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Körperlose Anwesenheit? Vom Topos der ›reinen Sichtbarkeit‹ zur ›artifiziellen Weltflucht‹ Marcel Finke / Mark A. Halawa Den meisten bildtheoretischen Ansätzen liegt die Denkfigur einer ›inneren Duplizität des Bildes‹ zugrunde: die scheinbar intuitiv schlüssige Differenz zwischen materiellem Bildträger und immaterieller Bilderscheinung. Doch ist die Charakterisierung des Bildes als in sich gespaltenes Phänomen in vielerlei Hinsicht heikel. So geht sie oft mit der Priorisierung der Darstellung einher, der eine Marginalisierung der Materialität korrespondiert. Letzteres wird in der gegenwärtigen Debatte meist mit der hermeneutischen und semiotischen Theorietradition assoziiert. Der Aufsatz möchte indes zeigen, dass ›Materialitätsvergessenheit‹ ein Problem darstellt, das wesentlich verbreiteter ist. Als Beispiel dient die phänomenologische Bildtheorie von Lambert Wiesing. Es wird diskutiert, inwieweit seine These der ›reinen Sichtbarkeit‹ nicht nur das Bild unzulässig purifiziert, sondern letztlich auch zu einer Entkörperung des Wahrnehmungssubjekts führt. 1. Einleitung: Bildtheorie und Materialität Über Bilder oder gar: über das Bild zu schreiben, ist kein einfaches Unterfangen. Je intensiver man den Bildbegriff zu definieren versucht, desto mehr verwischt sich dessen Kontur. Man kann daher dem Kunsthistoriker Kurt Bauch nur beipflichten, der bereits 1960 mutmaßte, dass es womöglich eine »unserer Hauptfragen [ist], was ›Bild‹ noch bedeutet.«1 Im Rückblick auf die viel beschworenen ›Wenden zum Bild‹ hat sich diese Vermutung zweifellos als korrekt erwiesen.2 Die Einsicht in aktuelle Publikationen zum Thema macht indes deutlich, dass die von Bauch gestellte ›Hauptfrage‹ längst nicht beantwortet ist. So zieht etwa Simone Neuber in der Einleitung des Sammelbandes Das Bild als Denkfigur folgendes Fazit: 1 2 Kurt Bauch: »Imago« (1960), in: Gottfried Boehm (Hg.): Was ist ein Bild?, München 2006 [zuerst ebd. 1994], S. 275−299, hier: S. 275. Für einen allgemeinen Überblick vgl. Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2009 [zuerst ebd. 2006], S. 329−380. Körperlose Anwesenheit? 87 Wir sind fern davon, einen fest umrissenen Bildbegriff zu haben. In der Tat macht es den Anschein, als spielten die Bedeutungsfacetten so ineinander, dass wir gar nicht einmal sagen können, es handle sich überhaupt noch um einen Begriff […]. Viel eher scheinen wir es mit etwas zu tun zu haben, was auf besonders elastische Weise eine Familie von mehr oder minder Ähnlichem bezeichnet.3 Neubers Resümee gilt allein der Geschichte und Diversität des Bildbegriffs innerhalb der Philosophie. Es verwundert daher wenig, dass andere Disziplinen, die sich mit ›Bildern‹ befassen, den Bedeutungshof des Begriffs ausweiten und der ›Familie‹ unentwegt zusätzliche Mitglieder hinzufügen.4 Die Vielfalt der Bildbegriffe ist zugleich der Grund dafür, dass jede Festlegung auf eine operative Bedeutung des Wortes notwendigerweise eine Reduktion darstellt. Jede noch so weite inhaltliche Bestimmung des Begriffs schließt stets andere, ebenfalls mögliche Phänomene aus. Eine thematische Abschattung scheint letztlich unumgänglich. Die folgenden Überlegungen konzentrieren sich auf einen Zweig der Familie der Bilder, den man mit Edmund Husserl »physische Bildlichkeit«5 nennen könnte. Gemeint sind Bilder als materielle Artefakte, die uns alltäglich in Form von Zeichnungen, Diagrammen, Gemälden, analogen, aber auch digitalen Fotografien, Computersimulationen und dergleichen begegnen. Die Liste ist damit nicht beendet, und auch der vorliegende Sammelband kann nur einzelne Ausschnitte dieses weitreichenden Terrains beleuchten, welches seinerseits ohne feste Umrandung ist. Nun ist jedoch nicht nur der Begriff des Bildes vielfältig, sondern auch das Spektrum der bildtheoretischen Positionen.6 Gleichwohl hat sich über die Grenzen einzelner Ansätze hinaus eine grundlegende strukturelle Differenzierung des physischen – oder auch: externen, materiellen, empirischen – Bildes durchgesetzt. So besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass Darstellendes, Darstellung und Dargestelltes zu unterscheiden sind. Diese Dreierstruktur findet sich in verschiedenen terminologischen Varia3 4 5 6 Simone Neuber: »Versuch einer einleitenden historisch-semantischen Rekonstruktion«, in: dies., Roman Veressov (Hg.): Das Bild als Denkfigur. Funktionen des Bildbegriffs in der Philosophie, München 2010, S. 7−32, hier: S. 7. Der Vorschlag, von einer Familienähnlichkeit der Bilder auszugehen, findet sich bereits bei William J. Thomas Mitchell: Iconology. Image, Text, Ideology, Chicago / London 1987, S. 9−14. Vgl. auch Ingeborg Reichle, Steffen Siegel, Achim Spelten: »Die Familienähnlichkeit der Bilder«, in: dies. (Hg.): Verwandte Bilder. Die Fragen der Bildwissenschaft, Berlin 2007, S. 7−11. Zur Bandbreite der Disziplinen vgl. u. a. Andreas Beyer, Markus Lohoff (Hg.): Bild und Erkenntnis. Formen und Funktionen des Bildes in Wissenschaft und Technik, München 2005; Klaus Sachs-Hombach (Hg.): Bildwissenschaft. Disziplinen, Themen, Methoden, Frankfurt / M. 2005. Edmund Husserl: »Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung« (1904/05), in: Husserliana, Bd. 23, hg. v. Eduard Marbach, Den Haag 1980, S. 1−108, hier: § 14, S. 29. Zur Orientierung vgl. etwa Gustav Frank, Barbara Lange: Einführung in die Bildwissenschaft, Darmstadt 2010; Klaus Sachs-Hombach (Hg.): Bildtheorien. Anthropologische und kulturelle Grundlagen des Visualistic Turn, Frankfurt / M. 2009. 88 Marcel Finke / Mark A. Halawa tionen wieder. Mit einiger Vorsicht kann davon gesprochen werden, dass diese Trias sowohl eine interne als auch eine externe Relation aufweist. So handelt es sich beim Darstellenden und der Darstellung um eine dem Bild immanente Beziehung, wohingegen die Beziehung zwischen Darstellung und Dargestelltem dem Bild selbst eher äußerlich ist. Eine besondere Faszination geht zumeist von der »internen Verzweigung« zwischen dem materiellen Bildträger und der immateriellen bildlichen Erscheinung aus, die laut Axel Müller für einen »paradoxalen Doppelcharakter des Bildes« sorgt.7 Tatsächlich gehört die Charakterisierung des Bildes als »doppeltes Faktum«8 zum Grundrepertoire nahezu aller Bildtheorien. Man kann sogar sagen, dass die Reflexionsfigur der Duplizität des Bildes selbst Ansätzen zugrunde liegt, die ansonsten unvereinbar scheinen. Nicht immer wird die Idee der Duplizität explizit ausgesprochen; häufig tritt sie im Gewand unterschiedlicher Terminologien auf und ist mit durchaus disparaten Thesen und Zielstellungen verbunden.9 Ihre Überzeugungskraft gewinnt die Vorstellung einer konstitutiven ›inneren Doppelheit‹ des Bildes dadurch, dass sich die Differenz, auf der sie beruht, gewissermaßen intuitiv mitteilt. Ganz ›offen-sichtlich‹ bestehen Unterschiede zwischen der bildlichen Erscheinung und ihrem physischen Träger – dies gilt etwa für deren Sichtbarkeit, Verwendbarkeit oder Zeitlichkeit. Doch trotz dieser Augenscheinlichkeiten ist die theoretische Aufspaltung des Bildphänomens keineswegs unproblematisch. Mit ihr gehen vielmehr zahlreiche Risiken einher. Nicht nur, dass im Gewand der Dichotomie von bildlicher Erscheinung und physischem Bildträger häufig alte Polaritäten wie jene von Stoff und Form wiederkehren;10 auch ist nicht klar, ob diese ›nur heuristische‹ Unterscheidung zu einem späteren Zeitpunkt überhaupt ohne Verlust wieder aufgehoben werden kann. So hat man durch die Beschreibung der beiden Pole – hier der verdinglichte Bildträger, dort eine körperlose Bilderscheinung – deren Zusammenhang eher aufgelöst als erfasst. Zudem resultiert daraus häufig die Konstruktion eines ›Weltendualismus‹:11 Es geht um die Behauptung zweier verschiedener Welten, insofern das Abbild aus 7 8 9 10 11 Axel Müller: »Wie Bilder Sinn erzeugen. Plädoyer für eine andere Bildgeschichte«, in: Stefan Majetschak (Hg.): Bild-Zeichen. Perspektiven einer Wissenschaft vom Bild, München 2005, S. 77−96, hier: S. 83−84. Hippolyte Taine: Der Verstand, Bd. 1, Bonn 1880 [zuerst Paris 1870], S. 79. Der Gedanke einer ›inneren Doppelheit‹ findet sich bei so unterschiedlichen Autoren wie Edmund Husserl, Richard Wollheim, Hans Belting, Hans Jonas und Reinhard Brandt. Bei allen lassen sich jeweils eigene Varianten dieser theoretischen Figur feststellen. Siehe hierzu die kritischen Anmerkungen im Aufsatz von Emmanuel Alloa in diesem Band. Vgl. Sybille Krämer: »Sprache – Stimme – Schrift. Sieben Gedanken über Performativität als Medialität«, in: Uwe Wirth (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt / M. 2002, S. 323−346, hier: S. 324. Körperlose Anwesenheit? 