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Korrespondenzblatt der Schweiz. Gesellschaft für Volkskunde SCHWEIZER VOLKSKUNDE Bulletin de la Société suisse des traditions populaires FOLKLORE S U I S S E Bollettino della Società svizzera per le tradizioni popolari FOLCLORE SVIZZERO 109 /1 2019 (März) Im Gedenken an Thomas Hengartner (5. November 1960 – 10. Mai 2018) Monika Dommann Von der UZH nach Stöcken Eine St. Galler Bratwurst für den Denkfabrikanten Thomas Hengartner Im 19. Jahrhundert gab es plötzlich ganz viele davon. An Flüssen, wo Wasserräder und bald auch Turbinen zum Antreiben der Maschinen installiert wurden. Tag und Nacht strömten die Menschen im Zürcher Oberland in die Säle, an die grossen Maschinen. Männer, Frauen und Kinder, denn die teuren Maschinen sollten maximal ausgelastet werden. Zuerst lebten sie noch auf ihren Höfen und bald in den Gebäudekomplexen, die rund um ihre neuen Wirkungsstätten aus dem Boden schossen. Textilien, aber auch Fertigsuppen und Maggi-Würfel wurden mit Fuhrwerken oder Lastwagen oder in Eisenbahncamions abtransportiert. Immer mehr und ständig neue Waren verliessen das Zürcher Oberland, das Tösstal, das Linthtal oder auch Basel und eroberten die Welt. Auch neue künstliche Stoffe, Kunstharze, Arzneimittel und Chemikalien wurden in den neuen Räumen hergestellt, welche die Landwirtschaft und die Ernährung der Menschen auf den Kopf stellten. Sie haben richtig erraten. Wir reden von der Fabrik. Das Collegium Helveticum wurde von Thomas als Denkfabrik verstanden. Wir Fellows wurden von ihm dazu ermuntert, nicht bloss unsere Disziplinen und Institute regelmässig zu verlassen, sondern auch unsere disziplinär geprägten Denkgewohnheiten zu hinterfragen. In der Semper Sternwarte, die zur Zeit der Blüte der Industrialisierung in den Industriequartieren in Zürich und im Zusammenhang mit der Gründung des Polytechnikums nach Plänen von Gottfried Semper errichtet wurde, trafen wir uns regelmässig an den Collegiumstagen. Alle brachten Ideen, Meinungen, Wissen, aber auch Vorurteile mit. Thomas war es daran gelegen, dass wir über neue Ideen und neue Formate nachdachten. Dass wir die Fantasie walten liessen, der Imagination nicht zu früh die Flügel stutzten. Und dass wir alte Vorurteile über Bord warfen. Wir kamen mit vagen Ideen in die Sternwarte und einige von uns kehrten mit immer neuen Projekten zurück. Der Künstler Hannes Rickli und ich begannen uns zusammen für die Geschichte und Gegenwart von Datacenters zu interessieren, und eines Tages stellten wir fest, dass wir die Geschäftsmodelle der kommerziellen Rechenzentren nur verstehen würden, wenn wir wüssten, wie Elektrizitätsmärkte funktionieren. Die Ökonomin Renate Schubert brachte uns deshalb mit einem Energieökonomen zusammen. Schliesslich landeten wir bei den Kohlekraftwerken in China, welche auch die Strompreise in der Schweiz und damit den Betrieb der Datacenters beeinflussen. So ist das in einer Denkfabrik: Man verlässt sie mit mehr Ideen, als man selbst hineingebracht hat. Auch mit mehr Komplexität, mit mehr Denkarbeit und mit weniger Zeit. Die viel beschworene Transdisziplinarität, mit der auch immer die Hoffnung verbunden ist, die Spezialisierung und die déformation professionnelle des Wissenschaftsbetriebs zu überwinden, ist nicht als 17 Von der UZH nach Stöcken Nebenbeschäftigung am Collegiumstag zu verwirklichen. Wir sollten sie in unsere Disziplinen zurücktragen, darauf hat auch Thomas immer insistiert. Es bräuchte also nicht bloss eine Denkfabrik, sondern viele, viele Denkfabrikanten in den angestammten Disziplinen unserer Hochschulen. Denkfabrikantinnen müssten schon viel früher gefördert und