein handlungsbedingtes Nebeneinander von Bild und Körper. Sielhorst,
Feuerstein und Navab stellen dazu in einer Studie über medizinische Displays fest: »Currently, each imaging device introduces another display
into the operating room thus the staff spends valuable time on inding a
useful arrangement of the displays. A single display integrating all data
could solve this issue. Each imaging device also introduces its own interaction hardware and graphical user interface. A uniied system could
replace the ineficient multitude of interaction systems.«3
Dieses Interaktionsproblem tritt beim da Vinci System so nicht mehr
auf: im Gegensatz zu den beschriebenen klassischen operativen Anordnungen minimal-invasiver Eingriffe, ist der Abgleich von Bild und Körper beim Arbeiten an der Konsole des da Vinci Systems ausgeschlossen. Das Sichtfeld der Konsole fokussiert ausschließlich das unmittelbare
Operationsgebiet, ein überprüfender Blick vom Bildschirm auf die die
Instrumente führenden Hände oder auf den Körper des Patienten ist bei
der da Vinci Steuerung nicht möglich und auch nicht vorgesehen. Ein
kontinuierliches Changieren des Blicks zwischen Bild und Körper entfällt. Der Körper als Ausgangs- und Orientierungspunkt der Operation
lässt sich zur Darstellung des Körperinneren in der Operationskonsole
nicht mehr ins Verhältnis setzen, sowohl im Hinblick auf die Navigation
der Instrumente, als auch hinsichtlich der sozialen Beziehung zwischen
Arzt und Patient. Das apparative Bild tritt dementsprechend nicht nur
in Konkurrenz zur unmittelbaren Anschauung, sondern erzeugt einen
Bruch, einen Riss zwischen Körpersinn und Medienoperation, zwischen
2 Vgl. George B. Hanna, Sami M. Shimi, Alfred Cuschieri, »Task performance in endoscopic surgery is inluenced by location of the image display«, in: Annals of Surgery 227/4 (1998), S. 481–484.
3 Vgl. Tobias Sielhorst, Marco Feuerstein, Nassir Navab, »Advanced medical displays: A literature review of augmented reality«, in: Journal of Display Technology
4/4 (2008), S. 459.
82
BILDOPERATIONEN
Auge und Aufzeichnung. Der Chirurg kann mithilfe der technischen Apparatur dem Patientenkörper zwar im wahrsten Sinne des Wortes auf
den Leib rücken, muss sich gezwungenermaßen aber ebenso von ihm
entfernen. Die Videobilder des da Vinci Systems werden damit zu Medien der Distanzierung und Annäherung gleichermaßen. Sie ermöglichen
und strukturieren den visuellen Zugriff auf den Patienten und bilden damit die zentrale Schnittstelle zwischen Arzt und Patient.
IV. Die apparative Determinierung
chirurgischer Handlungen
Das wohl prägnanteste Beispiel für die Komplexität der Interaktion zwischen Chirurg und Roboter ist der bildgeführte Steuerungsmechanismus
des da Vinci Systems. In der Regel führt der Chirurg die Operationsinstrumente, die durch kleine Öffnungen ins Körperinnere des Patienten
eingeführt werden, bei minimal-invasiven Eingriffen mit den Händen.
Beim da Vinci System erfolgt die Handhabung der Instrumente hingegen mittels einer komplexen Mechanik über spezielle Griffe an der Konsole, welche die Handbewegungen über eine wählbare Skalierung auf
die Operationswerkzeuge übertragen. Diese sogenannten Endowrists
Abb. 3: Endowrists:
Haptisch-visuelles
Steuerungsinterface,
Katalogansicht,
Intuitive Surgical Inc.
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MORITZ QUEISNER
sollen als externalisierte Handgelenke die Gesten des Chirurgen simulieren (Abb.3).