89 seinen irdischen Zusammenhängen gelöst und einer prinzipiell anderen, eigenen Sphäre zugewiesen wird. Zugleich fällt auf: Die Annahme einer internen Teilung des Bildes geht häufig nicht mit einer Neutralität gegenüber beiden Polen der Differenz einher. Stattdessen wird vor allem die Seite der Darstellung priorisiert. Die Reflexionsfigur der ›inneren Duplizität‹ ist in den meisten Fällen mit einer Hierarchisierung verbunden. In ihrer Dichotomie sind die beiden Pole stets schon in einem Ungleichgewicht; die Waage schlägt zugunsten dessen aus, was nicht physisches Bildding oder Medium, sondern darin Sichtbargemachtes ist. Konsequenz dieser einseitigen Fokussierung ist in der Regel eine auf je eigene Weise vollzogene Depravierung der Materialität. Daraus aber resultiert ein bemerkenswerter Effekt, insofern die anfänglich als konstitutiv behauptete ›Doppel-heit‹ des Bildes nachträglich annulliert wird; sie erlischt gewissermaßen infolge der Tilgung jener Momente des Bildes, die nicht in der Darstellungsfunktion aufgehen. Dieses ›Erlöschen‹ meint folglich keine dialektische Aufhebung, sondern schlicht und ergreifend die Negation der Materialität des Bildes. Eine solche Ignoranz gegenüber materiellen Aspekten wird in der gegenwärtigen Bilddebatte in der Regel vor allem hermeneutischen und semiotischen Ansätzen unterstellt. Dieser Vorwurf ist – wenn auch nicht in Gänze12 – durchaus berechtigt. In der Tat neigt die semiotische und hermeneutische Tradition für gewöhnlich dazu, Materialität zugunsten immaterieller Bedeutungseinheiten zu marginalisieren. Die Materialität des Bildes spielt für sie nur insoweit eine Rolle, wie sie zur Übermittlung und Deutung von Sinngehalten dient.13 Zum Tragen kommt hier ein grundlegend »metaphysische[r] Gestus«, der sich auf jene immateriellen Bedeutungen richtet, die »hinter dem Gegebenen einer Erscheinung« liegen.14 Die nachstehenden Ausführungen werden die begründete Kritik am Interpretationismus hermeneutischer und semiotischer Theorieentwürfe nicht weiter vertiefen. Stattdessen wollen sie zeigen, dass die zu beklagende 12 13 14 Vgl. Mark A. Halawa: »Widerständigkeit als Quellpunkt der Semiose. Materialität, Präsenz und Ereignis in der Semiotik von C. S. Peirce«, in: Kodikas / Code – Ars Semeiotica. An International Journal of Semiotics, Bd. 32, Nr. 1−2, 2009, S. 11−24. Exemplarisch hierfür ist Karl Bühlers Begriff der abstraktiven Relevanz. In seiner Sprachtheorie machte Bühler das gezielte Absehen von solchen Materialitätsaspekten, die nicht in eine signifikative Funktion überführt werden können, zum methodischen Prinzip. Vgl. ders.: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Stuttgart 1999 [zuerst Jena 1934], S. 40−48. Das Prinzip der abstraktiven Relevanz findet in der zeitgenössischen Bildtheorie kaum Erwähnung. Wie sich in diesem Aufsatz zeigen wird, lässt sich sein ›Geist‹ indessen nicht nur auch außerhalb von semiotischen Bildtheorien wiederfinden; vielmehr wird das Prinzip der abstraktiven Relevanz mitunter gerade von dezidiert nichtsemiotischen Bildkonzeptionen deutlich radikalisiert und übertroffen. Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt / M. 2008, S. 25, 26 [unsere Hervorhebung]. 90 Marcel Finke / Mark A. Halawa ›Materialitätsvergessenheit‹ ein Motiv darstellt, das auch in anderen Ansätzen wirksam ist. Sie lässt sich sogar in dezidiert phänomenologischen Bildtheorien nachweisen, die gemeinhin mit dem Anspruch verknüpft werden, materielle Aspekte des Bildes stärker zu berücksichtigen. Zur Verdeutlichung dieser These sollen einige der bisherigen Feststellungen anhand von Lambert Wiesings Theorie der reinen Sichtbarkeit des Bildes veranschaulicht werden. In seinem Versuch, den »ontologischen Sonderstatus des Bildes«15 gegenüber anderen wahrnehmbaren Dingen herauszuarbeiten, greift auch er auf die Gedankenfigur der internen Duplizität zurück. Wie gezeigt werden soll, gehen Wiesings Bemühungen mit einer systematischen Ausblendung der Materialität des Bildes einher, die sich auf verschiedenen Ebenen seiner Argumentation nachweisen lässt. In einem ersten Schritt wird dargelegt, inwiefern der Autor eine Purifizierung des Bildes vornimmt und dieses zu einer Art immakulaten Entität verklärt. Darauf folgt eine Problematisierung von Wiesings Thesen zur spezifischen Wahrnehmungssituation, in die die Betrachtenden eines Bildes angeblich eintreten. In Kritik gerät vor allem die vollständige theoretische Entkörperung der Rezipierenden, die aus dem Konzept der reinen Sichtbarkeit resultiert und nicht zuletzt phänomenologisch höchst fragwürdig ist. 2. Reine Sichtbarkeit: Immaterialität des Bildobjekts? Lambert Wiesing vertritt einen wahrnehmungstheoretischen Ansatz, dessen historische Grundlagen systematisch zuerst in seinem Buch Die Sichtbarkeit des Bildes vorgestellt und seither in zahlreichen Publikationen weiter ausgearbeitet wurden.16 Wiesing teilt die Prämisse der inneren Doppelheit des Bildes, welcher er mit dem von Husserl entlehnten Begriffspaar Bildträger und Bildobjekt Rechnung trägt. Der Fokus seiner Überlegungen liegt allerdings auf der Bestimmung der wesenhaften Eigenschaften des immateriellen Bildobjekts, das seines Erachtens auf andere Weise anwesend ist als alle sonstigen Wahrnehmungsdinge. Mit dem Bildobjekt werde ein »künstlich präsentierter Gegenstand«17 vor Augen gestellt, der »nicht richtig gegenwärtig, sondern eben nur artifiziell präsent ist, das heißt 15 16 17 Lambert Wiesing: Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik, Frankfurt / New York 2008 [zuerst Reinbek bei Hamburg 1997], S. 163; ders.: Das Mich der Wahrnehmung: Eine Autopsie, Frankfurt / M. 2009, S. 201, 206. Vgl. Wiesing 2008 (wie Anm. 15). Vgl. ferner ders.: Phänomene im Bild, München 2000; ders.: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt / M. 2005; ders. 2009 (wie Anm. 15). Lambert Wiesing: »Pragmatismus und Performativität des Bildes«, in: Sybille Krämer (Hg.): Performativität und Medialität, München 2004, S. 115−128, hier: S. 119. Körperlose Anwesenheit? 91 Abb. 1 John Deakin: Porträt Peter Lacy, zirka 1959, Arbeitsdokument aus dem Atelier Francis Bacons, S/W-Fotografie, 24,8 x 18,5 cm, Dublin City Gallery The Hugh Lane. reduziert auf die Sichtbarkeit.«18 Nach Wiesing ergibt sich die Singularität des Bildobjekts mithin aus dem Umstand, dass dieses ausschließlich gesehen werden könne. Es weise nur eine einzige sinnlich wahrnehmbare Eigenschaft auf, welche als reine Sichtbarkeit bezeichnet wird.19 Wie aber kann man sich die bildliche Herstellung von bloßer Sichtbarkeit vorstellen? Nach Wiesings Dafürhalten erlauben es Bilder, Sichtbarkeit als solche zu isolieren, ja Bildlichkeit selbst könne als Resultat dieses Isolationsvorgangs angesehen werden.20 Mit der »Abspaltung und Verabsolutierung der Sichtbarkeit«21 ist aber letztlich nichts anderes gemeint als ein Prozess der Entkörperung. Entsprechend hält Wiesing fest: »Bilder sind Entmaterialisierungen, welche einen Gegenstand in reine Sichtbarkeit transformieren.«22 18 19 20 21 22 Wiesing 2005 (wie Anm. 16), S. 70. In Wiesings jüngster Monografie Das Mich der Wahrnehmung fällt auf, dass die Trope von der ›reinen Sichtbarkeit‹ weitgehend durch den Begriff der ›Nursichtbarkeit‹ ersetzt wurde. Vgl. Wiesing 2009 (wie Anm. 15). Vgl. Wiesing 2008 (wie Anm. 15), S. 15, 161−163. Ebd., S. 163. Ebd., S. 15. 