institutionell unterstützt werden. Idealerweise in der Post-Doc Phase und in der Phase der Konsolidierung der Jungwissenschaftler*innen. Eben gerade dann, wenn sie zwar disziplinär ausgebildet, aber noch nicht fachspezialistisch eingeschworen sind. Denkfabrikant*innen sind überdies idealerweise auch noch Handelsreisende und Hausierende in Personalunion. Sie fühlen sich wohl auf der Agora, im Austausch mit Fachfremden, mit der Öffentlichkeit. Sie scheuen nicht die Kontroversen, das Erklären und die Verteidigung von Wissen und Wissenschaft, die Unterscheidung von Wahrheit und Lüge. Eine Tätigkeit, die leider, so hatten wir uns das nicht in den schlechtesten Träumen vorgestellt, zur Überlebensfrage des Projektes Wissenschaft avanciert ist, wie es seit der Aufklärung verstanden wurde. Ich habe von Thomas viel gelernt in der leider viel zu kurzen Zeit, in der wir zusammenarbeiten durften. Im schönen Text Werkhöfe der Spätmoderne, der zusammen mit den Fotografien von Eva Lüthi eine Tramfahrt von NeuOerlikon zum Flughafen dokumentiert, zeigt sich beispielhaft Thomas’ grosses Gespür für den Wandel von Räumen, der zwar vor unseren Augen vonstattengeht, aber den meisten in der Hektik des Alltags verborgen bleibt. Thomas war viel unterwegs in den letzten Jahren. Er bewegte sich leichtfüssig zwischen dem Dekanat an der Rämistrasse, dem Collegium an der Schmelzbergstrasse, dem ISEK an der Affolternstrasse Oerlikon, dem Schweizerischen Nationalfonds am Wildhainweg in Bern und vor allem auch dem Wohnsitz seiner Familie in Stöcken. Anthropologen sind stets Reisende in das Unbekannte, oder, wie von Thomas Hengartner gepflegt, in das unbekannte Bekannte. Anthropologen bleiben berufshalber bewegliche Denker. Thomas war deshalb durch seine Beweglichkeit ein prädestinierter Denkfabrikant. Als ich dieses Jahr am Freitag vor Pfingsten für die Trauerfeier von Thomas selbst nach Stöcken aufbrach, war das eine Reise, die einer der vielen Routen von Thomas folgte. Mit der Tram 10 von der UZH zum Flughafen in Kloten. Vorbei an der Aussenstation des Sternen Grills im silbernen Food Truck. Die Erinnerung an die Schärfe des besten Senfs und an die knackigsten Bürli Zürichs nehme ich auf jede Reise mit. Auch wenn ich mir nur selten eine St. Galler Bratwurst genehmige. Im engen Flieger nach Hamburg, zusammen mit Geschäftsmännern in grauen Anzügen. Dann in aller Eile durch den polierten Flughafen, Halt und Schwung suchend an dem Rollkoffer, der zu einem unentbehrlichen Begleiter von uns Citynomaden geworden ist. Mit der S-Bahn in die Stadt zum Bahnhof. Warten am Perron, mit der Hamburger Meeresluft in der Nase. Dann die Bahnfahrt nach Uelzen, die ich nie vergessen werde, weil statt eines Reiseziels an den Bahnwagen in elektronischer Leuchtschrift Schöne 18 Monika Dommann Pfingsten aufleuchtete. Wunder gibt es, selbst im profanen Nahverkehrszug. Im Hundertwasserbahnhof Uelzen, den ich abends nach dem Eindunkeln erreichte, erinnerte ich mich an meine kurze und heftige Hundertwasserschwärmerei als Teenager. Und schämte mich natürlich dafür. Ein Bus führte uns zur kleinen Kirche in Stöcken, die viel zu klein war für die vielen Menschen, die gekommen waren, um von Thomas Abschied zu nehmen. Zu allerletzt wandelten wir zu Fuss auf jene Wiese, wo Thomas jetzt ruht. Da gibt’s keine Rollkoffer mehr, zum Glück, lieber Thomas. Eine St. Galler Bratwurst hätte ich Dir aber trotzdem mitbringen sollen. Monika Dommann, Zürich monika.dommann@hist.uzh.ch Monika Dommann ist Professorin und Lehrstuhlinhaberin am Historischen Seminar der Universität Zürich, Co-Direktorin des Zentrum Geschichte des Wissens sowie Fellow am Collegium Helveticum. 19