So synchronisiert sich etwa die Drehung der Hand ebenso mit dem Instrument, wie das Zusammenziehen von Daumen und Zeigeinger den
Clip- oder Schneidemechanismus auslöst. Zugleich fällt der Blick des
Chirurgen nicht mehr auf den Körper des Patienten bzw. dorthin, wo seine Hände die Operationsinstrumente steuern, sondern die Steuerung der
Instrumente basiert ausschließlich auf der Visualisierung in der Konsole. Der Chirurg muss deshalb seine motorischen Bewegungen einerseits
an die Visualisierung anpassen und andererseits an die Skalierung der
Steuerungsmechanik der Instrumente. Zwar kann eine Skalierung von
Darstellung oder Bewegung bestimmte Handlungsabläufe verbessern,
weil das Operationsgebiet besser fokussiert werden kann und die Präzision von Bewegungen dementsprechend höher sein kann,4 jedoch erfordert die Differenz von visueller und haptischer Skalierung gegenüber
der natürlichen Handlungsdimension des Chirurgen die entsprechende
Kenntnis über die technische Transformation von Blick und Bewegung.
Chirurgen müssen also in der Lage sein, von der Position der beiden
Instrumente innerhalb der Darstellung auf die Lage und Bewegung der
Hände zu schließen. Zugleich müssen sie die Position der Instrumente mit dem Sichtfeld der Kamera synchronisieren bzw. das Bild in der
Konsole auf die Lage der Roboterarme im Körper des Patienten applizieren. Die haptisch-visuelle Steuerung des da Vinci Systems muss angesichts dieser Handlungssituation so gestaltet sein, dass sie eine unmittelbare und direkte operative Intervention möglichst intuitiv simuliert: so
soll das Stereobild des Körperinneren dem Chirurg laut der Entwickler
ermöglichen, »präziser zu arbeiten, seine Technik zu verfeinern und seine Fähigkeiten […] zu verbessern«.5 Allerdings bestreiten die Entwickler
zugleich jegliche Form von Autorschaft des Systems: »Obwohl der Chirurg an der Konsole einige Schritte vom Patienten entfernt sitzt, sieht er
ein echtes Bild des Operationsgebiets. […] Zu keinem Zeitpunkt hat der
Chirurg ein virtuelles Bild vor sich […]. [Das System] kann nicht programmiert werden und keine eigenständigen Entscheidungen treffen und
sich somit ohne Eingabe des Chirurgen nicht selbst bewegen oder einen
operativen Schritt durchführen«.6
Einerseits legt die Rhetorik der robotischen Applikationen des da Vinci Systems wie Immersive Stereoviewer, 3D True Vision System oder
4 Vgl. R. Darin Ellis, Alex Cao, Abhilash Pandya, Anthony Composto, Mathew
Chacko, Michael Klein, Greg Auner, »Optimizing the surgeon-robot interface: The
effect of control-display gain and zoom level on movement time«, in: Proceedings
of the Human Factors and Ergonomics Society 48/15 (2004), S 1713– 1717, 2004.
5 Vgl. die Seite des Herstellers: www.davincisurgery.com/de/da-vinci-urologie/davinci-chirurgie/hauig-gestellte-fragen.php (letzter Aufruf: 02.05.2016)
6 Ebd.
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BILDOPERATIONEN
Endowrists zwar das Ziel einer möglichst immersiven und intuitiven
Wahrnehmungs- und Handlungssituation nahe, andererseits soll die Intervention des Robotersystems in chirurgische Handlungen offenbar
zugleich vermieden werden, indem der technischen Apparatur jegliche
Form von Autorenschaft abgesprochen wird. Dies geschieht in der Regel
im Sinne einer Ausweitung und Erweiterung menschlicher Fähigkeiten,
wie etwa bei Kazanzides et al: »the system can give even average physicians superhuman capabilities such as X-ray vision, elimination of hand
tremor, or the ability to perform dexterous operations inside the patient’s
body«.7 In diesem Kontext werden roboter-assistierte Interventionen in
der klinischen Praxis oftmals auch präsentiert, wie etwa die Werbeanzeige eines US-amerikanischen Krankenhauses zeigt (Abb.4). Ebenso können Patienten in einigen Krankenhäusern inzwischen an Fotoshootings
mit dem Roboter teilnehmen. Doch würde ein Chirurg nicht fahrlässig
handeln, wenn er sich auf die deklarierte Authentizität, Neutralität oder
Unmittelbarkeit des Systems verließe, wenn er es lediglich als Hilfsmittel begreift, dessen technische Fähigkeiten die eigenen Sinne aufwerten?