92 Marcel Finke / Mark A. Halawa Die These von der Entmaterialisierung beschränkt sich unterdessen nicht auf die Aussage, dass ein abgebildetes Ding andere physikalische Eigenschaften aufweist als das in Raum und Zeit real anwesende empirische Ding. Wiesing geht noch einen Schritt weiter: Bildobjekte haben seiner Meinung nach per se gar »keine Materialität und damit auch keine physikalischen Eigenschaften«.23 Das im Bild sichtbar gemachte Ding weist demgemäß nicht andere physikalische Merkmale auf, sondern überhaupt keine. Wiesings Rede von der Entmaterialisierung ist nicht metaphorischer, sondern buchstäblicher (und: kategorischer) Natur. Von »reiner Sichtbarkeit« kann seiner Ansicht nach schon darum gesprochen werden, weil sich auf »einer Bildoberfläche […] die Sichtbarkeit von etwas ohne den Ballast einer anwesenden, anhängenden Substanz«24 finden lasse. Der Gedanke einer für die Konstitution von Bildlichkeit wesentlichen Entmaterialisierung ist bei Wiesing deshalb aufs Engste mit der Behauptung einer Substanzlosigkeit des Bildobjekts verknüpft. Diese These besagt, dass das Bildobjekt wie ein »Gespenst« anwesend ist, ohne eine »materielle Substanz« aufzuweisen.25 Der behauptete »prinzipielle Phantomcharakter«26 resultiert allerdings nicht nur aus der fundamentalen Substanzlosigkeit der im Bild anschaulichen Erscheinung. Vielmehr ergibt sich gerade daraus ein noch häufiger genanntes Charakteristikum des Bildobjekts: seine Physikfreiheit. Weil Bilder für Wiesing »Entmaterialisierungsinstrument[e]«27 sind, gelten sie ihm als »Physikentmachtungsmittel«28. In dem Maße, wie die These der Entmaterialisierung zur Idee der generellen Substanzlosigkeit des Bildobjekts zugespitzt wird, erfährt auch der Gedanke von der Physiklosigkeit eine zunehmende Radikalisierung. Im Folgenden skizzieren wir diesen Gedanken in seinen wesentlichen Schritten: Ausgangspunkt ist Wiesings Bemerkung, das Bild stelle seinen Betrachtenden etwas vor Augen, »ohne daß das vorgestellte Etwas physisch da ist«.29 Das Bildobjekt sei »stofflich nicht anwesend«, habe also »kein physisches Dasein«.30 Hier geht es zunächst um die simple Feststellung, dass die im Bild sichtbar werdende Erscheinung – im Gegensatz zum empirischen Bildträger – nicht materiell gegenwärtig ist. Darüber hinaus hebt 23 24 25 26 27 28 29 30 Lambert Wiesing: »Das Bild aus phänomenologischer Sicht. Interview mit Lambert Wiesing«, in: Klaus Sachs-Hombach (Hg.): Wege zur Bildwissenschaft. Interviews, Köln 2004, S. 152−169, hier: S. 162. Wiesing 2000 (wie Anm. 16), S. 11. Vgl. Wiesing 2008 (wie Anm. 15), S. 162; ders. 2004 (wie Anm. 17), S. 120; ders. 2005 (wie Anm. 16), S. 32. Wiesing 2009 (wie Anm. 15), S. 204, 224. Wiesing 2000 (wie Anm. 16), S. 24. Wiesing 2005 (wie Anm. 16), S. 162. Ebd., S. 69. Wiesing 2008 (wie Anm. 15), S. VII; ders. 2005 (wie Anm. 16), S. 161. Körperlose Anwesenheit? 93 Wiesing hervor, dass das Bildobjekt »in einem physikalischen Sinn kein materieller Gegenstand in Raum und Zeit«31 sei. Eine vermittels des Bildes artifiziell präsentierte Person ist demnach von grundsätzlich anderer Art als der reale Körper dieser Person; der im Bild lediglich sichtbare Körper hat per se keine Physis. In seinen Ausführungen zur Physiklosigkeit des Bildes geht Wiesing jedoch noch einige entscheidende Schritte weiter: Bisher ging es ausschließlich um das, was das Bild zeigt. Dieses dargestellte Etwas (zum Beispiel der im Foto anschaulich gemachte Körper Peters; Abb. 1) wurde als nicht physisch anwesend, ohne eigene Physis und von den physikalischen Zwängen der Naturgesetze entbunden charakterisiert. Die hier zur Sprache kommende Physikfreiheit wird von Wiesing nun aber auch in toto auf das Bildobjekt, d. h. auf das Anschauungsphänomen eigener Art, ausgeweitet. Die These betrifft nicht mehr nur das, was im Bild sichtbar gemacht wird, sondern auch die Art und Weise des Gegenwärtigseins des Bildobjekts an sich, kurz: dessen »Daseinsstil«32. Wiesing behauptet, dass die ontologisch »autonome[n] Dinge«, die auf einem Bild zum Vorschein kommen, in ihrer phänomenalen Gesamtheit »der physikalischen Wirklichkeit perfekt entrückt« seien.33 Nun macht es aber einen qualitativen Unterschied, ob man behauptet, der in einem Bild artifiziell präsente Körper (das Was des Bildobjekts) sei ein »Gegenstand ohne Physik«34, oder ob man meint, die Erscheinung des Bildobjekts als solche sei gänzlich vom »Diktat der Physik«35 befreit. Letzteres aber scheint von Wiesing nahegelegt zu werden. Was sich in den Thesen von der Entmaterialisierung, der reinen Sichtbarkeit sowie der Substanzlosigkeit bereits abzeichnete, kulminiert in der Kennzeichnung der Darstellung als eines Bereichs, der nicht Bestandteil unserer Welt sei und dem grundsätzlich »keine physikalische Weltenschwere«36 anhafte. »Schaut man auf ein physisch existentes Bild«, erklärt Wiesing in diesem Zusammenhang, »so schaut man doch in eine physikfreie Zone«.37 Diese Rede vom Bildobjekt als einer »physikfreien Zone« kann durchaus in ihrer radikalsten Lesart ausgelegt werden: Der von Wiesing anfänglich noch als unverzichtbar bezeichnete Bildträger, durch den das Bildobjekt allererst zu seiner sichtbaren Erscheinung kommt, ist als materieller Grund durchgestrichen; das Bildobjekt hingegen ist theoretisch freigesetzt, von 31 32 33 34 35 36 37 Wiesing 2009 (wie Anm. 15), S. 202. Ebd., S. 204. Wiesing 2005 (wie Anm. 16), S. 161 [unsere Hervorhebung]. Wiesing 2000 (wie Anm. 16), S. 110. Wiesing 2009 (wie Anm. 15), S. 219. Wiesing 2008 (wie Anm. 15), S. VIII. Wiesing 2000 (wie Anm. 16), S. 10. Ähnlich auch ders. 2005 (wie Anm. 16), S. 69; ders. 2009 (wie Anm. 15), S. 204. 94 Marcel Finke / Mark A. Halawa allen Zwängen der materiellen Welt entbunden und endgültig zur reinen Sichtbarkeit hypostasiert. Wenn ein Bildobjekt nach Wiesing aber ausschließlich sichtbar, ohne materielle Substanz und von den Gesetzen der Physik befreit ist, dann ist es nur folgerichtig, dass es sich seiner Meinung nach auch anders verhält als die realen Gegenstände unserer Umgebung. Um dies zu verdeutlichen, greift er auf ein Beispiel zurück, in dem es um die Wechselwirkung zwischen dem physischen Zustand eines Bildes und dem Aussehen der darin sichtbar werdenden Erscheinung geht. Abermals sieht man sich mit der Zuspitzung eines zu Beginn einleuchtenden Argumentes konfrontiert. Wiesing beschreibt zunächst einen vertrauten Sachverhalt: Wenn man es mit dem Bild eines Hauses zu tun hat, dann ist dieses ausschließlich sichtbare Haus den Gesetzen der Physik enthoben. Diese Darstellung des Hauses wird insofern nicht älter, als das gezeigte Haus nicht älter wird, auch wenn der Bildträger sehr wohl wie jeder andere physikalische Gegenstand in Raum und Zeit älter wird.38 Sowohl die Idee der Physikfreiheit als auch der Gedanke, dass das artifiziell präsente Objekt nicht gleichermaßen einer altersbedingten Veränderung unterworfen sei wie der materielle Bildträger, beziehen sich erneut auf das Was der Darstellung. Ersetzt man im Zitat das »Haus« durch »Peter«, dann wird leichter verständlich, worauf Wiesing abzielt: Ein Fotoabzug, der die Darstellung eines 43-jährigen Peters zeigt, wird auch nach Jahrhunderten den damals 43 Jahre alten Peter zeigen – und zwar selbst dann, wenn der gealterte Abzug selbst schon zerschlissen und der reale Peter längst verstorben ist (Abb. 1).39 Dies möchte wohl niemand bezweifeln. Doch Wiesing verallgemeinert dieses Argument erneut, indem er nicht nur das sichtbar gemachte Etwas (ein dargestelltes Haus, den dargestellten Peter) vom zeitlichen Wandel ausnimmt, sondern die Erscheinung des Bildobjekts an sich. Was im Folgenden ähnlich wie die vorhergehende Passage klingt, ist in seiner theoretischen Konsequenz wesentlich radikaler: Alles, was wahrgenommen wird, ist […] ein alterndes Objekt zu einem bestimmten Zeitpunkt – nur das Bildobjekt nicht! Im Gegensatz zum Bildträger verändert sich ein Bildobjekt nicht in der Zeit: es wird nicht älter. [… Das] Bildobjekt muss morgen so aussehen, wie es heute aussieht, um ein Bildobjekt zu sein.40 38 39 40 Wiesing 2005 (wie Anm. 16), S. 28. Vgl. ähnlich auch ders. 2000 (wie Anm. 16), S. 33, 145. Vgl. Wiesing 2009 (wie Anm. 15), S. 204. Ebd., S. 221−222. Körperlose Anwesenheit? 95 An dieser Stelle ist es nicht mehr nur das Was, sondern auch das Wie der sichtbaren Beschaffenheit des Bildobjekts, welches von den Veränderungen des physischen Bildträgers unberührt bleibt. Wiesing insistiert geradezu darauf, dass »die Zeit in ihren Alterswirkungen am Aussehen des physikfreien Bildobjekts vorbeigeht«.41 Wohlgemerkt ist das Aussehen des Bildobjekts, d. h. die Weise, in der es den Betrachtenden anschaulich erscheint, dessen einzige Eigenschaft. Nichts anderes besagt Wiesings These von der reinen Sichtbarkeit! Wovon aber hängt die jeweilige Erscheinung eines Bildobjekts ab, wenn nicht von den medialen Grundlagen seiner Hervorbringung? Es stellt sich daher die Frage, weshalb Wiesing behaupten kann, dass das Aussehen der Darstellung von den Veränderungen des Bildträgers nicht tangiert wird – oder noch drastischer: nicht tangiert werden kann. Eine mögliche Antwort darauf mag in Lambert Wiesings Neigung zu finden sein, das Wie des Bildobjekts auf den Stil, d. h. die formalen Relationen einer strukturierten Oberfläche, zu reduzieren. Der Stil (oder auch: die Sichtweise) gilt ihm als fundamentale Bedingung und »transzendentales Prinzip der Bildlichkeit«42. Es gibt demzufolge kein Bild ohne Stil, weil es kein Bildobjekt ohne das Wie seiner nursichtbaren Erscheinung geben kann. Dass Wiesing dem Stil große Beachtung schenkt, ist von daher vollkommen verständlich. Doch ist der Stil für ihn offensichtlich noch aus einem anderen Grund besonders interessant: Seines Erachtens ist dieser ebenfalls ausschließlich sichtbar, weshalb er sich problemlos in die These der reinen Sichtbarkeit des Bildobjekts einfügen lässt. Das Wie der Erscheinung des Bildobjekts betrifft bei Wiesing hauptsächlich formale Aspekte, die sich auf der Oberfläche des Bildes lokalisieren lassen.43 Letztere wird ihm zum einzigen Ort von Bedeutung. Dem wiederum entspricht, dass Wiesing den materiellen Bildträger gelegentlich auf die Bildoberfläche, d. h. auf die »›anfaßbare‹ Außenseite eines physischen Objekts«44, reduziert. Demnach spielt nicht die gesamte Physis des Bildes eine Rolle. An ihr ist lediglich von Belang, dass sie eine Oberfläche erzeugt, auf der etwas anderes, nämlich das Bildobjekt, erscheinen kann. Als Resultat schrumpft der Bildträger zur buchstäblichen Flachware. So wie zuvor die Wirklichkeit »durch ein Bild gehäutet«45 wurde, so wird nun auch der materielle Körper des Bildes (tableau) auf seine Außenhaut limitiert. Er wird auf seine plane Vorderseite beschränkt, auf der ein Bildobjekt von reiner Sichtbarkeit artifiziell 41 42 43 44 45 Ebd., S. 222 [unsere Hervorhebung]. Wiesing 2000 (wie Anm. 16), S. 57. Vgl. auch ders.: »Zur Rhetorik des Bildes«, in: Joachim Knape (Hg.): Bildrhetorik, Baden-Baden 2007, S. 37−48, hier: S. 37. Vgl. Wiesing 2008 (wie Anm. 15), S. 217, 223, 231; ders. 2000 (wie Anm. 16), S. 16; ders. 2007 (wie Anm. 42), S. 39 Wiesing 2008 (wie Anm. 15), S. 214. Ebd., S. 162. 96 Marcel Finke / Mark A. Halawa hergezeigt wird. Das Bildobjekt, heißt es passend dazu, »wird sozusagen durch das Bild wie auf einem Tablett präsentiert.«46 Nach Wiesing ist das ausschließlich sichtbare Bildobjekt der Oberflächeneffekt einer ebenfalls ausschließlich sichtbaren Infrastruktur. Er stellt damit freilich nicht in Frage, dass sich etwa der Zustand eines Fotoabzugs mit der Zeit wandeln kann. Doch werden mögliche Veränderungen wie das Wellen oder Aufreißen des Papiers, das Ausbleichen, Eintrüben oder Abblättern der Farbe, die Knitter oder Kratzer in der Bildoberfläche als dem Bildobjekt äußerlich gedacht. Aus Wiesings Perspektive sind solche materiellen Transformationen lediglich bedauernswerte Störungen, die das ›eigentliche‹ Aussehen des Bildobjekts, d. h. sein stilistisches Wie, nicht betreffen. Doch so wenig man ein Bild ohne Stil herstellen kann, so wenig kann ein Bild ausschließlich aus Stil gemacht sein. Auch dieser muss in der Materialität des Bildes einen ›Anhalt‹ finden; ebenso müssen sich die formalen Strukturen im Bild verkörpern, um in dessen Oberfläche etwas anderes (zum Beispiel das Antlitz von Peter) sichtbar werden zu lassen (Abb. 1). Veränderungen des Bildträgers wirken sich deshalb unumgänglich auf das Aussehen des Bildobjekts aus, gerade weil dieses kein ideales eidos ist, sondern eine je spezifische Erscheinung. Für Wiesings Argumentation ist es symptomatisch, diesen Zusammenhang zu negieren. Was sich in Wiesings Thesen und der Entwicklung seiner Argumentation beobachten lässt, ist eine zunehmende Purifizierung des Bildobjekts. Dessen Sichtbarkeit wird sukzessive vom Schmutz jeder »physikalisch[en] Weltenschwere«47 gesäubert, um im Glanz einer reinen Sichtbarkeit zu erstrahlen.48 Mit hygienischem Gestus vollzieht Wiesing als Philosoph somit das, was seiner Meinung nach das Bild selbst leistet. Durch eine Art theoretischen Großputz wird das Bildobjekt zu einer immakulaten, der Welt enthobenen Entität aufpoliert. Die damit verbundene Haltung könnte man als eine Art optischen Platonismus bezeichnen. Während es bei Platon das »Auge des Geistes«49 ist, das einen Blick auf ewige Ideen zu werfen vermag, genügt bei Wiesing der Blick auf ein Bild, um unwandelbaren metaphysischen Entitäten gewahr zu werden. Was im einen Fall mühsam 46 47 48 49 Wiesing 2004 (wie Anm. 23), S. 160. Wiesing 2008 (wie Anm. 15), S. VIII. Das Adjektiv »rein«, so erklärt Wiesing im Vorwort zur Neuauflage seines Buches Die Sichtbarkeit des Bildes, sei für die Charakterisierung der besonderen Art der Sichtbarkeit des Bildobjekts deshalb passend, weil seine Bedeutungen ebenfalls an Ausdrücke wie »sauber« sowie »nicht dreckig« denken lassen. Vgl. Wiesing 2008 (wie Anm. 15), S. VII. Noch in einem Interview aus dem Jahr 2005 hatte er allerdings das Gegenteil betont. Vgl. ders.: »Ornament, Diagramm, Computerbild – Phänomene des Übergangs. Ein Gespräch mit Lambert Wiesing«, in: Bildwelten des Wissens, Bd. 3.1, Berlin 2005, S. 115−128, hier: S. 115. Symposion, 219a. Körperlose Anwesenheit? 97 durch kontemplative Vernunft erarbeitet werden muss, stellt sich im anderen Fall mühelos dadurch ein, dass man seine Augen auf ein Bildobjekt richtet. Damit ist aber zugleich die problematische Tendenz verbunden, die angeblich ausschließliche Sichtbarkeit des Bildobjekts in der Vorstellung eines bildlichen Panoptismus gipfeln zu lassen. Demzufolge wäre alles, was für das Bild von Bedeutung ist, auch auf diesem positiv sichtbar. Alles läge gleichsam ohne Rückstand vor Augen, wäre ›offen-sichtlich‹. Denn da, wo es reine Sichtbarkeit gibt, kann sich im Grunde nichts verbergen. Eine solche Totalisierung der Sichtbarkeit im Bild schließt jedoch die Möglichkeit aus, dass es relevante Aspekte des Ikonischen gibt, die sich nicht direkt oder auch gar nicht sehen lassen.50 Die Säuberung und Idealisierung des Bildobjekts zu einer Entität von absoluter visueller Reinheit drohte letztlich mit dem Phantasma des allmächtigen Blicks kurzgeschlossen zu werden.51 3. Optische Entindividualisierung: artifizielle Weltflucht des Bildbetrachters? In unseren bisherigen Darlegungen wurde lediglich am Rande erwähnt, dass sich Lambert Wiesing in seiner bildtheoretischen Arbeit der phänomenologischen Theorietradition eng verbunden fühlt. Tatsächlich trugen nahezu alle Autoren, die er zur Unterstützung seiner Argumentation heranzieht, entscheidend dazu bei, die Phänomenologie als eigenständige philosophische Methode zu begründen und zu positionieren.52 Somit überrascht es nicht, dass Wiesing das ausdrückliche Ziel verfolgt, »die Stärke der phänomenologischen Philosophie zur Erforschung des Bildes dar[zu]stellen und [zu] verteidigen.