Abb. 4: »Superhuman abilities«: Werbeanzeige eines Krankenhauses
(www.wkhs.com/SurgicalServices/Home.aspx, letzter Aufruf am
02.05.2016)
V. Kooperation zwischen Chirurg und Roboter
Das Beispiel des da Vinci Systems zeigt, wie roboter-assistierte minimalinvasive Interventionen den Chirurgen in ein komplexes System medialer
Produktions- und Rezeptionsbedingungen einbetten, die ärztliches Handeln auf visueller und haptischer Ebene determinieren und konzipieren.
Aus der beim da Vinci System notwendigen Synchronisierung von Anschauung, Darstellung und Bedienung ergeben sich dabei ebenso neue
7 Peter Kazanzides, Gabor Fichtinger, Gregory Hager, Allison Okamura, Louis Whitcomb, Russell Taylor, »Surgical and Interventional Robotics – Core Concepts, Technology, and Design«, in: IEEE Xplore: Robotics & Automation Magazine 15/2
(2008), S. 123.
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MORITZ QUEISNER
Handlungsmöglichkeiten wie Handlungsdeizite: Erstens entspricht die
Mensch-Maschine Koniguration des Systems einer Wahrnehmungssituation, die jenseits eines bloßen Sehens als auch bloßer Bildlichkeit problematisiert werden muss. Wenn das Angeschaute nicht mehr gesehen,
sondern visualisiert wird, wenn es ins Bild verlagert wird und sich den
Fähigkeiten und Funktionen des Auges zunehmend entzieht, wenn es
›nur‹ noch mediale Erfahrung ist, dann erfordert der Umgang mit diesen Bildern eine entsprechend angepasste medizinische Bildpraxis. Diese Bildpraxis ist daran zu messen, wie sie Sehen und Handeln in einem
operativen Prozess ermöglicht oder erschwert. Zweitens entspricht die
räumliche Mobilität des Chirurgen einer medialen Disposition, in der
seine Bewegungen durch die apparative Anordnung nicht nur reproduziert, sondern grundlegend strukturiert werden. Die Verschiebung zwischen virtuellem und natürlichem Bewegungsspielraum bedarf deshalb
einer speziischen Verknüpfung von visueller und motorischer Kompetenz. Drittens etabliert die visuelle Architektur des da Vinci Systems
schließlich eine Handlungssituation, in der sich die Apparatur kaum als
Fortführung oder Erweiterung chirurgischer Fähigkeiten beschreiben
lässt, sondern in der Operationen nur als Synthese zwischen Mensch
und Maschine realisierbar sind. Dabei werden nicht nur Handlungsentscheidungen auf der Grundlage von Visualisierungen getroffen, sondern
die Intervention selbst wird über apparative Schnittstellen organisiert.
Ein entsprechendes anwendungsorientiertes visuelles Handlungswissen
stellen die medizinischen Curricula bisher aber noch nicht hinreichend
zur Verfügung.
Es scheint dementsprechend naheliegend, bildgeführte Interventionen
weniger im Sinne eines Dualismus als Abgrenzung zwischen Mensch und
Maschine zu beschreiben, sondern als Kooperation und in Konvergenz
zwischen chirurgischen und apparativen Praktiken. Die Apparatur hat
dabei, so formuliert es Ulrike Hick, »die Fusion von Mensch und Natürlichen Gegebenheiten einerseits gesprengt, indem sie zwischen beide
getreten ist«, während ihr andererseits zugleich die Funktion zugewiesen wird, »zwischen ihnen zu vermitteln, Garant ihrer kompensatorischen Synthese zu werden«.8 Auch wenn das, was die Bilder in der da
Vinci Konsole zeigen vermeintlich offensichtlich scheint – ohne die Bestimmung der bild- und handlungstheoretischen Voraussetzungen, ohne
die Entlechtung des komplexen Zusammenspiels von Mensch und Technologie bleibt ungewiss, wie diese Bilder ärztliche Entscheidungen und
Handlungen beeinlussen.
8 Ulrike Hick, »Die optische Apparatur als Wirklichkeitsgarant: Beitrag zur
Geschichte der medialen Wahrnehmung«, in: montage/av – Zeitschrift für Theorie
und Geschichte audiovisueller Kommunikation, 3/1 (1994), S. 90.
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