«53 Bedauerlicherweise mündet dieses Vorhaben in ein nahezu dogmatisches Vertrauen in die bildtheoretische Erklärungskraft der Phänomenologie. Seiner Ansicht nach hat diese allein im Zentrum einer philosophischen Erörterung des Bildbegriffs zu stehen. Dies legt nicht nur Wiesings Terminologie nahe; dafür spricht auch der Umstand, dass er bei der Beschreibung der elementaren Bausteine einer 50 51 52 53 Zum Verhältnis von Bildlichkeit und (Un-)Sichtbarkeit am Beispiel des Mediums Film siehe den Aufsatz von Ulrike Hanstein in diesem Band. Für weitere Kritiken vgl. Ludger Schwarte: »Die Wahrheitsfähigkeit des Bildes«, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Heft 53/1, 2008, S. 107−123, bes.: S. 110−113; Aneta Rostkowska: »Critique of Lambert Wiesing’s Phenomenological Theory of Picture«, in: IMAGE. Zeitschrift für interdisziplinäre Bildwissenschaft, Nr. 10, Juli 2009; Emmanuel Alloa: Das durchscheinende Bild. Konturen einer medialen Phänomenologie, Berlin / Zürich 2011, S. 265−271. Vgl. dazu Wiesing 2000 (wie Anm. 16), Kap. III und IV, wo die bildtheoretische Bedeutung Husserls, Sartres und Merleau-Pontys diskutiert wird. Ebd., S. 7. 98 Marcel Finke / Mark A. Halawa philosophischen Theorie des Bildes konsequent auf phänomenologische Gedankenmotive zurückgreift.54 Zwar nimmt Wiesing die Positionen und Methoden anderer theoretischer Strömungen durchaus zur Kenntnis, doch resultiert dies zumeist in einer Zurückweisung konkurrierender Bildkonzeptionen.55 Die Phänomenologie wird dadurch zur bildtheoretischen Leitdisziplin erklärt: nur sie scheint dazu in der Lage zu sein, die konstitutiven Merkmale von Bildlichkeit zu enthüllen. Nun ist die bildtheoretische Fruchtbarkeit der Phänomenologie kaum zu bezweifeln. Besonders in der Auseinandersetzung mit der Gegebenheitsweise von Bildern betritt man nahezu unumgänglich phänomenologisches Forschungsterrain.56 Wiesings Positionierung ist insofern überaus verständlich. Gleichwohl sind die Konsequenzen, die er aus der phänomenlogischen Fundierung seiner Bildtheorie zieht, mindestens aus zwei Gründen problematisch: Zum einen zeigte sich bereits, dass die Idee der reinen Sichtbarkeit mitsamt ihrer Privilegierung des vermeintlich körperlosen Bildobjekts die Relevanz der Materialität des Bildes in extremer Weise negiert. Zum anderen lässt sich darüber hinaus feststellen, dass mit der Hypostasierung der mutmaßlichen Nursichtbarkeit des Bildobjekts eine Abkehr von zentralen leibphänomenologischen Grundsätzen einhergeht. Ironischerweise wohnt dem als dezidiert phänomenologisch propagierten Topos der reinen Sichtbarkeit – wenn auch ungewollt – eine gegenläufige Dialektik inne. Um diesen Kritikpunkt näher auszuführen, konzentrieren wir uns nun auf die Instanz des bildbetrachtenden Subjekts und das damit verbundene Problem der Bildwahrnehmung. Grundsätzlich diskutiert Wiesing nicht nur die Immaterialität des ausschließlich sichtbaren Bildobjekts, sondern auch die Erfahrungsmomente, die bei der Wahrnehmung dieses Objekts zum Tragen kommen. Insbesondere denkt er darüber nach, welche notwendigen Auswirkungen die Betrachtung eines Bildes auf ein wahrnehmendes Subjekt hat: »Was geschieht mir, wenn ich ein Bild sehe«, lautet die entsprechende Leitfrage.57 Die Beschreibung 54 55 56 57 So wird die oben diskutierte Fixierung auf das Moment des Stils vor allem in Rekurs auf Merleau-Ponty entwickelt. Vgl. Wiesing 2008 (wie Anm. 15), Kap. V; ders. 2000 (wie Anm. 16), Kap. IV. Vgl. Wiesing 2005 (wie Anm. 16), Kap. 2. Vgl. etwa Husserl 1904/05 (wie Anm. 5); Jean-Paul Sartre: Was ist Literatur? Ein Essay, Reinbek bei Hamburg 1967 [zuerst Paris 1947]; ders.: Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft, Reinbek bei Hamburg 1971 [zuerst Paris 1940]; Maurice Merleau-Ponty: »Der Zweifel Cézannes« (1947), in: ders.: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, hg. v. Christian Bermes, Hamburg 2003, S. 3−27; ders.: »Das Auge und der Geist« (1961), in: ebd., S. 275−317. Von den neueren phänomenologischen Beiträgen zur Bildtheorie vgl. v. a. Bernhard Waldenfels: Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung, Berlin 2010. Wiesing 2009 (wie Anm. 15), S. 210. Körperlose Anwesenheit? 99 der ontologischen Besonderheit des Bildes wird auf diese Weise durch die phänomenologische Rekonstruktion einer spezifischen Wahrnehmungssituation ergänzt.58 Beide Aspekte greifen für Wiesing ineinander; seiner Ansicht nach können sie erst in der Zusammenschau die Faszinationskraft des Bildes erklären. Möchte man die Entwicklung von Wiesings Denken indes präziser beschreiben, muss man eigentlich festhalten: Seine Überlegungen zur Seinsweise des Bildobjekts münden letztendlich in eine Theorie der perzeptuellen Folgen einer reinen Bildobjekt-Wahrnehmung. Wiesings Argumentation ist in diesem Zusammenhang wie folgt: Wer ein Bild sieht, erblickt seines Erachtens nicht nur ein besonderes Objekt, sondern findet sich zugleich in einer besonderen Wahrnehmungssituation wieder. Diese charakterisiert Wiesing ausdrücklich als perzeptuellen »Ausnahmezustand«.59 Wichtig ist an dieser Stelle, dass damit nicht erneut der vertraute Gedanke einer ›gespaltenen‹ oder im Sinne Husserls ›widerstreitenden‹ Wahrnehmung angesprochen ist. Weniger ein spezieller Modus der Wahrnehmung ist hier von Belang als das spezifische Verhältnis, in dem ein Subjekt zur wahrgenommenen Welt steht. An Wiesings Versuch, den »kategorial[en] Sonderfall«60 des Bildersehens von der normalen Gegenstandswahrnehmung abzusetzen, fällt zunächst der pejorative Ton auf, mit dem letztere beschrieben wird: Skizziert wird ein düsteres Szenario der gewöhnlichen Wahrnehmung, die für Wiesing mit allerlei »Zumutungen« verbunden ist.61 Demgegenüber verspreche das Bildersehen eine einzigartige »entlastende Reduktion«62. Durch die Betrachtung eines Bildes ist es Wiesing zufolge möglich, sich von wesentlichen Zumutungen, die gemeinhin mit der Wahrnehmung einhergehen, zu befreien.63 Entscheidend ist hierbei, dass sich dieser Befreiungsgedanke ebenso wie im Falle der ontologischen Eigentümlichkeit des Bildobjekts auf die Dimensionen von Raum und Zeit erstreckt. 58 59 60 61 62 63 Vgl. ebd., S. 209−215. Ebd., S. 199, 211. Ebd., S. 200. Vgl. ebd., S. 161−169. Wiesing führt zahlreiche »persönliche Zumutungen« und »fatale Folgen« der normalen Wahrnehmungssituation auf. So werde das wahrnehmende Subjekt etwa zu einem »leiblichen Dasein verurteilt«; es müsse deshalb mit einem Körper in der Welt überleben, ein »Handykap«, das ihm ohne Wahrnehmung »erspart geblieben« wäre. Die Wahrnehmenden unterlägen ferner dem »Schicksal der Weltenpartizipation« und seien einer »anstrengenden Daueranwesenheit in der wahrgenommenen Welt« ausgesetzt. Die Unabhängigkeit der Existenz der Welt vom wahrnehmenden Subjekt wie auch der Umstand, dass letzteres gleichfalls wahrnehmbar sei, werden als weitere Zumutungen genannt. Außerdem wäre es aufgrund der Wahrnehmung leider keinem Subjekt möglich, »ein freies sichtbares Sein, das nicht unter dem Diktat der Physik steht«, führen zu können. Vgl. ebd., S. 167, 169−172, 175, 183−187, 193, 213, 219. Ebd., S. 215. Vgl. ebd., S. 213. 100 Marcel Finke / Mark A. Halawa Die Idee eines zeitlichen Entlastungspotenzials wird von Wiesing mit dem Fehlen eines privilegierten Zeitpunktes der Bildwahrnehmung begründet. Weil das Bildobjekt aufgrund seines zeitlosen Daseins von jeglichem Wandel verschont bleibe, zeige es sich jedem Betrachtersubjekt wie auch jeder künftigen Betrachtergeneration immerzu als dasselbe. Folgt man dieser Argumentation, dann kann das Bildobjekt zu keinem Zeitpunkt ›anders‹ oder ›neu‹ erscheinen. Für Wiesing ergibt sich daraus eine unhintergehbare egalitäre Optik: Mein individueller Moment, in dem gerade ich das Bildobjekt gesehen habe, sehe oder sehen werde, kann […] kein besonderer Moment sein, weil er sich nicht von anderen Momenten unterscheidet. Wenn die Zeit in ihrer Alterungswirkung am Aussehen des physikfreien Bildobjekts vorbeigeht, läßt sich auf Bildern zu verschiedenen Zeiten dasselbe sehen, und das sehende Subjekt wird durch den Eintritt in den Zustand der Bildwahrnehmung zu einem Subjekt, das das Bildobjekt zwar zu einem bestimmten Zeitpunkt sieht – aber nicht zu seinem Zeitpunkt […].64 Aus der ›chronischen‹ Makellosigkeit des Bildobjekts resultiert in temporaler Hinsicht folglich eine »optische Entindividualisierung des Subjekts«65. Da nun alle möglichen Anschauungen eines Bildobjekts nach Wiesing stets identisch sind, scheint auch jede individuelle Anschauung in einer gewissen Beziehung zeitlos zu werden. Denn während sich unsere Welt unablässig verändert, ermöglicht der Blick auf ein Bild laut Wiesing die sonst unmögliche Erfahrung, eine Welt zu sehen, in der die Zeit eingefroren ist.66 Die eigentliche Entlastung bestünde für das wahrnehmende Subjekt von daher darin, dass es durch den Anblick eines Bildobjekts von dem Zwang befreit wird, mit dem Wahrgenommenen in einem gemeinsamen zeitlichen Kontinuum existieren zu müssen. Einen egalisierenden Effekt diagnostiziert Wiesing zudem im Hinblick auf die räumliche Dimension der postulierten entlastenden Reduktionsleistung der Bildwahrnehmung.67 Seines Erachtens gibt es grundsätzlich keine privilegierte oder exklusive Perspektive auf ein Bildobjekt. Von welchem Standort aus eine Person auch auf ein Bild blicken mag, niemals sei es ihr möglich, eine ›andere‹, ›privatere‹ oder gar ›bessere‹ Ansicht eines Bildobjekts zu gewinnen als alle anderen Betrachtenden, die dasselbe Bildobjekt 64 65 66 67 Ebd., S. 222. Ebd., S. 219. Es verwundert deshalb nicht, dass Wiesing das Bild gelegentlich mit einem Kühlschrank vergleicht oder anmerkt, es könne sogar »besser als jeder Kühlschrank hochverderbliche Zustände und flüchtige Befindlichkeiten einfrieren […].« Wiesing 2005 (wie Anm. 16), S. 113. Vgl. auch ebd., S. 159; ders. 2000 (wie Anm. 16), S. 19; ders. 2007 (wie Anm. 42), S. 42. Vgl. Wiesing 2009 (wie Anm. 15), S. 220−221. Körperlose Anwesenheit? 101 von jeweils verschiedenen Blickpunkten aus in Augenschein nehmen. Im Gegensatz zur normalen Wahrnehmung fällt die persönliche Perspektivierung des wahrnehmenden Subjekts beim Sehen eines Bildobjekts demnach aus. Ein Bild weist den Betrachtenden gemäß der wiesingschen Wahrnehmungslogik durchweg einen egalitären »Standort der Ansicht zu – und zwar: jedem denselben, keinem seinen eigenen, jedem meinen.«68 Da dementsprechend keine »individuelle Verortung« stattfinde, sei es wiederum möglich, dass alle Betrachtenden dasselbe im Bild wahrnehmen können. Aus dieser angenommenen ›Einansichtigkeit‹ des Bildobjekts resultiert schließlich eine »optische Entindividualisierung des Subjekts« in räumlicher Hinsicht. Ein Bild würde eine Person somit in die einzigartige Lage versetzen, etwas aus einer nichtsubjektiven Perspektive wahrzunehmen, die allen anderen Betrachtenden in absolut gleichem Maße zukommt. Was diese gemeinsame Sichtweise auf das Bildobjekt betrifft, sind für Wiesing alle Menschen gleich. Seiner Ansicht nach ergeben sich daraus für das wahrnehmende Subjekt angenehme, weil entlastende Folgen: Im Zustand der Bildwahrnehmung könne dieses die sonst unmögliche Erfahrung machen, etwas wahrzunehmen, ohne aber einen unteilbaren Ort in der Welt besetzen zu müssen. Durch die Anschauung eines Bildobjekts werde das Subjekt von der Zumutung befreit, immerzu durch einen eigenen Standpunkt von anderen Subjekten differenziert (und damit: individuiert) zu sein. Nach Wiesing führt die Wahrnehmung einer bildlichen Erscheinung aber nicht nur zu einer ›optischen Entindividualisierung‹ in zeitlicher wie räumlicher Hinsicht; sie macht das wahrnehmende Subjekt darüber hinaus zwangsläufig zu einem teilnahmslosen Zuschauer: Das Bildobjekt wird »immer schon aus einer unbeteiligten Zuschauerposition heraus gesehen«69, heißt es. Ein Wahrnehmungssubjekt nimmt demzufolge weder eine individuelle Stelle innerhalb des Raum-Zeit-Kontinuums ein noch ist es als klar zu individuierendes Subjekt am Geschehen der wahrgenommen Welt beteiligt. Es ist, cartesianisch gesprochen, ein substanzloses Nichts. Im Unterschied zu einer normalen Situation ist der Wahrnehmungsraum im Fall des Bildes deshalb auch kein Handlungsraum. Der Blick auf ein Bildobjekt bleibt – in gewisser Weise für beide Seiten – grundsätzlich ohne Konsequenzen, sodass der Akt des Wahrnehmens nicht zuletzt sämtliche ethischen Dimensionen verliert.70 Fragen der Verantwortung stellen sich in diesem Zusammenhang offenkundig nicht. Zugespitzter formuliert: Sie können sich nicht stellen, weil der Zustand der Bildwahrnehmung bei Wie68 69 70 Ebd., S. 220. Ebd., S. 223. Hinsichtlich der ethischen Aspekte des Wahrnehmens vgl. Eva Schürmann: Sehen als Praxis. Ethisch-ästhetische Studien zum Verhältnis von Sicht und Einsicht, Frankfurt / M. 2008. 102 Marcel Finke / Mark A. Halawa sing durch eine prinzipielle Folgenlosigkeit charakterisiert ist. Aufgrund der »kategorial[en] Kluft« zwischen dem Bildobjekt (nursichtbar, substanzlos, physikfrei) und den Betrachtenden sei letzteren »eine wirklich unbedingte Position der Sicherheit und absoluten Distanz« garantiert.71 Einer schwachen Version dieser These kann durchaus weitgehend zugestimmt werden. Ganz ohne Zweifel lassen sich bildlichen Erscheinungen, die bedrohliche Wesen oder Ereignisse zeigen, »prinzipiell ohne jegliche Gefahr für den Körper beobachten«72. Erhebliche Zweifel sind allerdings gegenüber einer starken Version dieser These anzumelden. Diese Zweifel beziehen sich auf die Behauptung, wonach die Betrachtenden im Rahmen der Bildwahrnehmung von jeglicher Eingriffsmöglichkeit in das Wahrnehmungsgeschehen entlastet und insofern frei von jedweder Form der Verantwortung für die Folgen ihrer eigenen Wahrnehmungstätigkeit sind. Wiesing versucht diesen Gedanken mit dem Begriff der »Partizipationspause«73 zu stützen. Auch hier gibt es eine schwache und eine starke Version der These: Erstere zielt lediglich auf den Umstand, dass den Betrachtenden die »leibliche Teilnahme am wahrgenommenen Geschehen«74 im Modus der Bildwahrnehmung erspart bleibt. Schaut man sich zum Beispiel das Foto einer Kriegsszene an, dann ist man mit seinem Körper nicht im bedrohlichen Geschehen real gegenwärtig. Wesentlich drastischer und problematischer ist hingegen die Aussage, dass eine Bildwahrnehmung nur dann gegeben sei, wenn die übliche »Immersionsleistung der Wahrnehmung außer Kraft gesetzt ist.«75 Hier scheint es nun, als würde ein Subjekt, das ein Bildobjekt wahrnimmt, von der Teilhabe am Wahrnehmungsgeschehen inklusive der damit einhergehenden stetigen Möglichkeit der Lokalisierbarkeit, Ansprechbarkeit und Responsibilität vollständig ›erlöst‹. Derart von den existenziellen Verpflichtungen des normalen Wahrnehmens entrückt, kann es sich vollständig aus der Welt zurückziehen, um seinen Blick »vollkom- 71 72 73 74 75 Wiesing 2009 (wie Anm. 15), S. 218. Mit dieser Aussage klammert er nicht zuletzt die ethischen Faktoren des Sehens aus, die in Jean-Paul Sartres Theorie des Blicks im Zentrum stehen. Das Problem der Macht und Anerkennung stellt sich dem wiesingschen Wahrnehmungssubjekt im Modus der Bildwahrnehmung nicht. Wiesing propagiert auf diese Weise eine abgeklärte bzw. technische Theorie der Bildwahrnehmung, die in ethischer Hinsicht zu einer geradezu gleichgültigen oder gar zynischen Perspektive auf den Prozess des Bildersehens einlädt. Ebd. Vgl. vor allem ebd., S. 197−199. Von einer ›Partizipationspause‹ spricht Wiesing dann, wenn eine Entlastung von den Zumutungen der Wahrnehmung unter den Bedingungen der gegenständlichen Normalwahrnehmung stattfindet. Für andere Fälle der Unterbrechung der Teilhabe an der realen Welt (z. B. Schlaf, Bewusstlosigkeit) verwendet er den nicht minder kuriosen Ausdruck ›Partizipationsferien‹. Ebd., S. 199. Ebd., S. 213. Körperlose Anwesenheit? 103 men distanziert und gänzlich schamlos«76 auf ein metaphysisches Reich der reinen Sichtbarkeit zu richten. Wir haben gesehen, dass sich das als substanzlos und physikfrei beschriebene Bildobjekt in Wiesings Augen durch die »reduzierte ontologische Existenz«77 eines nursichtbaren Seins auszeichnet. Wie sich nun zeigt, findet diese Vorstellung eine Entsprechung auf Seiten der Betrachtenden. Dort korrespondiert ihr die Fiktion eines nursehenden Daseins, d. h. die Idee einer phänomenologisch reduzierten Existenz, in der das wahrnehmende Subjekt von seiner »gnadenlosen persönlichen innerweltlichen Präsenzund Partizipationspflicht«78 vollends entbunden ist. Dem ontologischen Konzept der reinen Sichtbarkeit wird somit das phänomenologische Konzept eines reinen Sehens hinzugefügt. Die Säuberung des Bildobjekts zu einem körperlosen Phantom führt zum Phantasma vom Betrachtenden als einem nahezu vollständig entleiblichten Augenwesen. In gewisser Weise hat Wiesing diese Konsequenz – wenn auch unfreiwillig – selbst vorweggenommen: Zur Wirklichkeit des Bildes gibt es nur einen Zugang: hinsehen. Die dargestellte Welt eines Bildes entspricht der künstlichen Welt einer Person, die einzig über den Sehsinn verfügt – die aber ansonsten taub, geruchlos, tastlos, geschmacklos und orientierungslos ist. Darüber hinaus ist diese Person handlungsunfähig.79 Man könnte diese Passage durchaus als Fazit für Wiesings Bildtheorie heranziehen. Dies ist einerseits äußerst bemerkenswert. Denn in seiner Berufung auf das »Primat der Wahrnehmung« beharrt Wiesing nachdrücklich auf der Leiblichkeit des wahrnehmenden Subjekts. »Die raumzeitliche Körperlichkeit«, so schreibt er, sei für alle Wahrnehmenden »ein notwendiges Daseinskleid«.80 Andererseits überrascht dieses Fazit keineswegs. So betont er mehrfach, dass die Leiblichkeit eine »sichere Folge der Wirklichkeit meiner Wahrnehmung«81 sei. Weil aber die Wirklichkeit der Wahrnehmung eines Bildobjektes (nursichtbar, substanzlos, physikfrei) eine prinzipiell andere ist als jene der realen Welt, ist es nur konsequent, wenn Wiesing sie mit »grundlegend anderen Folgen für das Subjekt«82 verbindet. Doch führt dies letztlich dazu, dass die Purifizierung des Bildobjekts in einer Purifizierung des Wahrnehmungssubjekts kulminiert. Als 76 77 78 79 80 81 82 Ebd., S. 223. Ebd., S. 224. Ebd., S. 124. Wiesing 2008 (wie Anm. 15), S. 162. Wiesing befasst sich in diesem Textabschnitt mit Konrad Fiedler. Die zitierte Stelle bezieht sich auf Fiedlers Gedanken zur bildlichen Isolierung von Sichtbarkeit und der damit verbundenen Entmachtung der Wirklichkeit. Wiesing 2009 (wie Anm. 15), S. 168. Ebd., S. 167. Vgl. auch ebd., S. 188, 191. Ebd., S. 201. 104 Marcel Finke / Mark A. Halawa ein Wesen, das durch den Effekt der optischen Entindividualisierung seine raum-zeitliche Teilhabe am ›zumutungsreichen‹ Weltgeschehen kurzzeitig von sich abstreifen kann, nimmt das Subjekt der Bildwahrnehmung eine schwerelose, geradezu ›entkörperlichte‹ Daseinsform an.83 Wiesings auf die Ontologie des Bildobjekts bezogener optischer Platonismus mündet auf diese Weise in einen optischen Cartesianismus, von dem Descartes selbst wohl niemals zu träumen gewagt hätte.84 Während Descartes (ähnlich wie Platon) den beschwerlichen Gang der Meditation gehen musste, um das rein Geistige vom Körperlichen sondern zu können,85 befreit sich das wiesingsche Wahrnehmungssubjekt durch den schlichten Blick auf ein Bild von der leiblichen Zumutungslast seines gewöhnlichen Wahrnehmungslebens. Dieser visuell vollzogene Befreiungsakt geht für Wiesing sogar so weit, dass das Wahrnehmungssubjekt im Prozess der Bildwahrnehmung buchstäblich (nicht metaphorisch!) im Verschwinden begriffen ist. Die Logik dieses Gedankens ist wie folgt: Was weder eine individuelle Raumposition noch eine je eigene Zeitstelle für sich in Anspruch nehmen kann, weil es sich im Modus der optisch entindividualisierten Bildwahrnehmung befindet, ist für die Dauer eben dieses Wahrnehmungszustandes vom weltlichen Geschehen gänzlich emanzipiert. Entsprechend symptomatisch lautet es bezüglich der quasi-erlösenden Versenkung im Bild: »Ich sehe, ich tauche ein und bin weg.«86 Obwohl Wiesing beteuert, dass die Bildwahrnehmung »keine Verbesserung, keine Steigerung oder Ergänzung der Normalwahrnehmung«87 darstelle, vermittelt der Duktus seiner Ausführungen den Eindruck einer enormen weltlichen Entlastungssehnsucht. Tatsächlich geht Wiesings hygienischer Gestus unmittelbar in eine nahezu feierliche Entlastungsrhetorik über. Auf der einen – ontologischen – Seite wird das Bild für seine ›reine‹, ›saubere‹, materiell ›unbeschmutzte‹ und ›unbelastete‹ Sichtbarkeit bewundert; auf der anderen – phänomenologischen – Seite wird es als Vehikel einer perzeptuellen Kur gewürdigt. Das Medium wird zum Remedium, 83 84 85 86 87 Auf die Tatsache, dass Wiesings »zunehmende Entmaterialisierung mit einer zunehmenden Entkörperlichung des Betrachters einhergeht«, hat bereits Bernhard Waldenfels kritisch hingewiesen. Bernhard Waldenfels: Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, Frankfurt / M. 1999, S. 169, Anm. 24. Descartes ist Wiesings ausdrückliches Vorbild in seinem Buch Das Mich der Wahrnehmung. Vgl. Wiesing 2009 (wie Anm. 15), Kap. 2. Dass Descartes selbst einen engen Zusammenhang zwischen Visualität und Taktilität postulierte, gerät vor allem in Wiesings jüngeren Arbeiten in Vergessenheit. Vgl. René Descartes: Meditationes de Prima Philosophia / Meditationen über die Erste Philosophie, lateinisch / deutsch, hg. v. Gerhart Schmitt, Stuttgart 1986 [zuerst Paris 1641]. Wiesing 2009 (wie Anm. 15), S. 228. Ebd., S. 215. Körperlose Anwesenheit? 105 durch welches sich das wahrnehmende Subjekt von den leiblichen Zumutungen und Partizipationspflichten der Normalwahrnehmung erholen kann. Nur deshalb, weil das Bild Zutritt zu einem »metaphysisch[en] Paradies« gewährt, eignet es sich aus Wiesings Sicht für eine solche »artifizielle Weltflucht«.88 Möglich wird dies durch die Verkürzung des Bildes auf das Bildobjekt, welches – wie das Grinsen ohne Katze – anscheinend ganz für sich existiert und zu einem frei flottierenden Phantom gerät. Wiesings entkörperlichtes Betrachtersubjekt ist somit ein bloßer Bildobjekt-Betrachter. Entsprechend ist seine Bildtheorie im Grunde eine Theorie der reinen (und daher unmöglichen) Bildobjekt-Wahrnehmung. Einmal mehr darf an der Schlüssigkeit von Wiesings ›phänomenologischen‹ Thesen gezweifelt werden. So übersieht Wiesing in seiner Argumentation einen gewichtigen leibphänomenologischen Punkt: Er blendet aus, in welch hohem Maße sowohl die Möglichkeit als auch der Prozess der Bildwahrnehmung durch die materielle Präsenz des Bildes bedingt ist. Die Materialität des Bildes tangiert die Leiblichkeit des Betrachters noch im physisch unbeschwertesten Wahrnehmungsgeschehen. Um ein Wahrnehmungsobjekt als Bild erfassen zu können, reicht es nicht aus, lediglich hinzusehen, wie Wiesing behauptet; auch ist es erforderlich, vor einem Bild eine bestimmte Haltung einzunehmen, die in bedeutender Weise von der materiellen Präsenz des Bildes bestimmt wird. Ein Bildobjekt mag noch so stofflos und nursichtbar sein – so lange sich nicht ein ›echter‹ Körper aus Fleisch und Blut in einer bestimmten Weise auf es richtet, bleibt es ungesehen. Zwar trifft es durchaus zu, dass die Bildwahrnehmung eine gewisse Distanz zwischen Bild und Betrachter verlangt, doch ist diese keineswegs absolut, wie Wiesing unterstellt. Anhänger der wiesingschen Argumentation mögen gegen unsere Kritik einwenden, die von uns skizzierten somatischen Aspekte berührten lediglich das Verhältnis zwischen wahrnehmendem Subjekt und materiellem Bildträger, sodass Wiesings Behauptungen in Bezug auf das Bildobjekt nach wie vor zu folgen sei. Dieser Einwand läuft allerdings ins Leere. Wie Phänomene wie die Anamorphose89 oder das pointillistische Gemälde unter Beweis stellen, bestimmt die Art und Weise, wie wir zu einem Bild ›stehen‹, sowohl das Was als auch das Wie unserer Wahrnehmung. Wer sich etwa zunächst unmittelbar vor einem pointillistischen Gemälde positioniert, um sich sodann sukzessive von diesem zu entfernen, wird bekanntlich die Erfahrung machen, dass die auf der Leinwand aufgetragenen Konturen und Farben nach und nach deutlicher und klarer erscheinen. Entscheidend ist, 88 89 Ebd., S. 228. Vgl. hierzu den Beitrag von Yvonne Schweizer in diesem Band. 106 Marcel Finke / Mark A. Halawa dass diese Erfahrung vor allem die Wahrnehmung des Bildobjekts betrifft. Mit jedem Schritt erscheint dieses ›anders‹ und ›neu‹.90 Für Wiesing ist ein solcher Sachverhalt eine absolute Unmöglichkeit. Diese Haltung mag im Rahmen seiner Argumentation konsistent sein. Vereinbar mit zentralen leibphänomenologischen Kernprämissen ist sie hingegen nicht. Im Gegenteil: Durch seine Hypostasierung des immateriellen Bildobjekts und die Postulierung eines entkörperlichten Bildwahrnehmungssubjekts entfernt sich Wiesing nicht zuletzt von einer seiner wichtigsten phänomenologischen wie bildtheoretischen Inspirationsquellen: Maurice Merleau-Ponty. Von dessen Bemühen, das Rätsel der Wahrnehmung gerade auch im Hinblick auf das Bild immerzu im Ausgang des Leibes zu untersuchen, um auf diese Weise eine phänomenologische Rekonstruktion der ›erlebten‹ Wahrnehmung durchführen zu können,91 bleibt in Wiesings Theoriegebäude kaum etwas übrig. Es mag durchaus zutreffen, dass die Welt auf den Schultern des Subjekts der Bildwahrnehmung weniger schwer lastet als auf den Schultern eines Subjekts, das sich im Zustand der Normalwahrnehmung befindet. Vollständig neutralisiert ist die weltliche Teilhabe am Wahrnehmungsgeschehen damit allerdings nicht. Will sich eine allgemeine Theorie des Bildes von der ›Lebenswelt‹ der Betrachtenden nicht allzu sehr abwenden, kommt sie folglich nicht umhin, sich in angemessener Weise der Materialität des Bildes wie auch der Leiblichkeit des Wahrnehmungssubjekts zuzuwenden. 4. Fazit Das Anliegen unserer Ausführungen zur Bildtheorie von Lambert Wiesing war zweifach: zum einen sollte auf eine zunehmende Relativierung und Ausblendung der Materialität des Bildes hingewiesen werden; zum anderen wollten wir zeigen, inwiefern die methodische Eliminierung der 90 91 Diese Beobachtung ist keinesfalls nur für das Kunstbild gültig. Jede bildliche Darstellung, sei sie eine gewöhnliche Fotografie, eine Zeichnung oder ein einfaches Strichmännchen, verwandelt sich dort, wo die räumliche Distanz zwischen Bild und Betrachtendem zu groß oder zu klein ist, in unübersichtliche Grobkörnigkeit oder ein verschwommenes Gesichtsbild. Dies ist freilich eine triviale Tatsache. In Wiesings Bildtheorie scheint diese allerdings ignoriert zu werden. Vgl. Merleau-Ponty 1947 (wie Anm. 55); ders. 1961 (wie Anm. 55). Vgl. zudem ders.: Causerien 1948. Radiovorträge, hg. v. Ignaz Knips, übers. v. Joan-Catharine Ritter, Ignaz Knips u. Emmanuel Alloa, Köln 2006 [zuerst Paris 2002], S. 28, wo es ausdrücklich heißt: »Unser Verhältnis zu den Dingen ist kein distanziertes, jedes von ihnen spricht zu unserem Leib und zu unserem Leben […]. Der Mensch ist mit den Dingen verbunden und die Dinge mit ihm.« Zu Merleau-Pontys Phänomenologie des Leibes vgl. Bernhard Waldenfels: Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, hg. v. Regula Giuliani, Frankfurt / M. 2000. Körperlose Anwesenheit? 107 Materialität letztendlich auch zu einer theoretischen Entkörperlichung des wahrnehmenden Subjekts führt. Folgt man der Argumentation Wiesings, dann spielen materielle Aspekte keine Rolle für die Konstituierung von Bildlichkeit. Geht es nach ihm, scheint Materialität allenfalls für Kunstbilder bedeutsam zu sein.92 Diese Ansicht ist insofern problematisch, als die Materialität des Bildes zu einer Art Zusatz degradiert wird, der zum ›eigentlichen‹ Bild hinzukommt und es höchstens um ein ästhetisches Surplus bereichert. Wiesings Aussage, dass die Materialität des Bildes nicht erklären kann, »warum es sich bei dem jeweiligen Bild um ein Bild handelt«93, ist zweifelsohne korrekt. Fragwürdig ist hingegen der Versuch, das Bild gänzlich von seiner Materialität zu trennen, um es auf den ›wesentlichen‹ Aspekt des Bildobjekts zu reduzieren. Ausgelöscht wird auf diese Weise der ›Grund‹, durch den Bildobjekte allererst in Erscheinung treten können.94 Die kritische Lektüre der Bildtheorie von Lambert Wiesing führte außerdem vor Augen, dass die Gedankenfigur der internen Duplizität des Bildes durchaus problematisch ist. Dies gilt nicht nur im Hinblick auf die Frage, wie sich Bildlichkeit konstituiert. Indem Wiesing den Gegensatz zwischen Bildträger und Bildobjekt naturalisiert und verdinglicht, um das Bildobjekt anschließend zu verabsolutieren, schafft er überhaupt erst die Basis für seine eigenwillige Konzeption des Wahrnehmungssubjekts. Was sich anfangs ›lediglich‹ als bildtheoretische Grundlagendebatte darstellte, erweist sich voller Konsequenzen und Implikationen hinsichtlich der Frage, wie die Subjekte der Wahrnehmung konzipiert werden. Hier deutet sich an, dass die Diskussionen über das ›Wesen‹ und den ›Ursprung‹ physischer Bildlichkeit keine rein bildphilosophischen Diskussionen sind. Bereits den ›grundlegenden‹ Fragen danach, was ein Bild ist oder was das Ikonische ausmacht, kann eine subjektivierende Funktion zukommen. Das wirkmächtige Phänomen der Bildlichkeit wäre demnach sowohl in seiner konturierenden Wirkung als auch in seiner eigenen kulturellen und sozialen Konturierung zu begreifen; es ist – ebenso wie die interne Doppelheit von Bildträger und Bildobjekt – nicht einfach als solches schon gegeben. Weder lässt sich Bildlichkeit unabhängig von der Materialität des Bildes antreffen 92 93 94 Im Vorwort zur Neuauflage seines Buches Die Sichtbarkeit des Bildes heißt es demgemäß: »Es ist der Versuch, eine Erklärung zu geben, was etwas zu einem Bild macht. Bei der Beantwortung dieser […] Frage spielt die jeweilige Materialität und die vielleicht vorhandene Bedeutung des Gegenstandes keine Rolle.« Wiesing 2008 (wie Anm. 15), S. IX. Ebd. [unsere Hervorhebung] Vgl. hierzu u. a. Dieter Mersch: Posthermeneutik, Berlin 2010, S. 133−147, sowie dessen Aufsatz im vorliegenden Band. 108 Marcel Finke / Mark A. Halawa noch ist sie vom Körper der Wahrnehmenden ablösbar, in welchem sie realisiert und vollzogen wird.95 Ein letzter Punkt noch: Die Diskussion der Thesen Wiesings belegte, dass nicht nur die oft gescholtenen semiotischen oder hermeneutischen Ansätze dazu neigen, die Materialität des Bildes zu vernachlässigen. Vielmehr ist bemerkenswert, dass dessen Verabsolutierung der angeblich reinen Sichtbarkeit des Bildobjekts sogar zu einem weitaus radikaleren Ergebnis führt als die Privilegierung des bedeutungstragenden Darstellungsaspekts in Ansätzen der semiotisch-hermeneutischen Tradition. Während es bei diesen zu einer Marginalisierung materieller Faktoren kommt, betreibt Wiesing eine systematische Tilgung von Materialität. Für erstere ist das Moment der Materialität lediglich im Hinblick auf die Erfüllung kommunikativer und semiotischer Funktionen von Relevanz, da sie dem Primat der Signifikation und Interpretation unterstehen. Für Wiesing spielen materielle Faktoren hingegen nur anfangs eine Rolle, und zwar insoweit, wie sie zum Erscheinenlassen ›körperloser Anwesenheiten‹ nützlich sind. Auch bei ihm kommt es zu einer Bevorzugung des Darstellungsaspektes, mit dem Unterschied jedoch, dass er diesen hypostasiert, um die Materialität des Bildes vollends zu elidieren.96 Die von einem dezidiert phänomenologischen Standpunkt ausgehenden Überlegungen Wiesings liefern mithin ein besonders extremes Beispiel für die Vernachlässigung von Materialität. Zu bedenken ist, dass diese Tendenz auch anhand der Theorien anderer Autoren nachweisbar gewesen wäre, die sich dem Bild etwa aus wahrnehmungstheoretischer, analytischer oder anthropologischer Richtung nähern (z. B. bei Reinhard Brandt, Richard Wollheim oder Hans Belting). Es scheint demnach nicht entscheidend zu sein, ob man das Bild vorrangig als ein Zeichen bzw. Symbol oder aber als ein besonderes »Sichtbarkeitsgebilde« (Fiedler) ansieht. Weder sind semiotische Ansätze per se zur Blindheit gegenüber Fragen der Materialität verurteilt noch garantieren andere – zumal phänomenologische – Zugänge von vornherein ein besonderes Bewusstsein dafür. Im einen wie im anderen Fall mag ein Grund für die Ausblendung und Tilgung der Materialität ihre Widersetzlichkeit und Virulenz sein, die ihre theoretische Erfassung beständig irritiert und die es scheinbar deshalb zu negieren gilt – sei es, indem man sie auf den ›stabilen‹ Ort des Bildträgers verkürzt oder aber indem man sie nach und nach aus der Problematik des Bildes herausfallen lässt. 95 96 Zu einem ähnlichen Schluss gelangt Emmanuel Alloa in seinem Aufsatz in diesem Band. Besonders eindrücklich vorgeführt wird dies im Kapitel »Wenn Bilder Zeichen sind«, in: ders. 2005 (wie Anm. 16), S. 37−80. Dort betont Wiesing, dass die »Materialität des Bildes […] bei der Verwendung des Bildes als Zeichen keine bedeutungsbestimmende Funktion [spielt].« Relevant sei ausschließlich das nursichtbare Bildobjekt, das als »immaterieller Signifikant« fungiere.